Kirsten Flagstad - Ingeborg Solbrekken - E-Book

Kirsten Flagstad E-Book

Ingeborg Solbrekken

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Beschreibung

Die erste umfassende Biografie zu Kirsten Flagstad, basierend auf zahlreichen bisher unveröffentlichten Quellen und Dokumenten

Eine Geschichte zwischen Triumph und Tragödie: Kirsten Flagstad (1895-1962), eine schüchterne und eigensinnige norwegische Sängerin, wurde über Nacht berühmt und als bedeutendste Wagner-Interpretin gefeiert. Sie belebte weltweit das Interesse an Richard Wagners Opern. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zu Unrecht beschuldigt, Sympathien für die Nationalsozialisten zu hegen. Diese Gerüchte gingen auf führende Beamte im norwegischen Außenministerium zurück und waren Beginn einer politischen Schmutzkampagne. Jeder Auftritt war seitdem von Demonstrationen begleitet, ihr Vermögen wurde beschlagnahmt und die Sängerin musste unter Polizeischutz leben. Ingeborg Solbrekken hat in ihrer Flagstad-Biografie erstmals die genauen politischen Hintergründe dieser beispiellosen politischen Verschwörung recherchiert und das dramatische Leben einer faszinierenden Ausnahmekünstlerin aufgearbeitet.

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Seitenzahl: 536

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Buch:

Eine Geschichte zwischen Triumph und Tragödie: Kirsten Flagstad (1895–1962), eine schüchterne und eigensinnige norwegische Sängerin, wurde über Nacht berühmt und als bedeutendste Wagner-Interpretin gefeiert. Sie belebte weltweit das Interesse an Richard Wagners Opern. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zu Unrecht beschuldigt, Sympathien für die Nationalsozialisten zu hegen. Diese Gerüchte gingen auf führende Beamte im norwegischen Außenministerium zurück und waren Beginn einer politischen Schmutzkampagne. Jeder Auftritt war seitdem von Demonstrationen begleitet, ihr Vermögen wurde beschlagnahmt und die Sängerin musste unter Polizeischutz leben. Ingeborg Solbrekken hat in ihrer Flagstad-Biografie erstmals die genauen politischen Hintergründe dieser beispiellosen politischen Verschwörung recherchiert und das dramatische Leben einer faszinierenden Ausnahmekünstlerin aufgearbeitet.

Autorin:

INGEBORG SOLBREKKEN ist eine norwegische Autorin und Dramatikerin, die sich seit zwanzig Jahren wissenschaftlich mit Kirsten Flagstad beschäftigt. Sie hat bereits drei Bücher über die legendäre Sängerin veröffentlicht und dazu immer wieder bislang unbekannte Dokumente und Quellen ausfindig gemacht, die eindrucksvoll belegen, wie sehr die Karriere der legendären Sängerin durch die norwegischen Behörden behindert wurde. Eines ihrer Bücher war die Grundlage eines hoch gelobten Dokumentarfilms über Kirsten Flagstad.

Ingeborg Solbrekken

KIRSTEN FLAGSTAD

Die Jahrhundertstimme

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Die norwegische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Århundrets Stemme. Historien om Kirsten Flagstad bei Opera Forlag, Oslo.Die Übersetzung wurde dankenswerterweise von NORLA, Oslo, gefördert. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2021 Opera Forlag Jon Otterbeck AS

Acquired through Immaterial Agents

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: Mauritius Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28572-2V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Inhalt

Einleitung

Post festum

Teil I: Werdegang einer Sängerin (1895–1935)

Teil II: Die Jahrhundertstimme (1935–1941)

Teil III: Jahre des Kampfes (1941–1951)

Teil IV: Postludium (1951–1962)

Dank

ANHANG

Quellen

Bildnachweis

Anmerkungen

Personenregister

Einleitung

Kirsten Malfrid Flagstad (1895–1962) war zweifelsohne die größte Stimme und bedeutendste Wagner-Interpretin ihrer Zeit. Sie war auf dem gesamten amerikanischen Kontinent und in Europa berühmt, nur in ihrem Heimatland Norwegen fand sie weniger Anklang. Richard Wagners Biograf, der Musikkritiker Ernest Newman, hörte Flagstad bereits 1936 in der Queen’s Hall in London. In der Sunday Times bezeichnete er die Reinheit und Wärme in ihrer Stimme als außergewöhnlich. Sie sei vergleichbar mit hellen Sonnenstrahlen, die auf Schnee fielen. Ihre Natürlichkeit verblüffte ihn. Flagstad sah nie so aus, als mache es ihr Mühe, einen hohen Ton zu erreichen, sie nahm ihn wie ein Vogel im Flug. Andere verglichen ihren Gesang mit Sonnenschein über Berghängen, Gipfeln und Gletschern. Jessye Norman assoziierte ihn mit flüssigem Gold auf schwarzem Samt, während Elisabeth Schwarzkopf darin Dimensionen einer kosmischen Mutter zu erkennen glaubte, die das Universum umarmt.

Flagstad war mit musikalischem Genie und absolutem Gehör auf die Welt gekommen, für die Außenwelt und ihre Zeitgenossen besaß sie jedoch kein besonderes Fingerspitzengefühl. Ihr Leben und ihre Karriere spielten sich größtenteils in einer für Europa düsteren Zeit ab – vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg –, und so ist es das Anliegen dieser Biografie, ihr Leben und das anderer großer musikalischer Persönlichkeiten ihrer Zeit in diesen historischen Kontext zu stellen, in das Spannungsfeld, das sich damals zwischen Kunst und Politik ergeben hatte.

Flagstads Schicksal deckt sich oft mit dem Inhalt der Wagner-Opern, die sie gesungen hat, eine Koinzidenz, die dieser Text aus einem tiefenpsychologischen Blickwinkel beleuchtet. Beinahe wäre Flagstad in die Falle der nationalsozialistischen Politisierung von Richard Wagners Figuren und Werk geraten. Wagner benutzte uralte nordische Mythen als Rohmaterial für seine Opern. Doch was vermitteln diese Mythen eigentlich, und wie konnte archaische Weisheit umgedeutet und einer nazistischen Ideologie dienstbar gemacht werden? Welche Konsequenzen hatte das für das Leben von jüdischen Sängerinnen und Musikern in Deutschland nach 1933? Welche Konsequenzen hatte es für das kulturelle Leben allgemein? Auf diese und ähnliche Fragen geht dieses Buch ein.

Durch einen Kontakt zur Metropolitan Opera (Met) in New York entkam Flagstad 1934 der Fortführung ihrer Karriere in Bayreuth. Von 1935 bis 1941 war sie fest an der Met engagiert. Angeblich hat sie dieses Opernhaus vor dem Konkurs bewahrt und zugleich die Oper allgemein als Kunstform in den USA erneuert. In Bayreuth galt sie 1934 als angehende Isolde und Brünnhilde, eine Verlängerung ihres dortigen Engagements hätte fatale Folgen haben können, denn die strahlende überirdische Gestalt der Walküre wurde durch das Hitler-Regime als Kriegsgöttin für den Nationalsozialismus gedeutet und verehrt, und die Interpretin war nur schwer von der Botschaft zu trennen.

In den USA wurde Wagner zwischen 1935 und 1940 nicht auf vergleichbare Weise politisiert. Das amerikanische Publikum erlebte seine Opern außerhalb eines germanischen und nazistischen Zusammenhangs als rein mythologische Dramen, gewandet in unvergleichliche Musik.

Die Werke waren durch das Genie des Komponisten auf einem universalen Niveau beheimatet. Zugleich wurden sie durch den ideologischen Schlagschatten seiner Person verdüstert, den Hitler und seine Verbündeten sich für ihr Projekt zunutze machten. Flagstad wurde von dieser Entwicklung erst 1940 eingeholt, als ihr Wagner-Repertoire vom norwegischen Gesandten und späteren Botschafter in den USA und den norwegischen Auslandsbehörden als Landesverrat gedeutet wurde. Deutsch galt von nun an in den Ohren der Vertreter besetzter Länder als Feindessprache. Noch fataler wurde es für Flagstad 1941, als sie aus den USA ins besetzte Norwegen zurückkehrte, denn ihr Ehemann war Mitglied der norwegischen Nazipartei NS geworden und betrieb zudem umfangreichen Handel mit der deutschen Besatzungsmacht.

Kirsten Flagstad entsprach dennoch nie dem Feindbild, das führende Männer des norwegischen diplomatischen Dienstes gemeinsam mit dem norwegischen Botschafter in den USA, Wilhelm von Munthe af Morgenstierne an der Spitze, von ihr zeichneten. Sie beschuldigten sie öffentlich und zu Unrecht als nazifreundlich, als Kriegsgewinnlerin, als eine, die für Hitler gesungen und die Besatzungstruppen des »Dritten Reichs« unterstützt habe. Zudem wurde sie in eine Verschwörungstheorie verwickelt, derzufolge 1945 in Norwegen eine Untergrundorganisation namens »Der ökonomische Ring« gegründet worden sei. Flagstad wurde der Mithilfe verdächtigt, es hieß, sie bewahre das Kapital dieser Organisation getarnt als ihr persönliches Vermögen auf und solle es bei zukünftigen Auftritten im Ausland dort anlegen. Das war einer der Gründe, warum ihr Vermögen ohne rechtliche Grundlage bis 1950 beschlagnahmt blieb und warum ihr bis zum Dezember 1946 ein Pass sowie eine Ausreisegenehmigung aus Norwegen verweigert wurden.

Eine spätere polizeiliche Untersuchung im Jahr 1950 unter der Leitung des norwegischen Generalstaatsanwalts Andreas Aulie konnte keinerlei Beweise für die Existenz dieses »ökonomischen Rings« erbringen. Die Gerüchte über eine solche Organisation stammten von zwei ehemaligen Gestapo-Agenten, die der norwegischen Polizei von 1945 bis 1948 als Informanten und Kollaborateure gedient hatten.1 Diese Erkenntnisse stellten die Glaubwürdigkeit von Polizei und Anklagebehörden auf eine harte Probe.

