Kinderprobleme verstehen und lösen - Sandy Krammer - E-Book

Kinderprobleme verstehen und lösen E-Book

Sandy Krammer

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Beschreibung

Kein Elternteil auf dieser Welt war je perfekt und keines wird es jemals sein. Gut genug zu sein genügt. Doch was, wenn sich Ihr Kind so gar nicht nach Ihren Vorstellungen verhält, Sie seine Verhaltensweisen einfach nicht verstehen können und langsam an sich und Ihrem Kind verzweifeln? Die Probleme können dabei vielfältig sein: Ihr Kind ist ungehorsam, will nicht schlafen oder hilft nicht im Haushalt. Es erwacht jede Nacht aus einem Albtraum, leidet unter einem geringen Selbstwertgefühl oder hat häufig Bauchweh. Es ist hundeelendtraurig, fuchsteufelswild oder haushochenttäuscht. Was nun? Genau für solche häufigen Herausforderungen gibt Ihnen dieser Ratgeber einen Werkzeugkoffer an die Hand, vollgepackt mit Lösungsideen, die sich in der psychotherapeutischen Praxis vielfach bewährt haben. Und manchmal genügen bereits kleine Schritte, um große Wirkung zu entfalten!

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Teil 1: Hintergrundwissen

Guter Rat ist teuer

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Was nicht passt, wird passend gemacht

Sichere Bindung

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer ...

Teil 2: Kinderprobleme und Lösungsideen

Aggression

Albträume

Beißen

Bettnässen

Essen

Grenzen und Regeln

Haareausreißen

Herausfordernde Gefühle

Lügen

Medienkonsum

Mobbing

Nägelkauen

Nicht verlieren können

Pflichten im Haushalt

Psychosomatische Symptome

Richtig streiten

Schlafen

Schulabsentismus

Selbstwert

Stören oder Rückzug bei Aufmerksamkeitsdefizit

Trennung

Trotzen

Zähneputzen

Nachwort

Rat + Hilfe

Fundiertes Wissen für Betroffene, Eltern und Angehörige –Medizinische und psychologische Ratgeber bei Kohlhammer

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Ratgeber aus unserem Programm finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/rat+hilfe

Die Autorin

Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M., studierte Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Danach promovierte sie an derselben Universität zum Thema Psychotraumatologie. Anschließend arbeitete sie als stellvertretende Leiterin der Forschungsabteilung am Forensisch-Psychiatrischen Dienst an der Universität Bern in klinisch-psychologisch-forensischen Projekten. Parallel erwarb sie dort einen postgradualen Master in Kriminologie. Im Folgenden startete sie als systemische Psychotherapeutin. Zunächst war sie in einer Hausarztpraxis beschäftigt, danach in einer großen Schweizer Rehaklinik und zwar zunächst auf der Abteilung für Psychosomatik, sodann auf der Abteilung für Pädiatrie, wo sie sich auf Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Herausforderungen konzentrierte. Hier hatte sie die Leitung des dortigen psychologischen Teams inne. Mittlerweile ist sie ausschließlich selbständig in eigener Praxis als Fachpsychologin für Psychotherapie FSP tätig und arbeitet mit Kindern, Jugendlichen, Familien sowie Erwachsenen.

Sandy Krammer

Kinderprobleme verstehen und lösen

Ein psychotherapeutischer Werkzeugkoffer für Eltern

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043214-7

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043215-4epub:ISBN 978-3-17-043216-1

Vorwort

Auf der Rückseite des Schweizer Elternmagazins vom April 2022 prangte in großen Lettern ein Zitat von Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychiater aus Bern, und zwar: »Erziehung ist der schwierigste Job, den es gibt. Denn der Arbeitgeber ist unberechenbar.« Ich dachte eine Weile über diese Aussage nach und kam zu folgendem: Durchaus, die Anforderungen, die der größentechnisch knapp bemessene Arbeitgeber an uns stellt, sind mitunter unberechenbar. Denn wer kennt es nicht? Das eigene Kind tut so gar nicht, wie und was es soll. Es erwacht jede Nacht aus einem Albtraum, zappelt herum, zankt sich mit anderen oder weigert sich, Zähne zu putzen oder in die Schule zu gehen. Es ist ungehorsam, will nicht ins Bett oder hilft nicht im Haushalt mit. Es ist hundeelendtraurig, fuchsteufelswild oder haushochenttäuscht. Kurz: Irgendwie ist der Wurm drin und den Eltern, so gut sie es meinen, fehlen Strategien, dem Apfel diesen Wurm zu ziehen. Die Eltern überkommt ein Gefühl von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Ärger oder dergleichen. Zweifel kommen auf: Bin ich eine schlechte Mutter, ein ungeeigneter Vater?

Kein Elternteil auf dieser Welt war je perfekt und keines wird es jemals sein. Gut genug genügt. Die meisten Eltern sind bemüht und alleine die Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen und zu reflektieren, zeigt, dass man so schlecht nicht sein kann. Was allerdings vielen Eltern helfen könnte, ist eine Art Werkzeugkoffer, den sie bei Herausforderungen im Familienleben hervornehmen und mittels welchem sie die Bedürfnisse des Kindes angehen können. Ein solcher Werkzeugkoffer hat den Wert von Gold, entmachtet er doch die von Herrn Ramming benannte Unberechenbarkeit. Denn auch wenn die Aktionen unserer Kleinen mitunter unberechenbar erscheinen, können wir berechnet darauf reagieren.

Dieser Eltern-Ratgeber trachtet genau danach: Ihnen ein Arsenal an Möglichkeiten an die Hand zu geben, mit denen Sie Ihrem Kind in herausfordernden Situationen begegnen können. Für jede hier behandelte Schwierigkeit werden mehrere Lösungsvorschläge geboten. Probieren Sie aus, testen Sie, begeben Sie sich auf neues Terrain, seien Sie bei der Erprobung sowohl hartnäckig wie auch flexibel. Nur, weil etwas nicht sofort klappt, heißt es nicht, dass es das Falsche ist. Und dass etwas hier vorgestellt wird, bedeutet nicht, dass es das Richtige für Sie und Ihre Familie ist. Bitte zweckentfremden Sie gezeigte Techniken bei Bedarf: Vielleicht finden Sie das, was bei Albträumen gezeigt wird, ideal für Ihr beißendes Kind und umgekehrt. Dann soll es so sein! Denn am Ende des Tages (und zu jeder anderen Tageszeit ebenso) sind Sie die Expertin oder der Experte für Ihr Kind. Finden Sie heraus, was für Ihr Kind und Ihre Familie am besten passt. Insofern lautet meine Empfehlung, nicht nur einzelne Kapitel aus dem Ratgeber zu lesen, sondern alle – sodass Sie in den Genuss anderer, weiterer Techniken gelangen.

Durch die Problemlösemöglichkeiten hilft Ihnen dieses Buch im besten Fall, vielleicht aber auch nicht. Eventuell ist es wie für Sie geschrieben, oder es gehört in Ihrem Fall leider in einen Abfalleimer. Es kann nicht der Anspruch sein, dass ein einzelnes Buch für alle passt. Legen Sie es weg, wenn Sie merken, dass es nichts für Sie ist. Wenn dem so ist und/oder die Probleme anhalten, ist der Kontakt mit einem sowohl gut ausgebildeten wie auch sympathischen Psychotherapeuten zu empfehlen. Dieser kann passgenauer auf Ihre Familie, Ihr Kind und dessen Situation eingehen, als es ein für die Allgemeinheit geschriebenes Buch vermag. Dabei ist es oft besser, früh eine Fachperson zu kontaktieren, ehe sich bestimmte Probleme verfestigen. In der Schweiz finden Sie zum Beispiel online über den Fachverband Schweizer Psychologen1 eine geeignete Fachperson, in Österreich über den Österreichischen Bundesverband Psychotherapie2 und in Deutschland bspw. über die Bundespsychotherapeutenkammer3.

