Psychosomatische Störungen verstehen - Sandy Krammer - E-Book

Psychosomatische Störungen verstehen E-Book

Sandy Krammer

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Beschreibung

"Das ist dann wohl psychosomatisch!" - Für viele Menschen, die unter körperlichen Symptomen scheinbar unerklärlicher Ursache leiden, steht diese Aussage am Ende einer Reihe somatischer Untersuchungen. Die therapeutischen Möglichkeiten sind damit jedoch lange nicht ausgeschöpft. Mithilfe dieses Ratgebers ergründen Betroffene die komplexen Zusammenhänge von Körper und Psyche. Neben verständlichen Informationen sowie zahlreichen anschaulichen Fallbeispielen vermittelt das Buch bewährte Strategien zum Umgang mit psychosomatischen Störungen. Behandelt werden u.a. Herz-Kreislauf-, Magen-Darm-, Haut- und Atemwegsprobleme, Schmerzen, pseudoneurologische Störungen, Probleme des Immunsystems und Essstörungen.

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Fundiertes Wissen für Betroffene, Eltern und Angehörige – Medizinische und psychologische Ratgeber bei Kohlhammer

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Ratgeber aus unserem Programm finden Sie unter:

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Über die Autorin

Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M., studierte Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Danach promovierte sie an derselben Universität zum Thema Psychotraumatologie. Anschließend arbeitete sie als stellvertretende Leiterin der Forschungsabteilung am Forensisch-Psychiatrischen Dienst an der Universität Bern in klinisch-psychologisch-forensischen Projekten. Parallel erwarb sie dort einen postgradualen Master in Kriminologie. Im Folgenden startete sie als systemische Psychotherapeutin. Zunächst war sie in einer Hausarztpraxis beschäftigt, danach in einer großen Schweizer Rehaklinik und zwar zunächst auf der Abteilung für Psychosomatik, im Folgenden auf der psychosomatisch ausgerichteten Abteilung für Pädiatrie. Auf Letztgenannter hatte sie die Leitung des dortigen psychologischen Teams inne. Mittlerweile ist sie selbständig in eigener Praxis als Fachpsychologin für Psychotherapie FSP tätig und führt Forschungsprojekte durch.

Sandy Krammer

Psychosomatische Störungen verstehen

Ein psychologischer Selbsthilfe-Ratgeber

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041428-0

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-041429-7

epub:   ISBN 978-3-17-041430-3

Inhalt

 

 

 

Vorwort

Teil I   Hintergrundwissen

1   Einleitung

1.1   Frau Engel hat die Nase voll

1.2   Was war bei Frau Engel los?

1.3   Unsere Reise

1.4   Lesevorbereitungen

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

2   Was bedeuten Gesundheit, Krankheit und Widerstandskraft?

2.1   Das Kontinuum der Gesundheit

2.2   Psychische Störungen

2.3   Widerstandskraft

2.4   Die Waage

2.5   Bedürfnisse und Selbstfürsorge

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

3   Was ist Psychosomatik?

3.1   Definition Psychosomatik

3.2   Arten von psychosomatischen Störungen

3.3   Begleiterkrankungen

3.4   Statistische Eckdaten

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

4   Wie entstehen psychosomatische Störungen und wie werden sie aufrechterhalten?

4.1   Risikomerkmale

4.2   Zeitpunkt und Auslöser

4.3   Schwachstelle und Prägung

4.4   Aufrechterhaltende Bedingungen

Literaturempfehlungen zur Vertiefung:

5   Welches sind die zentralen Problemfelder der Psychosomatik?

5.1   Herzprobleme

5.2   Magen-Darm-Probleme

5.3   Atemwegsprobleme

5.4   Schmerzen

5.5   Hautprobleme

5.6   Pseudoneurologische Probleme

5.7   Probleme mit dem Immunsystem

5.8   Essstörungen

5.9   Unklare Fälle

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

Teil II   Selbsthilfe

6   Ist Selbsthilfe möglich?

6.1   Feuermelder

6.2   Wie verwenden Sie den Selbsthilfe-Teil?

6.3   Professionelle Hilfe

6.4   Johari-Fenster

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

7   Verstehen Sie sich?

7.1   Lebenslinie

7.2   Familiengeschichte

7.3   Biopsychosoziales Verstehensmodell

7.4   Befragung des Symptoms

7.5   Persönlicher Sinn

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

8   Was ist Ihr Ziel?

8.1   Wie geht es Ihnen?

8.2   Wohin geht die Reise?

8.3   Smarte Ziele

8.4   Wunder geschehen

8.5   Die Zukunft lässt grüßen

8.6   Kleiner Motivations-Kick

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

9   Ist die Vergangenheit vergangen?

9.1   Schwierige Lebensereignisse

9.2   Schreiben Sie Ihre Geschichte

9.3   Lebensbaum

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

10   Verhalten Sie sich förderlich?

10.1   Lebensqualität

10.2   Maß und Ausgewogenheit von Aktivitäten

10.3   Körperliche Bewegung

10.4   Depressive Spirale

10.5   Flow

10.6   Wie ein Freund

10.7   Krankheitsverhalten

10.8   »Doktor Google«

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

11   Wie beruhigen Sie sich selbst?

11.1   Jedem sein Tempo, jedem seine Melodie

11.2   Achtsamkeit

11.3   Yogisches Atmen

11.4   Yoga

11.5   Entspannung durch Anspannung

11.6   Wohlfühlort

11.7   Spaziergänge im Grünen

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

12   Was wissen Sie über Emotionen?

12.1   Multiple Intelligenzen

12.2   Emotionale Intelligenz

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

13   Wie denken Sie?

13.1   Denken lenkt

13.2   Kennen Sie das ABC?

13.3   Fahren Sie gedankliches Karussell?

13.4   Sie sind nicht das Problem

13.5   Neue Story

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

14   Welchen Stellenwert hat Ihre Arbeit?

14.1   Vom Sinn und Unsinn

14.2   Burnout

14.3   Prioritäten

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

15   Wie sieht es in Ihrem sozialen Netzwerk aus?

15.1   Unsere soziale Natur

15.2   Soziales Netzwerk und Gesundheit

15.3   Liebe

15.4   Sonnensystem

15.5   Soziale Kompetenz

15.6   Im richtigen Moment Ja oder Nein sagen

15.7   Klagen

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

16   Wie geht es Ihrem Körper?

16.1   Zitronen

16.2   Selbstfürsorge

16.3   Grenzen des Körpers

16.4   Körperunfreundliche Welt

16.5   Schlaf und Müdigkeit

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

17   Zu guter Letzt

17.1   Akzeptanz, Vertrauen und Loslassen

17.2   Dankbarkeit

17.3   Sechs wichtige Tugenden

17.4   Hoffnung

17.5   Bon Voyage

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

Nachwort

Vorwort

 

