Kinderkriegen -  - E-Book

Kinderkriegen E-Book

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Beschreibung

Kaum ein anderes Ereignis ist für ein Menschenleben so sehr mit Rollenzuschreibungen und Körperlichkeit verbunden – doch was bedeutet Kinderkriegen jenseits romantischer Vorstellungen von Kreißsaalglück und Familie? Technische und gesellschaftliche Entwicklungen stellen die Konstruktionen unseres Miteinanders auf den Kopf, der menschliche Körper, als sexuelle und reproduktive Einheit, wird neu definiert. Doch zugleich wirken alte Muster fort: Ungewollt Schwangere stehen noch immer massiv unter Druck, Eltern, vor allem Mütter, werden mit Beginn der Schwangerschaft auf Rollenbilder zurückgeworfen, die sie längst überwunden glaubten. Immer wieder stellen sich dieselben Fragen: Was ist "normal", was ist in Ordnung? Und welche Macht hat der Blick der anderen? Was heißt es, ein Kind zu verlieren, und was, wenn niemand die eigene Trauer versteht? Wie umgehen mit einer neoliberalen Arbeitswelt, in der Elternschaft nicht vorgesehen ist? Wie viel Raum bietet die Gesellschaft behinderten Menschen mit Kinderwunsch? Was macht Migration, was Rassismus mit der Beziehung zwischen Eltern und Kind? Gehen wir als Gesellschaft zu sehr auf Kinder ein – oder zu wenig? 26 essayistische Erfahrungsberichte werfen Schlaglichter auf aktuelle Fragen rund um Reproduktion und Familie und geben wichtige Denkanstöße für dieses zentrale Thema unserer Gesellschaft.

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BARBARA PEVELING /NIKOLA RICHTER (HG.)

KINDERKRIEGEN

REPRODUKTION

RELOADED

NAUTILUS FLUGSCHRIFT

Einige der hier versammelten Texte sind in Vorfassungen bereits erschienen:

Ulrike Draesner, »Im Kampf um die Häutigkeiten«, Die Zeit, 8.7.2020

Karl Grünberg, »Noch ein Kind?«, Zeit Online, 3.9.2019

Mareice Kaiser, »Das Unwohlsein der modernen Mutter«, ze.tt, 3.9.2018

Andrea Karimé, »charouf – Hammel, gegrillt«, in Alamat, Wegzeichen, Konkursbuchverlag 2006

Antje Schrupp, Schwangerwerdenkönnen, Ulrike Helmer Verlag 2019

Judith Sombray, »Zehn Runden Karussell«, Milchkleid-Blog, 28.3.2019, https://milchkleid.de/blog/10-runden-karussell/

Writing with Care / Writing with Rage, Edit 81, 2020

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2020

Erste Auflage Januar 2021

Satz: Jorghi Poll, Wien

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

E-Book-ISBN 978-3-96054-254-4

INHALTSVERZEICHNIS

Die Vielstimmigkeit von Elternschaft

Teil I: Pläne machen

Nastasja Penzar:Fragmente einer Unsicherheit | Karl Grünberg: Noch ein Kind? | Judith Sombray: Zehn Runden Karussell, oder: Endlich wunschlos. | Thomas Palzer: Kinderkram

Teil II: Neun Monate

Egon Koch: Gewebeklumpen im Glaskolben | Barbara Peveling: Herztöne hören | Antje Schrupp: Schwangerwerdenkönnen | Hans Georg Nelles: Vater werden wollen | Berit Glanz: Splitterstücke | Julia Faust: Auch tote Kinder werden groß | Leonhard F. Seidl: Kinder, Kinder, über alles! | Veit Johannes Schmidinger: Der Besuch

Teil III: Zusammenleben

Claudia Klischat: Think Tank – Familienleben grenzenlos | Undine Materni: …, Mutter, Kind. Vom Zuviel und Zuwenig beim Versuch, Familie zu sein | Martine Lombard: Scherbenglas | Mareice Kaiser: Das Unwohlsein der modernen Mutter | Björn Kern: Von Kita, Klima und Kapitalismus | Nikola Richter: Ruheräume für alle | Dagmar Quadder: Schöne Tage | Florian Werner: Pater familias | Assaf Alassaf: Distanzen flicken | Andrea Karimé: Granatapfellicht. Scham Rasse Geschlecht. Das goldene Kamel | Ulrike Draesner: Das nichtgrünäugige Kind | Barbara Peveling: Frozen Matrix: Abschied von einer Schneeflocke | Simone Hoffmann: Fruchthöhle und Geburtskanal … Das Körperbild malt sich um, wenn wir Kinder kriegen

WRITING WITH CARE / WRITING WITH RAGE

Kurzbiografien der Beiträger*innen

DIE VIELSTIMMIGKEIT VON ELTERNSCHAFT

Ein Chat mit Barbara Peveling, Katharina Picandet und Nikola Richter.

Anstelle eines Vorworts.

Barbara Peveling: Als ich die Idee für den Sammelband hatte, kam mir dieses Zitat in den Sinn: »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«. Seitdem hat sich aber viel verändert. Gerade im letzten Jahr hatte ich extrem das Gefühl, es braucht nur mich, um aus meinem genetischen Material einen Menschen zu erziehen. Das ist ja schon eigentlich eine extreme Allmachtsphantasie – entstanden aus einer Situation purer Corona-Eltern-Verzweiflung mit lernbehindertem Kind.

Nikola Richter: Ich habe ein wunderbares Interview mit Naomi Klein im Freitag gelesen, in welchem sie vor einem »Screen New Deal« durch Corona warnt, »dass Kinder nur noch technologisch vermittelt lernen«, und stattdessen fordert, dass zum Beispiel mehr Lehrer*innen eingestellt und die Klassen verkleinert werden, dass also eigentlich die menschlichen Beziehungen unter uns – in kleinerem Rahmen – eher verstärkt werden sollten.

Katharina Picandet: Kleinere Klassen (und Kita-Gruppen und Patient*innen-Gruppen) sind auf jeden Fall notwendig, nicht nur als Alternative zu mehr Digitalisierung, sondern überhaupt. Das fordern ja jetzt auch die streikenden Kitas und Krankenhäuser. Das würde ich gar nicht so unbedingt an die Eltern-Kinder-Frage binden, sondern ganz allgemein sehen. Aber bei Familienthemen wird es dann virulent.

Nikola Richter: Es ist eben so eine Dichotomie: Einerseits sollen Familien, wie auch immer sie gestaltet sind, ihren Nachwuchs selbstverantwortlich aufwachsen lassen, und andererseits greifen der Staat und der öffentliche Diskurs wie selbstverständlich in die Körper und in die Erziehung ein. Davon schreibt ja zum Beispiel Björn Kern in seinem Text: Wie die Kitadauerbetreuung eigentlich ein kapitalistisches System verdeckt. Durch Corona wurde das dann überdeutlich: Eigentlich ist ja sogar Homeschooling in Deutschland nicht erlaubt (oder nur in sehr besonderen Fällen), und auf einmal wurde das der erwünschte Regelfall.

Barbara Peveling: Schon mit dem Schwangerwerden wird die Verantwortung im Kontext der Reproduktion ausgelagert, womit sich Antje Schrupp intensiv auseinandersetzt: Wieviel Entscheidungsfreiheit haben Menschen, die in Körpern leben, die schwanger werden können, und wie weit darf der Staat, die Gesellschaft da eingreifen? Um wieder auf Naomi Klein zurückzukommen: Wie kann man im Gesamtkontext der Reproduktion Fortschritt mit positiver Lebensqualität verbinden?

Nikola Richter: Ich finde hier zwei Aspekte interessant: Was ist positive Lebensqualität und inwiefern gehört die Reproduktion dazu?