Schon vor der Corona-Pandemie gab es Engpässe punkto Verfügbarkeit von Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, aktuell erscheint diese Situation weiter verschärft. Mir sind viele Eltern bekannt, die einen Psychotherapieplatz für ihr Kind suchen, doch über Monate hinweg vertröstet werden, zumal Wartelisten derzeit ellenlang sind oder gar nicht erst geführt werden. Je nach Problem ist das Warten der einzige Weg, doch manchmal reichen kleine Tipps und Anregungen, wie es in diesem Ratgeber erfolgt, sodass schon Großes erreicht werden kann.

Sicherlich sind die hier vorgestellten Techniken potenziell hilfreich, denn es sind allesamt in der Praxis bewährte Lösungsversuche. Doch mehr noch wird es Ihre Zuwendung zum Kind sein, das ihm den Halt gibt, Probleme zu überwinden. Die sichere und stabile Bindung zwischen Ihnen und Ihrem Kind bringt Sie beide durch jede noch so aufgeraute See hindurch. Wirklich falsch werden Sie keine der gezeigten Techniken anwenden, auch wenn Sie es kreuzfalsch machen – denn das Wichtigste für Ihr Kind wird sein, dass Sie sich ihm annehmen, sich ihm zu wenden, sich für es interessieren, und so der sichere Hafen sind, den es auf turbulenter See dringend braucht.

Übrigens verwende ich in diesem Buch abwechselnd die feminine und die männliche Schreibweise, manchmal auch beide. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, fair abzuwechseln, doch habe ich nicht nachgezählt. Bitte sehen Sie mir ein eventuelles Ungleichgewicht nach.

Davos, im Sommer 2023Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.

Endnoten

1www.psychologie.ch

2www.psychotherapie.at/patientinnen/psychotherapeutinnen-suche

3www.bptk.de/service/therapeutensuche

Teil 1:Hintergrundwissen

Guter Rat ist teuer

Als frischgebackene Mama verschlang ich die Bücher des Familientherapeuten Jesper Juul. Seine Werke waren und sind mir orientierende und wegweisende Landkarten durch den oft verwirrenden Dschungel der Erziehung. Und er ist es, an den ich mich anlehne, wenn ich schreibe, dass es leider keine Glücksformel für ein harmonisches Familienleben gibt. Dieser eine Lösungsweg zum happy family life gibt es nicht, sondern viele Wege führen nach Rom. Keine seriöse Psychotherapeutin wird Ihnen und Ihrer Familie eine konkrete Anleitung in die Hand drücken können, wie das gelingt – das ist unmöglich. Denn jede Familie ist durch sie selbst konstruiert und hat ihre eigene Bauweise, die niemand von außen einsehen kann. Die Baupläne sind im besten Fall der Familie selbst zugänglich. Nur die Familie und ihre Mitglieder können letzten Endes wissen oder zumindest herausfinden, was sie brauchen, was in ihr Weltgefüge passt und was nicht. Ein guter Psychotherapeut kann dabei unterstützen, dieses Wissen, das bereits da ist, aber schlummert, zugänglich zu machen und die Familie auf dem Weg zur Problemlösungsfindung begleiten. Aber von außen kann er immer nur erahnen, welche Richtung sinnvoll ist. Und so sind letzten Endes immer Sie selbst die Expertin, der Experte für sich und Ihre Familie.

Was auf dem Weg zu einem gelingenden Miteinander ausgiebig helfen kann, ist, über gutes Wissen zu verfügen. Sich ein Stück weit über Eckpunkte aus der Psychologie und Pädagogik zu informieren, gibt eine Grundlage, auf die gebaut werden kann. Ist es nicht spannend, dass viele von uns im Rahmen der Berufsausbildung das eine oder andere Buch über das jeweilige Metier gelesen haben, um den Beruf anständig ausüben zu können, doch nur wenige hatten je ein Buch über die Basics im Bereich der Kindesentwicklung und -erziehung in der Hand, ehe wir als Papa oder Mama tätig geworden sind? Ich möchte dazu anregen, bevor Sie sich im zweiten Teil dem Herzstück dieses Ratgebers zuwenden und sich für eine Vielzahl an Kinderproblemen Lösungsmöglichkeiten aneignen, sich den ersten Teil anzusehen. In aller Kürze und bar jeglichen Anspruchs auf Ausführlichkeit wird eine Reihe wichtiger Themen umrissen. Da es in diesem Ratgeber aber in der Hauptsache um konkrete Strategien geht, ist der erste, theoretisch ausgerichtete Teil, mit Absicht kurzgehalten. Ich verweise auf andere Autoren, denn guter Rat muss nicht teuer sein, manchmal muss man sich lediglich in die nächste Bibliothek begeben. Um sich weiteres pädagogisches Wissen anzueignen, sei zum Beispiel auf die folgenden Werke verwiesen:

Jesper Juul (2022) 5 Grundsteine für die Familie. Wie Erziehung funktioniert. Penguin: München.

Jesper Juul (2009) Grenzen, Nähe, Respekt: Auf dem Weg zur kompetenten Eltern-Kind-Beziehung. 18. Auflage. Rowohlt: Hamburg.

Jesper Juul (2014) Nein aus Liebe: Klare Eltern – starke Kinder. Beltz: Weinheim.

Remo H. Largo (2019) Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. 6. Auflage. Piper: München.

Haim Omer, Philip Streit (2016) Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen.