Die nach dem Krieg gegen Norwegens bedeutendste Vokalkünstlerin gerichteten systematischen Schikanen lassen sich gründlich durch eine Reihe von als »vertraulich« erklärten Briefen im Archiv des norwegischen Außenministeriums belegen. Das ausdrückliche Ziel dieser Aktivitäten war es, Kirsten Flagstad daran zu hindern, Norwegen zu verlassen und ihr die Ausübung ihres Berufs in Norwegen und den USA zu untersagen. Ihre Verfolger versorgten die US-Behörden mit Fehlinformationen, leiteten unzutreffende Informationen an das norwegische Königshaus weiter, lancierten Lügen in der ausländischen Presse und zogen durch solche Machenschaften Teile der norwegischen Presse auf ihre Seite.

Die Kampagne war erfolgreich und führte zu einer der umfassendsten Kontroversen, der sich eine Künstlerin oder ein Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA ausgesetzt sah. Tausende Menschen glaubten, was die Zeitungen über Kirsten Flagstad berichteten, und gingen auf die Barrikaden. Auch die Leitung der Metropolitan Opera glaubte der Kampagne und bat Flagstad in der Folge erst 1951 wieder auf ihre Bühne zurück. Mehrere Jahre hindurch lebte die Sängerin in ständiger Angst vor wütenden Verfolgern und demonstrierenden Menschenmengen und stand zeitweise unter Polizeischutz.

Diese Schikanen konnten sie zwar als Künstlerin nicht brechen, aber das endlose Mobbing hat ihrer psychischen und physischen Gesundheit irreparablen Schaden zugefügt. Ihr verbittertes Testament, in dem sie versucht, sich aus der Erinnerung der norwegischen Gesellschaft zu löschen, spricht Bände. Zugleich war ihr aber bewusst, dass ihre zahlreichen Aufnahmen ein langlebiges und großes Vermächtnis für die Weltgeschichte der Musik darstellen würden.

Das vorliegende Buch wurde für ein internationales Publikum geschrieben. Da es über das musikalische Leben in unterschiedlichen Ländern berichtet, kann es Opernliebhabern und Musikinstitutionen in aller Welt von Nutzen sein. Diese Biografie ist das Ergebnis einer über zwanzigjährigen Forschungsarbeit, bei der viele bisher nicht genutzte und unerwähnte Archive urbar gemacht wurden. Flagstads Leben und Laufbahn greifen etliche zementierte Narrative an, und ihr Leben wird zeitweise mit Begebenheiten und Geschehnissen verflochten, die der norwegischen Erinnerungskultur widersprechen. Dennoch wird ihr Renommee mittlerweile auch in der norwegischen Gesellschaft langsam wiederhergestellt; es wurde ein Denkmal für sie errichtet, Straßen nach ihr benannt, ihr Bild schmückt Banknoten, und ihr Geburtshaus in Hamar wurde zu einem Museum.

Mit diesem international ausgerichteten biografischen Werk möchte ich dem Mangel an Wissen um Kirsten Flagstad in der Weltgeschichte der Musik abhelfen. Die Schilderung der gegen Flagstad gerichteten Schikanen durch norwegische Behörden beruht größtenteils auf zwei meiner bereits erschienenen Publikationen, Landssvikoppgjørets hemmelige historie (2015) – Die geheime Geschichte derLandesverräterprozesse und Konspirasjonen mot Kirsten Flagstad (2016) – Das Komplott gegen Kirsten Flagstad –, in denen diese Maßnahmen umfassend dokumentiert sind.

Etnedal, den 6. Oktober 2020

Ingeborg Solbrekken

Post festum

Nur wer dem Faden bis zum Ende folgt, kann verstehen, was ich verkünde, singt der Waldvogel in Richard Wagners Oper Siegfried.

Am Freitag, dem 14. Oktober 1962, wurde Kirsten Flagstad in Oslo beigesetzt. Sie war zweifellos die größte Stimme ihrer Zeit, ein »funkelnder Knopf/an der Weste der Welt«, um Henrik Ibsens bekannten Ausspruch aus Peer Gynt zu zitieren. Eine Sängerin, die von mehreren englischsprachigen Musikkritikern bereits 1936 zur Stimme des Jahrhunderts ausgerufen worden war. Mehrere große Zeitungen in Europa und den USA publizierten nach ihrem Tod Huldigungsartikel über diese einzigartige Künstlerin. In ihrem Testament stand allerdings, dass ihr Tod erst nach der Einäscherung bekanntgegeben werden dürfe. Sie wünschte auch keine große Trauergemeinde bei ihrer Beisetzung, und sie untersagte es, ihre Asche aufzubewahren.1

Es war ein klirrend kalter Tag. So kalt, dass viele fröstelten, als sie zu den Orgelklängen von »In einsamer Stunde«, einer von Ole Bull um 1850 aufgezeichneten Volksweise, durch den Mittelgang des Vestre-Krematoriums schritten. Nachdem alle Trauergäste die Kapelle verlassen hatten, machte sich das Bestattungsunternehmen ans Werk. Die Kerzen wurden ausgeblasen, riesige Mengen von Kränzen und Blumen weggeräumt.

Am nächsten Tag schrieben die Zeitungen, alles, was Rang und Namen besitze, sei anwesend gewesen, und der Kranz des Königs habe majestätisch vor dem Sarg gelegen. Sie schrieben über die eleganten Nelkengestecke, über die strahlende Amaryllis und die schneeweiße Pracht von Lilien und Flieder, die beim Erscheinen der Zeitungen längst vernichtet worden waren.

Der Sarg war in den Keller hinabgelassen worden, wo in einem kleinen Büro über die Verbrennung der Särge und das Füllen der Urnen Buch geführt wurde. Die Flammen umloderten den Körper, der eine Stimme beherbergt hatte, die kein Orchester hatte übertönen können. Wie oft hatte diese Stimme gesungen:

Fliegt heim, ihr Raben! Raunt es eurem Herren, was hier am Rhein ihr gehört! An Brünnhildes Felsen fahrt vorbei! – Der dort noch lodert, weiset Loge nach Walhall!

Die Asche wurde in eine Urne mit der Aufschrift »Kirsten Flagstad« gefüllt und stand anschließend drei Jahre lang in einem Regal im Keller des Neuen Krematoriums. Vielleicht wurde »In einsamer Stunde« oben in der Kapelle viele Hundert Mal gespielt, ehe die Urne endlich zusammen mit fünf weiteren Urnen in einem anonymen Gedenkhain abgestellt wurde. Das verstieß zwar gegen Flagstads letzten Willen, aber es hinterließ den Eindruck, als habe alles seine Richtigkeit. So war der Standard. Norwegen hatte sich würdig von einer weltberühmten norwegischen Künstlerin verabschiedet.

Was war das für eine Lebensgeschichte, die dazu geführt hatte, dass ihr letzter Wunsch lautete, ihren Tod erst nach der Einäscherung bekanntzugeben, keine Trauergemeinde bei der Beisetzung zuzulassen und ihre Asche nicht aufzubewahren?

Beethoven und Flagstad angegriffen

Kirsten Flagstad erlangte vor allem als Interpretin von Richard Wagners Opernfiguren Isolde und Brünnhilde Berühmtheit. Dabei war es ein anderer Komponist, der ihr noch mehr am Herzen: Ludwig van Beethoven.

Im Frühjahr 1802 hatte Beethoven Wien verlassen. Er befand sich in einer tiefen existenziellen Krise und suchte Zuflucht in der Natur. Früher hatte er in diesem mütterlichen Element eine gewisse Linderung gefunden, aber jetzt gab es auch dort keinen Seelenfrieden, keinen Schutz, keine Ruhe. Beethoven war ein sensibler Mensch, mit einem fein entwickelten inneren und äußeren Gehör, an dem er sich orientierte. Die Landschaft aber schwieg nun, die Umwelt verschloss sich vor ihm, und das Lied der Hirten würde bald nur noch eine vage Erinnerung sein. Ein immer stärkerer Gehörverlust hatte ihn von den Menschen und der sinnlich erfahrbaren Welt fortgetrieben. Ihm war bewusst, dass es keine Heilung gab, dass er gänzlich taub werden würde. Der Schmerz und die Verzweiflung über diese Erkenntnis waren fast nicht zu ertragen, er spielte sogar mit dem Gedanken an Suizid.2

Doch dann, in der finstersten und schwersten Stunde, muss sich ein starker Wille seiner bemächtigt haben. Die äußere Welt verschwand, aber wie durch ein Wunder eröffnete sich ihm eine andere Wirklichkeit. Er war für die Außenwelt immer tauber geworden, aber sein inneres Gehör fing nun neue Schwingungen aus den Harmonien der Sphären auf. Über den griechischen Mathematiker und Mystiker Pythagoras heißt es, er habe die Sphärenmusik hören können, habe aber die Ansicht vertreten, sie müsste vermittelt werden. Beethovens Gehör reichte nun auch so weit, er wurde zu einem Wiederentdecker der orphischen Leier, zu einem, der durch seine Musik die Seele der Menschheit aus der Unterwelt zurück auf die Erde führen konnte. Er bewegte sich von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Standpunkt und konnte damit seinen Kontakt zu einem spirituellen Zentrum vertiefen, zum ursprünglichen wahren Selbst. Von diesem Zentrum aus erkannte Beethoven die sinnlich erfassbare Welt als leere Form – und hinter Form und Leere fand er das Absolute.

In dieser Zeit arbeitete Beethoven an Christian Fürchtegott Gellerts Andachtsliedern, diese sechs Lieder nach Gellerts Gedichten sollten zum Opus 48 werden. Sie vermitteln eine tiefe Erkenntnis und Spiritualität, die sich nach der großen Lebenskrise eingestellt hatten, und nehmen einen besonderen Platz in Beethovens Gesamtwerk ein.

