Mascha, ein Mädchen aus der Fremde - Britta Frey - E-Book

Mascha, ein Mädchen aus der Fremde E-Book

Britta Frey

5,0

Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Siebenundzwanzig Jahre alt war Angelika Riversen. Die hübsche junge Frau mit dem kinnlangen, dunkelbraunen Haar fühlte sich sehr wohl in Ögela. Erst vor drei Wochen, kurz vor den Sommerferien, hatte sie ihren Posten als Deutschlehrerin in der Schule des kleinen Städtchens angetreten. Großes Glück hatte sie außerdem noch, als sie schon vor ihrem Antritt eine kleine Zweieinhalbzimmerwohnung mieten konnte. Während der ersten Wochen der Ferien hatte Angelika Riversen ihre Wohnung noch wohnlich gestaltet. Für die verbleibenden Ferienwochen hatte sie sich vorgenommen, vor allen Dingen die wunderschöne Landschaft um Ögela herum zu erkunden. Für sie, die sie aus einer Großstadt in diese ländliche Gegend gekommen war, war es ein herrliches Gefühl, der Natur so nahe zu sein. Sie wußte, daß sie das Stadtleben niemals vermissen würde. Und wenn sie für größere Einkäufe in die Stadt fahren wollte, hatte sie ja ihren Wagen, um diese Fahrten durchzuführen. Es war Samstagmorgen. Angelika Riversen hatte etwas länger geschlafen. Den Vormittag wollte sie dazu nutzen, noch ein paar Wochenendeinkäufe zu tätigen, und am Nachmittag wollte sie dann mit dem Wagen hinausfahren. Sie war gerade mit dem Frühstück fertig, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Sie wunderte sich darüber, wer wohl zu dieser frühen Stunde etwas von ihr wollte, ging aber zur Wohnungstür, um zu öffnen. Es war der Briefträger, der lächelnd zu ihr sagte: »Guten Morgen, Frau Riversen, ich habe hier einen Einschreibebrief für Sie, eine Nachsendung.« Angelika quittierte das Schreiben, bedankte sich und schloß die Tür. Nachdenklich sah sie auf den Brief in ihren Händen. Auf dem Poststempel war der Name Sylvenstein zu erkennen. Ein Ort, irgendwo in Oberbayern. Absender des Schreibens war eine Frau Rosel Reitmeier, wohnhaft Salmberg 17.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 148

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kinderärztin Dr. Martens – 71 –

Mascha, ein Mädchen aus der Fremde

Was ist der Kleinen zugestoßen?

Britta Frey

Siebenundzwanzig Jahre alt war Angelika Riversen. Die hübsche junge Frau mit dem kinnlangen, dunkelbraunen Haar fühlte sich sehr wohl in Ögela. Erst vor drei Wochen, kurz vor den Sommerferien, hatte sie ihren Posten als Deutschlehrerin in der Schule des kleinen Städtchens angetreten. Großes Glück hatte sie außerdem noch, als sie schon vor ihrem Antritt eine kleine Zweieinhalbzimmerwohnung mieten konnte.

Während der ersten Wochen der Ferien hatte Angelika Riversen ihre Wohnung noch wohnlich gestaltet. Für die verbleibenden Ferienwochen hatte sie sich vorgenommen, vor allen Dingen die wunderschöne Landschaft um Ögela herum zu erkunden.

Für sie, die sie aus einer Großstadt in diese ländliche Gegend gekommen war, war es ein herrliches Gefühl, der Natur so nahe zu sein. Sie wußte, daß sie das Stadtleben niemals vermissen würde. Und wenn sie für größere Einkäufe in die Stadt fahren wollte, hatte sie ja ihren Wagen, um diese Fahrten durchzuführen.

Es war Samstagmorgen. Angelika Riversen hatte etwas länger geschlafen. Den Vormittag wollte sie dazu nutzen, noch ein paar Wochenendeinkäufe zu tätigen, und am Nachmittag wollte sie dann mit dem Wagen hinausfahren.

Sie war gerade mit dem Frühstück fertig, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Sie wunderte sich darüber, wer wohl zu dieser frühen Stunde etwas von ihr wollte, ging aber zur Wohnungstür, um zu öffnen.