Wilhelm Rotthaus (2010) Wozu erziehen? Entwurf einer systemischen Erziehung. Carl Auer: Heidelberg.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Neulich erreichte mich die Anmeldung zur Psychotherapie für ein vierjähriges Mädchen. Dieses leide seit drei Monaten aus »unerklärlichen Gründen« an einem schweren Husten. Aus ärztlicher Sicht sei alles abgeklärt, es sei keine organmedizinische Verursachung gefunden worden. Meiner Intuition folgend lud ich die Eltern des Mädchens zum Erstgespräch ein, nicht das Mädchen selbst. Die Eltern kamen, wenn auch deutlich irritiert, schließlich habe die Tochter ein Problem, nicht die Eltern. Ich erhob diverse Informationen und erkundigte mich auch nach bedeutsamen Ereignissen zum Zeitpunkt des Symptombeginns. Ich erfuhr, dass es kurz vor Beginn des Hustens zu einem handgreiflichen Streit zwischen den Eltern gekommen sei. Meine Spiderman-Spinnensensoren meldeten sich und ich vertiefte das Thema der elterlichen Beziehung. Ich brachte in Erfahrung, dass die Eltern seit der Schwangerschaft ihres einzigen Kindes regelmäßig heftig stritten. Obwohl mich die Eltern weiterhin drängten, das kranke Kind in Psychotherapie zu nehmen, lud ich es nicht ein, sondern arbeitete mit den Eltern weiter. Ich folgte der Hypothese, dass der ständige Konflikt der Eltern beängstigend gewesen sein muss für das Mädchen und es verunsichert hat. Jedes Kind braucht Eltern, die ihm Sicherheit und Schutz bieten. Die sichere Bindung zu den Eltern ist in diesem Altersabschnitt notwendig für eine gesunde Entwicklung. Dieses Mädchen nun wächst seit Geburt mit sich streitenden Eltern auf, die sich mal anschreien, mal schlagen, mal trennen, ausziehen, wieder zusammenkommen, wieder einziehen, alles unter den Teppich kehren und dann beginnt der zerstörerische Zyklus von vorne. Wahrscheinlich hatte es den Husten gebraucht, um seinen Spannungen oder Ängsten auf diese Weise ein Ventil zu geben, und vielleicht auch, um auf seine Notlage hinzuweisen. Dass es auf Husten zurückgegriffen hat, kann mit einer persönlichen Schwachstelle zusammenhängen, denn es hatte einige Zeit zuvor eine Bronchitis durchgestanden. Im Laufe der psychotherapeutischen Arbeit erkannten die Eltern ihre Verantwortung für die familiäre und dann auch für die gesundheitliche Situation des Kindes und begaben sich in Paartherapie. Tatsächlich habe ich das Kind nie persönlich kennengelernt – zurecht, denn das hätte es unnötigerweise pathologisiert. Es wäre ein falsches Signal gewesen, ein gesundes Kind psychotherapeutisch zu behandeln. Das Mädchen hätte meinen können, dass an ihm etwas nicht stimme, hätte ich meinen Fokus auf es gerichtet. Stattdessen bearbeiteten die Eltern ihre jahrelangen Probleme und der Husten des Mädchens packte kurze Zeit danach seine Koffer.

Lassen Sie mich ein zweites Beispiel zum Thema Apfel und Stamm anfügen. Ein Junge zu Beginn der Pubertät wurde zur psychotherapeutischen Therapie überwiesen. Er erzählte, dass er immer wieder Probleme habe, seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Vermeintlich kleine Dinge könnten ihn massiv triggern, zum Beispiel ein feindseliger Blick seiner Freunde. So käme es fortlaufend zu impulsiven Durchbrüchen, bei denen er Dinge kaputt mache, sich mit anderen schwer streite, sich gelegentlich selbst mit Schnitten verletze. Zunächst erarbeitete ich mit ihm Notfallstrategien, sodass er seine Gefühle im Akutfall auf nicht schädliche Weise regulieren konnte. Das ist wichtig, um ihn aus der Ohnmacht zu holen und in die Kontrolle zu bringen. Da der Umgang mit Gefühlen wesentlich im Familiensetting erlernt wird, lohnt sich ein Blick auf die Familie meist. Also erkundigte ich mich nach seiner familiären Situation: wo (oder besser: von wem) hatte er gelernt, so mit Gefühlen umzugehen? Nach einigem loyalen Herumdrucksen sagte mir der Junge, dass seine Mama krank sei. Meine Spinnensensoren sprangen wieder an und ich hakte vorsichtig nach. Denn wenn es um die Eltern geht, muss man behutsam vorgehen, da die Kinder ihre Eltern nicht selten schützen wollen und lieber nichts Negatives über sie sagen möchten. Der Junge vertraute mir schließlich an, dass seine Mama an einer (diagnostizierten) emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung leide und ihr Verhalten oft nicht vorhersehbar, sondern regelrecht unberechenbar sei. In einem Moment sei sie ein Herz auf zwei Beinen, im anderen raste sie völlig aus, woraufhin sie ihn wieder sehr liebhabe und ihr alles so leidtue. Ich lud die Mutter auch zu Gesprächen ein und arbeitete fortan mit beiden am Umgang mit Gefühlen, teilweise in gemeinsamen, teilweise in separaten Sitzungen. Im Laufe der Zeit verbesserten sich beide beachtlich, was beider Lebensqualität steigerte und das tägliche Miteinander deutlich entlastete. Dass der Stamm Verantwortung für seinen Apfel übernommen und mit voller Kraft voraus im therapeutischen Prozess mitgewirkt hat, hatte das erfreuliche Ergebnis sicherlich mitverursacht.

Diese Beispiele möchten veranschaulichen, dass keine Probleme aus heiterem Himmel fallen und diejenigen Probleme von Kindern doppelt nicht. Ein weiter Blick, der die Familienmitglieder wie auch die jeweilige Situation, in der sich die Familie befindet, erfassen kann, ist nicht nur wertvoll, sondern unumgänglich. Das Kind lernt und entwickelt sich nicht in einem sozialen Vakuum, sondern es ist von seinen Bezugspersonen umgeben und lernt von diesen. Zum einen werden dem Kind direkt bestimmte, konkrete Bewältigungsmechanismen für diverse Probleme vermittelt. Beispielsweise sagt die Mutter dem Kind, dass es nun, wo es den Turm des Sandkastenkumpels vernichtet hat, sich zu entschuldigen und den Schaden wiedergutzumachen hat. Zum anderen beobachtet das Kind seine Umwelt und lernt am Modell. Zum Beispiel beobachtet das Kind die Mutter, wie diese im Haus eines Freundes eine Vase umstößt, sich sofort entschuldigt und die Vase ersetzt. Was aber lernt das Kind, wenn die Mutter ganz anders reagiert und sie just in dem Moment, in dem die Vase in 1.001 Scherben auf dem Boden liegt, den Freund wütend beschimpft, warum er denn die blöde Vase ausgerechnet dahin stellt, wo man nicht anders kann, als sie umzustoßen?

Was brauchen also Kinder angesichts von Problemen? Im Prinzip benötigen Kinder zweierlei: Sie brauchen zum einen konkretes Handwerkzeug, um Probleme zu lösen, und sie brauchen zum anderen Erwachsene, die ihnen als positive Rollenmodelle dienen.

Weil Ihr Äpfelchen ganz nah bei Ihnen liegt, dürfen Sie von ihm kein Verhalten erwarten, das Sie selbst nicht zumindest ansatzweise umsetzen können. Seien Sie mit Ihrem Kind nicht strenger als mit sich selbst. Verantwortung für das Verhalten eines Kindes zu übernehmen, heißt, auch Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen. Fragen Sie sich: Wie habe ich allenfalls zu den Schwierigkeiten meines Kindes beigetragen? Ist es möglich, dass durch eine Veränderung meines eigenen Verhaltens der Veränderungsprozess meines Kindes begünstigt wird? Geben Sie Ihrem Kind möglichst wenig Grund, eines Tages auf der Couch einer Psychotherapeutin von Ihrem Fehlverhalten zu erzählen und erklären Sie somit die Worte von Friedrich Nietzsche für nur bedingt gültig: »Welches Kind hätte nicht Grund, über seine Eltern zu heulen?«

Auch wenn man sein Kind nicht nicht beeinflussen kann, ist es natürlich möglich, dass Sie als Eltern nicht zu den Schwierigkeiten Ihres Kindes beigetragen haben (und das schreibe ich nicht nur, um zu verhindern, dass Sie das Buch nun in den Mülleimer werfen und eine vernichtende Rezension schreiben). Wir Eltern haben vieles, aber nicht alles in der Hand und selbstverständlich gibt es jede Menge weiterer Einflüsse. Auch wenn Sie nicht zum Problem beigetragen haben, möchten Sie doch sicherlich zur Lösung beitragen, richtig? So lautet die Gretchenfrage also: Wie können Sie Ihr Kind förderlich beeinflussen?