Zwei dieser Lieder hatte Kirsten Flagstad am 22. April 1947 in ihr Konzertprogramm für das ehrwürdige alte Opernhaus Academy of Music in Philadelphia aufgenommen. Den Anfang sollte das sechste Lied, das lange »Bußlied« machen. Das Konzert war eines ihrer ersten in den USA nach dem Krieg. Die Polizei hatte vor Ausschreitungen gewarnt. Angeblich hatte sich einer der Millionäre der Stadt bereiterklärt, mehr als 100 000 Dollar zu investieren, um ihre Auftritte in den USA zu bekämpfen. Sie konnte das nicht so recht glauben, war aber sicherheitshalber bereits am frühen Nachmittag unter Polizeischutz ins Opernhaus gefahren. Der Pianist, der sie begleiten sollte, war ganz blass. Er wirkte verängstigt und rechnete mit dem Schlimmsten.

Sie erfuhren, dass eine verdächtig große Bestellung für überall im Saal verteilte Sitze eingegangen war. Das war so außergewöhnlich, dass beim Kartenverkauf die Sitznummern notiert worden waren, diese Liste wurde der Polizei übergeben. Vor der Oper sammelte sich nun eine Gruppe von Studenten zu einer Art Protestmarsch. Flagstads Agent ging hinaus, um mit ihnen zu sprechen, und erfuhr von einigen, dass sie fünfzehn Dollar sowie Gratiseintrittskarten für ihre Teilnahme an der Demonstration erhalten hatten. Die Menge der Demonstranten wuchs im Laufe des Nachmittags weiter an. Ein Wagen fuhr mit einem Megafon umher; mit schriller Stimme wurde verkündet, dass eine Nazisympathisantin ein Konzert geben wolle, dass Amerikaner gegen die Nazis gekämpft hätten und von Kirsten Flagstads Freunden getötet worden seien und dass diese Gefallenen hier nicht anwesend sein könnten. Deshalb müssten alle anderen dieses Konzert meiden.

Eine Frau lief vor der Oper mit einem großen Plakat hin und her, auf dem Flagstad mit Adolf Hitler verglichen wurde. Journalisten waren mit Kamera und Notizblock zur Stelle, während sich immer neue Demonstranten anschlossen. Einsatzwagen der Polizei brachten Beamte, die strategisch vor und in der Oper platziert wurden. Kirsten Flagstad hatte hinausgelugt und fünfzehn Polizisten gezählt, die auf allen Seiten die Bühne bewachten, weitere waren im Saal verteilt. Der Pianist richtete ihr von der Polizei aus, sie solle die Bühne verlassen, wenn es im Haus zu gefährlichen Situationen käme.

Sie war sich nicht so sicher, ob sie diesem Befehl Folge leisten würde, denn gerade jetzt verspürte sie keine Angst. Ihre Furchtlosigkeit entsprang ihrer Überzeugung, dass sie nichts verbrochen hatte, nichts von dem, was vor der Oper geschrien und gebrüllt wurde, hatte mit ihr zu tun. So war Kirsten Flagstad nicht, und deshalb wollte sie dem Pöbel nicht den Sieg überlassen.

Sie betritt hocherhobenen Hauptes die Bühne, sinkt aber ein wenig in sich zusammen, weil der Saal so spärlich besetzt ist, schließlich ist sie es gewohnt, Tausende anzulocken. Dann stimmt sie den ersten Ton des »Bußliedes« an, den Text, der die Erkenntnis enthält, dass die Sünden, die wir in unserem Leben begehen, sich in erster Linie gegen unser höheres Selbst richten: »An dir allein, an dir hab ich gesündigt.« Sie kommt nicht über den ersten Ton hinaus, den das Klavier gleichzeitig anschlägt, denn nun brechen im Saal die Buhrufe los. Das geschieht sehr überraschend und bringt sie für einen Moment aus dem Takt, doch zugleich hört sie einen Applaus, der sie zum Weitermachen auffordert. Das Wunderbare ist, dass Beethoven und die große dramatische Stimme sogar einen Mob verzaubern können. Keine Buhrufe sind mehr zu hören, während sie das Lied vorträgt. Erst als das »Bußlied« verklungen ist, besinnt sich der Pöbel und tut, wofür er bezahlt worden ist, er buht, während das musikinteressierte Publikum applaudiert.

Unmittelbar vor dem nächsten Lied, in dem Beethoven ein wenig von der Süße der Wehmut vermittelt, »Wonne der Wehmut«, herrscht Stille im Saal. Sie horcht auf den Anschlag des Pianisten, als eine Stimme oben auf dem Balkon die Stille bricht und ein Wort mit zwei Tönen singt: Na…zi.

Vom Orchester her wird zum Balkon hochgeschrien: »Hör auf!« Abermals wird vom Balkon her gesungen: »Na…zi.« Diese Silben werden zu glühenden Pfeilen, die ihr Nervensystem treffen. In ihrem Körper kocht es, das Herz hat Gefahrensignale wahrgenommen und hämmert los, der Organismus pumpt Adrenalin für die Flucht, aber sie bleibt stehen.

Ein Dutzend Männerstimmen aus dem Saal stimmt nun die Nationalhymne der USA an: »The Star-Spangled Banner«, aber lauter ist der Applaus des Publikums. Von der Bühne her sieht sie, dass im Saal das Chaos ausbricht, die Leute schreien nicht nur, sie gehen mit Fäusten aufeinander los. Das Ganze kommt ihr unwirklich vor, sie weicht ein Stück zurück, bleibt aber auf der Bühne. Eigensinn und Kraft halten sie dort, auch wenn sie am ganzen Leib Schmerzen verspürt.

Protestplakate gegen Kirsten Flagstad vor ihrem Auftritt am 22.4.1947 in Philadelphia.

© Archiv Flagstad-Museum

Die Polizei stürzt sich ins Gewühl und wirft die Unruhestifter aus der Oper, die schlimmsten unter ihnen werden zur Vernehmung auf die Wache gebracht. Erst nach einiger Zeit herrscht Ruhe im Saal. Als es dann still geworden ist, tritt sie wieder vor und singt »Wonne der Sehnsucht«. Eine fast übermenschliche Konzentrationsfähigkeit ermächtigt sie, die Stimmung des Liedes zu vermitteln, sie lässt das verstörende Erlebnis nicht ihre Darbietung ruinieren. Um sie herum breitet sich ein ihr unbekannter Geruch aus. Später erfährt sie, dass jemand versucht hatte, sie mit einer Stinkbombe zu treffen.3 Sie steht noch immer auf der Bühne und singt mit souveräner Überzeugung und Stärke ihr nächstes Lied: »Die Ehre Gottes aus der Natur«.

Hinter den Sternen, hinter den Sphären gibt es eine Kraft. Dort hat Beethoven seine Heimat gefunden, seinen Geist und seine Inspiration. Dorthin folgt sie ihm und steht gleichsam unberührt da.

Mein ist die Kraft, mein ist Himmel und Erde; an meinen Werken kennst du mich. Ich bin’s und werde sein, der ich sein werde, dein Gott und Vater ewiglich.4

Nach diesen Strophen war im Saal keinerlei Unruhe mehr zu vernehmen, aber nach dem Konzert griff die Polizei abermals ein. Flagstad sollte eigentlich mit dem Zug aus Philadelphia abreisen, doch nachdem die Polizei den Bahnhof durchsucht hatte, wurde ihr geraten, im Auto nach New York zurückzukehren.5

Teil I Werdegang einer Sängerin (1895–1935)

Eine Tochter und ein Silberklang

Sie ist vierundzwanzig und glücklich verheiratet. Der Gatte hat versprochen, für sie zu sorgen, sie muss auf keiner Bühne mehr stehen. Am 17. Mai 1920 bringt sie ihre Tochter Else Marie zur Welt. Sie singt vier Monate lang nicht einen Ton, abgesehen von Wiegenliedern. Es macht sie glücklich, sich um das Baby zu kümmern, sie denkt an nichts anderes. Auch der Ehemann ist dem Kind zugetan. Else und der Vater hängen fast von Anfang an sehr aneinander. So vergehen die Tage, bis Kirsten Flagstads Mutter, Maja, beschließt, dem Hausfrauendasein ihrer Tochter ein Ende zu machen. Kirsten hat den ganzen Sommer nicht gesungen, zur großen Bestürzung der Mutter. Geradezu »verzweifelt« versucht sie, ihre Tochter wieder zum Singen zu bewegen.1

Maja hatte die bange Ahnung, dass Kirstens Ehe nicht mehr so glücklich war, dass ihr Mann nicht so wohlhabend war, wie sie anfangs geglaubt hatten. Der Direktor der Osloer Opera Comique hatte sie oft gefragt, ob Kirsten nicht bald zurückkommen werde. Maja war klug genug, um behutsam vorzugehen, denn ihre Tochter hatte schon mehrere Versuche, sie zur Oper zurückzubringen, abgelehnt. Das »Kind«, wie Maja Kirsten noch immer nannte, hat es sich wohl in den Kopf gesetzt, dass Töchterchen und Ehemann alles für sie sein sollten. Deshalb hatte sie ihre Karriere an den Nagel gehängt.

Kirsten mit ihrer Tochter Else Marie 1920.