Wer reproduziert sich? Was verändert sich innerhalb der Reproduktionsgrundlagen? Welche ökonomischen, welche sozialen und welche lokalen Grundlagen unterstützen oder erschweren Reproduktion? Die Tatsache, dass Männer etwa immer unfruchtbarer werden, wohl auch durch Umweltverschmutzung, industrielles Essen, mit Medikamenten versetztes Wasser, hat es sogar im September auf das Cover einer Ausgabe des Spiegel geschafft: »Der unfruchtbare Mann«. Aber sind wir, ganz grob gesprochen, nicht Teil der Menschheit, dieser Spezies, und wir reproduzieren uns als Spezies in Beziehung zu anderen Spezies? Stehen wir nicht auch in einer Verantwortung, uns unter vielen anderen Lebewesen nicht zu viel Platz zu gönnen? Hat das Anthropozän nicht schon zu viel zerstört? So wird es selten gesehen, stattdessen stellt sich das Individuum hin mit seinen Genen und will »Sich-Selbst« reproduzieren. Diese Frage des »Was gebe ich weiter?« wird dann eng an spezifische Mutter- und Vaterrollen gekoppelt, die vehement in unserer Gesellschaft und auch in unserer Anthologie diskutiert werden.

Katharina Picandet: Das stimmt. Eigentlich steht das Individuum, scheint mir, oft im Zentrum der Diskussion: das Recht, entscheiden zu dürfen, ob und wann man selbst schwanger wird – oder schwanger bleibt; das Recht, den Kinderwunsch zu erfüllen, z. B. eben mithilfe der Reproduktionsmedizin; das Recht auf pränatale Diagnostik oder eben das Recht, auf solche Diagnostik zu verzichten, und dann aber auch wieder das Recht auf eine Gesellschaft, die etwa Kinder mit Down-Syndrom teilhaben lässt und ihnen Raum schafft, usw. usf. Das sind alles Rechte, die ich unbedingt verteidigen möchte. Die auch die Anthologie verteidigt. Diese Rechte alle zu haben, das ist für mich positive Lebensqualität. Und trotzdem kann man diese Rechte nicht unabhängig von der Gesellschaft sehen. All diese Entscheidungen betreffen ja nun mal ein neues Mitglied dieser Gesellschaft, bzw. die Gesellschaft hat eben weniger neue Mitglieder, wenn es jetzt um das Recht geht, keine Kinder zu bekommen. Interessanterweise wird ja einerseits den Kinderlosen (Ausnahme: die ungewollt Kinderlosen) Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, keine späteren Rentenzahler zu produzieren, platt gesagt. Andererseits wird genau das, also Verantwortungslosigkeit, auch Eltern vorgeworfen, weil sie neue CO2-Verursacher produzieren. Die Verantwortung, Kinder zu kriegen (oder eben vielleicht auch, sie nicht zu kriegen), ist für mich auch eine Verantwortung gegenüber der Spezies. Die eigenen Entscheidungen betreffen immer alle, und umgekehrt. Und deswegen ist es auch so immens wichtig, sich gesellschaftlich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, und nicht individuell.

Barbara Peveling: Ja, das stimmt. Aber genau da gibt es für mich eine Schieflage in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein.

Denn der gesellschaftliche Blick greift immer zu kurz. Als Beispiel der Text von Assaf Alassaf: Ein syrischer Vater muss sich im Kontext der Flüchtlingskrise in Deutschland neu erfinden. Muss das sein? Bei Andrea Karimé muss ein Vater im Kontext früherer Einwanderung um Anerkennung kämpfen und lässt stattdessen die Missachtung seiner Tochter in der alten Heimat zu. Der Konflikt um Ressourcen hängt auch immer mit Reproduktion zusammen. Aber unser Blick ist immer nur begrenzt. Darauf weist der Text von Leonhard F. Seidl sehr deutlich hin. Der Nachwuchs stellt in unseren Breitengraden oft ein ganz individuelles »Projekt« dar. Und grenzt dann auch Körper, Geschlechter, Herkünfte und Kulturen ein.

Nikola Richter: Ja, es ist schwierig. Aber im Grunde genommen erfindet man sich sein gesamtes Leben lang selbst. Das Abenteuerliche daran ist ja, dass man sich die Kinder nicht aussuchen kann, die man bekommt, auch mit Pränataldiagnostik ist das nur sehr begrenzt möglich, und dass sich Kinder die Eltern nicht aussuchen können. Emine, eine Nachbarin, erzählte mir, als ich schwanger war, dass es drei Monate brauchen würde, bis man sein Baby kennt, wenn es auf der Welt ist. »Gebt euch Zeit«, sagte sie. Das fand ich sehr weise. Und es dauert das gesamte Leben, ob es lang oder kurz ist, egal. Und parallel zu diesem Kennenlernprozess verhandelt man noch die vielen Rollenerwartungen und Klischees, die die Kinder-Eltern-Beziehungen weiter beeinflussen und verändern.

Das gefällt mir so gut an der Anthologie: Dass viele der Texte so biografisch sind, so wenig allgemeingültig, weil eben jede Kinderkriegen-Situation eine andere ist. Auch wenn sich der Staat oder die Gesellschaft das einheitlicher wünschen. Viele Texte lesen sich so, als ob ein guter Freund oder eine gute Freundin die intimsten Erfahrungen preisgibt. Mit viel Liebe, Weisheit, Lebensmut. Anhand der individuellen Geschichten blitzt dann aber auf, wie sehr wir von außen und von anderen geprägt werden und wie schwierig es ist, diese Wege anders zu gehen, als man selbst und andere gedacht haben.

Katharina Picandet: Ja, das finde ich toll an diesem Buch – die vielen individuellen Sichtweisen. Die Rollenerwartungen, die der oder die Einzelne erfüllen zu müssen meint, betreffen jedes Individuum. Aber andererseits ändert eben auch das Verhalten jeder/s Einzelnen langsam die Norm: arbeitende Mütter als Vorbilder, fürsorgliche Väter als Vorbilder, männliche Erzieher … All das ist dann so wichtig für die nächsten Generationen, aus der Enge herauszukommen, das Überkommene, Übernommene zu hinterfragen. Und immer wieder wird deutlich, dass man sich wohl nur bis zu einem bestimmten Grad einigen wird, dass immer auch Unvereinbares bestehen bleiben wird. Das wiederum ist dann vielleicht die – ebenfalls wünschens- und verteidigenswerte – Freiheit der Familie, z. B. religiöse Werte an die eigenen Kinder weiterzugeben, anstatt abzuwarten, ob sie sich vielleicht als Atheisten entpuppen.

Aber dann wiederum: Nehmen wir den Beitrag von Martine Lombard über ihre geistig behinderte Nichte und deren Kinderwunsch. Alle Beteiligten sind voller Wärme und Verständnis, niemand handelt »falsch«, nicht die Schwester, nicht die Großeltern, alle sind ehrlich bemüht und offen. Und trotzdem entzieht sich die Nichte mit ihrem Kind der Kontrolle der Familie, welche sie als Bevormundung empfindet. Aber was wäre die Lösung? Noch mehr gesellschaftliche Kontrolle, durch das Jugendamt? Wahrscheinlich, aber ich merke schon, dass ich mich damit auch nicht wohlfühle.

Barbara Peveling: Das Dramatische an dem Text von Martine Lombard ist für mich die Rolle des Mannes, der eigentlich als Schutz gegen die Bevormundung, wie du sie beschreibst, eingesetzt wird – und andererseits somit eine Freiheit bekommt, die wieder eine andere Form der Gewalt erlaubt.

So wird der Mikrokosmos, die Keimzelle der Reproduktion doch wieder zu einem Pars pro Toto des gesellschaftlichen Ganzen und darüber hinaus spielt sich dieses Drama oft auch »nur« im Körper der Frau ab. Mich hat überrascht, dass trotz aller Fortschritte und existierendem männlichen positiven Willen zur Gleichstellung Frauen in der Reproduktion und ihren Folgen doch meist noch sehr alleine stehen.

Das hat mich auch sehr in dem Text von Julia Faust berührt. Die Beziehung zu dem Kind bleibt bestehen, auch über den Tod hinaus, und es ist die Mutter, die das hält und aushält. Auch hier kommt der Körper immer wieder ins Spiel.