Was nicht passt, wird passend gemacht

Jedes Kind ist anders und bringt einen anderen Strauß an Bedürfnissen mit. Es führt kein Weg daran vorbei, jedem Kind individuell zu begegnen. Eine individuelle Herangehensweise ist eine zwingende Grundvoraussetzung, denn ein- und derselbe Schuh passt nicht jedem Kind. Dass Schuhe gut passen, ist wichtig, und um den Begriff der Passung geht es nun.

Auf die Passung zwischen Kind und primären Bezugspersonen fokussiert das Zürcher Fit-Modell von Remo Largo und Oskar Jenni. Die Autoren sagen, dass viele Probleme im täglichen Familienleben daraus entstünden, dass die Vorstellungen und Erwartungen der Eltern nicht mit den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Eigenheiten eines Kindes zusammenpassten. Will heißen: Manchmal passt der Schlüssel nicht ins Schloss. Nur, wenn der Schlüssel passt, öffnet sich das Schloss und das Kind kann sich ideal entwickeln, was das Risiko für die Entstehung von Problemen senkt oder den Umgang mit Problemen verbessert. Und wann passt nun ein Schlüssel ins Schloss? Largo und Jenni schreiben, dass sich ein Kind dann ideal entwickelt, wenn die folgenden drei Bedürfnisse möglichst erfüllt sind:

·

Kinder brauchen Geborgenheit.

·

Sie benötigen soziale Anerkennung.

·

Sie sind auf Lernerfahrungen angewiesen, um zu gedeihen.

Ich erkläre Ihnen, was unter diesen drei Bedürfnissen im Wesentlichen zu verstehen ist und beginne mit der Geborgenheit, da diese besonders bedeutsam für Kinder ist. Denn sich geborgen, aufgehoben, nahe und sicher zu fühlen, sind unersetzbare Grundvoraussetzungen für das eigene Wohlbefinden und einen gesunden Entwicklungsprozess, etwas, das den Stellenwert in unserem Leben übrigens nicht mit unserer Kindheit verliert (siehe den Abschnitt über Bindung).

In diesem Zusammenhang gefällt mir das Bild vom Schiff und dem Hafen, das ich zuvor schon skizziert hatte. Die Eltern sind der sichere Hafen, von dem aus das kindliche Schiff auslaufen und neue Erfahrungen machen, zu dem es gleichzeitig jederzeit zurückkehren kann, wenn die See zu stürmisch ist und es sich unsicher fühlt. Die Eltern sind der Rückhalt und die Rückversicherung, was die Basis für kindliche Weltendeckungsreisen alias gesunde Entwicklung ist.

Die Funktion eines Hafens üben jene Eltern gut aus, die sowohl körperlich wie emotional ausreichend präsent sind. Guten Gründen oder Absichten zum Trotz: Wer stets unterwegs und abwesend ist, wer ständig ins Handy und in den Laptop schaut oder wer vielleicht depressiv und somit emotional nicht greifbar ist, vermittelt vermindert Geborgenheit. Dabei gibt es keine Faustregel, was ausreichende Präsenz betrifft: das eine Kind braucht mehr, das andere weniger, was eine Frage der Passung ist – schließlich gibt es eine Unmenge an verschiedenen Schlössern und Schlüsseln. Aber grundsätzlich braucht jedes Kind präsente Eltern. Eltern, die genügend da sind, können die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen und angemessen darauf reagieren. Wer nicht genügend da ist, kann das reduziert oder gar nicht. Oder um ins Bild zurückzukehren: Macht der Hafen immer mal wieder die Schotten dicht, kann das Kind bei Bedarf nicht einlaufen und bekommt nicht, was es braucht – sei es Schutz, Ruhe oder etwas anderes. Schiffe brauchen einen Hafen, der geöffnet hat.

Schauen wir uns den nächsten Begriff an: Soziale Anerkennung bezieht sich auf die Einbettung in das familiäre System, zu den weiteren Verwandten, in einen Freundeskreis, zu weiteren Bezugspersonen bspw. Schullehrer oder Sporttrainerin. Zu anderen dazu zu gehören und akzeptiert zu werden, ist eine weitere Grundvoraussetzung für einen gelingenden Entwicklungsprozess. Die allerwenigsten Menschen leben alleine auf einer Insel. Wir alle sind Teil eines Systems und die Natur des Menschen ist auf Gemeinschaft ausgelegt. Wir brauchen andere und andere brauchen uns. Dazu gehört, dass wir von wichtigen Anderen Aufmerksamkeit geschenkt bekommen. Es ist problematisch, wenn Kinder primär über Leistung ihr normales Bedürfnis nach Aufmerksamkeit stillen, oder nur dann in den Fokus der Eltern geraten, wenn sie krank sind, Scherereien anstellen oder sonst wie auffallen. Dabei sollte Aufmerksamkeit stets der Person an sich gelten und nicht abhängig sein von einer Leistung oder Fähigkeit. »Ich bin stolz auf dich, weil du du bist!« sollte eine fortwährende Botschaft sein, schon auch verbal, aber noch mehr im elterlichen Verhalten.

Wenden wir uns dem dritten Begriff zu: Lernerfahrungen. Während Entwicklung und Lernen über die gesamte Lebensspanne hinweg stattfinden, sind diese Prozesse besonders in der Kindheit im Vordergrund. Es ist das Zeitfenster, wo das Fundament des späteren, sich im Bau befindenden Hauses gegossen wird. Dabei muss das Kind nicht zu Entwicklung motiviert werden, denn das Kind will und wird sich von sich aus entwickeln, lässt man es. Das Kind will und soll eigenständige Lernerfahrungen machen. Lebenstüchtig wird das Kind dann, wenn es selbständig seine eigenen Interessen verfolgen und gemäß den eigenen Stärken handeln kann. Der Prozess selbst ist mindestens so wichtig wie das Ergebnis. Die Eltern haben die Rolle des Begleiters inne, des Unterstützers, dem Kind die Initiative überlassend. Sie bieten dem Kind die Fläche, auf die es bauen kann, bauen tut es eigenständig.

Immer wieder begegne ich Kindern, deren Woche durchgetaktet ist; oder ich begegne ehemaligen Kindern, heute Erwachsene, deren Stundenplan während der Kindheit keine Muße ließ. Sie frönen wöchentlich dem Geigenunterricht, der Leichtathletik, haben Nachhilfe, Kunststunde, gehen zu den Pfadfindern, ins Fußballtraining, zur Reitstunde und zudem noch die übliche Schule. Das ist zu viel. Wem keine Zeit gelassen wird, sich selbst zu beschäftigen, lernt nicht, sich selbst zu beschäftigen. Diese Kinder sind oft wenig innovativ, spüren nur reduziert, was sie selbst eigentlich brauchen, wofür ihr Herz schlägt. Sie entwickeln häufig kein gutes Gespür für die eigenen Interessen und was sie im Leben wahrhaftig wollen. Möglich, dass sich dadurch ein Vakuum bildet (aber nicht muss), das im Laufe der Pubertät und dann im Erwachsenenalter mit Essen, Drogen, Sexualität oder anderem gefüllt wird. Auch möglich, dass sie sich an andere Menschen klammern, die ihnen sagen, was sie zu tun haben, es anderen immer recht machen wollen und niemals sich selbst. Dass sie als Erwachsene diffus wütend sind ab den Grenzverletzungen, die sie durch die Überförderung erlitten haben, doch die Wut nicht zuordnen können. Oder auch, dass sie ein Leben leben, das an den eigenen Bedürfnissen vorbeigeht. Selbstverständlich ist auch vom Gegenteil abzuraten, keinerlei Förderung und komplettes Sich-selbst-überlassen grenzt nicht nur an Vernachlässigung, sondern ist es, und ist prinzipiell ein No-Go. Kinder dürfen und sollen Hobbies haben und das eine oder andere ausprobieren. Die goldene Mitte ist anzupeilen. Es gilt, das richtige Gleichgewicht zwischen Förderung und Leerlauf zu finden.