© Archiv Flagstad-Museum

Eines Tages kommt Maja mit einem dicken Packen Noten unter dem Arm und setzt sich ans Klavier. »Hier ist eine Rolle, die für dich wie geschaffen ist. Sieh sie dir doch wenigstens mal an. Die ist wirklich nur für dich bestimmt und für keine andere«, sagt sie und hütet sich, das Angebot zu dringend klingen zu lassen. »Es ist Franz Lehárs Zigeunerliebe, ein wunderschönes Stück.« Kirsten lässt sich in Versuchung führen, und die beiden sehen die Noten zusammen durch. Dann stimmt Kirsten rein zum Vergnügen eine Kadenz mit dem hohen C an, verstummt dann aber aus purer Verblüffung darüber, was sie hier gehört hat. »Ich habe das mit einem neuen, großen Klang gesungen«, sagt sie. Auch die Mutter ist überrascht und ruft: »Aber Kind!«

Die Mutter verlässt die Wohnung mit dem Versprechen ihrer Tochter, wieder in den Beruf zurückzukehren. Dabei bereut Kirsten ihre Zusage sogleich wieder. Eigentlich will sie ihr sechs Monate altes Kind nicht verlassen, das fühlt sich für sie nicht richtig an. Von nun an soll eine Tagesmutter vormittags das Kind hüten, Ehemann Sigurd hat versprochen, sich abends um seine Tochter zu kümmern, wenn Kirsten auftritt. Kirsten kehrt also in den Beruf zurück. Der Traum von der versorgten Ehefrau und Mutter ist ausgeträumt, von nun an muss sie Geld verdienen.

Eine besondere Mutter

Maja war zufrieden. Sie war selbst ein Wunderkind gewesen und musikalisch viel begabter als die meisten. Ihr Vater hatte sie auf den Orgelhocker gehoben, noch ehe sie drei Jahre alt war. Er brachte ihr Noten bei, ehe sie Buchstaben lesen konnte, und sie entwickelte nach und nach große Fähigkeiten auf Hausorgel und Klavier. Ihre Eltern hatten vier Töchter verloren, bevor Maja zur Welt gekommen war, und sie hatten deshalb große Angst, dass ihre Tochter im Leben nicht zurechtkommen würde. Diese Angst hatten sie auf Maja übertragen, was ihr ein rastloses Wesen verlieh. Bei ihrer Erziehung wurde großes Gewicht darauf gelegt, dass sie einen Beruf erlernte, um sich selbst versorgen zu können. Im Norwegen des ausgehenden 19. Jahrhunderts war das sehr ungewöhnlich für ein Mädchen. Dieser Hintergrund spielt eine große Rolle, wenn sie nun in das Hausfrauenleben ihrer Tochter Kirsten eingreift.

Kaum hatte Maja zu Hause die Hausorgel gemeistert, da sollte sie an der Orgel in der Langset-Kirche üben. Mit neun Jahren spielte Maja so gut, dass sie ihren Vater vertreten konnte, der Organist war und das absolute Gehör besaß. Nach und nach übernahm sie die Begleitung der Gottesdienste und wurde als feste Vertretung eingestellt. Mit elf Jahren wurde sie nach Christiania geschickt, wie Oslo damals hieß, um bei dem bekannten Organisten und Musikpädagogen Peter Lindeman das Orgelspiel zu studieren. Nach drei Monaten bestätigte er schriftlich, dass Maja Choräle mit einer Ruhe spielte, um die erfahrene Organisten sie beneiden konnten. Ihre Fertigkeiten an Manualen und Pedal seien so hoch entwickelt, dass sie ohne Schwierigkeiten bei öffentlichen Gottesdiensten als Organistin mitwirken könne.

Mit nur zwölf Jahren wurde sie zu einem Jahresgehalt von hundertfünfzig Kronen an der Langset-Kirche als Organistin eingestellt. Sie behielt diese Stellung bis 1889. Dann hielt ihr Vater es für das Beste, sie nach Christiania zu schicken, um am Musikkonservatorium weiterzustudieren. Sie stürzte sich in die Arbeit und konnte bald schon selbst Stunden geben.

Maja Flagstad, Kirstens Mutter.

© Archiv Flagstad-Museum

1891 wurde Maja am Christiania Theater als Korrepetitorin und Pianistin angestellt. Es gab damals in Norwegen nur wenige Orchestermusikerinnen, weshalb die adrette junge Frau mit den roten Haaren und den funkelnden Augen ein gewisses Aufsehen erregte, wenn sie mit dem Notenbündel unter dem Arm auftauchte. Dass sie eine Frau war, verhinderte später eine Karriere als Konzertpianistin.

Kirsten Flagstads Vater Michael besaß allerlei Talente, aber keine herausragende Begabung. Flagstad erzählt, dass ihr Vater ein guter Dirigent, aber kein guter Geiger gewesen sei. Wenn er drauflosfiedelte, geriet die Mutter außer sich. Durch ihr absolutes Gehör achtete sie geradezu fanatisch auf eine fehlerlose Tonführung. Kirsten Flagstad hatte als einziges von Majas Kindern diese Fähigkeit geerbt. Wenn die Mutter mit Schülern übte, die den Ton nicht trafen, konnte es vorkommen, dass sie Kirsten hinzurief. Ausgebildete Sänger waren ungeheuer überrascht, wenn dieses Kind, das geradewegs vom Spielen kam, einen Ton genau treffen oder fehlerlos die Partien singen konnte, die ihre Mutter ihr auftrug. Maja konnte sagen: »Kirsten, bitte sing mit dem Herrn dieses Duett von Puccini. Es wird ihm leichterfallen, korrekt zu singen, wenn er hört, wie es zu klingen hat.« Mit elf Jahren sollte Kirsten die Partie der Senta für einen Mann singen, der Richard Wagners Oper Der fliegende Holländer studierte. Sie sang vom Blatt, zum großen Entsetzen des Mannes. Wenn ihr Vater die Geige mit neuen Saiten bespannte, bat er Kirsten darum, zum Beispiel ein A zu singen, und danach stimmte er die Geige.

Finanzieller Ruin

Mutter Maja war die Ehrgeizige, nicht Kirsten. Eher widerwillig kehrte Kirsten 1920 an die Opera Comique zurück. Eine reifer gewordene Sängerin betrat nun die Bühne und sang die Zorika in der Zigeunerliebe. Die Zeitungen schrieben, Kirsten Flagstad singe besser denn je. Die Kritiker hatten die Veränderung registriert und fanden, die Pause habe ihrer Stimme gutgetan. Klang und Umfang hätten sich verbessert, das Stimmvolumen habe sich vervielfacht. Kirsten konnte nun größere Rollen übernehmen, wie die Desdemona in Otello und die Amelia in Ein Maskenball, und Geld verdienen. Letzteres war von lebenswichtiger Bedeutung, denn die Wirtschaftskrise der 1920er-Jahre traf die Familie hart. Es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit, die Konkurse häuften sich. Im Sommer 1921 musste auch die Opera Comique Konkurs anmelden. Familie Flagstad, die bisher von der Oper gelebt hatte, geriet in gewaltige finanzielle Schwierigkeiten.

Schlechte Zeiten waren gute Zeiten für leichtere Unterhaltung, und deshalb öffnete bald das Varietétheater Mayol seine Pforten und bot Kirsten und Maja ein Engagement. Das Theater bestand von 1922 bis 1924, dann wurde es insolvent. 1924 trat eine neue Bühne an seine Stelle, das Casino. Flagstad arbeitete unermüdlich für beide Häuser und debütierte zwischen 1922 und 1927 in nicht weniger als siebenundzwanzig Rollen.2

Ihre manische Arbeitsaktivität entsprang ihrer materiellen Not. Von März bis September 1925 stieg der Wert der norwegischen Krone um nicht weniger als 35 Prozent. Das führte unter anderem dazu, dass alle Schuldenlasten drückender wurden. Die Preise stürzten ab, und die Hälfte der Handelsbanken des Landes ging bankrott. Viele Menschen verloren ihre Sparguthaben. Kirstens Eltern gehörten dazu und saßen mit ihren Schulden da. Kirstens Elternhaus kam 1924 in die Zwangsauktion. Diese Umstände beängstigten Kirsten Flagstad; sie nahm ein Darlehen auf, um sich und ihren Eltern zu helfen. Das Darlehen wurde ihr gewährt, weil sie Einkünfte vorweisen konnte.

Auch in ihrer Ehe häuften sich inzwischen die Probleme. Die Geschäfte ihres Mannes gingen schlecht, und seine Stimmung wurde immer unberechenbarer. In der Familie Flagstad hieß es, dass er trank und seine Frau schlug.3 Das Ehepaar trennte sich, und Kirsten wohnte zeitweise mit ihrer Tochter und ihren Eltern in einer kleinen Wohnung in der Osloer Universitetsgata. Ihre Eltern kümmerten sich um das Kind, während Kirsten jegliche Rollen in Varietétheatern annahm, um die Schulden abbezahlen zu können. Ihr stolzes Wesen ließ nur selten ihre Verzweiflung ahnen, aber ihrem amerikanischen Biografen schilderte sie später ihre hoffnungslose finanzielle Situation. Sie fühlte sich gezwungen, Rollen anzunehmen, auf die sie lieber verzichtet hätte.4

Leichtbekleidete Bauchtänzerin

Flagstad war von Natur aus sehr scheu und zurückhaltend, und deshalb war die Oper Die Bajadere eine besondere Herausforderung. Kirsten wurde eine Paillette oder ein glitzernder Stein in den Nabel geklebt, und sie musste den Bajaderentanz vorführen, eine Art Tempeltanz, der an Bauchtanz erinnert. Das Publikum hatte den Eindruck, sie sei von der Taille aufwärts nackt. Maja saß im Saal und verfolgte die Partitur, das Publikum jubelte, und die Vorstellung wurde nicht weniger als 141-mal vor ausverkauftem Haus gegeben. Mittendrin bekamen sie Ärger mit dem Polizeichef der Stadt, Christian Grundt. Er erschien zur Inspektion und befand die Damen auf der Bühne für zu leicht bekleidet. Kirsten war das unendlich peinlich.

Kirsten Flagstad als Gräfin Mariza.