 

 

Wer an körperlichen Symptomen leidet, für die keine oder keine ausreichenden organischen Ursachen gefunden werden, ist verunsichert. Wenn der Begriff der psychosomatischen Störung fällt, kommen meist unweigerlich Selbstzweifel auf: »Ich? Psychisch krank?« Niemand mag das von sich sagen und sagen lassen. Möglich, dass man sich nicht ernst genommen fühlt, dass man sich als abgestempelt und unverstanden wahrnimmt, dass man eine Fehlinterpretation der eigentlichen Situation wähnt.

Dabei bedeutet der Begriff der psychosomatischen Störung nicht, dass keine körperlichen Symptome vorliegen. Er ist nicht gleichzusetzen mit Simulation. Wer an einer psychosomatischen Störung leidet, spielt keine körperlichen Symptome vor und bildet sich diese ebenso wenig ein, sondern empfindet diese wirklich. Der Unterschied zu körperlichen Krankheiten liegt darin, dass die Psyche zur Entstehung einen kleineren oder größeren Beitrag geleistet hat. Auch wenn der Begriff der psychosomatischen Störung auf den ersten Blick stigmatisierend wirkt, ist die Diagnosestellung einer ebensolchen auf den zweiten Blick eigentlich eine gute Nachricht. Denn die Psychotherapie bietet wirksame Wege, auf denen die körperlichen Symptome gemildert und nicht immer, aber in einigen Fällen beendet werden können.

Anhand dieses Ratgebers zeige ich Ihnen Wege aus Sicht der Psychologie und der Psychotherapie auf. Der Ratgeber stellt eine Art psychologische Fachperson für das Sofa daheim dar. Mit empirisch untermauertem Fachwissen geleitet er Sie durch die wesentlichen Bereiche der psychosomatischen Welt. Dabei weist der Ratgeber zwei Teile auf: Teil 1 ist der Theorie gewidmet. Sie erfahren begriffliche Definitionen und Einordnungen in einen theoretischen Kontext, lernen ein Verstehensmodell sowie auslösende und aufrechterhaltende Elemente kennen und tauchen schließlich in die zentralen Problemfelder der Psychosomatik ein. Teil 2 ist der Praxis und der Selbsthilfe aus psychologischer Sicht vorbehalten: Sie erarbeiten zunächst ein eigenes Verstehensmodell, um in der eigenen Symptomatik einen Sinn zu erkennen, ehe Sie entweder punktuell diejenigen Kapitel lesen, die für Sie besonders wichtig sind, oder sämtliche restliche Kapitel durcharbeiten.

Zur Erstellung dieses Ratgebers griff ich auf meine jahrelange Erfahrung als Psychologin zurück. Im Rahmen meiner Arbeit kam ich mit einer Vielzahl von Personen mit einer Vielzahl von Problemen mit einer Vielzahl von Lösungsversuchen in Kontakt. Diese Personen beflügelten mich zu diesem Ratgeber und flossen auch zahlreich im Sinne von Fallbeispielen ein. Es handelt sich somit nicht nur um theoretisches, sondern auch um erprobtes Wissen, das ich in Buchform an Sie weitergeben möchte.

Alle diese Themen sind nur sichtbar für geöffnete Augen. Die Themen können nur Sinn für Sie ergeben, wenn Sie ihnen mit möglichst wenig Vorbehalten begegnen. Dieser Ratgeber kann wie für Sie gemacht sein oder Ihnen gar nicht zusagen. Ob der Ratgeber am Ende des Tages zu Ihnen passt oder nicht, entscheiden nur Sie nach eingehender Prüfung. Ein verschlossener Geist hat die Entscheidung bereits getroffen.

Sehen Sie sich diese Zahl an: 6. Um welche Zahl handelt es sich? Sie antworten wahrscheinlich »sechs«. Das ist richtig. Drehen Sie das Buch nun um 180° – welche Zahl sehen Sie nun? Die Zahl »neun«? Auch das ist richtig. Ein- und derselbe Sachverhalt kann durch einen Wechsel der Perspektive ein anderer werden. Ich wünsche Ihnen mit Hilfe dieses Ratgebers eine Erweiterung Ihrer Perspektive, egal, in welche Richtung, denn Erkenntnisgewinn und Blickfeldöffnung sind stets zentrale Ziele einer jeden Psychotherapie.

Übrigens verwende ich in diesem Ratgeber manchmal die feminine, manchmal die maskuline Schreibweise. Ich habe unsystematisch abgewechselt und nicht gezählt. Bitte entschuldigen Sie, sollte der Text ein Geschlecht benachteiligen. Angesprochen sind selbstverständlich immer alle Menschen, unabhängig vom jeweiligen Geschlecht.

Davos, den 15. Oktober 2022

Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.

Teil I   Hintergrundwissen

1          Einleitung

 

 

 

Im ersten Kapitel wird das Themenfeld der psychosomatischen Störungen mit einem Fallbeispiel eingeleitet, auf das über den ganzen Ratgeber hinweg immer wieder zurückgegriffen wird, insbesondere im Selbsthilfe-Teil. Es handelt sich um Frau Engel. Anschließend erkläre ich Ihnen wichtige Eckpunkte des Fallbeispiels und gebe einige Tipps im Umgang mit diesem Ratgeber.