Dadurch, dass das Modell von Largo und Jenni die richtige Passung zwischen den Eltern und dem Kind ins Zentrum stellt, aber nicht die Eltern oder das Kind an sich, unterstreicht es, dass es bei einem nicht gelingenden Familienleben in der Regel nicht an den involvierten Personen liegt, sondern an etwas zwischen ihnen. Es ist keine Kritik an den Familienmitgliedern, wenn das Familienleben gerade nicht rund läuft, sondern es ist eine Frage der Beziehung und der Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern. Der Gedanke, dass es nicht der Fehler des Kindes oder eines Elternteils ist, sondern dass es an der Passung liegen könnte, ist entlastend. Dies auch, weil an der Passung gearbeitet werden kann. Und oft braucht es wenig, um viel zu bewirken: Handys können weggelegt, Arbeitsstunden reduziert, Anforderungen gedrosselt, übervolle Terminkalender entrümpelt, oder Anerkennung für die Person anstatt für deren Leistung kann geschaffen werden.

Ein Mosaikbild offenbart nur eine bizarre Ansammlung an Steinen, steht man zu dicht davor. Einige Schritte zurück offenbart sich das Zusammenwirken der Steine und ein übergeordnetes Bild entsteht. Reflektieren Sie, machen Sie innerlich einige Schritte retour, fragen Sie sich: Wie ist unsere innerfamiliäre Passung? Ist das Bedürfnis meiner Kinder nach Geborgenheit, Anerkennung und Lernerfahrungen gestillt?

Sichere Bindung

Die Erfüllung der Grundbedürfnisse ist elementar für die Lebenszufriedenheit und Lebensqualität von uns allen. Insgesamt gibt es vier menschliche Grundbedürfnisse, nämlich:

·

Bindung (Nähe und Schutz durch konstante Bezugspersonen)

·

Orientierung/Kontrolle (die Welt ist verständlich und beeinflussbar)

·

Selbstwerterhöhung (man empfindet sich selbst als wertvoll und gut)

·

Lustgewinn/Unlustvermeidung (man strebt angenehme Erlebnisse an und will unangenehme Erlebnisse vermeiden)

Die Nicht-Befriedigung dieser zentralen Grundbedürfnisse führt zu einem Mangelzustand. Aus diesem heraus resultiert ein Verhalten, das danach trachtet, den Mangel zu beheben und den Zustand zu verbessern. Gelingt dies: Bedürfnis befriedigt, Thema erledigt, life goes on. Gelingt dies nicht, werden entweder dysfunktionale und wenig gesunde Strategien eingesetzt, um den Mangel wenigstens ansatz- oder auch ersatzweise zu beheben, wobei die Kosten-Nutzen-Analyse suboptimal ausfällt, oder aber der Mangel wird ausgehalten und ignoriert. Beides kann zu einem eingeschränkten Wohlbefinden und zu Folgeproblemen führen, zum Beispiel zu psychischen Problemen.

In der Befriedigung der Grundbedürfnisse sind Kinder in höherem Ausmaß als Erwachsene von ihren Bezugspersonen abhängig. Kinder brauchen die Unterstützung der sie umgebenden Erwachsenen, es geht noch nicht alleine. Die Erfüllung der drei anderen Grundbedürfnisse ist von unterstützenden Personen abhängig. Deshalb nimmt das Bindungsbedürfnis im Kindesalter eine vordergründige Position ein, es ist wichtiger als die anderen drei Grundbedürfnisse – was diese aber keinesfalls unwichtig macht. Bindung ist für Kinder Grundbedürfnis und Voraussetzung zur Befriedigung der anderen Grundbedürfnisse zugleich.

Weil jedes Kind von seinen primären Bezugspersonen abhängig ist, ist seine Bindung zu ebendiesen von immenser Wichtigkeit, was die Nichtstillung dieses Grundbedürfnisses im Kindesalter besonders verheerend macht. Um die Nichtstillung zu verhindern, sind Kinder fortlaufend darauf aus, Bindung zu ihren Bezugspersonen herzustellen, was anhand von Bindungsverhalten erfolgt. Dieses Bindungsverhalten erfolgt anhand ganz unterschiedlicher Strategien, manche sind gesünder, manche weniger. Und gelingt eine gute Bindung nicht mit gesunden Strategien, werden weniger gesunde Strategien angewandt: Das Kind weint, klammert, entfernt sich, zeigt sich aggressiv oder entwickelt Kopfschmerzen, um einige wenige Möglichkeiten zu nennen. Alles ist möglich, solange es die Bezugsperson näherbringt und das Kind bindet. Ungünstiges Bindungsverhalten erzielt aber nicht immer das gewünschte Ergebnis und zieht nicht selten negative Konsequenzen oder Nebeneffekte nach sich.

In diesem Zusammenhang fällt mir Noemi ein. Noemi ist eine zehnjährige Schülerin mit einer Angststörung. Das bedeutet, dass sie an Ängsten vor Liften, Treppen, Gondeln und ähnlichem leidet. In solchen Situationen entwickelt sie Panikattacken, also ein Erleben intensiver Angst mit einhergehenden körperlichen Symptomen wie Atemnot, Herzrasen und Schwitzen. Jedes Mal dann, wenn sie eine Panikattacke erleidet, ruft sie ihre Mutter an, und zwar mit dem Handy, das ihr die Mutter eigens hierfür gekauft hat. Die Mutter ist voll berufstätig und Noemi wird vor und nach der Schule stets fremdbetreut. Wenn Noemi inmitten einer Panikattacke ihre Mutter anruft, nimmt sich diese Zeit, und spricht liebevoll mit ihrer Tochter. Die Mutter bleibt so lange am Apparat, bis die Panikattacke abgeklungen ist. Das hört sich im Grunde genommen schön an, nur: Dadurch »belohnt« die Mutter die Panikattacke mit ihrer Zuwendung und – nicht zu verachten für eine Zehnjährige! – mit einem Handy. Leider steht dies der Überwindung der Panikattacken eher im Weg. Wir veränderten dieses Verhaltensmuster dergestalt, als dass ich Noemi in unseren psychotherapeutischen Sitzungen beibrachte, selbst mit diesen intensiven Gefühlen umzugehen und die Mutter nur noch zu kontaktieren, wenn keine Panikattacke zugegen war. Diese hingegen räumte mehr und mehr Zeit für ihre Tochter ein, und zwar außerhalb von Panikattacken. Mutter und Tochter erlebten qualitative Zeit miteinander. Die Paniktattacken waren nicht mehr nötig zur Erstellung von Bindung.