Es war der Briefträger, der lächelnd zu ihr sagte: »Guten Morgen, Frau Riversen, ich habe hier einen Einschreibebrief für Sie, eine Nachsendung.«

Angelika quittierte das Schreiben, bedankte sich und schloß die Tür. Nachdenklich sah sie auf den Brief in ihren Händen. Auf dem Poststempel war der Name Sylvenstein zu erkennen. Ein Ort, irgendwo in Oberbayern. Absender des Schreibens war eine Frau Rosel Reitmeier, wohnhaft Salmberg 17.

Rosel Reitmeier, ein völlig unbekannter Name für die junge Lehrerin. Sie konnte sich nicht erinnern, diesen Namen schon einmal gehört zu haben. Neugierig geworden, setzte sie sich auf den nächsten Stuhl und öffnete den Brief. Höchst befremdet las sie:

Sehr geehrte Frau Riversen, sicher werden Sie sehr erstaunt sein dieses Schreiben zu erhalten. Es geht um folgendes: Ich habe seit einem Jahr ein Kind betreut, ein siebenjähriges Mädchen. Die Mutter des Kindes, die bei mir zur Untermiete gewohnt hatte, ist vor etwa einem Jahr nach einem Unfall gestorben. Erst vor einigen Tagen habe ich in alten Unterlagen der Verstorbenen Ihren Namen gefunden und sofort nach Ihrem Aufenthaltsort geforscht. Es tut mir leid, daß ich das Kind nicht länger bei mir behalten kann, aber wir haben selbst neun Kinder und gerade das Allernotwendigste zum Leben. Mein Mann ist nur ein einfacher Arbeiter auf einem Berghof. Das Kind kommt, von einer Zugbegleiterin betreut, am dritten August, mittags um dreizehn Uhr, auf dem Hauptbahnhof von Hannover an. Sorgen Sie bitte dafür, daß das Mädchen um diese Zeit dort abgeholt wird. Ich weiß nicht, wie Sie zu der Verstorbenen standen, aber der Name war Sandra Penkert, und das Kind heißt Mascha. Alle anderen Unterlagen werden Ihnen oder demjenigen, der das Mädchen abholt, von der Zugbegleiterin übergeben. Noch einmal, es tut mir sehr leid.

Ihre Frau Reitmeier

Angelika Riversen war zutiefst betroffen, als sie den Namen Sandra Penkert las. Sandra Penkert war eine Cousine von ihr. Die einzige lebende Verwandte, die sie noch hatte. Sandra, wie lange war das schon her, seitdem sie zum letzten Mal etwas von ihr gehört, sie aus den Augen verloren hatte. Jetzt stand ihre Tochter ganz allein da, wenn es stimmte, daß Sandra nicht mehr lebte. Einige Sekunden lang hing Angelika ihren Gedanken nach, dann erst wurde ihr bewußt, was dieses Schreiben der fremden Frau für sie bedeutete. Es war eigentlich ungeheuerlich, was da vor sich ging. Da wurde doch einfach ein Kind abgeschoben, wie eine Figur auf einem Schachbrett. Und wenn es auch noch so eine Hinterwäldlerecke war und die Menschen in diesen abgelegenen Regionen sehr arm waren, so mußte es dort doch auch Behörden geben, die für solche Dinge zuständig waren.

Angelika konnte es sich nicht vorstellen, daß man erst ein Kind betreute, es dann aber einfach fortschickte. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn sich die Behörden mit ihr in Verbindung gesetzt hätten, da sie ja die einzige Verwandte des Kindes war. Aber da mußte doch auch noch der Vater der Kleinen sein. Was war mit ihm? Fragen über Fragen, auf die die junge Frau keine Antwort wußte. Erschreckend kam ihr zu Bewußtsein, daß der dritte August schon der kommende Tag war. Was sollte, was konnte sie noch machen? Es würde ihr wohl nichts anderes übrigbleiben, als am nächsten Morgen nach Hannover zu fahren, um das Kind in Empfang zu nehmen.