1.1       Frau Engel hat die Nase voll

Frau Engel gebar im Alter von 30 Jahren ihren Sohn nach einer schwierigen Schwangerschaft per Kaiserschnitt. Noch während der Schwangerschaft begann die häusliche Gewalt, die nach der Geburt des gemeinsamen Kindes weiterging. Die frischgebackene Mutter war verängstigt. Sie erkannte, dass ihr Unrecht angetan wurde, doch benötigte es mehrere Vorfälle häuslicher Gewalt, ehe sie sich traute, die Polizei zu rufen. Diese trennte das Ehepaar. Das Baby blieb bei Frau Engel, und der gewalttätige Ehemann wurde des Hauses verwiesen. Im Anschluss kam es zu mehreren Gerichtsterminen. Der Vater wollte das Baby gänzlich zu sich nehmen, Frau Engel, die bis zu diesem Zeitpunkt die Hauptbezugsperson gewesen war, wehrte sich.

Somit war Frau Engel in rascher Folge einer Reihe von lebensverändernden Ereignissen ausgesetzt: Sie war Mutter geworden, hatte häusliche Gewalt erlebt, es gab mehrere Gerichtstermine. Hilflosigkeit, Ohnmacht und Einsamkeit stellten sich ein. Sie wurde zur Alleinerziehenden, das Baby schlief nie durch, es kam zu finanziellen Problemen, ihre Eltern wohnten weit weg und konnten sie bei all dem nicht unterstützen. Sie hatte eine fordernde Arbeitsstelle, Freunde zogen sich zurück, ihren Interessen ging sie nicht mehr nach und so weiter.

Mehr und mehr stellten sich körperliche Probleme ein. Frau Engel litt an Schlafstörungen, war dadurch ständig müde und fühlte sich stets am Rande des Zusammenbruchs. Ihr Haar wurde dünn, und trotz ihres jungen Alters zogen erste graue Strähnen durch ihre dunkelbraune Mähne. Sie verlor an Gewicht. Mit ihren 176 Zentimetern magerte sie auf 55 Kilogramm ab. Schließlich fing sie sich einen Infekt ein. Die Nase lief, der Hals war rau, das Sprechen schmerzte. Die Erkältung war hartnäckig und blieb über mehrere Monate.

Frau Engel wusste kaum mehr, wo ihr der Kopf stand. Sie war ein Schatten ihrer selbst. Schließlich suchte sie wegen des hartnäckigen Infekts ihren Hausarzt auf. Der Arzt erkannte die Not der jungen Frau und schrieb sie krank. Er riet ihr, die kommenden Wochen bei ihren Eltern zu verbringen. Zunächst sträubte sich Frau Engel, da ihr Verhältnis zu den Eltern schon immer angespannt gewesen war. Schließlich kam sie dem ärztlichen Rat nach. Ihre Eltern unterstützten sie bei der Betreuung des Säuglings, und Frau Engel konnte mehr und mehr durchatmen – sprichwörtlich. Sie konnte sich hinlegen und ausruhen. Da ihre Mutter einige Nächte übernahm, konnte Frau Engel sogar einige Male durchschlafen. Innerhalb von zehn Tagen war der Infekt überstanden.

1.2       Was war bei Frau Engel los?

Frau Engel hatte sich in eine massiv belastende Lebenssituation manövriert. Was für jemanden als Belastung gilt, ist subjektiv. Das heißt, dass die individuelle Bewertung eines Ereignisses oder einer Lebenssituation entscheidend ist, ob etwas als belastend wahrgenommen wird oder nicht.

Dieser Situation ausgesetzt und ohne Strategien, diese bewältigen zu können, entwickelte Frau Engel eine Reihe psychosomatischer Symptome. Zur Rekapitulation: Sie war chronisch müde und erschöpft, litt an Schlafstörungen, verlor an Gewicht, es wuchsen graue Haare, sie war über mehrere Monate hinweg erkältet. Ein Hoch auf den Hausarzt, der erkannt hat, dass nicht (nur) der Schnupfen zu behandeln ist, sondern dass Frau Engel auf anderer Ebene der Unterstützung bedurfte. Vor allen Dingen benötigte sie körperliche Erholung und die Unterstützung der Eltern. Der Hausarzt schrieb Frau Engel krank und schickte sie zu ihren Eltern.

Wichtig ist hier, dass die körperlichen Symptome nicht simuliert waren. Psychosomatische Symptome sind echte, körperliche Symptome. Von psychosomatischen Störungen betroffene Personen sind keine Simulanten. Doch die ausschließlich körperliche Behandlung von psychosomatischen Störungen greift zu kurz. Psychosomatische Störungen verlangen, eine Ebene tiefer zu gehen.

Was war bei Frau Engel los? Sie litt an zerstörten Träumen, an einer existenziell bedrohlichen Lebenssituation, an Überforderung und an purer Einsamkeit. Die alleinige Behandlung der körperlichen Symptome hätte hier nicht gereicht.

Psychosomatische Symptome sind quasi Alltagsprobleme. Jede und jeder leidet hie und da an psychosomatischen Beschwerden. Manchmal fällt dies nicht weiter ins Gewicht, manchmal schon. In all den Jahren als Psychologin lernte ich viele Personen mit psychosomatischen Beschwerden kennen. Doch um diese kennenzulernen, hätte ich weder ein Studium der Psychologie gebraucht, noch hätte ich Psychotherapeutin werden müssen: Psychosomatik ist unter uns und wir alle begegnen ihr tagtäglich.

Übrigens darf ich Frau Engel betreffend entwarnen: Zwar wurde sie noch über Jahre hinweg vom rasch geschiedenen Mann im Sinne von Stalking geplagt. Dennoch nahm das Leben von Frau Engel eine wunderbare Wendung zum Guten. Sie führte diese durch eine Reihe schlauer Entscheidungen herbei, die unter anderem in Kap. 10.4 beschrieben sind.

1.3       Unsere Reise

Mit diesem Fallbeispiel begrüße ich Sie herzlich zu einer Reise rund um die Welt der Psychosomatik. Wenn Sie dieses Buch in Ihren Händen halten, sind Sie eventuell selbst von psychosomatischen Symptomen betroffen. Vielleicht wurde die Möglichkeit, dass Ihre körperlichen Symptome psychisch verursacht oder mitbedingt sein könnten, soeben an Sie herangetragen oder Sie zweifeln schon eine Weile an der körperlichen Verursachung Ihrer Beschwerden. Vielleicht sind Sie davon überzeugt, dass psychische Gründe für Ihre Symptome vorhanden sind oder Sie ziehen es am Rande in Erwägung. Es ist unerheblich, wo Sie stehen. Dieser Ratgeber will Sie nicht von etwas überzeugen oder Sie in eine bestimmte Richtung lenken, sondern er will Ihnen profunde Informationen liefern, auf deren Basis Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen können und sollen. Eventuell legen Sie das Buch nach einer Stunde beiseite und entscheiden, dass Sie es nicht benötigen – damit habe ich kein Problem (ich merke es sowieso nicht). Oder Sie bekommen durch den Ratgeber ein wichtiges Puzzleteil, um endlich das ganze Bild sehen zu können.