© Archiv Flagstad-Museum

Der Abend im Revuetheater beginnt. Kirsten steckt sich lange Straußenfedern an und singt, während im Hintergrund die Ballettmädchen die Beine schwingen. Noch ehe der Applaus verhallt ist, läuft sie in die Garderobe, wirft sich in ihr Konzertkleid und rennt hinüber zur Aula, dem städtischen Konzertsaal, um in Beethovens 9. Sinfonie über erhabene Menschenliebe zu singen. Dann stürzt sie zurück ins Casino, steckt sich abermals die Straußenfedern an und singt über flüchtige Liebe der kitschigen Sorte: »Can you forget«. Am Ende des Tages saß sie oft nur am Schminktisch und starrte vor sich hin, sie fühlte sich so elend, als stünde sie kurz vor dem Zusammenbruch.

Die Tochter Else sieht ihre Mutter in diesen Jahren nicht oft. In der Spielzeit 1925/26 tanzt Kirsten in 65 Aufführungen der Fledermaus als Rosalinde, nur um im neuen Jahr abermals die Federtracht anzulegen und in nicht weniger als 141 Aufführungen der Faschingsfee zu ertrinken. Das Ganze endet mit dem, was sie als »nervöses Herz« bezeichnet, sie leidet unter einer Belastungsstörung. Dennoch hat sie keine Wahl. Die Menschen wollen diese Art von Unterhaltung, damit ist Geld zu verdienen. Die Presse klagt immer wieder über ihren Mangel an feurigem Temperament und brausendem »Ungarinnenblut«, aber alle finden, dass sie wundervoll singt.

Der Kampf um die Seele

Nachdem sie sich in 79 Aufführungen vor ausverkauftem Haus als Fedora Palinska durch Kálmáns Zirkusprinzessin hindurchgesungen hatte, beschloss die Theaterleitung, es mit etwas Seriösem zu versuchen. Die Wahl fiel auf die Oper Faust von Charles Gounod, die am 7. Dezember 1926 Premiere hatte. Das Libretto basiert auf einer Sage aus dem Mittelalter, die Goethe in seinem gleichnamigen Werk zum Leben erweckt hat. Flagstad bekam die Rolle der Margarethe, eine Frauengestalt, die in vielerlei Hinsicht als Fausts personifizierte Seele gelten kann. In diesem Drama geht es um das große kosmische Thema, um Erlösung oder Verdammnis der Seele. Der schwedische Basssänger Åke Wallgren sollte den Mephisto singen. Er galt als einer der großen Sänger der Stockholmer Oper und als perfekte Verkörperung des Teufels, wenn er mit seiner schallenden Bassstimme das Haus mit gewaltigen Ausbrüchen füllte:

Adieu, Liebesnächte! Margarethe, deine Seele ist verdammt!

Ein Grab tat sich auf, und mit einem Verzweiflungsschrei sank Flagstad Abend für Abend verlassen hinab. Es tat ihr gut, endlich etwas von der Verzweiflung und dem Leid darstellen zu können, die das wahre Leben ihr bereitet hatten. Die Inszenierung wurde zu ihrem Durchbruch. Die Presse lobte sie für diese Charakterrolle, eine Frau, der das Schicksal so übel mitspielte. Ein Rezensent schrieb, er werde niemals ihren wahnsinnigen Gesang in der Kerkerszene vergessen. Er hatte die Oper in Berlin und Paris gesehen, aber niemals die Rolle so ergreifend gestaltet erlebt. Der Himmel habe sich über dem tiefen Lied erhoben. Das hier sei große, echte Kunst. Ein anderer Rezensent beklagte zutiefst, dass die norwegische Hauptstadt keine Opernbühne besaß, an der Flagstads Talent zu umfassenderer Anwendung kommen könnte.

Sie blieb bei diesem Thema und sang als Nächstes die Euridike in einer Inszenierung von Glucks Orfeo ed Euridice. Mehrere Rezensenten beklagten nun, dass die Operetten so viele ihrer besten Jahre verschlungen hätten. Einer schrieb, Kirsten Flagstad singe in dieser Rolle funkelnd schön, besitze aber zugleich das Klassisch-Metaphysische, wenn sie Orpheus wie eine Schlafwandlerin aus der Unterwelt nach oben folge.

Sängerin von Format bekommt größere Bühne

Im Sommer 1928 war die Trennung von ihrem Ehemann Sigurd Hall endgültig. Er ging nach Kanada, und Kirsten nahm von nun an Else überall dorthin mit, wo sie auftrat. Das Kind, inzwischen acht Jahre alt, war nicht besonders glücklich. Else war in einer konfliktreichen Familie aufgewachsen, hatte eine sich ewig auf Reisen befindliche Unterhaltungskünstlerin zur Mutter, ihr Vater war auf einen anderen Kontinent ausgewandert. Das alles nagte an Flagstads Gewissen, sie wollte, so gut sie konnte, für ihre Tochter alles wiedergutmachen. Sie war auf verzweifelter Jagd nach stabileren und sichereren Arbeitsverhältnissen, jetzt, da sie die elterliche Verantwortung allein tragen musste.

Auf Drängen von Maja hatte sie sich an den norwegischen Dirigenten Olav Kielland gewandt, der am Stora Teatern im schwedischen Göteborg als Kapellmeister engagiert war. Dieses Theater existierte seit 1859 und war mit seinen mehr als 600 Plätzen eine wichtige Theater- und Opernbühne, die nicht so bald Konkurs gehen würde. Schweden besaß eine solide Theatertradition, und das Stora war bekannt für seine szenische Qualität. Das Theater zeigte pro Jahr vier große Opernaufführungen und dazwischen leichtere Unterhaltung.

Stora Teatern wandte sich an Flagstad und lud sie zum Vorsingen ein. Dem Theater fehlte ein fester dramatischer Sopran, als erste Partie stand die Agathe in Webers Oper Der Freischütz auf dem Programm. Die Premiere sollte im Herbst 1928 sein. Kirsten studierte in aller Eile zum Vorsingen einen Teil der Partie ein. Wenn sie die Direktion in Göteborg überzeugen könnte, würde das die endgültige Befreiung vom Operettenleben sein, und sie hätte die Möglichkeit, Oslo zu verlassen. Beides war ihr ungeheuer wichtig geworden. Die Vokalkünstlerin, zu der sie sich entwickelt hatte, hatte längst Rahmen und Räume gesprengt, die ihr Heimatland ihr bieten konnten.

In Göteborg wanderte sie einige Stunden lang ruhelos umher und war nach dem Vorsingen sehr angespannt. Sie glaubte selbst, ihre Sache gut gemacht zu haben. Eine schwere Last wurde von ihren Schultern genommen, als ihr ein Engagement für ein ganzes Jahr angeboten wurde. Eine erleichterte und glückliche Mutter fährt mit der Bahn nach Hause. Ihre Tochter ist bei ihr. Kirsten sieht dem Herbst fast mit einem gewissen Glücksgefühl entgegen. Sie weiß, dass sie mit einem Vertrag für nicht weniger als sechs Rollen sich und ihre Tochter versorgen und ihre Eltern unterstützen kann.

Der Freischütz

Sie mietete zwei Zimmer bei einer Göteborger Familie, die selbst Kinder hatte. Diese Familie kümmerte sich auch um Else, wenn Flagstad im Theater war. Die Tochter sollte in die dritte Klasse einer schwedischen Schule gehen, in einem fremden Land, ohne Freundinnen. Die Mutter würde vier Abende in der Woche außer Haus sein, und an einigen Wochenenden musste sie Konzerte geben. Auch die Sprache war fremd für Else; sie fühlte sich wie ein fremder Vogel, und der einzige Mensch, den sie kannte, war ihre schwerbeschäftigte Mutter.

Flagstad dagegen hatte endlich eine erträgliche Arbeitssituation gefunden. Sie genoss ihren neuen Arbeitsplatz, bei dem, in Übereinstimmung mit der schwedischen Theatertradition, viel Zeit und Arbeit investiert wurden, um die Inszenierungen so gut wie möglich zu machen. Das war ungewohnt für eine Künstlerin, die oft ihre Rollen über Nacht oder innerhalb von zwei Tagen hatte lernen müssen. Stora Teatern gab ihr eine ihr bisher unbekannte Möglichkeit, sich in die szenische Arbeit zu vertiefen. Ihr begrenztes schauspielerisches Talent, das sich mit ihren stimmlichen Leistungen nicht im Entferntesten messen konnte, erhielt nun gewisse Entwicklungsmöglichkeiten.

Die Oper DerFreischütz gilt als Meisterwerk des deutschen Romantikers Carl Maria von Weber. Die Handlung trägt sich zu in einer Welt von Sagen und Märchenromantik und ist inspiriert und befruchtet von der deutschen romantischen Schule. Der Komponist beschwört das den Dingen innewohnende mystische Wesen herauf, beschreibt Märchen, Traum und Nachtstimmung. Es war eine wahre Freude für die Stimme, sich in diesen empfindsamen Klagen, den Harmonien und der farbenreichen Sprache des Orchesters zu bewegen. Hier bekommen Flagstads vokale Kapazitäten ihr volle Entfaltung. Als sie bei der Orchesterprobe die erste Arie gesungen hat, lassen die Musiker ihre Instrumente singen, springen auf und applaudieren – was in diesem Theater offenbar noch nie vorgekommen ist.