So weit mit ihrer Entscheidung, mußte sie erst einmal einige Vorbereitungen für ihren jungen Gast treffen. Ein Blick auf die Uhr zeigte, daß es noch reichlich Zeit war, um nach Celle zu fahren. In ihrem Schlafzimmer stand zwar außer ihrem Bett noch eine Liege, aber es fehlten Kopfkissen und Oberbett. Beides und noch einiges mehr mußte sie unbedingt noch besorgen. Es waren keine zehn Minuten vergangen, da befand sich Angelika auf dem Weg in die Stadt. In Celle angekommen, machte es ihr auf einmal großen Spaß einzukaufen, und am liebsten hätte sie noch Kinderkleidung besorgt. Noch rechtzeitig fiel ihr aber ein, damit noch zu warten, bis sie das Kind gesehen hatte. Aber wenn das Kind mit neun Kindern zusammengelebt hatte, besaß es bestimmt keinerlei hübsche Spielsachen. Also deckte Angelika sich damit reichlich ein. Nachdem sie alles in ihrem Wagen verstaut hatte, erledigte sie noch ihre Lebensmitteleinkäufe. Anschließend fuhr sie zurück nach Ögela. Während sie alles für die Ankunft des Mädchens vorbereitete, gingen ihre Gedanken zu Sandra, der Mutter des Kindes. Da ihr Hausname mit Penkert von der fremden Frau angegeben worden war, war sie wohl auch nicht verheiratet gewesen. Arme Sandra. Sie hatte sich also allein mit ihrem Kind durchbringen müssen. Vielleicht fand sie in den Unterlagen, die die Zugbegleiterin ihr übergeben würde, einen Hinweis auf den Vater des Mädchens. Nun, wie auch immer. Sie würde am nächsten Tag zum Bahnhof fahren, um Sandras Kind in Empfang zu nehmen. Alles weitere konnte später entschieden werden. Zum Glück waren Ferien. Es war demnach reichlich Zeit vorhanden, um alles zu regeln.

*

Lange bevor der Eilzug aus München aus dem Hauptbahnhof von Hannover angekündigt wurde, war Angelika Riversen schon auf dem Bahnsteig. Aufgeregt schritt sie den Bahnsteig auf und ab. Immer wieder sah sie auf die Uhr, an der sich die Zeiger nur langsam auf dreizehn Uhr zubewegten. Was würde sie erwarten, wenn es soweit war und Sandras kleine Tochter vor ihr stehen würde?

Kurz vorher war sie auf der Bahnhofsmission gewesen, wo ihr die Ankunft des Mädchens bestätigt wurde.

Endlich, mit einigen Minuten Verspätung, wurde der Eilzug angekündigt, und die wartenden Menschen wurden gebeten, zurückzutreten.

Angelikas Herz begann zu pochen, als der Zug langsam zum Halten kam.

Reisende stiegen aus, andere ein, und Angelika wollte sich schon enttäuscht abwenden, als ziemlich weit hinten eine junge Frau in Uniform aus dem Abteil stieg. An ihrer einen Hand hielt sie ein kleines Mädchen fest, und in der anderen trug sie einen alten, abgewetzten Koffer. Mit eiligen Schritten ging Angelika auf die zwei Personen zu und konnte ihr Erschrecken nur mit Mühe verbergen, als sie das Mädchen dann dicht vor sich sah.

Ihr Herz quoll über vor Mitleid. Das war Sandras Kind? Dieses verstörte, abgemagerte Kind sollte sieben Jahre alt sein? O Gott, was hatte man diesem zierlichen Mädchen angetan. Aus übergroß scheinenden Augen starrte das Mädchen zu ihr hoch, und der Ausdruck der Angst in diesen großen, dunklen Augen war nicht zu übersehen.

Angelika beugte sich zu dem Mädel hinunter und streckte ihm die Hand entgegen. Mit weicher Stimme sagte sie: »Du bist also Mascha, nicht wahr? Guten Tag. Ich bin die Tante Angelika und nehme dich nun mit zu mir nach Hause. Du mußt keine Angst haben. Weißt du, ich habe deine Mutti sehr gut gekannt. Als wir noch so kleine Mädchen waren, wie du es bist, haben wir jeden Tag miteinander gespielt. Sollst sehen, es wird dir bei mir gefallen.«

Scheu legte das kleine Mädchen ihre schmale Hand in ihre, zog sie aber rasch wieder zurück.