Es ist auch möglich, dass Sie selbst nicht betroffen sind, dafür aber eine Ihnen nahestehende Person. Vielleicht handelt es sich um ein geliebtes Familienmitglied und Sie möchten verstehen, was da los ist, um besser auf diese Person eingehen zu können. Vielleicht möchten Sie der Person aus der Symptomatik heraushelfen – wahrscheinlich, weil es Sie selbst ebenfalls belastet? Das ist meistens so: Niemand leidet allein. Auch für diesen Fall kann dieser Ratgeber wertvolle Informationen bieten und erste Ansatzpunkte aufzeigen. Bedenken Sie jedoch, dass Sie selbst nur begleiten und höchstens Hilfe zur Selbsthilfe anbieten können. Entfernen Sie sich nicht zu weit aus Ihrer eigenen Wohlfühlzone, achten Sie gut auf sich selbst, bewahren Sie ein Gleichgewicht zwischen Geben und Erhalten. Helfende Personen neigen dazu, sich selbst zu vernachlässigen.

Wie auch immer. Gerne nehme ich Sie mit auf eine Reise in die mitunter bizarre Welt der Psychosomatik und deren Störungen. Diese Welt wirkt nicht immer streng wissenschaftlich, und sie verlangt eine gute Portion an Fantasie und Kreativität. Schon Albert Einstein soll gesagt haben: »Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.« Gleichzeitig beruht die psychosomatische Welt auf vielen Jahren medizinisch-psychologischer Erkenntnis. Nennen wir es eine scheinbare Grauzone zwischen Wissen und Fantasie.

1.4       Lesevorbereitungen

Für diese Reise benötigen Sie keine Impfung gegen Malaria, jedoch empfehle ich Ihnen ein Notizbuch. Möglicherweise möchten Sie relevante Informationen herausschreiben oder Sie führen darin Übungen aus, die zahlreich in diesem Ratgeber enthalten sind. Das Notizbuch stellt sicher, dass Sie alles für Sie Wichtige an einem Ort gesammelt haben und immer wieder darauf zurückgreifen können.

Während dieser Reise können Sie problemlos einzelne Kapitel auslassen. Fliegen Sie dahin, wo es Sie hinzieht, und lesen Sie ausschließlich diejenigen Themen, die für Sie interessant sind. Oder Sie lesen alles vom Anfang bis zum Ende – ganz wie Sie mögen. Der Ratgeber hat beinahe alles, doch das bedeutet nicht, dass Sie alles brauchen. Reisen Sie so, wie es für Sie stimmt. Lesen sie, was Sie lesen wollen.

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

Krammer S (2021) Alleinerziehend. Psychologischer Ratgeber für Single Parents. Springer: Heidelberg.

2          Was bedeuten Gesundheit, Krankheit und Widerstandskraft?

 

 

 

In diesem Kapitel wenden wir uns dem Begriff der Gesundheit zu. Danach möchte ich Ihnen vor Augen führen, was eine psychische Störung ist. So erlangen Sie ein Vorwissen, das im weiteren Verlauf des Ratgebers dienlich sein kann. Die Erläuterung der Widerstandskraft ist wichtig, und ihre Kräfte werden anhand einer Waage veranschaulicht. Es geht weiter um Bedürfnisse, schließlich folgt ein Streifzug in die Welt der Selbstfürsorge.

2.1       Das Kontinuum der Gesundheit

Wie definieren Sie Gesundheit? Ab wann ist jemand krank? Ist man es, wenn man einen Schnupfen hat? Dann, wenn die Haut juckt? Wenn das Herz flattert? Oder mit einem gebrochenen Bein? Ist man krank, wenn man sich gerade das Knie aufgeschürft hat und blutend am Straßenrand sitzt? Ist man es, wenn gerade eine Kündigung ausgesprochen wurde und man sich in der Betriebstoilette zum Weinen eingesperrt hat? Ist jemand, der traurig ist, krank? Oder jemand mit einer Depression? Ist man gesund oder krank, das eine oder das andere, entweder oder?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist eine Sonderorganisation innerhalb der Vereinten Nationen und hat ihren Sitz im Schweizerischen Genf. Die WHO ist dazu da, das internationale öffentliche Gesundheitswesen zu koordinieren. Von ihr stammt die folgende Definition von Gesundheit: »Gesundheit ist ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.«

In anderen Worten umfasst der vielschichtige Begriff der Gesundheit nicht nur den körperlichen, sondern auch den psychischen wie den sozialen Bereich. Gesundheit ist mehr als das nicht-körperlich krank sein. Gesundheit ist relativ. Man kann es mehr oder weniger sein. Es ist nicht entweder oder, sondern sowohl als auch. Zwischen Gesundheit und Krankheit liegt ein Kontinuum.

Die Position auf dem Kontinuum der Gesundheit ist beeinflussbar, jede Empfindung ist subjektiv. Gesundheit ist wandelbar. Zu diesem Thema passt die Übung zur Gesundheitslinie in Kap. 8.1.

2.2       Psychische Störungen

Wo psychosomatische Störungen sind, sind psychische Probleme und Störungen selten weit entfernt. Somit ergibt es Sinn, sich auch letztere näher anzusehen. Unter einer psychischen Störung wird ein Zustandsbild verstanden, bei dem es auf krankhafte Weise zu Veränderungen im Bereich des Erlebens und des Verhaltens gekommen ist. Die Wahrnehmung, das Denken, das Fühlen oder auch das Selbstbild weichen von der Norm ab.

Damit eine psychologische oder medizinische Fachperson eine psychische Störung diagnostizieren kann, müssen ein deutlicher persönlicher Leidensdruck sowie Belastungen in mehreren Lebensbereichen vorhanden sein. Besteht zum Beispiel eine Phobie vor Pinguinen, aber man lebt wie ich im Schweizerischen Davos, ist der Leidensdruck sowie die dadurch entstehende Belastung wohl gering, die psychische Störung, die hier in Frage käme – eine sogenannte spezifische Phobie –, ist nicht zu diagnostizieren. Besteht eine solche Phobie bei jemandem, der am Südpol wohnt, ist der Fall anders gelagert.