Noemis Beispiel veranschaulicht, wie gut gemeintes elterliches Verhalten mehrere Kilometer am Ziel vorbeischießen kann. Und dafür gibt es viele Beispiele. Häufig erlebe ich auch Schmerz geplagte Kinder, die »dank« ihrer Schmerzattacken von ihren Eltern das Fürsorgeverhalten erhalten, das sie brauchen. So werden die Schmerzen beibehalten, denn sie sind der geringere Kostenpunkt als ein Mangel an Bindung, obgleich sich dadurch auch Defizite hinsichtlich Schulkarriere, Freizeitbeschäftigungen, Freundeskreis etc. einstellen können. Und schließlich kann elterliches Bindungsverhalten, das nur dann aufkeimt, wenn es mit Schmerzen erkauft wurde, aber nicht sowieso gezeigt wird, die Sehnsucht nach der kindlichen elementaren Bindung nicht beheben.

Bleiben wir noch etwas bei der Bindung. Wahrscheinlich ist Ihnen der Begriff des Bindungsstils schon einmal begegnet? Basierend auf immer wieder gleichartig ablaufenden Bindungserfahrungen bildet sich bei uns allen ein bestimmter Bindungsstil heraus. Es gibt vier davon:

·

Sichere Bindung: Kinder mit sicherer Bindung haben in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, dass Bezugspersonen verlässlich sind. Wenn sie Bedürfnisse zum Ausdruck gebracht haben, wurde sich darum gekümmert. Diese Kinder fühlen sich geborgen und sicher, sodass sie die Welt entdecken können. Sicher gebundene Kinder entwickeln sich meist gut, sind langfristig zufriedener, haben einen guten Freundeskreis, zeigen einen stabilen Selbstwert, günstiges Problemlöseverhalten usw.

·

Unsicher-vermeidende Bindung: Kinder mit dieser Bindung haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich selbst zu helfen haben und dass Bindungsverhalten bestraft wird. So kommt es, dass sich diese Kinder nicht an ihre Bezugspersonen wenden, wenn sie diese eigentlich nötig hätten. Diese Kinder werden in zukünftigen Beziehungen oft misstrauisch sein, sich manchmal gar nicht erst auf Beziehungen einlassen oder sich möglichst nicht auf jemanden festlegen.

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Unsicher-ambivalente Bindung: Diese Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich nicht darauf verlassen können, von den Eltern geschützt zu werden. In der Folge zeigen sie Verhalten, das wirkt, als ob sie um die Zuwendung und Aufmerksamkeit der Eltern kämpfen würden. Sie wirken verzweifelt, wenn sie von den Eltern getrennt werden – sie weinen, toben, klammern oder ähnliches, um die Nähe wieder zurückzuerlangen. Im späteren Verlauf entwickeln sich daraus oft abhängige Persönlichkeiten, die eher angepasstes Verhalten zeigen, wenig explorieren und gerne die Nähe von Erwachsenen suchen.

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Unsicher-desorganisierte Bindung: Desorganisiert gebundene Kinder zeigen in herausfordernden Situationen ein unklares, manchmal bizarres Verhalten. Es ist möglich, dass diese Kinder durch Bestrafung oder Misshandlung gelernt haben, dass sie vor ihren Bezugspersonen Angst haben müssen. Diese Angst überlagert in der Folge die Bindung. Das bizarre Verhalten könnte daraus folgen, dass die Kinder in Stresssituationen zwar Bindung brauchen, die Nähe also suchen, diese dann aber aus Angst davor nicht annehmen können.

Ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass der Bindungsstil nicht in Stein gemeißelt ist. So ist es bspw. möglich, mit einem ungünstigen Bindungsstil ins Leben zu starten, diesen aber durch korrigierende, wiederholt günstige Bindungserfahrungen zu verändern, wenn auch meist nur langsam. Gute Bezugspersonen können unsicher gebundenen Kindern korrigierende Lernerfahrungen bieten, die im Laufe der Zeit zunehmend zum Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit beitragen können. Das passt zur Beobachtung aus meiner psychotherapeutischen Praxis, dass diejenigen Personen, die zwar schwierige Erlebnisse zu verbuchen hatten, in deren Leben es jedoch Personen gab, die Halt gaben und es gut mit ihnen meinten, meist besser mit dem schwierigen Erlebnis zurechtkommen, als wenn die Geschichte anders ausschaut, sprich keine ihnen wohlgesinnte Person da war.

Für die Entwicklung eines möglichst sicheren Bindungsstil kommt den primären Bezugspersonen folglich ein besonderes Gewicht zuteil. Doch wie wird man zum sicheren Hafen, an den sich das Kind sicher binden kann? Das Zauberwort lautet: Feinfühligkeit. Die elterliche Feinfühligkeit ist eine liebevolle Grundhaltung dem eigenen Kind gegenüber. Dadurch fühlt sich das Kind gesehen, wertgeschätzt, respektiert. Mit Feinfühligkeit gelingt es, die Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen, richtig zu deuten und prompt darauf einzugehen. Das setzt voraus, dass die Eltern emotional und körperlich verfügbar und präsent sind.

Die Feinfühligkeit wird durch eigene Bindungslernerfahrungen mitbestimmt. Stellen Sie sich doch die folgenden Situationen vor und denken darüber nach, wie Ihre Eltern oder Sie auf diese reagiert hätten:

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Wenn ich als Kind ängstlich war, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind heute ängstlich ist, dann reagiere ich so:

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Wenn ich als Kind traurig war, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind heute traurig ist, dann reagiere ich so:

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Wenn ich als Kind wütend war, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind heute wütend ist, dann reagiere ich so:

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Wenn ich mich als Kind schämte, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind sich heute schämt, dann reagiere ich so:

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Wenn ich als Kind hilflos war, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind heute hilflos ist, dann reagiere ich so:

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Wenn ich als Kind müde und erschöpft war, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind heute müde und erschöpft ist, dann reagiere ich so:

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Wenn ich als Kind angespannt und gereizt war, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind heute angespannt und gereizt ist, dann reagiere ich so:

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Wenn ich als Kind enttäuscht war, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind heute enttäuscht ist, dann reagiere ich so:

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Wenn ich als Kind überfordert war, reagierte meine Mutter/mein Vater so:Wenn mein Kind heute überfordert ist, dann reagiere ich so:

Die ehrliche Reflektion des eigenen Bindungsverhaltens ist ein guter, erster Schritt dahin, die eigene Feinfühligkeit zu verbessern, wovon das eigene Kind profitiert. Was Sie auch tun können, ist Folgendes: Sicherlich hat Ihr Kind bereits die eine oder andere herausfordernde Situation erlebt. Sei es im Supermarkt, bei den Großeltern, im Kindergarten. Versetzen Sie sich als nächstes in eine dieser vergangenen Situationen, die für Ihr Kind herausfordernd gewesen war. Machen Sie im Geiste eine Zeitreise. Es hilft meist, schließt man hierfür die Augen. Fragen Sie sich dann:

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Welches Bedürfnis hatte mein Kind und inwiefern bin ich darauf eingegangen?

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Inwiefern hängt das mit meinen eigenen Bindungserfahrungen zusammen?

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Welche Erwartungen hatte ich in dieser Situation meinem Kind gegenüber?

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Wie hätte ich mir den Verlauf dieser Situation gewünscht?

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Was werde ich das nächste Mal anders machen, damit die Bedürfnisse meines Kindes in einer solchen Situation besser erfüllt sind?

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer ...

... und eine Krähe keinen Winter. Hopfen und Malz sind keineswegs verloren, wenn Ihr Kind problematisches Verhalten zeigt. Das Ende der Welt naht nicht. Zeigt Ihr Kind problematisches Verhalten, ist das meist noch keine Tragödie in hundert Akten. Kein Kind kommt backfertig auf die Welt, wir alle durchlaufen einen lebenslangen Lernprozess. Stört etwas, beeinträchtigt es, dauert es an, dann gehen Sie es halt an. Sperren Sie die Krähe in einen Käfig und verhindern Sie den Winter!