Angelika richtete sich wieder auf, wandte sich der Begleiterin des Kindes zu und fragte: »Gibt es noch irgendwelche Formalitäten zu erledigen? Das Kind kann sich ja kaum auf den Beinen halten.«

»Mein Name ist Brigitte Renzel, Frau Riversen. Wenn Sie sich bitte ausweisen würden? Ich habe nur den Auftrag, einer Frau Riversen das Kind und diese Unterlagen zu übergeben. Alles weitere unterliegt danach Ihrer Entscheidung.«

Angelika legte nun ihren Ausweis und ihren Führerschein vor. Daraufhin überreichte ihr Brigitte Renzel einen großen braunen Umschlag, fuhr der Kleinen sanft über das zerzauste Haar und sagte: »Auf Wiedersehen, Mascha. Jetzt bist du ja bei deiner Tante. Mach es gut und bleibe ein braves Mädchen. Ich habe jetzt keine Zeit mehr, ich muß weiter.«

Das kleine, sehr ärmlich gekleidete Mädchen mit dem langen schwarzen Haar, das zu unordentlichen Zöpfen geflochten war, versteifte sich. Die Lippen begannen zu zittern. Es schien, als würde sie jeden Moment zu weinen anfangen.

Wieder beugte sich Angelika Riversen hinunter und zog das verstörte Kind ganz einfach in ihre Arme.

»Du mußt keine Angst haben, Mascha. Komm nur mit zu mir. Wir gehen jetzt zu meinem Auto und fahren zu mir nach Hause. Weißt du, ich wohne dort ganz allein. Ich freue mich darauf, daß du jetzt immer bei mir sein wirst.«

Angelika nahm Mascha an eine Hand, den alten abgewetzten Koffer hob sie mit der anderen hoch, und sich noch einmal bei der jungen Frau bedankend, die ihr das Mädchen übergeben hatte, verließen sie langsam den Bahnsteig und das Bahnhofsgelände.

Erst als sie sich auf der Rückfahrt nach Ögela befand, kam Angelika wieder dazu, klare Gedanken zu fassen. Im Rückspiegel sah sie, daß Mascha vor Erschöpfung eingeschlafen war. Zum Erbarmen sah das zierliche Geschöpf aus. Nein, dieses Kind hatte gewiß kein leichtes Leben hinter sich. Schlimmer, als dieses Kind, konnte kein Kind vernachlässigt werden. Auf was habe ich mich da nur eingelassen? fragte sich Angelika. Wie soll das jetzt nur alles weitergehen? Würde dieses zierliche, verstörte Kind überhaupt jemals Vertrauen zu ihr fassen?

Ich werde es versuchen, ich werde alles tun, aus diesem Mädchen ein fröhliches Geschöpf zu machen. Ich bin es Sandra ganz einfach schuldig, nahm sich die junge Lehrerin vor.

Trotz der langen Fahrt nach Ögela wachte die Siebenjährige nicht ein einziges Mal auf, bevor Angelika ihr Ziel erreicht hatte.

Sie brachte dann erst ihre Tasche und Maschas Koffer in ihre Wohnung, danach trug sie das schlafende Kind ins Haus. Sie bemerkte wohl die neugierigen Blicke der Nachbarn, die ihr folgten, aber darum kümmerte sich Angelika überhaupt nicht. Sie konnte sich gut vorstellen, daß jetzt darüber getuschelt werden würde, wer wohl dieses ärmlich gekleidete Kind sei.

Nichts war ihr aber im Moment wichtiger, als dieses arme Ding. Behutsam trug sie das Mädchen in ihre Wohnung und ließ es erst einmal im Wohnzimmer auf die Couch gleiten. Sie schob der Kleinen ein Kissen unter den Kopf und deckte sie mit einer weichen Decke zu. Leise, die Wohnzimmertür weit offenstehen lassend, ging sie hinüber in die Küche.