Zur Premiere am 4. Oktober 1924 tritt sie sehr gut vorbereitet an. Vor Spannung läuft sie hinter dem Vorhang hin und her, gewandet in Agathes langes weißes Kleid und mit Blumen in den Haaren. Sie sieht wirklich aus wie eine deutsche Waldfee, wie ein Wesen aus der Sommernacht der Natur. Als sie die Bühne betritt, den Mund öffnet und ihre klangvolle Stimme in den Saal hinausschickt, notiert ein Kritiker, dass schon die ersten Töne eine dermaßen edle Stimme zeigen, dass das Publikum gefangen ist. Die Feen haben ihr einen prachtvollen Sopran in die Wiege gelegt, mit Volumen und Glanz und außerdem einem besonderen norwegischen Timbre, das an Himmelblau denken lässt. Allein durch diesen Klang bezaubert sie ihr Publikum dermaßen, dass es fast erstarrt. So schön kann es klingen, wenn die Technik so gut ist, dass sie nicht bemerkt wird, wenn sie noch die schlichteste Phrase in eine Vision aus Klang verwandelt.

Das Publikum war von Flagstads Gesangskunst überrascht. Ihre Stimme hatte alles. Sie folgte dem leisesten Wink, war glockenrein und besaß die Kraft, zu einem Volumen anzuschwellen, das keine Grenzen kannte. Dazu war Flagstad außergewöhnlich musikalisch. Mehrere Kritiker bezeichneten ihre Agathe als eine der größten Leistungen, die das Stora jemals auf die Bühne gebracht hatte. Ihre Stimme hatte weder Fehler noch Mängel. Die herausfordernde Solopartie im zweiten Akt brachte sie überlegen und löste damit einen spontanen Applaus aus, der kein Ende nehmen wollte. Das Theater hatte in Flagstad den Qualitätssopran gefunden, den es so lange vermisst hatte, eine Sängerin, die den großen dramatischen Partien wirklich gewachsen war.

Kirsten Flagstad ließ sich von diesen Rezensionen vielleicht berauschen, als sie sie am nächsten Tag am Frühstückstisch las. Sie war über Nacht berühmt geworden. Auf der Straße nickten ihr nun die Menschen zu, nachdem die Zeitungen sie zur Sensation ausgerufen hatten. Else las diese Kritiken vielleicht, ehe sie zur Schule ging, in der sie sich nicht wohlfühlte, aber sie wusste nicht so recht, was das Wort »Sensation« bedeutete. Immer wieder brachten die Zeitungen Kostümbilder von Kirsten Flagstad. Kein anderes Kind in der Klasse hatte eine solche Mutter. Es ist möglich, dass Else deshalb gemobbt wurde. Sie war nun in einem Alter, in dem Mütter überhaupt ziemlich peinlich sein können. Mutter und Tochter können nicht viele Abende allein zu Hause verbracht haben, denn Flagstad musste neben ihrem festen Engagement an der Oper auch Konzerte geben. Dazu gehörten Schuberts Messe in G-Dur und die große Sopransolopartie »Die Allmacht«. Die Presse schreibt, die Aufführung des Te Deum sei zu einer Hymne an die Allmacht des Gesangs geworden. Die expansive Schlussphrase habe die Grenzen des Materials gesprengt, ohne dessen Schönheit zu beeinflussen. Eine große Sängerin, erklärten die Kritiker.

Kirsten Flagstad und Else Marie.

© Archiv Flagstad-Museum

Schmerzliche Trennung

Flagstad konnte zusammen mit ihrer Tochter für einen wohlverdienten Weihnachtsurlaub zurück nach Oslo reisen. Ihr war sicher aufgefallen, dass ihre Tochter in Göteborg einsam und unglücklich war, und nun konnte sie nicht übersehen, wie ihre Tochter aufblühte. Else weigerte sich, nach Göteborg zurückzufahren. Es ist für ein achtjähriges Kind nicht leicht, sich von seiner Mutter zu trennen, aber die Nähe zu ihr war auch nicht einfach. In ihrem Leben hatte es schon mehrere schmerzliche Trennungen gegeben, und es sollte so weitergehen, bis Else ihre eigene Familie gründete.

Ihre Mutter überließ Else ihrem Bruder und ihrer Schwägerin. Auch Großmutter Maja wollte sich um das Kind kümmern. Flagstad schildert die Trennung von Else als schmerzhaft.5 Dabei wurde ihre eigene Wunde wieder aufgerissen, denn auch sie hatte keine Mutter gehabt, zu der eine enge Bindung möglich gewesen wäre. Else muss das Gefühl gehabt haben, in dem Kampf um die Zeit und Aufmerksamkeit der Mutter ein weiteres Mal zu unterliegen. Flagstad wiederholte bis zu einem gewissen Grad Majas Verhalten ihr gegenüber. Sie war in dem Muster gefangen, dass Mütter ihren Kindern keinen wichtigeren Platz einräumen als ihrem Beruf, dass sie keine enge und symbiotische Beziehung zu ihren kleinen Kindern eingehen. Flagstad stellte sich diesem Konflikt erst, als ihre Tochter sie 1937 endgültig verließ. Sie dachte über diese Beziehung ebenso wenig nach wie über die Gesellschaft außerhalb der Welt von Oper und Theater, brachte aber zum Ausdruck, dass sie sehr unter der Trennung gelitten habe.

Kinderlos und berühmt

Zu Neujahr 1929 kehrt Kirsten Flagstad allein und mit gemischten Gefühlen zu neuen Triumphen nach Göteborg zurück. Sie verdrängt Schmerz und Einsamkeit, indem sie sich in die Arbeit stürzt, und das nicht nur am Theater. Sie nimmt fast alle Angebote an und macht Schallplattenaufnahmen. Ihre Zimmer sucht sie vermutlich nur zum Schlafen in den frühen Morgenstunden auf. Flagstad bringt gern das Drama ihres Lebens in die Rollen ein, die sie verkörpert. Am wohlsten fühlt sie sich, wenn das Publikum im Saal ist, wenn die Lichter ausgegangen sind und niemand sie aufhält oder stört. Dann ist sie ganz und gar sich selbst und der Musik ausgeliefert, sie kann sich gehen lassen.

Der Abstand zu Norwegen und die Tatsache, dass sie nun allein ist, führen dazu, dass sie sich auf der Bühne freier fühlt und als Schauspielerin wächst. Sie kann sich von innerem Druck befreien, wenn sie sich in die dramatischen und leidenschaftlichen Schicksale von Aida und Tosca einlebt, wobei ihr eigenes unterdrücktes Gefühlsleben zu einer Ressource für ihre Interpretationen wird; die Rolle wird zu ihrem Alter Ego, die Bühne zu ihrer Heimat. Aida war eine ihrer Lieblingsrollen, seit sie mit zehn Jahren die Klavierpartien gespielt hatte. Im Frühjahr 1929 sollte sie diese Rolle dann endlich singen dürfen.

Der Komponist Giuseppe Verdi wurde, wie Maja Flagstad, bereits mit zwölf Jahren in seinem Heimatort als Organist eingestellt. Verdi wird oft mit Wagner verglichen. Beide ermöglichen Sängerinnen und Sängern weitreichende vokalische Entfaltung, ihre Ausgangspunkte unterscheiden sich jedoch stark. Für Wagner steht das Orchester im Zentrum, für Verdi ist die Gesangsstimme der Mittelpunkt des Werks. In Wagners Werken sind die Stimmen Teile eines zusammenhängenden Ganzen, in Verdis Opern tragen sie die Melodien.

Flagstads Interpretation von Verdis Aida entflammte das Publikum. Die Kritiker erklärten, ihre Darbietung hätte an jeder der großen ausländischen Opernbühnen zu einstimmiger Anerkennung geführt. Ohne sichtbare Anstrengung brachte sie die gesamte Partitur hinter sich und verstärkte die Fortissimo-Begleitung des Orchesters, schrieb ein begeisterter Rezensent. Ein anderer meinte, ihre Stimme streife die Vollkommenheit. Die glänzenden Kritiken sorgten für gewaltigen Zustrom, die Oper wurde nicht weniger als 27-mal aufgeführt.

War es ein Schicksal?

Am 29. März 1929 gab Flagstad ein Konzert für die »Göteborgs Orkesterforening« bei dem sie eine Arie von Wagner sang. Sie hatte das Gebet der Elisabeth aus dem Tannhäuser einstudiert. Sie konnte nicht genauer erklären, warum sie sich für ein Lied von Wagner entschieden hatte, außer, dass es eine singbare Arie und eine gute Konzertnummer sei. Ihrem amerikanischen Biografen gegenüber stellt sie die Frage, ob es etwas mit den Schwingen des Schicksals zu tun gehabt haben könnte, dass sie sich gerade für das Gebet der Elisabeth entschieden hatte. Sie sang mit einem dermaßen sensationellen Wohlklang und so tiefer Innigkeit, dass die Kritiker sie in einer Inszenierung der vollständigen Oper zu hören wünschten. Die Stimme und ihre dramatische Begabung wiesen nun unbedingt auf das Wagner-Repertoire hin. Damit wurde ihr Schicksal besiegelt, es sollte sie zu Weltruhm führen, aber auch zur Zielscheibe von Verfolgung machen.

Ihr großer Arbeitseifer verfestigte ihren Ruhm als Künstlerin. Außerdem verdiente sie nun genug, um ihre restlichen Schulden begleichen zu können. Während sie mit Tosca auf Tournee war, kam eine Anfrage vom norwegischen Opernsängerverbund. Ob sie die Elsa in WagnersLohengrin singen könnte? Die Oper sollte im Juni im Osloer Nationaltheater auf die Bühne gebracht werden. Flagstad sagte gern zu, schließlich hatte sie Elsas Partie schon mit zehn Jahren gesungen.

Im Mai 1929 reiste Flagstad zusammen mit einer österreichischen Freundin, aber ohne Else, durch Europa. Zuerst machten sie Station in Berlin, wo die Freundin ein Vorsingen bei der Krolloper arrangiert hatte. Flagstad hatte zuerst widersprochen, sie war doch im Urlaub. Aber die Freundin ließ nicht mit sich reden, und Flagstad folgte ihr wie ein gehorsames Lämmchen. Vor dem Vorsingen übte sie in einem Musikgeschäft, in dem ein offen zugängliches Klavier stand. Beim Vorsingen saß im Saal ein hochqualifizierter Mann und lauschte. Es war der deutsche Dirigent und Komponist Otto Klemperer. Mithilfe seines Freundes Gustav Mahler hatte er 1907 sein erstes Engagement als Kapellmeister am Deutschen Landestheater in Prag erhalten. Auf Mahlers Empfehlung hin ging er dann als Dirigent nach Hamburg, andere deutsche Opernbühnen folgten, und 1927 wurde er als Kapellmeister an die Staatsoper in Berlin verpflichtet.