Nikola Richter: Etwas überspitzt: Der Frauenkörper wird stetig überwacht, verwaltet und auch verkauft, bis hin zu Leihmutterschaften, aber die Mutter mit dem Kind wird eher alleine gelassen.

Im Gegensatz dazu, wie sonst über Mutter- und Vaterschaft geschrieben wird, etwa in Ratgebern oder Schwangerschaftsbibeln, kommen in dieser Anthologie viele Zwischentöne vor; die eben die eigentlichen Töne sind. Was passiert mit mir, wenn mein Körper nicht so funktioniert wie ich will, wie andere wollen? Was passiert mit meiner Beziehung, wenn es mehrere Meinungen zu einer Schwangerschaft gibt? Was passiert mit mir, wenn ich meine Rolle in einer Familie nicht finde, ob mit Kind oder ohne? Ich liebe dieses Zitat von Ulrike Draesner: »Elternschaft bedeutet immer wieder eben dies: zwei Personen zu sein. Zwei Perspektiven zu sehen, die des Kindes, die eigene.«

Katharina Picandet: Und das sind ja auch noch Perspektiven, die sich im Laufe der Zeit sicherlich ändern.

Vielleicht ist es auch manchmal noch schwierig, aus der eigenen familiären Prägung herauszugucken. Wir waren alle klein und haben wahrscheinlich so alte Vorstellungen davon, was eine gute Mutter, ein guter Vater, eine heile Familie zu sein hat usf., dass wir gar nicht mehr wissen, woher diese Vorstellungen eigentlich gekommen sind. Ich glaube, dass man sich das wirklich immer nur zum Teil klarmacht, vielleicht an einschneidenden Erlebnissen: »Das war für mich damals so schlimm, das will ich für meine Kinder auf keinen Fall«, oder so. Seit ich die ersten Beiträge für Kinderkriegen. Reproduktion reloaded gelesen habe und ab und zu mal davon erzähle, fällt mir auf, wie schnell oft eine Meinung da ist, zu einem Thema, mit dem sich diejenigen aber bestimmt noch nicht so intensiv auseinandergesetzt hatten: Was mache ich mit vor Jahren eingefrorenen Eizellen, ob befruchtet oder nicht? Ist eine Frau, die ein Kind austrägt, eher »die Mutter« als die, die die Eizelle gespendet hat – selbst wenn es zwei Väter sind, die das Kind aufziehen? Das fand ich schon erstaunlich. Bei anderen Themen wäre man ja doch vielleicht zurückhaltender und würde sich erst informieren. Aber bei Körpern, bei Familie, bei Schwangerschaft – da hat jede*r gleich eine Meinung.

Aber die Erfahrung zu machen, oh, das kann man genauso vehement auch ganz anders sehen, das bedeutet ja wieder, in eine Debatte zu kommen, die Verhältnisse zu ändern. Auf Fragen, die sich in den letzten Jahren mit neuen technischen Möglichkeiten aufgetan haben, werden oft noch so alte Wertmaßstäbe angewendet. Das muss man doch überdenken.

Barbara Peveling: Und es existieren sehr viele Tabus. Claudia Klischat stellt sich in ihrem Schreiben ja extrem diesen Vorurteilen. Auch für die Autor*innen war es, denke ich, nicht immer einfach, sich der eigenen Thematik und Geschichte zu stellen.

Über diesem ganzen Wust aus Fragen, Einbahnstraßen, Ängsten und sozialen Tabus steht dann immer wieder für mich die menschliche Begegnung. Wie in dem Text von Veit Johannes Schmidinger, in dem Moment, in dem es zu einer Berührung zwischen der Leihmutter und dem Vater (sozial und biologisch) kommt, wird eine Tür menschlicher Erfahrung geöffnet, die überwältigend ist.

Soziale Reproduktion ist mit viel Kontrolle, vor allem körperlicher, aber auch mit sozialen Tabus und traumatischen Erfahrungen belegt.

Ich habe mich oft auch gefragt, wieso bleibt die Mutter so allein, heute noch, und in vielen Texten, wie bei Dagmar Quadder, Simone Hoffmann, obwohl es Männer gibt, die sehr weit mitgehen, wie zum Beispiel Egon Koch in dem Text über Abtreibung.

Nikola Richter: Alle Autorinnen und Autoren, wir haben jetzt nur ein paar ganz exemplarisch in unserem Chat namentlich genannt, öffnen mit ihren Texten Türen und auch Herzen, so kitschig das klingt, und die können dann Gesprächsanfänge sein. Über all das, was so oft ungesagt bleibt, weil es schwierig ist, darüber zu sprechen. Jetzt kann man zumindest davon lesen – und dann selbst entscheiden, wie man weiterdenken möchte. Die Vielstimmigkeit von Elternschaft zu spüren, ist definitiv enttabuisierend.

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Nastasja Penzar

FRAGMENTE EINER UNSICHERHEIT

Hier sitze ich also, im weiß-blau gestreiften Badeanzug auf der Sonnenterrasse der Ferienwohnung, solange der Sommer noch anhält. Berge hinter mir. Das Meer vor mir, könnte eigentlich nicht besser sein. Ich bin seit Kurzem Ü30, in einer Entscheidungskrise, und deshalb hier. Ich könnte schwanger sein. Also: Abstand gewinnen. Nachdenken. Über das Leben, die Beziehung. Stattdessen scrolle ich durch den Instagramaccount einer hübschen Freundin. Sie hat drei hübsche Kinder, einen hübschen Mann mit Akzent, der hübsche Fotos macht von den Reisen, wild und frech das Ganze. Ich sitze im Schatten, rauche, der Kaffee schmeckt hier um Längen besser, meine Haut sieht gut aus von der Sonne, ich lasse es mir also mit aller Mühe gutgehen, während mein Neid um ihr Muttersein mich an vielen dieser gut gebräunten Stellen zwickt. Und dann, AHA! Die innere Warnmeldung, die sich jedesmal aufbäumt und schreit:

»LEG DAS HANDY WEG! KAPITALISMUS! Der Glaube, ein Kind würde alles voller, wertvoller machen, ist doch nur ein weiteres Schnippchen – KAPITALISMUS! – das dir das Schweinesystem schlägt, das dir bei jedem noch zu erreichenden Ziel erklären will: wenn du dort bist, DANN! Wenn du das kaufst, dann! KAPITALISMUS! DANNDANNDANN, und du hattest doch schon so viele DANNS, dass du sie nicht mehr zählen kannst, und trotzdem fällst du immer wieder darauf rein?«

Ich atme ein, nehme einen Zug von der Zigarette – ich rauche ja nur im Urlaub, in meinem Alter ist rauchen nicht mehr so sexy, und außerdem – das habe ich irgendwo gelesen – verschlechtert es die Qualität meiner Eier.

Ich drücke die angefangene Kippe aus, rücke meinen Sonnenhut zurecht, nehme mein Notizbuch zur Hand und gehe dem Ganzen mal wieder ordentlich auf den Grund, obwohl mir – nebenbei bemerkt – diese Suche nach der Identität meiner Wünsche ehrlich gesagt ein bisschen zu spät vorkommt, jetzt, wo meine Eier schon anfangen zu faulen. Aber na gut:

Also heute. Ich bin 30 Jahre alt, bald promovierte Schriftstellerin, und (noch) kinderlos. Und ich stehe aufgrund meiner unausgeglichenen Standbeine eher uneben im Leben, was die Entscheidung, vor der ich stehe, ziemlich schwer macht: das eine, kürzere und sehr plumpe Standbein ist das meiner verinnerlichten kroatischen, sehr streng katholisch-gläubigen Familie, in der das Kinderkriegen das höchste, heiligste Streben der Frau ist. Daneben steht krumm und drahtig, ohne recht zu wissen, in welche Richtung es wachsen will, mein anderes, noch zartes, sehr krisenanfälliges »weltliches« Standbein. Gemessen an der sehr ungleichen Länge der beiden wankt mein Glaube, ja, der an Gott, an die Religion, die Familie, aber vor allem auch der an meine uneingeschränkte Entscheidungsfähigkeit. Er wankt, wankt, wankt wie ein im stürmischen Hafen festgehaltenes Kreuzfahrtschiff 2020.