Angelika wollte warten, bis das Mädel von allein erwachte. Inzwischen würde sie sich erst einmal einen starken Kaffee kochen und danach eine leichte Mahlzeit vorbereiten. Wer weiß, wann die Kleine zum letzten Mal eine warme Mahlzeit zu sich genommen hatte.

Nach dem Kaffee fühlte sich Angelika etwas besser, denn sie hatte seit dem Frühstück weder etwas getrunken noch gegessen. Nachdem sie dann das Essen für sich und die Kleine vorbereitet hatte, nahm sie den verschlissenen Koffer und brachte ihn ins Schlafzimmer. Sie mußte überprüfen, was an brauchbarer Kleidung und Nachtwäsche für das Mädchen vorhanden war. Wie sie wenig später feststellen konnte, besaß Sandras Tochter nicht viel. Es war zwar alles sehr einfach, aber es war sauber gewaschen. Fürs erste mußte es also gehen. Gleich in den nächsten Tagen würde sie mit Mascha in die Stadt fahren und einiges an Kleidung, Wäsche und auch Schuhe besorgen, die ein kleines siebenjähriges Mädchen benötigte.

Während sie noch damit beschäftigt war, die Sachen aus dem Koffer zu räumen, drang plötzlich ein Geräusch an ihr Ohr. Es hörte sich an wie leises Weinen. O Gott, das Mädchen ist erwacht, fuhr es Angelika durch den Kopf. Sie ließ alles liegen und stehen und eilte ins Wohnzimmer hinüber. Wie ein verängstigtes Vögelchen saß Mascha auf der Couch, und unaufhaltsam rannen Tränen über ihr Gesicht. Mit ein paar Schritten war die junge Lehrerin an der Seite der Kleinen und nahm neben ihr Platz. Sie zog sie sanft an sich und sagte weich: »Nicht weinen, kleine Mascha, bitte, nicht weinen. Es tut dir doch niemand etwas.«

Angelika tupfte behutsam die Tränen von Maschas Wangen und streichelte ihr sanft übers Haar. Aber die schmale Gestalt des Mädchens entspannte sich trotzdem nicht, und es gab ihr auch keine Antwort.

»Komm, wir gehen in die Küche hinüber. Du hast inzwischen bestimmt Hunger und Durst. Ich habe uns etwas zum Essen gemacht, und für dich gibt es auch warme Milch.«

Sie führte Mascha in die Küche und an den Tisch, der liebevoll gedeckt war. Aber wenn Angelika gehofft hatte, Mascha würde mit Heißhunger die leckeren Speisen verzehren, so sah sie sich getäuscht. Mascha nahm nur eine winzige Kleinigkeit zu sich und trank dazu ein Glas Milch. Dann schob sie ihren Teller zurück und sagte leise: »Habe keinen Hunger, mag nicht mehr.«

»Nicht noch ein bißchen, Mascha?«

Heftig schüttelte Mascha den Kopf, sagte jedoch nichts mehr, und Angelika ließ sie auch gewähren. Sie wollte nicht gleich am ersten Tag mit irgendeinem Zwang beginnen.

Da es inzwischen schon neunzehn Uhr vorbei war, sagte sie liebevoll: »Jetzt werde ich dir zuerst einmal zeigen, wo du in Zukunft schlafen wirst, Mascha. Du bekommst ein Bett ganz für dich allein. Komm, ich zeige es dir. Ich habe auch noch eine Überraschung für dich.«

Erneut nahm Angelika das Mädchen an die Hand und wollte mit ihr ins Schlafzimmer gehen. Mascha versteifte sich, und in den dunklen Augen war plötzlich Panik zu erkennen.

»Ich will nicht allein schlafen.«

»Du mußt auch nicht allein schlafen. Ich schlafe im selben Zimmer wie du. Du wirst es sofort sehen.«

Im Schlafzimmer schaute Mascha stumm auf das aufgeschlagene Bett, das Angelika auf der Liege zurechtgemacht hatte und auf dem eine hübsche Puppe saß.