Drücken Sie nicht immer alle Augen zu, reagieren Sie, seien Sie aktiv. Doch nicht immer und nicht immer sofort. Denn: Probleme, Frustrationserfahrungen, Konflikte, Überforderung und Langeweile gehören zum Leben dazu und dürfen dem Kind nicht vorenthalten werden. Im Gegenteil: Sie sind wichtige Lernerfahrungen und tragen mitunter zu Widerstandsfähigkeit, Entwicklung eigener Interessen und Konfliktfähigkeit bei. Helikopter zu fliegen ist in etwa so schädlich wie Vernachlässigung. Tatsächlich zeigt die Forschung, dass ein wenig Stress in der Kindheit zu widerstandsfähigeren Erwachsenen führt, als wenn Kinder keinen oder zu viel Stress erlitten hatten. Stress und Frust sollen dem Kind nicht erspart werden – doch sollen Kinder dabei begleitet werden. Eltern helfen dem kindlichen Schiff, Kursänderungen vorzunehmen, wenn vonnöten, da die Navigationskünste noch nicht ausgereift sind. Drücken Sie also auch einmal ein Auge zu, reagieren nicht, sind nicht aktiv!

Sehen Sie es doch einmal so: Kinderprobleme sind nichts anderes als noch nicht gefundene Lösungen. Wer suchet, der findet.

Als nächstes folgt der zweite Teil dieses Ratgebers, der von zentralen Problemen und möglichen Lösungen handelt und in dem es um eben diese Kursänderungen geht.

Teil 2:Kinderprobleme und Lösungsideen

Ehe Sie den zweiten Teil des Ratgebers lesen, bedenken Sie, dass kinderpsychotherapeutische Tipps und Tricks in Buchform niemals ein vollwertiger Ersatz für einen Kinderpsychotherapeuten mit Haut und Haaren sind. Wenn die Probleme Ihres Kindes anhalten und dieses sowie die Familie daran leiden und dadurch beeinträchtigt sind, suchen Sie sich einen echten Kinderpsychotherapeuten. Ein solcher ist in der Lage, individueller und personenzentrierter auf Sie und Ihre Familie einzugehen, als es ein Buch in der Lage ist.

Viele Lösungsideen für die hier gezeigten Probleme können auch bei anderen Problemen Verwendung finden. Viele lassen sich problemlos auf eine andere Schieflage ummünzen. Ich schlage vor, möglichst alle Kapitel zu lesen.

Und viele der hier gezeigten Kniffe lassen sich problemlos auch als erwachsen gewordenes Kind anwenden. Das Alter ist weniger entscheidend als die individuelle Passung. Probieren Sie doch auch selbst das eine oder andere aus.

Machen Sie sich keine Gedanken, wenn Sie die Lösungsideen nicht exakt nach den Vorgaben umsetzen. Sie haben eine eigene Idee? Bestens. Machen Sie es auf Ihre eigene Weise, sofern es unter dem Strich noch in dieselbe Rubrik fällt.

Doch was, wenn das Kind nicht mitmachen will? Vor Trotz strotzt? Jesper Juul schreibt, dass Kinder immer mit ihren Eltern kooperieren wollen und nennt vier Gründe, warum es zu gegenteiligem Verhalten kommen kann. Weil es sein kann, dass auch bei Ihrem Kind einer dieser vier Gründe vorliegt, wenn es nicht mitmachen und kooperieren will, liste ich sie hier:

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Die Eltern freuen sich nicht mehr und fokussieren zu sehr auf die Probleme.

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Die Kinder kooperieren schon maximal und können nicht noch mehr kooperieren.

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Die Kinder verstehen nicht, was die Eltern von ihnen wollen.

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Die Erwachsenen behindern das Kind unbewusst, auch wenn sie das nicht beabsichtigen.

Behalten Sie diese vier Gründe im Hinterkopf für den Fall, dass sich Ihr Kind bei den Lösungsideen (vermeintlich) sperrt. Tut es das, hat es wahrscheinlich gute Gründe dafür. Seien Sie nicht wütend, das trübt nur Ihren Blick, sondern finden Sie heraus, was los ist.

In meinen Augen darf Psychotherapie Spaß machen. In meinem Praxisraum wird viel gelacht, es geht immer mal wieder sehr fröhlich zu und her. Denn wer einigermaßen entspannt ist und Freude hat an dem, was er tut, profitiert meist mehr. Setzen Sie die hier beschriebenen Lösungsideen nicht stur und verbissen um, wahrscheinlich würde das Ihr Kind nur irritieren. Zeigen Sie Humor, lachen Sie, finden Sie einen Weg, gemeinsam Spaß bei der Ausübung dieser Lösungsversuche zu haben. Mein Sohn pflegt mir immer mal wieder zu sagen: »Nimm's locker, Mami!« Mit diesen Worten und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen nun viel Spaß mit dem handwerklichen Teil dieses Buches.

Aggression

Aggression ist normal. Die Evolution hat uns nicht aus purem Sadismus mit ihr ausgerüstet. Aggression kann als eine Art von Motor verstanden werden, der das eigene Vorwärtskommen und Überleben sichert, und zwar dann, wenn wir herausgefordert werden oder irgendeine Form von Gefahr droht. Zum Beispiel trägt sie an der Arbeitsstelle dazu bei, sich in kniffligen Situationen durchzusetzen, für die eigenen Ziele einzustehen und voranzukommen.

Das gilt für Erwachsene genauso wie für Kinder. Auch Kinder dürfen aggressiv sein, denn die Aggression ist auch ihnen ein motivierender Begleiter für die Umsetzung von Bedürfnissen und Zielen. Aggression darf sein!

Wenn ich sage, dass aggressives Verhalten sein dürfe, bedeutet das nicht, dass Eltern sie uneingeschränkt zulassen sollen. Das Gegenteil ist der Fall: Eltern sind in der Pflicht, das Kind bei der Kanalisierung seiner Aggressionen zu unterstützen. Das Kind hat zu lernen, die Aggression weder zu unterdrücken noch unkontrolliert herauszulassen, sondern auf eine konstruktive Art zu nutzen – ohne sich oder anderen zu schaden. Wer seine Aggressivität angemessen nutzt, dem ist sie zum Vorteil, doch wem dies nicht gelingt, benachteiligt sich dadurch selbst.

Ist das eigene Kind aggressiv, kommen schnell Ängste auf, dass sich das eigene Kind zum Raufbold der Nachbarschaft mausert, es einen Ruf als Schläger bekommt und in einigen Jahren nicht mehr zu halten sein wird (und dass mit dem Finger auf die versagenden Eltern gezeigt wird). Grundsätzlich ist es in Ordnung, ein wenig Angst und Sorge zu haben. Angst ist vergleichbar mit einem Warnlämpchen im Auto, das auf einen drohenden Schaden hinweist. Das Lämpchen (bzw. die Angst) führt vor Augen, dass das Auto nun einen Mechaniker benötigt bzw. das Kind in eine Situation geraten ist, in der es die Eltern braucht. Wem dieses Lämpchen aufleuchtet, der hat zu intervenieren. Bloß, wie? Nicht, in dem die jetzt benötigten Eltern in eine ganzheitliche Schockstarre verfallen, sondern in dem die Eltern entspannt und besonnen bleiben. Wie geht das?