90er. Ich wachse auf in zwei Welten: Unsere neue Welt liegt ganz oben, im siebten Stock. Hier leben ich, meine große Schwester, mein kleiner Bruder, meine Mutter, mein Vater. Meine Eltern lernten sich in einer katholischen Studentengemeinde in Zagreb kennen, siedelten dann über. Der Grund zu gehen: die Doktorarbeit meines Vaters. Der Grund zu bleiben: nun ja, der Krieg. Überassimilation ist ihre, dann irgendwann auch meine Devise: Latein wird meine erste Fremdsprache, mein Vater gibt damit bei seinen Freunden an, mit 14 sammle ich Reclam, lese in der Straßenbahn für mich damals Langweiliges: Kleist, Schiller, Goethe. Ich höre deutschen Punkrock, besetze Häuser, gehöre definitiv nicht zu den anderen Migrantenkids. Nein! Jeden Sommer aber fahren wir im Audi 80 über die Alpen, dann immer weiter, bis wir das Meer sehen, zu Oma, zu Tanten, Onkels, Cousinen, Cousins und noch mehr Cousinen. Meine Oma hat elf Mal geboren, denn, naja, »Das ist einfach das schönste auf der Welt!«

Gestern. Ich werfe Münze. Obsessiv. Sehr oft. Es gibt Großes zu entscheiden. Die Weggabelung, vor der ich stehe, bricht aus dem Boden aus, bäumt sich auf, verwandelt sich in eine Würgeschlage, kriecht angriffslustig und erhobenen Hauptes auf mich zu, ich kann nichts machen, sie kommt näher und ich: werfe also Münze – ein bisschen peinlich – und befriedige damit meine seltsam religiöse Obsession in etwa wie folgt: »Gott, werde ich mit ihm Kinder kriegen?« Münze: »Nein.« »Gott, soll ich mit ihm Schluss machen?« Münze: »Ja.« »Gott, soll ich wirklich mit ihm Schluss machen?« »Ja.« »Wirklich?« »Ja.« »Gott, redest du hier mit mir?« »Nein.« »Gott, gibt es dich?« »Nein.«

Irgendwann im letzten Jahr. Meine atheistische, völlig esoterikfreie Therapeutin sagt, nachdem wir ein Jahr lang daran gearbeitet haben, die Familienstrukturen aufzulösen und meine obsessiven Gedanken im Zaum zu halten, ich solle mich doch lieber an meinem erwachsenen Umfeld orientieren. Na dann, gut:

Heute. Mein Freund und ich sind seit fast drei Jahren zusammen, ein Zehntel meines Lebens in etwa. Er macht sein Abi nach, will dann studieren. Ich bin fertig. Dissertation fast im Kasten, Roman kommt raus, Leistung bringen konnte ich immer (s.o.). Nur das andere nicht so. »Du wirst eine super Mutter«, sagt mein Vater, wenn er sieht, wie ich mit meinen vielen Cousinen spiele. »Ich wollte schon immer Kinder und hätte auch mehr gehabt, wenn dein Vater nicht so gewesen wäre, wie er war«, sagt meine Mutter.

Ich bin 20. Meine beste Freundin und ich rauchen jeden Tag mindestens drei Joints zusammen. »Ich will ein Kind«, sage ich. »Ich auch«, klatscht sie in die Hände, »wie schön das wäre, wenn wir hier sitzen und dann ist da einfach noch so ein kleiner Mensch dabei, oder?« Ich nicke und baue.

Jetzt. »Ich habe aber auch Bock auf Karriere«, sagt das eine Bein. »Aber das ist nicht so richtig tief, oder? Du hast doch nur Angst vor Gottes Weg«, sagt das andere. Ich werfe wieder Münze. Und schäme mich dafür. Die Menschen, die meinen dir sagen zu müssen, »worauf es im Leben tatsächlich ankommt«; Hollywood-Filme, in denen der Held nach der Krise seinen Job schmeißt und mit den Kindern in den Zoo geht; Priester oder Yogis, die über Liebe sprechen; YouTube-Videos, in denen 90-Jährige erzählen, was sie bereuen; ein Ted-Talk über Glück und Gesundheit: Immer, immer geht es um soziale Kontakte, um die Liebe, wie auch immer, um Familie und Freunde. Und ich unterdrücke, dass mein heimlicher Wunsch ist, irgendwann gut angezogen, mit guter Haltung, gutem Body und noch besserer Rhetorik, ein bisschen Witz, viel Charme und fast unausstehlicher Gelassenheit abends in einer Polit-Talkshow der Öffentlich-Rechtlichen zu sitzen und über meine literarische Arbeit und politische Themen zu schwadronieren. Und mein Vater sieht mich dabei im Fernsehen. Und dann, immer: zweifle ich an dieser Phantasie. Denn eigentlich ist mir das ein bisschen egal, wenn ich stattdessen mit meinen vier Kindern Trampolin hüpfen könnte und irgendeine Talkshow im Wohnzimmer nebenbei leise läuft. Glaube ich.

Letztes Jahr. Ich sehe meine Freundin A nach zwei Jahren wieder. Wir waren zusammen Punks, haben gekifft, das alles. Sie hat ihren Sohn gerade in den Kindergarten gebracht, erzählt, wie schön es ist, dass er sich abgrenzt, dass er gestern zum ersten Mal keinen Bock hatte, von ihr zum Kindergarten gebracht zu werden. Sie lacht. Ich bin neidisch. Und Neid ist nur ein Symptom unserer intimsten Wünsche, oder?

Kurz vorher. Ich besuche meine Eltern, mein Vater hat Kollegen eingeladen. Der alte Chef kommt, seine Lebensgefährtin auch. Sie hat ein Gesicht, das aussieht, als hätte sie mehr Zeit mit Lachen als mit Sorgen verbracht in den letzten 70 Jahren. Glücklich, denke ich nur, und beeindruckend. Sie ist ganz da, schaut mir in die Augen, ist groß, riesengroß in ihrem sehr kleinen Körper. Wir lachen, über was, weiß ich nicht mehr. Und irgendwann reden wir: darüber, dass ihre Mutter ihr vorgelebt hatte, dass das klassische Modell, Kinder, Mann, Haus, Geld, nicht das ist, was dich glücklich macht. Kurz ist es traurig in ihrer Stimme, ich suche nach Bitterkeit, finde keinen Funken. Depressiv sei sie gewesen. Die Mutter. Aber darüber habe man nicht gesprochen. Sie beugt sich über die Vorspeise, taucht ein in ihren Geruch, stöhnt vor Lust auf das Schwertfischcarpaccio, sie hat gelernt, das Leben zu genießen. Sie wollte also nie Kinder, war auch nie verheiratet. Meine Mutter, drei Kinder, Mann, Haus, Geld, sitzt gegenüber und wirkt etwas angespannt. Mein Vater nickt heiter und ein wenig beschwipst. Aber er hat mir doch immer erzählt, dass Menschen ohne Kinder egoistisch sind!

Ich bin nicht mehr 13. Meine Eltern und ihre Ideen sollten hier doch keine Rolle mehr spielen! Ich muss zur Therapie!

Abgeschweift. Mein Freund sagt, die Mutter ist die wichtigste Person am Anfang, er könne ja nicht stillen! Ich will das nicht annehmen, ich kenne mich aus mit Gendertheorien! Und gleichzeitig hasse ich es, dass ich vermute, ohnehin nur mit dem Kind sein zu wollen. Dann. Aber es geht ums Prinzip, mein Freund! Es geht ums Prinzip!