Es gibt eine Vielzahl an psychischen Störungen. Der internationale Kriterienkatalog psychischer Störungen (Kürzel: ICD), von der WHO entwickelt und herausgegeben, hält fest, was als solche gilt. Dieser Katalog erscheint derzeit in seiner elften Version, vielleicht sind Sie dem Kürzel ICD-11 bereits begegnet. Parallel sind psychische Störungen in einem weiteren Kriterienkatalog gelistet. Dieser entstammt der Feder der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft (Kürzel: APA) und erschien unlängst in seiner fünften Version (DSM-5). In vielen Bereichen stimmen die beiden Kriterienkataloge weitgehend überein. Sie halten spezifische Kriterien für jede psychische Störung fest und sagen so, was als solche gilt und was nicht.

Psychische Störungen sind keine Randphänomene. Sie sind zahlreich: Nach einer europaweiten Schätzung sind jährlich 38 % der Allgemeinbevölkerung von einer psychischen Störung betroffen. Das bedeutet, dass statistisch betrachtet jede dritte Person im Zeitraum eines Jahres an einer psychischen Störung erkrankt. Das sind umgerechnet etwa 165 Millionen Europäer. Am häufigsten sind Angststörungen mit etwa 14 %, gefolgt von Schlafstörungen mit 7 %, Depression mit knapp 7 % und somatoforme Störungen mit 6 %. Über die Lebensspanne hinweg betrachtet fallen diese Prozentangaben noch höher aus. Über die Lebenspanne hinweg zeigt sich zum Beispiel für die Depression eine Auftretenswahrscheinlichkeit von 33 %. Das bedeutet, dass jede dritte Person im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an einer Depression erkrankt.

2.3       Widerstandskraft

Nicht jede Person wird psychisch krank. Ergo muss es gewisse Merkmale geben, die für die psychische Gesundheit förderlich sind und solche, die es nicht sind. Diese Merkmale beeinflussen die Widerstandskraft gegenüber Krankheiten. Dabei bedeutet Widerstandskraft, auch Resilienz genannt, wie gut jemand mit Belastungen umgehen kann. Belastungen können große stressreiche Ereignisse sein wie Arbeitsplatzverlust, Scheidung oder medizinische Probleme. Es kann sich auch um positive Ereignisse handeln wie eine Hochzeit oder die Geburt eines Kinds. Es gehören auch die »daily hassles« dazu, tägliche »Stressörchen«, die in der Summe belasten können. »Kleinvieh macht auch Mist.«

Es gibt Personen, denen Belastungen wenig anzuhaben scheinen. Diese »Stehaufmännchen« finden nach einer Herausforderung rasch in einen ausgeglichenen Zustand zurück. Sie haben ein hohes Ausmaß an Widerstandskraft. Solche Menschen verfügen meist über einen hohen Kohärenzsinn. Dieses auf den Soziologen Aaron Antonovsky zurückgehende Konzept beschreibt die individuelle Fähigkeit, sich an Veränderungen anzupassen und gesund zu bleiben. Es ist das Grundvertrauen, dass die Welt verstehbar und erklärbar ist, dass Ressourcen für den Umgang mit Belastungen vorhanden sind und dass Anforderungen aus der Umwelt als Herausforderungen wahrgenommen werden, die es wert sind, anzugehen. Ein hoher Kohärenzsinn geht mit einem hohen Wohlbefinden einher, mit einer besseren körperlichen Gesundheit und mit einer geringeren Anzahl an psychosomatischen Symptomen.

Wie hoch ist Ihre Widerstandskraft? Erholen Sie sich schnell nach Stress? Kehren Sie nach Stress schnell in den Normalzustand zurück? Kommen Sie mit stressigen Zeiten gut klar? Verdauen Sie Rückschläge rasch? Beantworten Sie diese Fragen mehrheitlich bejahend, dann spricht das für eine hohe Widerstandskraft. Es fällt Ihnen leicht, aufzustehen, das Krönchen zu richten und weiterzulaufen. Weiter so!

Gehören Sie nicht zu den Stehaufmännchen? Grämen Sie sich nicht. Ich habe gute Nachrichten für Sie: Das Ausmaß an Widerstandskraft ist nicht in Stein gemeißelt. Sie ist beeinflussbar. Die Bestandteile des Kohärenzsinns werden im Selbsthilfeteil thematisiert, was beim Aufbau von Widerstandskraft helfen kann.

2.4       Die Waage

Für die Widerstandskraft passt das Bild einer Waage mit zwei Waagschalen (Abb. 1). In der einen liegen Schutz-, in der anderen Risikomerkmale. Durch Schutzmerkmale wird die Widerstandskraft gestärkt, durch Risikomerkmale geschwächt. So kann ein günstiges Verhältnis zwischen diesen Merkmalen die Wahrscheinlichkeit für eine Fehlanpassung nach einem herausfordernden Ereignis verringern. Zentral ist das Übergewicht der Schutzmerkmale. Sei es, dass mehr da sind (Quantität) oder sei es, dass die, die da sind, sehr stark sind (Qualität). Solange mehr oder gewichtigere Dinge in der Schale der Schutzmerkmale liegen, kann die Schale mit den Risikomerkmalen ein Stück weit ausgehebelt werden. Dies stellt ein Schutzschild gegenüber Belastungen dar.

Abb. 1: Waage: Überwiegen die Schutzmerkmale, so hat man mehr Widerstandskraft und kann besser mit schwierigen Situationen umgehen

Ganz klar lassen sich Schutz- und Risikomerkmale nicht immer einteilen. Was in der einen Situation ein Schutz ist, ist es nicht unbedingt in einer anderen. Die Vereinfachung dient der Erklärung, der Veranschaulichung – klar und einfach sind die Dinge in der Welt der Psychologie selten.