Gewalt

Zunächst tätigen wir eine begriffliche Abgrenzung: Aggression ist nicht mit Gewalt gleichzusetzen. Aggression ist der Motor dafür, sich in bestimmten Situationen durchzusetzen. Gewalt hingegen zielt darauf ab, jemandem zu schaden, entweder psychisch, körperlich oder sexuell. Jede Form von Gewalt ist selbstverständlich ein No-Go. Wenn ein Kind gegenüber einem anderen Kind gewalttätig wird, ist das auf jeden Fall zu unterbinden.

Doch Gewalt darf niemals mit Gewalt unterbunden werden. Feuer wird nicht mit Feuer bekämpft, dadurch würde es größer. Natürlich ist jede Form der Gewaltanwendung am Kind ein No-Go, sprich absolut verboten. Kein Kind darf eingesperrt, geschlagen, getreten, angeschrien, beschimpft oder sonst wie gewaltsam angegangen werden. Drakonische Strafen unterbinden das Verhalten vielleicht vorläufig, doch der dabei am Kind entstandene Schaden wiegt zu schwer. Damit sind einerseits direkte Schäden gemeint, zum Beispiel eine körperliche Wunde, jedoch auch (und meist noch mehr) indirekte, zum Beispiel die Verschlechterung der Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Kind. Und Schäden in dieser elementar wichtigen Beziehung, die bei Gewaltanwendung immer erfolgen, sind besonders schlimm.

Die deutsche Punkband »Die Ärzte« sang in den 90ern in ihrem »Schunder-Song«: »Gewalt erzeugt Gegengewalt« und genau das hat die Forschung gezeigt – Gewalt beantwortet Gewalt beantwortet Gewalt beantwortet Gewalt. Dies wird Gewaltkreislauf genannt. Gewalt startet einen Gewaltkreislauf, aus dem schwer auszusteigen ist (▸ Abb. 1). Wenn Eltern mit Gewalt auf die Gewalt ihrer Kinder reagieren, ist weitere Gewalt beinahe vorprogrammiert, denn der Schüler lernt von seinem Lehrer. Wer in der Kindheit Gewalt erfahren hat, wendet sowohl als Kind als auch als späterer Erwachsener mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Gewalt gegenüber anderen an oder lässt sich Gewalt anhaben.

Abb. 1:Gewaltkreislauf: Gewalt beantwortet Gewalt

Dabei gibt es einen »einfachen« Weg aus der Gewalt. Der Ausweg aus dem Gewaltkreislauf heißt: Keine Gewalt (▸ Abb. 2). Die einzig kluge Reaktion auf Gewalt ist besonnenes Verhalten und die Suche nach einer neuen Lösung, nach einer adäquaten Reaktion. Das heißt: nicht zurückschlagen, nicht zurückschreien, nicht zurückschubsen, nicht zurück ignorieren, nicht zurück beleidigen, nicht zurück bloßstellen. Es gilt, Ruhe zu bewahren, den Impulsen nicht nachzugeben, sich stattdessen sozial verträglich abzureagieren und ein gewaltfreies Verhalten einzustudieren. So lässt sich der Gewaltkreislauf durchbrechen.

Abb. 2:Ende des Gewaltkreislaufes

Was können Eltern tun, um das Kind darin zu unterstützen, zu bekommen, was es braucht, ohne dass es auf Gewaltanwendung zurückgreift oder übermäßig aggressiv auftritt?

Erste Hilfe

Wenn Sie sich in einer Situation befinden, in der sich Ihr Kind akut aggressiv verhält, sind die folgenden aufeinander aufbauenden Schritte im Sinne von erster Hilfe zu tätigen:

1.

Keine Verletzungen: Stellen Sie zuerst sicher, dass sich niemand verletzt. Alle Beteiligten müssen sich in Sicherheit befinden. Dazu gehört, dass Sie zum einen andere vor Ihrem Kind schützen, zum anderen auch Ihr Kind vor sich selbst schützen, sprich Selbstverletzungen sind zu verhindern. Fassen Sie sich ein Herz, gehen Sie dazwischen und trennen Sie die Betroffenen. Beenden Sie die Situation.

2.

Time-Out: Schicken Sie die an der Situation Beteiligten in verschiedene Räume, wie zwei Boxer, wo jeder in seine Ecke geht. Hierfür eignet sich der Begriff des Time-Outs mit der damit einhergehenden Handgeste (wie beim Sport). Bei Überhitzung ist es immer das Beste, zunächst abzukühlen, als erhitzt nach Lösungen zu suchen und sich dabei im Streit zu verlieren. Ein heißer Kopf findet selten schlaue Lösungen. Erst nachdem alle Beteiligten die Gelegenheit hatten herunterzufahren – und oft dauert das nur wenige Minuten –, wird der Konflikt anständig geklärt (siehe dazu Punkt 4)

3.

Ventil: Ihr Kind braucht ein Ventil. Aggression ist pure Energie und diese ist sozial verträglich abzulassen. Helfen Sie Ihrem Kind dabei, herunterzufahren, indem es die Energie freilassen kann. Überlegen Sie mit Ihrem Kind in einer ruhigen, entspannten Minute, was es tun kann, um sich zu entspannen, wenn es überhitzt – bereiten Sie die Situation vor. Es ist einfacher, in einer Notsituation nach einem vordefinierten Notplan zu handeln, als diesen in einer Notsituation erst erfinden zu müssen. Mein Favorit: Rausgehen und eine Runde drehen. Bewegung an der frischen Luft in grüner Umgebung gehört zu den besten Mitteln, um sich bei Stress zu beruhigen. Alternativen gibt es viele: Igelbälle kneten oder an die Wand werfen, in ein Kissen schlagen, Nägel in ein Brett hämmern, Boxsack bearbeiten, Wuttanz aufführen, auf einem Kissen herumhüpfen, rennen, Trampolin (siehe auch den Abschnitt unten über Skills). Es ist egal, wie die überschüssige Energie abgelassen wird, vorausgesetzt, dass sich niemand verletzt.

4.

Lösung suchen: In einer emotional überladenen Situation ist man so angespannt, dass vernünftiges Denken und Sprechen nicht mehr geht – ergo ist das nicht der Zeitpunkt, in dem zu diskutieren ist. Für die Lösungsfindung braucht es Entspannung. Erst, wenn diese gegeben ist, ist der Moment da, eine Lösung zu suchen. Sie werden merken, wenn die aggressive Energie genügend abgelassen ist. Das Kind ist ruhiger, entspannter, der Muskeltonus reduziert, die Tränen versiegt, die Stimme auf üblicher Stimmlage, es spricht klarer und vernünftiger. Manchmal ist ein tiefes Durchatmen zu beobachten, seufzen, gähnen, locker hängende Schultern und so weiter. Sprechen Sie mit Ihrem Kind darüber, was es braucht, damit es die Gewalt nicht mehr braucht. Die nachfolgenden Abschnitte sollen Ihnen dabei Hand bieten.

Lassen Sie keinen dieser Schritte aus. Ich beobachte oft, dass Schritt 4 nicht erfolgt. Das Problem dabei ist, dass keine aktive Auseinandersetzung mit dem Konflikt erfolgt und es zu keiner »lesson learned« kommt. Das erhöht das Risiko, dass in Bälde ein ähnlich gelagerter Konflikt aufflammt.