Flagstad hatte von ihm gehört und hatte kein geringes Lampenfieber, als sie nun vor einer solchen Koryphäe auftreten sollte. Nach dem Probesingen nahm er der nervösen Sängerin gegenüber eine väterlich-aufmunternde Haltung ein. Er streichelte ihr über den Kopf und sagte, sie habe ihr Talent gezeigt. Er hätte sie gern an seine Oper engagiert, aber Flagstad war durch ihren Vertrag noch für ein Jahr, bis 1930, an Göteborg gebunden. Klemperer verkündete, sie anschließend in Berlin willkommen zu heißen. Aber dieser Termin lag noch weit in der Zukunft.

Die beiden Reisenden fuhren weiter nach Dresden und München, und während sich die Freundin dem Studium von Bakterien widmete, studierte Flagstad die Partie der Elsa ein. Es muss eine Inspiration für sie gewesen sein, sich gerade in Dresden in den Lohengrin einzuleben. Im Sommer 1845 war ein erschöpfter Richard Wagner von seinem Arzt zur Kur in einen in der Nähe gelegenen Badeort geschickt worden. Als Reiselektüre nahm er Wolfram von Eschenbachs Gedichtzyklus Lohengrin mit. In dieser Gegend, in der Flagstad nun selbst unterwegs war, entwickelte der Komponist eine Besessenheit von diesem poetischen Werk. Wagner, der Visionen und eine überaus lebhafte Fantasie hatte, erzählte, hier plötzlich erkannt zu haben, wie Lohengrin dramatisch gestaltet werden müsse. Eine Zeit lang bemühte er sich noch, sich an die Anweisungen seines Arztes zu halten. Der Komponist sollte während der Kur keine schriftlichen Arbeiten verrichten, doch seine Visionen waren zu stark. Sie trieben ihn aus der heißen Wanne. Die Fantasie ergriff Besitz von ihm, und er rannte wie ein Besessener zu seinem Zimmer, um das zu Papier zu bringen, was sich ihm aufdrängte: den Bühnenplan für seinen Lohengrin. Und während Wagner schrieb, gab der Arzt ihn auf. An einen solchen Patienten waren Wasserkuren vergeudet.

Flagstad vergeudet auch keine Zeit, obwohl sie im Urlaub ist. Sie übt, wo immer sie sich aufhält. Die beiden Freundinnen reisen weiter nach Italien, wo sich für Kirsten eine neue Welt öffnet. Sie liebt die kleine katholische Kirche, in der sie singen darf. Am nächsten Tag schicken Kinder ihr Blumen, und sie genießt deren Schönheit. Rom ist überwältigend, und das Kloster, in dem ihre Freundin erzogen worden ist, spricht ihre religiöse Seele an. Sie steht jetzt mitten in Elsas Leben, hört in Gedanken immer wieder das vor Sehnsucht berstende Präludium, und sie lebt in Elsas inständigem Hilferuf zu Gott.

Die Ankunft des Gralsritters

Seit Anbeginn der Zeiten wurden Geschichten über Helden ersonnen, die einer Jungfrau in Nöten zu Hilfe eilen. Es gab Mythen über Schwäne, die aus weiter Ferne kamen, über Menschen jeden Alters, die in Schwäne verwandelt wurden. Über Helden aus fernen Landen, die von Schwänen getragen oder gezogen wurden. Ein solcher Schwanenritter war Lohengrin, eine strahlende Gestalt aus der inneren, archaischen Welt, wo der Gral der Mittelpunkt und das Symbol für das innerste Selbst ist.

Kirsten fährt in aller Eile zurück nach Norwegen, wo eine andere Else wartet, die heimlich darum betet, dass ihre Mutter nun bei ihr bleiben wird. Viel Zeit können die beiden aber auch jetzt nicht miteinander verbringen, denn schon am 16. Juni 1929 hebt sich im Nationaltheater der Vorhang für Lohengrin. Flagstad steht hinter der Bühne, gekleidet wie eine Märchenprinzessin in ein weißes Kleid mit langer Schleppe und mit einer goldgelockten Perücke. Im Orchestergraben kommt Unruhe auf, während das Publikum seine Plätze einnimmt. Flagstad ist vor der Darbietung ihrer ersten großen Wagnerrolle ungeheuer angespannt, zugleich aber auch ruhig, weil sie ihren Part so gut beherrscht. Maja und Michael Flagstad treffen im Theater ein und nehmen zusammen mit Kirstens übrigen Geschwistern ihre Plätze ein. An diesem Abend besucht außerdem ein unbekannter Mann das Theater, der in Kirstens Leben eine prägende Rolle spielen wird.

Es wird dunkel und still im Saal, während das Orchester die ersten Töne der Ouvertüre anstimmt. Der Vorhang hat sich noch nicht gehoben. Kirsten konzentriert sich auf die Musik, die in ihren Leitmotiven die Geschichte der Oper erzählt. Wagner hat hier entlang innerer Linien gearbeitet. Das Hauptmotiv sind Wesen und Vision des geheimnisvollen Grals und dessen immer stärkere Deutlichwerdung. Erst nach langer Zeit wird die Ahnung um den Gral durch Moll-Akkorde in den höheren Registern der Violinen angedeutet. Dann wird sie von Oboen und Flöten erhoben, bis die Violinen das eigentliche Gralsthema einbringen. Die nächsten Takte haben mit dem Schwan zu tun. Er ist der Sendbote des Grals, der den Schwanenritter Lohengrin zur hilfsbedürftigen Elsa bringt. Nun kommt das Decrescendo mit langsamer Ruhe in die Musik, sie legt sich wie ein stilles Wasser in den hohen Violinen und Flöten zurecht, und nun hebt sich der Vorhang.

Ein Höhepunkt im ersten Akt ist die Arie »Elsas Gebet«. Die Partie wird charakterisiert durch die Holzbläser und eine Oboe, die Elsa auf die Bühne hinausträgt. Sie singt, dass sie in ihrer Not und Einsamkeit Gott um Hilfe gebeten hat. Im Traum ist ihr ein Ritter in strahlender Rüstung erschienen und hat versprochen, sich für sie einzusetzen. Sie sinkt auf die Knie und fleht Gott an, ihr den Ritter aus ihrem Traum zu senden. Auf wundersame Weise wird Elsa erhört, Lohengrins Motiv erklingt sanft durch die Trompeten, sie deuten an, dass er unterwegs ist, aus fernen Gefilden. Am Flussufer taucht nun in der Ferne ein von einem Schwan gezogener Nachen auf. Im Nachen steht ein Ritter in silberglänzender Rüstung – Lohengrin, der erklärt, er sei gekommen, um für Elsa zu kämpfen.6

Als sich nach dem ersten Akt der Vorhang senkte, brach der Applaus los. Die Begeisterung kannte keine Grenzen, und Kirsten Flagstad wurde 19-mal herausgerufen. Ihre Eltern und Geschwister springen auf und applaudieren endlos lange. Der Unbekannte ist ebenfalls begeistert. Er geht ins Restaurant, zündet sich wie üblich eine Zigarre an und trinkt ein Glas Cognac. Aber in ihm spielen sich seltsame Dinge ab, die er selbst nicht so ganz begreift. Es hat mit dieser Elsa zu tun, die so verzweifelt darum bittet, dass ihr ein Ritter zu Hilfe kommt. Dieses Thema arbeitet in ihm, und er antwortet zerstreut auf die Fragen seiner Geschäftspartner. Er ist wohl ebenfalls ein wenig in Trance, als endlich zum zweiten Akt geläutet wird.

Erst als Elsa auf die Galerie tritt, begreift er, dass er von ihr besessen ist. Er will ihr zu Hilfe kommen, er hat sich schlicht und einfach aus der Ferne in sie verliebt. Gut, dass das Opernensemble nach der Aufführung ins Grand Hotel hinübergehen wird, hat er vielleicht gedacht. Denn das Grand gehörte sozusagen ihm, er war der Hauptaktionär. Und nach der Aufführung würde auch sein Weg ihn dorthin führen, das stand nun fest.

Der Schatten des Ritters

Der dritte Akt ist überaus lyrisch orchestriert und führt uns geradewegs zu Elsa und Lohengrin ins Brautgemach. Hier singen sie ihr langes, inniges Liebesduett. Zum Gralsmotiv erzählt Lohengrin seine Geschichte. Er kommt aus einem fernen Land, von einem Ort, den Elsa niemals erblicken wird. Dieser Ort ist wie ein strahlender Tempel, den sich irdische Augen nicht vorstellen können, und im Tempel befindet sich das Allerheiligste, der von Engeln gebrachte Gral.

Am Ende jedoch verrät Elsa ihren Glauben und ihr Versprechen, ihn nie zu fragen, wer er wirklich ist. Deshalb kommt der Schwan mit dem Nachen, um Lohengrin zu holen. Der Ritter verlässt Elsa, und sie bleibt allein zurück. Der Schwanenritter ist ihr Animus, ihr Geist, der nun entschwindet. Ihr fehlendes Feingefühl hat sie das Licht auf einen richten lassen, der doch im Dunkeln hätte bleiben sollen. Sie hat ihn im kalten Licht der Rationalität betrachtet, deshalb ist sein wahres Wesen zu seinem Ursprung zurückgekehrt, zurück in ihr tiefes Unbewusstes. Dieses Motiv finden wir unter anderem in Grimms Märchen »Das singende, springende Löweneckerchen«. Der Schwan entführt Lohengrin, der Vorhang fällt, und die Oper endet mit dem Gralsmotiv. Dieses Motiv erinnert daran, worum es hier eigentlich geht: die Verwirklichung des ursprünglichen, wahren Selbst.