Früher konzentrierte sich die Psychotherapie darauf, was nicht gut läuft. Sie fokussierte auf die Probleme der zu Behandelnden. Heutzutage achtet die Psychotherapie auch auf das, was gut läuft und ist bemüht, das Gute zu vermehren und zu erweitern. Dieses Streben dient dem Auffüllen der Waagschale mit den Schutzmerkmalen, um im Bild zu bleiben. Dem Wohl dienende Änderungen können besser erreicht werden und halten länger an, wenn die individuellen Stärken in die Psychotherapie miteinbezogen werden.

Welche Merkmale sind es, die einen Menschen gesund erhalten? Zu diesen personalen Schutzmerkmalen gehören individuelle Lebenskompetenzen, günstige Persönlichkeitsmerkmale, spezifische Bewältigungsstrategien, körperliche Gesundheit, ein hoher Glaube an die eigenen Fähigkeiten, Optimismus und die Fähigkeit zum Erleben angenehmer Emotionen, soziale Unterstützung sowie ein gutes, soziales Umfeld und Netzwerk, eine tragende Familie und weitere. Im Selbsthilfeteil zeige ich dazu verschiedene Übungen.

2.5       Bedürfnisse und Selbstfürsorge

Wie gelingt ein Leben im Einklang mit sich selbst? Mitunter umfasst dies eine den eigenen Bedürfnissen gerechte Lebensführung. Bedürfnisse sind normal – jeder hat sie. Jede Maus und jede Mohnblume und jeder Mensch. Ein Bedürfnis steht für etwas, das jemand zum Leben braucht. Bedürfnisse können sich mittels Emotionen zeigen oder kognitiv erschlossen werden. Sie geben den Antrieb, etwas zu verändern, sodass man das bekommt, was zum Leben gebraucht wird. Durch die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse wird ein passender Zustand erlangt, während durch die Nicht-Befriedigung ein nicht oder nicht mehr passender Zustand aufrechterhalten wird. Ein Beispiel: Wer nicht isst, hat Hunger, wer zu lange Hunger hat, verhungert. Wer sich nicht regelmäßig bewegt, dessen Körper erschlafft, ein erschlaffter Körper ist wenig widerstandsfähig. Dabei fängt der frühe Vogel den Wurm und umso eher Sie erkennen, was Sie brauchen, umso eher sind Sie im Einklang mit sich selbst.

Bedürfnisse sind individuell. Was der eine braucht, braucht der andere womöglich nicht. Bedürfnisse verändern sich. Was vor fünf Jahren gebraucht wurde, ist heute überflüssig und in fünf Jahren wieder aktuell. Man tut gut daran, die eigenen Bedürfnisse weitgehend zu kennen. Haben Sie ein gutes Gespür für sich selbst? Spüren Sie, was Sie brauchen? Sind Sie mit sich selbst in Kontakt oder tendieren Sie dazu, nicht oder zu spät wahrzunehmen, was Sie brauchen? Wünschen Sie sich selbst bitte nicht zum Kuckuck, wenn Sie zu Letzteren gehören. Mit ein wenig Training lässt sich die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse verbessern. Probieren Sie dazu die Übungen aus dem Bereich der Achtsamkeit aus, die ich Ihnen in Kap. 11 vorstelle.

Ein offenes Bedürfnis kann mit einem Warnlämpchen im Auto verglichen werden. Nehmen Sie wahr, wenn es angeht und leuchtet? Wahrscheinlich schon. Wie reagieren Sie dann? Aller Wahrscheinlichkeit nach holen Sie den Werkzeugkoffer hervor oder vereinbaren einen Termin beim Automechaniker. Sie kommen ins Tun. Dasselbe gilt auch bei der Befriedigung von Bedürfnissen. Wahrnehmen und reagieren. Kommen Sie auch hier ins Tun.

Um ins Tun zu kommen, fragen Sie sich: »Was brauche ich?« Wann haben Sie sich das zuletzt gefragt? Oder überhaupt jemals? Wie auch immer: Tun Sie’s ab jetzt. Tun Sie’s häufig. Machen Sie es sich zur Gewohnheit, sich täglich mindestens einmal zu fragen, was Sie brauchen. Warum nicht morgens beim Frühstück darüber nachdenken, ob es etwas gab, das Sie am vorangegangenen Tag gebraucht hätten, aber nicht bekommen hatten. Und es sich dann im Laufe des aktuellen Tages in vergleichbaren Situationen geben.

Nicht alle Bedürfnisse lassen sich erfüllen. Das ist Wunschdenken. Manchmal hilft es, wenn Sie sich Unterstützung holen, die Bedürfnisse anpassen oder akzeptieren, dass die Befriedigung eines Bedürfnisses nicht möglich ist. Wenn nichts mehr geht, dann geht radikale Akzeptanz. Dazu passt das folgende Zitat aus der Lutherbibel.

»Ein Jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.«

Lutherbibel

Sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern, ist Teil der Selbstfürsorge. Darunter werden Aktivitäten verstanden, mit denen das eigene Wohlbefinden gefördert wird. Sich etwas zu gönnen, sich fein zu pflegen, sich gut zu behandeln, sich und auf sich zu achten, freundlich zu sich selbst zu sein. Doch vielen fällt Selbstfürsorge schwer. Frau Engel aus dem obigen Beispiel hatte mehrere Monate mit einer Erkältung ausgeharrt, schlaflos, untergewichtig, überfordert und einsam, ehe sie den Weg zum Hausarzt fand, der ihr einen anderen Weg wies. Sie hatte ihren eigenen desolaten Zustand sehr wohl registriert, doch kümmerte sie sich nicht um sich selbst. Diese Vernachlässigung kann viele Gründe haben. Einer könnte sein, dass Frau Engel nie gelernt hat, dass ihre Bedürfnisse Daseinsberechtigung haben, sondern dass sie sich anzupassen und ihre Bedürfnisse unterzuordnen hat. Kindheitssätze wie »Ein Indianer kennt keinen Schmerz« oder blindes Vertrauen wie »Irgendwie wird’s dann schon gut« können dazu beigetragen haben.

Literaturempfehlungen zur Vertiefung

Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. DGVT: Tübingen.

Falkai P & Wittchen HU (2018) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5: Deutsche Ausgabe. Hogrefe: Bern.

Hengartner MP (2017). Lebenszeitprävalenzen psychischer Erkrankungen. Obsan Bulletin 5. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.