»Nun, Mascha, gefällt es dir? Die Puppe gehört jetzt dir. Und wenn du morgen früh ausgeschlafen hast, habe ich auch noch andere Sachen für dich, die dir sicher gefallen. Jetzt wird aber gebadet, und danach darfst du ins Bett und wirst schön schlafen.«

Mascha ging zum Bett und nahm vorsichtig die etwa vierzig Zentimeter große Puppe auf den Arm. Wie etwas sehr Kostbares preßte sie sie an sich. Mit zitternder Stimme, ganz leise, fragte sie: »Darf ich sie auch mit zu Tante Rosel nehmen?«

»Ach, Schätzchen, zu Tante Rosel kannst du nicht mehr zurück. Du bleibst jetzt erst einmal bei mir. Wenn die großen Ferien vorbei sind, gehst du hier zur Schule, und ich werde dann deine Lehrerin sein. Aber das hat noch sehr viel Zeit.«

»Und warum darf ich nicht mehr bei Tante Rosel bleiben?« Mit großen, nun sehr traurigen Augen sah Mascha Angelika an, die liebevoll entgegnete: »Darüber reden wir später, Mascha. Jetzt wird es erst einmal Zeit für ein Bad und fürs Bett. Es wird dir hier schon gefallen.«

*

Erst als Mascha später eingeschlafen war, befaßte sich Angelika mit den Papieren, die ihr von der Zugbegleiterin übergeben worden waren.

Ihr ging es vor allem darum, einen Anhaltspunkt zu finden, der vielleicht Aufschluß über Maschas Vater geben würde. Aber nichts dergleichen. Auf Maschas Geburtsurkunde war vermerkt, Vater unbekannt. Was war nur mit Sandra geschehen, daß sie Zuflucht in einer so entlegenen Ecke in Deutschland gesucht hatte? Traurig betrachtete sie Sandras Bild. Wie hübsch Sandra doch gewesen war. Sie dachte an die Zeit, als sie und Sandra noch Mädchen im Alter von zwölf Jahren waren. Wie groß waren Sandras Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft. Eine berühmte Architektin hatte sie werden wollen. Und nun, was war daraus geworden. Nun deckte die Erde sie schon zu. Sandras Bild betrachtend, murmelte Angelika leise: »Ich verspreche dir, ich werde alles in meiner Macht Stehende für dein kleines Mädchen tun. Wenn man mich läßt, werde ich für das Kind sorgen, werde es bei mir behalten. Es soll nicht länger traurig sein, es soll wieder glücklich und fröhlich werden. Ich versprech es bei allem, was mir im Leben lieb und wert ist.«

Angelika wußte an diesem Abend noch nicht, wie es weitergehen sollte. Es kam ja nicht nur allein auf sie an. Sie würde es aber noch ein paar Tage aufschieben, mit Mascha das Jugendamt in Celle aufzusuchen. Zuerst einmal sollte sich das Mädchen an sie gewöhnen, sollte sich in der neuen, fremden Umgebung einleben.

Bevor Angelika selbst zu Bett ging, betrachtete sie noch ein paar Minuten das schlafende Kind. Erneut kam ihr zu Bewußtsein, wie schlecht es aussah. Die schmalen, eingefallenen Wangen, die dunklen Schatten unter den Augen. Überhaupt, schon beim Baden hatte sie bemerkt, wie knochig die zierliche Gestalt war. So, als habe das Kind über längere Zeit nicht richtig zu essen bekommen. Da würde sie wohl sehr behutsam vorgehen müssen, um Mascha langsam wieder aufzupäppeln.

Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe Angelika Riversen an diesem Abend einschlief. Auch auf sie war viel Neues an diesem Tag eingestürmt. Ihr bisheriges Leben würde sich von diesem Tag an ändern.

Als Angelika am nächsten Morgen erwachte, saß Mascha schon in ihrem Bett und spielte selbstvergessen mit ihrer neuen Puppe.

»Guten Morgen, Mascha, du bist ja schon wach? Dann werde ich sofort aufstehen und für uns ein leckeres Frühstück machen.«

Eigenartig, Angelika sah erstaunt auf das Mädchen. Mascha spielte genauso selbstvergessen weiter wie zuvor. Es schien, als habe sie überhaupt nicht mitbekommen, daß sie etwas zu ihr gesagt hatte.