Vor ein paar Monaten. Meine Therapeutin lächelt, sie habe eben einen Bericht gelesen, das passe doch gut, dass französische Frauen viel weniger Angst haben als deutsche Frauen, »schlechte Mütter« zu sein und die Kinder weinend im Kindergarten zu lassen. Ich nicke. Am selben Abend wird Keira Knightley auf einer Preisverleihung in meinem YouTube gefragt, wie sie es schaffe, Privates und Berufliches zu verbinden. Keira wird wütend: »Stellen Sie heute Abend dieselbe Frage auch einem Mann?«

Ich bin 14. Ich stehe in der Küche meiner Großeltern in Kroatien, meine Mutter macht die Suppe warm, meine Oma knetet noch schnell irgendetwas, mein Großvater sitzt im Nebenzimmer, ein Kriegsveteran, Arztveteran, ein Ich-laufe-jeden-Morgen-alleine-durch-Kugelhagel-um-alle-sogar-die-Feinde-zu-retten-weil-ich-der-letzte-verbleibende-Chirurg-der-Stadt-bin, der Gestandene, sitzt am Kopf des Tisches – »Jeder hat hier seinen Platz!« – und ich will ihm gerade seinen extragroßen Löffel für die Suppe bringen, da ruft er: »Du musst jetzt lernen zu kochen. Nastasja, hilf deiner Mutter, Nastasja, geh, hol deiner Oma die Milch, wer soll dich heiraten, wenn du nicht kochen kannst?« Ich wüte. »Ich werde niemanden heiraten, der nicht selbst für sich kochen kann!«, schreie ich ins Esszimmer hinein, der alte Veteran stellt sich taub, meine Wut schlägt in mir um sich, ich verstaue sie schnell, so habe ich es gelernt, von Mama, von Oma, »schhh«, und bringe ihm seinen extragroßen Löffel.

Jeden Sommer. Opa. Genau dieser, Chirurg, weiß also alles und sagt mir seit etwa zehn Jahren, dass 1. meine Kinder schon längst in der Schule sein sollten, weil 2. Schwangere ab 30 bei ihnen schon als Risikoschwangerschaften gegolten haben. Dann nimmt er seinen großen Löffel und schiebt ihn unter die feinen Nudeln in der Suppe.

Terrasse, jetzt. Wer soll sich mit 30 noch trennen? Wer macht so etwas, im Ernst? Also manche, ja, meine Freundinnen, die keine Kinder wollen, oder nur vielleicht, aber ich? Ich habe nur noch zehn Minuten zum Kinderkriegen. Das ist ein Problem. Vor allem in meinem Kopf.

Letztens. Nach dem Besuch bei meinen Eltern will ich schnell zurück, nach Hause, zu meinem Freund, in mein »erwachsenes« Umfeld, und muss vor allem aus Geldgründen die Mitfahrgelegenheit nehmen. H. ist 63, sieht nett aus auf ihrem Profil bei BlaBlaCar und ist eine von zwei Fahrerinnen unter etwa 15 Fahrern an diesem Tag. Schön, denke ich, dann ist diese komische Mann-Fahrer-Frau-Spannung kein Thema, das So-Tun-als-sei-es-normal-dass-wir-uns-gerade-für-fünf-Stunden-deine-2m3-Teilen. Ich buche. Es ist 7.30 h, ich treffe die anderen Mitfahrer, zwei Männer, jung und nett, man erkennt sich unter Bla-Blas, wir quatschen ein bisschen verlegen, keiner hat Lust auf Smalltalk, aber unhöflich wollen wir auch nicht sein. Dann fährt sie an, hupt einmal kurz, winkt, parkt, steigt aus, sieht aufrecht aus neben ihrem großen, unförmigen Auto: »Hallo Leute, ich bin H. Aha, du kommst nach vorne«, sagt sie zu mir, »die Frauen zusammen, die Männer auf die Rückbank«. Ist gut, nicke ich, und denke: So will ich sein, wenn ich so alt bin wie sie. Selbstbewusst, und ziemlich glücklich, mit nur einer leichten Trauer im Blick. Eine derart offene Trauer, dass die Zufriedenheit, auf der sie nur zwischenzeitlich liegt, mit jeder ihrer Gesten durchschimmert. Diese eine Lebenszufriedenheit, die ich immer meine, sofort zu erahnen, wenn ich einem Menschen begegne. Im ersten Augenblick. Ich meine dabei nicht die Momentaufnahme einer Laune, die oberflächlichen Emotionen. Ich meine damit eine Haltung, die Anordnung der Falten im Gesicht, ich meine damit die Klarheit, wenn sie sagt, ich solle doch lieber vorne sitzen, die Selbstverständlichkeit ihrer Butterbrotdose. Wir haben fünf Stunden. Und reden. Wir reden über alles, ihre erwachsenen Töchter, was gerade ansteht, über meine Entscheidungen. Über ihre Entscheidungen. Über ihren kürzlich verstorbenen Ehemann: Ein Unfall, »ganz übel«, ihre Falten verziehen sich an für sie ungewöhnlichen Stellen. »Wir haben uns für die Rente einen Bauernhof gekauft, das war der Plan, ja, und ihn umgebaut, wollten dort leben und viel reisen, endlich, wäre ja bald so weit gewesen. Dann ist er auf die Leiter gestiegen, um den Malern noch etwas zu sagen, hat noch mit mir telefoniert, er kommt dann gleich zum Abendessen, hat er gesagt. Dann ist er gefallen. Das war vor einem halben Jahr.« Ihr Gesicht entschuldigt sich ein wenig bei mir, ich nicke, »ist schlimm.« Sie stöhnt kurz, lenkt ihre Gedanken sichtbar in eine bessere Richtung: »Aber meine Töchter waren da, wir waren alle da, zusammen, und haben alles geregelt. Wie eine kleine Verstorbenen-WG.« Die Landschaften ziehen an uns vorbei und mein Magen sich zusammen, schon klar, ich kann in diesem seltsamen Leben nichts planen, meine Entscheidung aber? Meine Entscheidung muss doch auf Plänen fußen? Ihre Offenheit ist angenehm, unaufdringlich, sie erwartet nichts von mir, erzählt, wie ihr Mann den Töchtern zum Geburtstag Werkzeugkästen und Bücher über Finanzen schenkte. »Er hat ihnen gesagt, jetzt ist er noch da, aber bald vielleicht nicht mehr, er möchte ihnen zeigen, wie man alleine klarkommt in der Welt.« Wir fahren weiter. 200 Kilometer und 200 Geschichten über ihre Familie weiter mache ich auch auf, es überrascht mich selbst: über den Kinderwunsch. Sie nickt: Ja ja, ich solle es auf jeden Fall machen! Einfach machen, man habe dann schon die Energie, die man brauche. Sie wartet. »Ich habe eine Freundin, die ist jetzt auch fast 70 und wollte immer Kinder. Er aber nicht. Und weil sie gesagt hat, er ist der Mann ihres Lebens, hatte sie halt keine. Und heute ist das ein Problem. Ein Riesenproblem.« Sie simuliert die Bitterkeit ihrer Freundin, ich spüre sie körperlich. »Die beiden drehen sich nur um sich selbst, und dieses Im-Kreis-Drehen ist so anstrengend, das kann dich nur verrückt machen.« Kenn ich. Sie atmet. Sieht von der Straße kurz zu mir auf, dann wieder auf die Straße, die junge Sorgenfalte zwischen meinen dicken Brauen tut mir schon weh, sie lächelt: »Aber mein erstes Kind habe ich mit 36 bekommen. Mach dir bitte keinen Stress.« Wir kommen an. Ich öffne die Tür. Es ist heiß. 36 Grad, der Beton macht nichts leichter. Wenn Mütter mit 36 Kinder kriegen, hieß es in meiner Familie, stimmt etwas nicht mit ihnen. H. hievt die Klappe ihres Kofferraums hoch, »Super, dann bleiben wir in Kontakt, ja?«

Innen. Die Familie lächelt über mich, als wäre ich eine zu bemitleidende Verblendete der neoliberalen, vom Teufel höchstpersönlich hinters Licht geführten Weltgemeinschaft, wenn ich sage, ich könnte dann zum Beispiel auch einfach alleine erziehen. Wenn das mit dem Mann nicht so klappen sollte.