Knoll N Scholz U & Rieckmann N (2017) Einführung Gesundheitspsychologie. UTB: Stuttgart.

Potreck-Rose F (2017) Selbstfürsorge. Psychotherapie im Dialog 2017: 4.

Weltgesundheitsorganisation (WHO): Definition von Gesundheit: https://www.bundespublikationen.admin.ch/cshop_mimes_bbl/14/1402EC7524F81EDAB689B20597E1A5DE.PDF

Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD 11: https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-11/

Wittchen HU, Jacobi F, Rehm J et al. (2011) The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology 21(9): 655–679.

3          Was ist Psychosomatik?

 

 

 

In diesem Kapitel geht es um die Bedeutung des Begriffs der Psychosomatik und um die verschiedenen Arten von psychosomatischen Störungen – den zentralen Problemfeldern begegnen Sie nicht in diesem Kapitel, sondern in Kap. 5. Hier sprechen wir weiter über Begleiterkrankungen und statistische Eckpunkte.

3.1       Definition Psychosomatik

Der Begriff der Psychosomatik beschreibt den Zusammenhang zwischen der Seele (griechisch: Psyche) und dem Körper (griechisch: Soma). Der Körper und die Psyche sind immer in regem Austausch. Dass dem so ist und dass sich die Psyche und der Körper ständig gegenseitig beeinflussen, ist normal und gesund. Die Psychosomatik hat zunächst nichts mit Krankheit zu tun, sondern dahinter verbergen sich völlig übliche und gewöhnliche Prozesse. Wird dieses Wechselspiel gestört, können sich psychosomatische Symptome einstellen, ab einer gewissen Schwere und Dauer liegt eine psychosomatische Störung vor. Letztgenannte können als Beziehungsstörungen verstanden werden: Die Beziehung zwischen Körper und Seele ist gestört. Der Schriftsteller Christian Morgenstern formulierte es so: »Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare«.

Die enge Verbindung zwischen Körper und Psyche spiegelt sich in unserer Alltagssprache wider. Sicherlich kennen Sie die folgenden Aussagen: Etwas nimmt einem den Appetit, etwas schlägt einem auf den Magen, jemandem wurde das Herz gebrochen, etwas fühlt sich wie ein Schlag an, jemandem bleibt die Luft weg, etwas ist zum Kotzen und so weiter. Fallen Ihnen weitere ein?

3.2       Arten von psychosomatischen Störungen

Psychosomatische Störungen können in fünf Arten unterteilt werden, wie in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2: Es gibt fünf Arten psychosomatischer Störungen

Diese fünf Arten werden im Folgenden genauer erläutert. Im weiteren Verlauf dieses Ratgebers wird übergeordnet der Begriff psychosomatische Störungen verwendet. Damit werden der Einfachheit halber sämtliche psychosomatische Spielarten zusammengefasst.

3.2.1     Alltagssymptome

Vorübergehende körperliche Symptome als Resultat psychischer Vorgänge sind normal. Vergehen sie rasch wieder, fallen sie kaum ins Gewicht. Sie sind Ausdruck der regen Beziehung von Körper und Psyche. Solange die Symptome in Ausmaß, Dauer und einhergehendem Leiden sowie Einschränkungen begrenzt sind, ist meist keine Gefahr in Verzug. Die Hintergründe für aus organmedizinischer Sicht nicht oder nicht gänzlich erklärbare körperliche Symptome sind zahlreich wie Sterne am Himmel. Dem Studenten, der die ganze Nacht durchgepaukt hat, raucht der Kopf, er leidet an Kopfschmerzen. Dem Romantiker, der seiner Liebsten einen Heiratsantrag macht, rast sein Herz. Der herzensguten Vorgesetzten, die einem Angestellten die Arbeitsstelle streichen muss, läuft der Schweiß über die Stirn. Dem Verlassenen, der seiner früheren Flamme im Supermarkt begegnet, stockt der Atem. Das sind typische Alltagssymptome. Sie sind wie ein Blitz bei Gewitter, der rasch den Himmel erhellt und sogleich erlischt. Alltagssymptome sind unangenehm, gleichzeitig bei gesamthafter Betrachtung wenig belastend und kaum beeinträchtigend.

3.2.2     Somatische Belastungsstörung

Die eben beschriebenen Alltagssymptome treten kurzzeitig auf und verblassen rasch. Halten die Symptome länger an und verändern das Verhalten auf ungünstige Weise, verursachen sie Leid und beeinträchtigen die Lebensführung, kommt es zu häufigen Arztbesuchen und längeren Krankenständen, kann eine »Somatische Belastungsstörung« vorliegen – wie ein Blitz im körpereigenen System, der nicht erlischt.

Der Begriff der somatischen Belastungsstörung ist neu. Er ersetzt den früheren Begriff der somatoformen Störung. Beide oben beschriebenen Kriterienkataloge für psychische Störungen (DSM-5 und ICD-11) verwenden den neuen Begriff der somatischen Belastungsstörung.

Die Diagnose Somatische Belastungsstörung liegt vor, wenn mindestens ein körperliches Symptom besteht, das belastet und einschränkt. Dazu gesellen sich symptombezogene Gedanken, Gefühle und/oder Verhaltensweisen, die über ein sinnvolles Maß hinausgehen. Das bedeutet:

•  Es wird intensiv über die Ernsthaftigkeit des Symptoms gegrübelt (gedankliche Dimension),

•  es kommt zu starken Ängsten, die sich auf die Gesundheit oder das Symptom beziehen (Gefühlsdimension),

•  und/oder es wird viel Aufwand in punkto Zeit und Energie im Zusammenhang mit dem Symptom oder den Gesundheitssorgen betrieben (Verhaltensdimension).

Um die Diagnose Somatische Belastungsstörung zu stellen, ist die Symptombelastung anhaltend und dauert länger als sechs Monate.

Eine somatische Belastungsstörung kann sich auf verschiedene Körperteile oder -systeme beziehen. Häufig betroffen sind das Herz-Kreislauf-System, die Atmung, der Magen-Darm-Trakt, die Haut – doch längst nicht nur. In Kap. 5 lernen Sie die zentralen psychosomatischen Problemfelder kennen. Grundsätzlich kann der gesamte Körper entsprechende Symptome oder Störungen aufweisen. Viel kann in ein- und demselben Störungsbild zusammengefasst werden.