Kirsten Flagstad als Elsa im Lohengrin, der ein reicher Mann zu Hilfe kam.

© Archiv Flagstad-Museum

Als das Publikum zu sich gekommen ist, bricht der Applaus los. Flagstad ist glücklich darüber, dass in der Vorstellung alles so gut gegangen ist. Sehr zufrieden gehen alle, die an der Premiere mitgewirkt haben, hinüber ins Grand Hotel. Sie haben ein Kabinettzimmer gebucht, dort soll gefeiert werden. Um ein Uhr nachts wird ihr ausgerichtet, dass ein Herr im Speisesaal sie kurz zu sprechen wünscht. Als sie den Saal betritt, erhebt sich ein eleganter, schwarzgekleideter Mann, nimmt ihre Hand und küsst sie.

»Ihr Gesang heute Abend hat mich zutiefst beeindruckt«, sagt er und schaut ihr dabei in die Augen. Sie errötet und murmelt: »Danke.« Eine solche Ehrerbietung ist sie nicht gewohnt. Die beiden bleiben stehen, sehen einander an und wissen nicht so recht, was sie sagen sollen.

Gegenseitige Verzauberung

Der Unbekannte ist der Großhändler Henry Johansen. Er ist kein Gralsritter, sondern ein Mann aus dieser Welt und einer der Hauptsponsoren der Vorstellung. Er ist sechsundvierzig Jahre alt, Witwer, Vater von vier Kindern, zwei Töchter und erwachsene Zwillingssöhne. Johansen ist ein bekannter Industrieller und Holzexporteur. Seit vielen Jahren ist er Hauptaktionär der Osloer Hotels Grand und Bristol. In Stockholm hat er ein eigenes Büro, Nordiska Handelskompani, seine Geschäfte führen ihn weit über Nordeuropa hinaus. Henry Johansen wurde für seinen Einsatz für die norwegische Industrie mit der königlichen Verdienstmedaille in Gold ausgezeichnet. Er gilt als gefürchteter und erbarmungsloser Geschäftsmann, der unbedingten Gehorsam verlangt. Der Großhändler raucht jeden Tag etwa zwanzig dicke Zigarren und verbraucht zusammen mit seinen Gästen bedeutende Mengen an Wein und Schnaps. Sein Weinkeller ist weit über die Landesgrenzen hinaus berühmt.

In dieser Nacht lud er mehrere an der Aufführung Beteiligte zu sich nach Hause ein. Es muss Kirsten Flagstad tief beeindruckt haben, seine geräumige Villa in der Tidemands gate in Oslos bestem Westend zu betreten. Die Villa ist ein hochherrschaftliches Haus, in dem heute der belgische Botschafter in Norwegen residiert. Das Haus liegt da wie ein luxuriöser Schwan – und Flagstad ließ sich in einen Sessel in der Bibliothek sinken, der sonst dem Hausherrn vorbehalten war. Er wiederum setzte sich auf die Armlehne, um sich mit ihr zu unterhalten, und lud sie schon für den nächsten Tag zum Essen ein.

Jetzt überstürzten sich die Ereignisse in Flagstads Leben. Am nächsten Tag wurden ihr zum Frühstück einige Rezensionen vorgelegt. Alle waren überschwänglich, was ihre Stimme betraf. Mehrere betonten, wie wunderbar sie Elsas stilles, verträumtes Wesen dargestellt habe. Die Kritiker waren ansonsten allesamt davon überzeugt, dass ihre Darbietung auch auf den größten Opernbühnen der Welt Aufsehen erregt hätte.

Nach dem Frühstück setzt sie sich hin und schreibt an ihren Mann, von dem sie getrennt lebt. Sie bittet um die Scheidung und erzählt offen, dass sie einen anderen kennengelernt hat. Während ihrer unglücklichen Ehe und auch später hatte sie immer wieder beteuert, dass sie sich niemals wieder verlieben würde. Ihre Eltern und ihre Schwester Karen-Marie hatten darüber nur gelacht. Und jetzt hatte sie sich Hals über Kopf gleich bei der ersten Begegnung verliebt.

Kurz nachdem sie den Brief aufgegeben hatte, ging sie zu ihrer Verabredung mit dem Großhändler. Die war offenbar ein Erfolg, denn schon am nächsten Tag trafen sie sich wieder zum Essen. Sie saßen an einem Tisch im Bristol, siezten sich noch und unterhielten sich in einem etwas förmlichen Ton, als Johansen plötzlich nach ihrer Hand griff.

»Also, Madame Flagstad, Sie lieben mich doch?«

»Ja«, antwortet sie, und damit ist die Sache entschieden.7

Das Paar beschloss, sich zunächst nicht in die Karten schauen zu lassen, aber Maja Flagstad ahnte sehr bald, was sich anbahnte. Henry Johansen wurde in der Familie Flagstad mit offenen Armen aufgenommen. Maja und Michael waren begeistert von ihm, und vermutlich auch von seinem Reichtum und seiner machtvollen Stellung in der norwegischen Gesellschaft. Flagstad lernte Johansen in einer Zeit kennen, in der sie mit ihren verarmten Eltern in einer engen Wohnung hauste. Sie war inzwischen vierunddreißig Jahre alt, eine alleinstehende Mutter mit Träumen – könnte das alles auch ihr gehören? Ihr Traum ging in Erfüllung. Ihr zukünftiger Mann wünschte nicht, dass sie weitersang. Für den Rest ihres Lebens könnte sie einfach Frau Johansen sein, meinte er.

Als Flagstad ihrem Biografen gegenüber später von ihren ersten Begegnungen mit Johansen erzählt, betont sie sein schönes Haus, seine vielen Aufsichtsratsposten und alles, was er besaß. Sie fühlte sich vielleicht hingezogen zur Person Henry, was sie aber wirklich ansprach, war der Großhändler. Ihre neue Beziehung befreite sie von ihrer existenziellen Zukunftsangst, denn Johansen hatte das, was ihr und ihrer Familie fehlte: materielle Sicherheit im Überfluss. Diese Motivation, die ihr jedoch nicht ganz bewusst war, machte sie blind für seine Schattenseiten. Der mehr oder weniger bewusste Drang nach materieller Sicherheit für sich und ihre Eltern verlangte einen hohen Preis. Er zog sie später in Johansens finanziellen und politischen Landesverrat, nachdem Norwegen 1940 besetzt worden war und Vidkun Quisling seinen Staatsstreich durchgeführt hatte.

Johansen behielt die Schwankungen der Wirtschaft genau im Auge. Im Oktober 1929 kam es zu dem berühmten Börsenkrach in New York, mit einer folgenden Wirtschaftskrise, von der die USA noch stärker betroffen waren als jedes andere Land. Johansen wusste, was sich da anbahnte, Banken konnten pleitegehen. Deshalb begab er sich in seine Bank und kam mit zwei schweren Koffern voller Geld heraus. Johansen war Geschäftsmann und nun für eine ziemlich große Familie verantwortlich. In Norwegen waren Ausländer nicht mehr gern gesehen, und viele Politiker wollten die Grenzen für alle sperren, die eine Belastung für das norwegische Sozialbudget darstellen könnten. Mithilfe von Johansen würde die Familie Flagstad dem norwegischen Staat jedoch nicht zur Last fallen.

Henry Johansen übernahm die Rolle als Gönner der Künstlerfamilie Flagstad. Hier zusammen mit Kirstens Eltern.

© Archiv Flagstad-Museum

Das Leben als Gattin

Kirsten Flagstad vertrat eine für unsere Zeit eher befremdliche und altmodische Einstellung zu ihrer Rolle als Frau und Ehepartnerin. Sie sagte, sie wolle ihrem Mann untertan sein. Für eine glückliche Ehe sei es unerlässlich, dass der Mann das Sagen habe. Das setzte allerdings voraus, dass er für diese Führungsrolle auch geeignet war. Wenn ihr Mann verlangte, dass sie nicht mehr öffentlich auftrat, dann gehorchte sie. Es war ihre erste Pflicht, für ihren Mann da zu sein, er war wichtiger als das Publikum. Für sie ging es vor allem darum, glücklich verheiratet zu sein.

Diese Haltung entsprach dem damaligen Ideal der bürgerlichen Gattin. Sie gab ihre Identität auf und war für die Öffentlichkeit Frau Direktor, Frau Reeder oder Frau Großhändler. Zugleich konnte Kirsten Flagstad stur wie ein Esel sein und sich den bedeutendsten männlichen Autoritäten widersetzen, die Ansprüche an sie stellten. In ihrer Persönlichkeit koexistierte eine seltsame Mischung aus Dominanz und Unterordnung.

Maja Flagstad hatte nun Angst, das Hausfrauenphlegma könnte sich ein weiteres Mal über ihre begabte Tochter senken. Um dieser Problematik in der Zeit der Verliebtheit zuvorzukommen, hatte sie für Kirsten ein kleines Extrakonzert gleich nach ihrer Rückkehr nach Göteborg arrangiert, wo ja weiterhin der Vertrag zu erfüllen war. Maja saß bei diesem Auftritt am Klavier. Die Zeitungen berichteten von demonstrativem Beifall und meinten, Flagstad könne sich mit den bedeutendsten Sängerinnen weltweit messen.

Else wohnte noch immer bei Onkel und Tante, als ihre Mutter nach Göteborg zurückreiste. Was dort auf dem Programm stand, war die Rolle der Eva in WagnersDie Meistersinger von Nürnberg. Es machte Kirsten Flagstad Freude, diese Partie zu singen, ihr Interesse an Wagners