Immer. Die Mundwinkel meiner Oma hängen bis in den Keller, in dem sie während des Bombardements leben mussten. Sie spricht am Esstisch von Toten: Der sei gestorben, und jener auch, und der und die und der und die. Sie spricht von der Heilgenmuttergottes, von Moral, von einem sehr hohl klingenden Gott. Davon, dass sie zu dick ist, oder ich, oder jemand anderes. Sie ist angespannt, immer noch, auch jetzt mit 92, wo sie ihren Körper eigentlich gar nicht mehr anspannen können sollte. Sie erzählt mir – mit unsichtbar vorgehaltener Hand – dass man dem Mann schon das Gefühl geben sollte, er sei der Chef im Haus, aber hinter seinem Rücken könne man dann schon einfach zum Beispiel schwanger werden. Und dann ist alles unter Dach und Fach.

Letzte Woche. Meine Therapeutin ist glücklich, versichert sie mir. Aber eben eher von der langweiligeren Sorte. Sie lebt mit ihrem Mann zusammen. Morgens essen sie jeweils eine halbe Scheibe Brot mit Käse, eine halbe mit Wurst, beide Hälften Vollkorn, dazu noch eine halbe völlig ungesund: weiß mit Marmelade zum Beispiel. Kinder hätten damals nicht in die Karriere gepasst, sagt sie. Wartet. »Aber Ihr Kinderwunsch, das ist doch fein, weil das für mich von Lebensfreude spricht!« Ich nicke, ich mag sie, aber diese kleine, hartnäckige Stimme in mir zischt, dass man Atheistinnen nicht ganz so ernst nehmen sollte.

Und eben diese Stimme ist mein Dilemma.

Jetzt, Terrasse. Ich versuche es einmal mit Realität. Habe ich von meiner Therapeutin gelernt. Atme ein. Denke, in echt, nur das eine: Die Frauen, die ihren Weg fanden, die Frauen, die gerade stehen, die Frauen, die sich am besten kennen, die Frauen, die sich am wenigsten scheren, das sind die Frauen, in deren Gesicht die Verteilung der Falten am Ende ganz positiv ausfällt. So viel dazu. Das Ende, theoretisch.

Aber da ist noch:

Heute. Ich könnte schwanger sein. In zwei Wochen erfahre ich mehr. Weil wir das mit der Verhütung nicht ganz so ernst nehmen in letzter Zeit, vor allem, seit wir die Beziehung hinterfragen. Logik, Mädchen, Logik?!, schreit die Logik in mir. Weil wir die Dinge zumindest ein wenig einfach geschehen lassen wollen. Ein bisschen Gottvertrauen. Oder?

Ich nehme die angefangene Zigarette vom Boden, zünde sie an, zittere, der Ausblick auf das Meer ist wundervoll, ich denke an meinen Freund, bete kurz zu einem Gott, und gebe »Münze werfen« bei Google ein.

Karl Grünberg

NOCH EIN KIND?

Ich sage jetzt einfach mal, wie es ist: Meine Freundin möchte noch ein Kind. Liegt mir in den Ohren. Hat schon diese Fruchtbarkeits-App installiert. Und ich? Reagiere ausweichend. Und schäme mich ein bisschen dafür. Noch eins? Noch einmal all den Stress?

All das Nichtschlafen. All das Trösten, das Gejammere, die vielen Windeln, die vielen Tage Bettwache wegen Fieber oder geschwollenem Zahnfleisch. Tragen, Pflegen, Hegen. Mittendrin die Arbeit unterbrechen, weil die Kita anruft. Die Sorgen, ob alles okay, ob alles gesund, ob alles normal ist. Nachts aufwachen, rüberschauen, auf den Atem lauschen. Das Jonglieren der unterschiedlichen Bedürfnisse, die zu einer Familie gehören. Die vielen Stunden und Tage und Wochen, die ich auf Spielplätzen verbringe und verbracht habe, die möchte ich gar nicht zusammenzählen.

Ich höre mich sagen, dass ich ja auch nicht mehr der Jüngste sei. Braucht die Welt wirklich noch ein Kind – und braucht die Welt wirklich noch ein Kind von mir? Ich möchte doch einfach mal auf der Couch sitzen und nicht verantwortlich sein.

Ein Freund von mir ist mit seiner Familie nach Eberswalde gezogen, das liegt vor den Toren von Berlin, hat eine Bahnanbindung, einen Zoo und Naturschutzgebiete. Der ist so ein Survivaltyp, rennt in den Wald, schießt mit dem Bogen, baut sich Unterstände für die Nacht. Seine Frau möchte auch noch ein zweites Kind. Und er sagt: »Das ist die beste Frau der Welt, wenn sie noch eins will, dann muss ich ran.«

»Machst du dir gar keine Sorgen um den Meeresspiegel? Die Ernährungslage? Wer weiß, ob wir in zehn Jahren überhaupt noch für unsere Kinder sorgen können?«, frage ich ihn. »Nein, das ist Natur. Wir Menschen können sterben. Auch mein Kind kann sterben. Wenn es so ist, ist es so. Soll ich aber im Gedanken daran oder in Angst davor, dass das passieren kann, kein Kind bekommen? Ich kriege meine Familie schon ernährt«, sagt er, spannt den Bogen an und hämmert seinen Pfeil in die 40 Meter entfernte Zielscheibe.

Ich bin nicht produktionsfaul. Nein, ich habe mein Soll für Deutschland schon erfüllt, mit zwei Kindern sogar quasi übererfüllt. Das erste Mal bin ich mit 21 Jahren Vater geworden, noch bevor mein Studium losgegangen war. Noch bevor ich auch nur eine Vorlesung besucht hatte, hatte ich schon zwei Nebenjobs, um mir das Kind auch leisten zu können. Ich gebe zu, es war nicht unbedingt geplant. Vor der Geburt hatte ich Panik und dachte, dass mein Leben vorbei sein würde. Es kam dann, wie es kam – anders.

Wenn man all in ist, dann ist man all in. Rausmogeln, Unsichtbarwerden, das gab es für mich nicht.

Ein Bekannter, auch ein Vater, versteht es wunderbar, immer erst mal auf seine Bedürfnisse zu achten, damit es ihm gut geht. Erst mal eine Pause, erst mal mit Freunden treffen, erst mal Fußball spielen gehen. Er schafft es immer wieder, sein Kind wegzudelegieren. »Kannst du mal kurz halten, ich muss mir nur rasch einen Kaffee machen«, sagt er dann und wird für die nächsten 30 Minuten nicht mehr gesehen. Wenn das Delegieren nicht klappt, kriegt er schlechte Laune und kann sich noch weniger kümmern. Logisch. Auch eine Strategie, um seine Ruhe zu haben. Nun haben er und seine Frau sich getrennt.

Beim ersten Kind habe ich alles rund ums Vatersein aus dem Bauch heraus gemacht, ohne viel Kopfarbeit. Viel rausgehen, viel vorlesen, viel kuscheln, viel Eis essen und ansonsten »immer mit der Ruhe«. Ja, das Fieber wird schon runtergehen. Nein, sie wird nicht vom Baum stürzen. Sie wird ihren Weg schon gehen. Und natürlich musste ich meinen Weg auch erst gehen. Wir sind quasi zusammen groß geworden, meine Tochter und ich.

Ja, es war schwierig. Andere machten Party oder Erasmus. Ich war verantwortlich. Andere bekamen Bafög oder Geld von den Eltern. Ich ging arbeiten. Andere bastelten an ihren Karrieren. Ich besuchte mit meiner Tochter die günstige Kino-Nachmittagsvorstellung, wir schauten Pippi Langstrumpf und dazu kauten wir die reingeschmuggelten Gummibärchen, Popcorn konnten wir uns nicht leisten. Später gestand mir meine Tochter, dass sie immer furchtbare Angst hatte, erwischt zu werden.

Die Klamotten waren dritter Hand. Die Ausflüge führten in den Stadtwald oder an den Stadtsee, immer mit der S-Bahn oder dem Fahrrad. Und zu essen gab es Selbstgeschmiertes. Ja, es war ein riesengroßes Provisorium, oft musste das Kind nebenbei passieren, neben dem Schreiben der Hausarbeiten, neben dem Arbeiten. Das Kind war nicht mein Projekt, stand nicht im Mittelpunkt. Wir mussten einfach schauen, dass alles klappte. Ich erklärte ihr die Welt, dachte mir Geschichten aus, war Sicherheit und Trost.