Somatische Belastungsstörungen gehören zu den häufigsten Beschwerden, wegen denen Hausärzte aufgesucht werden. Die Nichterkennung des eigentlichen Störungsbildes und die Suche nach Ursachen auf körperlicher Seite führen regelmäßig zum »Doktor-Hopping« also der Konsultation von immer neuen Ärzten in der Hoffnung, dass der nächste Rat weiß. Nicht selten vergehen Jahre, bis die eigentliche Problematik erkannt und entsprechend behandelt wird. Das führt zu beträchtlichem Leiden aufseiten der Betroffenen und verursacht mitunter hohe Gesundheitskosten.

Der Kriterienkatalog ICD-11 macht einen Unterschied zwischen chronischen Schmerzen und der somatischen Belastungsstörung. Das heißt, dass es sich dabei gemäß ICD-11 um zwei separate Diagnosen handelt. Das DSM-5 trifft diese Unterscheidung nicht. Ansonsten weichen die beiden Kriterienkataloge im psychosomatischen Störungsbereich wenig voneinander ab. Auch wenn diese Begrifflichkeiten und Unterschiede möglicherweise auf den ersten Blick kompliziert ist, soll es hier doch erwähnt sein, da Sie diesen Begriffen vielleicht im Rahmen von Arztbesuchen schon begegnet sind oder es allenfalls noch werden.

3.2.3     Krankheitsangststörung und Hypochondrie

Der Begriff der Krankheitsangststörung ersetzt im DSM-5 den der Hypochondrie, im ICD-11 wird weiterhin von Hypochondrie gesprochen. Im Zentrum steht eine Sorge vor körperlichen Erkrankungen. Betroffene beschäftigen sich auf übertriebene Weise mit der Möglichkeit, schwer erkrankt zu sein. Dabei sind meistens keine schweren körperlichen Symptome vorhanden und wenn, dann leichte. Dadurch ist das Störungsbild nicht immer klar von der zuvor dargestellten somatischen Belastungsstörung abzugrenzen.

3.2.4     Konversionsstörung und dissoziative neurologische Symptomstörung

Das DSM-5 führt die Konversionsstörung auf, das ICD-11 verwendet dafür den Begriff dissoziative neurologische Symptomstörung. Konversion bedeutet in diesem Fall, dass sich ein psychischer Konflikt in ein körperliches Symptom verwandelt. Dissoziation bedeutet das Gegenteil von Assoziation. Bei der Assoziation werden zwei Dinge miteinander verknüpft, bei der Dissoziation werden zwei Dinge »entknüpft«. Im Rahmen der Psychologie bezieht sich die Dissoziation auf die Entknüpfung oder Loslösung von psychischen Funktionen, die normalerweise zusammenhängen, also Bereiche wie Wahrnehmung, Bewusstsein, Gedächtnis, Motorik und Körperempfindungen.

Sowohl das DSM-5 wie auch das ICD-11 konzentrieren sich in diesen Diagnosen auf Störungen, die pseudoneurologische Symptome beinhalten. Mit Pseudoneurologie sind die Bereiche der Willkürmotorik und der Sensorik (also der Bewegung und des Empfindens) gemeint, die aus psychischen Gründen beeinträchtigt sind. Es sieht nach neurologischen Symptomen aus, ist aber psychisch zu erklären. So kann es zu organmedizinisch nicht erklärbarer Lähmung, Bewegungsstörung, Blind- oder Taubheit, Sprach- oder Hörverlust und weiteren Problemen kommen. Anders als bei der somatischen Belastungsstörung sowie der Hypochondrie sind die Symptome immer ohne organmedizinischen Befund und es liegen meist keine exzessiven Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen vor. Im Gegenteil: Es stellt sich oft eine »belle indifference« ein, die durch geringen Leidensdruck angesichts der mitunter massiven körperlichen Symptomatik geprägt ist.

In Kap. 5.6.2 lernen Sie die Geschichte zweier Personen kennen, nämlich die von Sonja und die von Herrn Müller. Beide haben die Funktion der Bewegungssteuerung verloren: Während Sonja von der Hüfte her abwärts gelähmt war, zitterte der Körper von Herrn Müller unentwegt. In beiden Fällen handelte es sich um eine Konversionsstörung bzw. dissoziative Bewegungsstörung, eine organmedizinische Ursache konnte nicht ausgemacht werden.

3.2.5     Psychische Faktoren, die eine körperliche Krankheit beeinflussen

Schließlich gibt es erklärbare körperliche Krankheiten, die durch psychische Faktoren beeinflusst oder verschlimmert werden. Ein Beispiel dafür ist die Neurodermitis (Kap. 5.5.2), deren Auftreten und Aufrechterhaltung in engem Zusammenhang mit psychosozialem Stress steht. Als Beispiel werden Sie Madeleine kennenlernen, bei der nach der Inhaftierung der Schwester und weiterer schwerwiegender Lebensereignisse ein schwerer Neurodermitis-Schub auftrat. Psychische Faktoren können auch die Behandlung von körperlichen Krankheiten beeinflussen, indem bspw. notwendige Behandlungen nicht oder schlecht mitgemacht werden.

3.3       Begleiterkrankungen

»Ein Unglück kommt selten allein«, sagt der Volksmund. Das gilt leider auch für psychosomatische Störungen. Oft werden diese von weiteren Erkrankungen flankiert. In der Regel leidet mehr als die Hälfte der von psychosomatischen Störungen Betroffenen an mindestens einer weiteren psychischen Störung. Dabei handelt es sich besonders häufig um Depressionen und Angststörungen. Von psychosomatischen Störungen betroffene Personen haben zudem ein erhöhtes Suizidrisiko. Dabei ist unklar, ob das auf die psychosomatische Störung, auf eine der Begleiterkrankungen oder auf etwas anderes zurückzuführen ist.

3.4       Statistische Eckdaten

Grundsätzlich sind psychosomatische Symptome allgegenwärtig. Vier von fünf Personen aus der Allgemeinbevölkerung erleben im Laufe einer Woche ein psychosomatisches Symptom. In der allgemeinmedizinischen Grundversorgung findet sich bei etwa jedem/jeder dritten Patienten/Patientin keine organmedizinische Ursache für dessen/deren körperliche Beschwerden.