Nur ich hatte keinen zum Drüberreden. Die anderen Väter aus der Kita waren alte Säcke, fand ich. Über 35, was sollte man mit denen schon groß bereden? Ich erinnere mich auch noch sehr gut an die Einsamkeit, als meine Freunde Silvester um 22 Uhr zum Feiern loszogen und ich allein mit Tochter in meiner WG blieb. Um Mitternacht weckte ich sie, um ihr das Feuerwerk zu zeigen. Sie war nicht interessiert.

In die WG war ich deshalb gezogen, weil meine Beziehung in die Brüche gegangen war, weil wir jung und dumm waren. Aber wir schafften es, friedlich zu bleiben, und teilten uns Pflichten und Kinderzeiten gerecht auf. Hälfte, Hälfte. Wenn der eine was hatte, einen Termin, eine Abgabe, eine Fortbildung, sprang der andere ein und umgekehrt.

Heute bin ich selbst dieser alte Sack. 38. Meine Tochter ist jetzt fast 17 und wohnt seit drei Jahren komplett bei mir, bei uns. Sie ist größer als ich, ist stärker als ich. Rettungsschwimmerin. Hat bei einem Jugendverband eine eigene Kindergruppe. Kümmert sich selbst um ihre guten Noten. Wäscht ihre Wäsche selbst. Kocht für sich. Ab und zu lehnt sie sich aber noch an meine Schulter und sagt, »Ich hab dich lieb, Papa.«

Mein Sohn ist fast vier – und auch diesmal ist alles anders. Erstens hat er oft seine Mutter viel lieber als mich. Mit mir toben will er. Spielen. Lego bauen. Aber mit mir kuscheln? »Nö, du piekst«, sagt er schlau, und dagegen kann ich schwer was sagen.

Der größte Unterschied zwischen damals und heute ist: Ich bin aufmerksamer, mehr da, ich bin weniger getrieben als mit Anfang zwanzig, als alles existenziell war. Und auch heute mache ich mit meiner Partnerin alles halbe-halbe: Haushalt, Einkommen, Kind. Sie will was von ihrem Beruf. Ich will was von meinem Beruf. Also schmeißen wir uns die Bälle zu. In den ersten Kinderjahren bildete sie sich fort, war im ganzen Land unterwegs und ich mit Sohn bin ihr hinterher gereist. So konnte man einen Mann mit Bart und Kind vor dem Bauch durch Schneewälder und Sommerstädte stapfen sehen. Immer im Drei-Stunden-Radius um die Mutter herum. Denn dann mussten wir wieder da sein, zum Stillen.

Ich bin heute viel mehr in Sorge als damals. Wie oft ich »Achtung« oder »Aufpassen« oder »Vorsicht« sage! Ich gehe mir schon selbst auf die Nerven. Sehe überall Gefahren und Hindernisse, die ich für meinen Sohn aus dem Weg räumen zu müssen glaube. Was natürlich Quatsch ist. Aber es fällt mir schwer, das zu unterdrücken. Neulich musste er operiert werden, nichts Schlimmes, aber mit Vollnarkose. Und als er dann dalag, betäubt und hilflos, wurde mir ganz anders. Vielleicht war es, weil er außerhalb meiner Reichweite war, an einem Ort, an dem ich ihn in diesem Moment nicht beschützen konnte.

So. Nun aber soll noch eins her. Ein Geschwisterkind. Ihr zweites, mein drittes. Puh. Ich habe wirklich nichts gegen Kinder. Meine zwei zu sehen, ihnen zuzuhören, mit ihnen rumzualbern, sie zu nerven, erfüllt mich mit unbändiger Lebensfreude. Aber noch eins? Wenn das dritte ausgewachsen wäre, dann wäre ich 55, 56, 57 Jahre. Ein richtig alter Sack, der den größten Teil seines Lebens mit Kindergroßziehen verbracht hätte. Ich bin ja jetzt schon so müde.

Ich schätze, das dritte Kind kommt dann einfach, wenn ich nicht mehr so viel darüber nachgrüble.

Judith Sombray

ZEHN RUNDEN KARUSSELL, ODER: ENDLICH WUNSCHLOS.

Ich habe zehn Jahre und drei Schwangerschaften gebraucht, um zu merken, dass meine Uhr gar nicht tickt. Dass ich eher ein Phantomticken wahrgenommen habe, eines, von dem mir erzählt wurde, dass ich es haben sollte, eigentlich.

Mit 30 Jahren und nach einigen halbherzigen Versuchen vorher bin ich endlich die Pille losgeworden. Nach vielen Frauenärzt*innen, die mir was von der »Befreiung der Frau«, von Einfachheit und Sicherheit erzählt haben und meine Nebenwirkungen (Migräne, Haarausfall, depressive Episoden) als absolute Ausnahmefälle bezeichneten, stieß ich eher zufällig auf NFP (»Natürliche Familienplanung«), beziehungsweise die symptothermale Methode. Ich nahm brav das letzte Pillenblister zu Ende. Danach hörten die Migräne und der Haarausfall auf. Depressive Verstimmungen habe ich immer noch ab und zu, aber sie sind aushaltbarer, kürzer und fast immer gekoppelt an PMS-Tage.

»Na, dann wirst du sicher bald einen Spielkameraden für X bekommen!«, sagte eine damalige Freundin von mir. Was anderes konnte es ja nicht heißen, dass ich die Pille abgesetzt hatte. Tatsächlich hatte ich mit Staunen und ein bisschen Neid der Schwangerschaft dieser Freundin zugesehen. Wie sie rund wurde, überall üppig, etwas behäbig. Wie sie ein Nest baute. Interessant sah das alles aus, gemütlich irgendwie, gesellschaftlich anerkannt. Wie ein normaler Mensch, so ein echter, richtiger Mensch. Das wollte ich auch gern sein, dachte ich, so eine Echte, Richtige, eine, die Nester baut, rund wird, die endlich mal als normal durchgeht, etwas Verständliches tut. Gar nicht übel, dachte ich, obwohl ich vorher eigentlich immer nur gedacht hatte: Bloß keine Kinder.

Mit 30 durfte ich auch aus Ärzt*innensicht die Pille absetzen, weil »Jetzt tickt ja langsam Ihre Uhr!«. Bei mir tickte nix, aber so ein bisschen Normalsein, das kam mir gut vor. Vielleicht so in ein paar Jahren, dachte ich damals. So ein Enkel, sagte meine Mutter ein paar Jahre später, das käme ihr schon gut vor. Das hätten ja jetzt auch fast alle ihre Freundinnen. Ist ja irgendwie das, was man halt so macht, dachte ich. Vielleicht wache ich ja doch irgendwann auf und bin endlich so wie alle, dachte ich. Mit einem Vollzeitjob, einem Auto, vielleicht finde ich dann plötzlich Rotwein gut und interessiere mich für Großveranstaltungen.

Jetzt nichts gegen Vollzeitjobs und Rotwein, »you do you«, wie man heute sagen würde, Beispiele nur zufällig gewählt. Beides sind Marker des Erwachsenseins, die bei mir nie verfangen haben, wofür ich mich immer wieder mal erklären muss; wobei die Abwesenheit von Rotwein in meinem Leben mehr Entsetzen hervorruft als die Abwesenheit eines eigenen Autos (oder Vollzeitjobs).

Ich wartete jedenfalls noch ein bisschen ab und machte immer wieder mal Zukunftspläne, die von einer völlig anderen Version von mir ausgingen. Von einem anderen Menschen eigentlich. Ich weiß gar nicht recht, wie dieser andere Mensch in mich reingeraten ist, diese verinnerlichte Vorstellung davon, wie ich zu sein hätte, aber er oder sie wohnte in irgendeinem Hirnnebenzimmer, rumorte da so herum und schickte ab und zu Kurznachrichten:

»Demnächst evtl. Auto kaufen.«

»Bisher arbeitest du zwar 25 Stunden die Woche, aber sag den Job einfach mal zu, vielleicht gehen übernächsten Monat ja plötzlich doch 50 (denk an die Rente).«

»Drei Verabredungen an einem Tag, kein Problem!«

Ich hoffe ja heute noch manchmal, dass ich mich möglicherweise spontan in eine Frühaufsteherin verwandle. Sobald ich kann, bin ich trotzdem wach bis drei Uhr nachts und schlafe bis mittags. Mit Kindern geht das ja nicht, dachte ich, aber vielleicht, schrieb die Nebenzimmerperson, ist das dann auch egal, weil quasi automatisch alles wieder ausgeglichen wird, das sagen doch alle Eltern, Kinder geben einem ja so viel zurück.

Ich begann, mir defizitär vorzukommen. Ich wohnte in einem der kinderreichsten Viertel der Stadt, um mich her bauten alle Nester, wurden schön üppig, waren gebenedeit unter den Frauen; ich war halt weiter nur die ohne, die mit der Fehlstelle, weil man als richtige Frau ja quasi von Natur aus Mütterlichkeitsgefühle haben muss, sonst stimmt was nicht, sonst ist man nicht komplett. »Versuch’s halt mal«, schrieb die Nebenzimmerin. Und ich versuchte es. Ich versuchte es zwei Jahre lang erfolglos. Ich kam mir noch defizitärer vor. Ich konzentrierte mich nur noch darauf, es nicht geschafft zu haben. Wieder nicht vollständig zu sein. Jeden Monat wieder nicht. Sex wurde zu einer Aufgabe, alles krampfhafter, angeblich müsste ich mich nur entspannen, mal in Urlaub fahren, oder mal in eine Kinderwunschklinik, »Sie sind ja noch jung«, »Da wird es jetzt langsam Zeit«, je nachdem, wen ich fragte.

Eine Kinderwunschbehandlung, das wusste ich sofort und völlig ohne Zweifel, die wollte ich auf keinen Fall. Warum es da nicht bei mir klingelte, weiß ich nicht. Offensichtlich musste ich noch ein bisschen weiter auf den Grund der Gesellschaft sinken, um zu verstehen, dass ich da eigentlich nicht sein wollte. Das vorläufige Ende war eine vorsorgliche Kur mit Schilddrüsenhormonen. »Nur so zum Probieren«, meinte die Ärztin, »kann nicht schaden.« Die brachten mich dermaßen durcheinander, machten mir Herzrasen und grauenhafte Laune, dass ich schließlich im fünften Stock auf dem Balkon stand und überlegte, einfach übers Geländer zu steigen. Das kam mir in dem Moment sehr logisch vor. »An den Tabletten kann’s nicht liegen«, sagte die Frauenärztin. »Sind Sie eventuell unglücklich? Sie sollten sich entspannen. Vielleicht mal wegfahren.«

Ich fuhr also weg. Ich fuhr auch aus meiner damaligen Beziehung raus. Sie war (nicht nur, aber auch) über das (gefühlte, vermeintliche) gemeinsame »Scheitern«, über das Schweigen darüber, das Nichtredenkönnen über dieses Scheitern, kaputtgegangen. Über das fiese, unaussprechbare Hintergrundgefühl von: Vielleicht sind wir dann einfach nicht richtig miteinander. Und auch über die impliziten Vorwürfe, die im Kern immer dasselbe sagten: Ich sei eben einfach nicht entspannt genug. Sie war (nicht nur, aber auch) kaputtgegangen über Sex unter Druck, Zyklusbeobachtung unter Druck, immer wieder Warten unter Druck, über jeden Monat Symptomglücksrad und obsessive Symptomglücksrad-Deutungen (Google-Recherchen aus dieser Zeit: »Nasenbluten schwanger«, »Eustachi’sche Röhre knackt Frühschwangerschaft«, »Schmerzen in den Beinen Frühschwangerschaft«, »Grundloses Weinen schwanger«). (Ich kann hiermit vermelden, dass sämtliche PMS-Symptome sämtlichen Frühschwangerschaftssymptomen gleichen können.)

Ich hatte genug davon, genug vom Thema Kinderwunsch, auch genug von den Internetforen dazu, dem monatlichen Versagensgefühl, der ganzen Scheiße.

Eine gute Weile später und zusammen mit einem neuen Partner vollzog sich das Wunder: Ich wurde schwanger. Dabei war ich überhaupt nicht entspannt. Den positiven Test kommentierte ich mit einem sehr oft wiederholten: »Ach du Scheiße.« Hinterher dann Euphorie: endlich üppiges Nestbauen. »Das wird was!«, schrieb die Nebenzimmerin, mir schlug viel Mitfreude entgegen, das wird schon, dachte ich, ist ja normal, dass man auch Schiss hat, dachte ich. Dass ich das Kind dann eh verlieren würde, das dachte ich nicht. Und auch nicht, dass ich direkt darauf noch eins verlieren würde, gemeinsam mit einem meiner Eileiter, in dem es versehentlich gelandet war. Ab da dachte ich eigentlich überhaupt nicht mehr viel geradeaus, sondern nur noch in Wartezimmern, nur noch mit viel Trauer, immer wieder von vorn. Nur noch der hilflose Wunsch danach, dass die Trauer aufhören möge, die Lücke gefüllt werden, der Verlust ersetzt, das Unerreichbare erreicht.

Mein Stadtviertel war schwanger und ich hatte diesmal nicht genug von dem Thema, sondern wollte es bezwingen, erobern, endlich eine Richtige sein, eine Schöne mit Bauch und echtem Kind darin, mit Kompetenzen. Eine, die dazugehört. Ich handelte völlig andere Themen an diesem Thema ab und merkte es nicht mal. So nah war ich dem Grund schon, so weit unten, so sehr drin in der Denkweise, dass ein Kind doch das war, was ich unbedingt wollen sollte. Ich war ja auch schon Ende 30, die Uhr sollte jetzt sehr laut ticken, direkt vor all meinen Türen stehen, jede Sekunde ein Donnerschlag.

»Möchten Sie denn ein Kind?«, fragte mich ein Heilpraktiker, zu dem mich eine wohlmeinende Freundin geschickt hatte. »Ja«, sagte ich, dachte aber gleichzeitig: »Nein!« Und dann, dass ich doch kein »Nein« denken dürfte, dann würde es ja nix, nie würde ich dann normal sein und recht, sondern immer weiter die Spinnerin, die ich ja eh schon war. Ich hatte mir das alles selbst eingebrockt. »Dann bekommen Sie auch eins«, sagte der Heilpraktiker selbstsicher. »Alles Gute.«

Neidzerfressen wanderte ich durchs Familienviertel, wo alle Kinder hatten oder Vollzeitjobs, auf jeden Fall aber Autos. Jederzeit konnte meine Tarnung auffliegen, meine Mehrfachjobs, meine viele Zeit, die Gedichte, die ich schrieb, die Kinderlosigkeit und das wenige Geld. Was tat ich eigentlich in diesem Viertel? »Was machen wir da eigentlich?«, fragte ich meinen Partner. »Wir ziehen um«, sagte er.

Wir zogen um und ich wurde nochmal schwanger, sofort nach dem Umzug, sofort nach eineinhalb Jahren, in denen absolut gar nichts passiert war, in denen ich mit nur noch einem Eileiter, Endometriose und Ende 30 wieder in der monatlichen Selbstzerfleischungsschleife der Kinderwünschenden gefangen war, in denen mir außerdem mehrere Ärzt*innen erzählt hatten, dass ich jetzt aber schnell heiraten müsste und die Krankenkasse wechseln, danach dann sofortige Kinderwunschbehandlung. Wer nicht mehr jugendlich schön ist, der soll halt wenigstens Mutter werden. Einen anderen Plan gibt es nicht, gab es nie. »Sie können das ja dann moderner machen, vielleicht nimmt Ihr Freund einen Monat Elternzeit, eine Kinderwunschbehandlung ist doch der schönste Hochzeitsgrund!« Im Gehirnnebenzimmer war es merkwürdig still.