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Tobias, Schauspieler und Theaterpädagoge, beschließt die Via Rhenana zu bewandern. Dieser Weg führt von Basel nach Kreuzlingen und ist in mehrere Tagesetappen unterteilt. Ein Etappenziel ist Rheinau, wo ein altes Kloster steht, das heute als Musikinsel bekannt ist. Tobias ist begeistert von der Anlage und lässt das Kloster und die Umgebung auf sich wirken. Als sich ein fremder, älterer Mann, der sich als Bruno vorstellt, zu ihm setzt, beginnen die beiden ein Gespräch, das in ihnen tiefe Spuren hinterlässt. Der philosophische Dialog zwischen Tobias und Bruno ist hier aufgezeichnet.
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Seitenzahl: 90
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Prolog
Dialog
Epilog
Ich weiss heute nicht mehr, wann genau und warum ich mich dazu entschloss, die Via Rhenana unter die Füsse zu nehmen. Aber ich tat es, auch wenn der Startschuss so richtig danebenging. Ausgerüstet mit neuen Schuhen startete ich frohgemut von zuhause, um die erste Etappe von Basel nach Rheinfelden zu erwandern. Doch das Unterfangen war bereits nach einer Stunde bei der Saline in Schweizerhalle zu Ende. Meine Haut an den Fersen hatte sich in kürzester Zeit gelöst und an ein Weitergehen war nicht mehr zu denken. Das Wandern am Fluss geriet ins Stocken und stattdessen war Hegen und Pflegen der Füsse angesagt. Drei Monate später erfolgte der Start doch und glückte.
Die Via Rhenana ist eine ausgeschilderte Strecke zwischen Basel und Kreuzlingen oder umgekehrt. Zehn Etappen sind für die 190 Kilometer vorgesehen. Ich startete, wie bereits erwähnt in Basel, weil mir mein Heimatort als Ausgangspunkt logisch erschien. Die ersten Etappen bis Eglisau führte ich als einzelne Tagesetappen durch, anschliessend hängte ich mehrere Etappen zusammen und übernachtete jeweils unterwegs.
Das Unterwegs sein faszinierte mich am meisten. Der Rhein stets zu meiner Linken, entdeckte ich so viel Unerwartetes, das mich völlig in den Bann zog und eine magische Ruhe in mir auslöste. Ich fühlte mich mit der Natur und mit mir selbst verbunden und so war das Wandererlebnis nicht einfach nur ein zielstrebiges sondern vielmehr auch ein Wundererlebnis. Und ein solches Wunder soll Inhalt dieses Buches sein. Auf meiner Wanderung von Eglisau nach Rheinau ereignete sich etwas, das einem Stillstand meiner Welt geleichkommt. Ich begegnete in Rheinau am Rhein Bruno, der mein Leben nachhaltig bereichert hat.
Der Tag war sonnig und warm und ich erreichte Rheinau gegen Abend. Nachdem ich mein Zimmer in einem kleinen Hotel bezogen hatte, beschloss ich, mich in einem Restaurant zu stärken, um anschliessend zu der wunderbaren Klosteranlage unten am Rhein zu spazieren und mich dort von der einzigartigen Natur und Architektur inspirieren zu lassen. Während über 1000 Jahren wurden die Gebäude als Kloster genutzt, bevor sie dann ab Mitte des 19. Jahrhunderts als Aufenthaltsort einer psychiatrischen Klinik dienten. Mit dem Start ins neue Millennium schloss die Klinik und so ist das Koster Rheinau heute Begegnungsstätte für musikalisch und spirituell interessierte Menschen.
Meine Begegnung mit Bruno war zufällig. Hinter der Klosteranlage, die auf einer Insel liegt, befindet sich die Magdalenenkapelle, von drei Seiten rheinumspült. Dort hatte ich mich auf eine Bank gesetzt und mich vom Fluss und der Umgebung wegtragen lassen, in eine Welt, in der sich Realität und Fantasie langsam ineinander verwoben.
Plötzlich stand er da, Bruno, und fragte mich, ob er sich setzen dürfe. Ich nickte, ein wenig überrascht und nicht gerade begeistert, bin ich an solchen ruhigen Orten doch gerne allein mit mir und dem was mich umgibt.
Nun gehörte auch Bruno zu dieser Umgebung, ein Mann von mittlerer Statur, vielleicht so um die 70 Jahre alt, mit kahlem Kopf – ich weiss nicht ob kahl geschoren oder naturkahl -, unauffällig gekleidet mit einer Outdoorhose, Hemd und Gilet. Sein Gesicht mit gesundem Teint und von der Sonne leicht gebräunt, wache kleine Augen, die seinem Wesen eine Präsenz verleihen, die selbst dann spürbar ist, wenn sein Blick sich in der Ferne verliert. Wir sassen einen ewigen Augenblick wortlos, bevor Bruno mich unvermittelt fragte:
„Was siehst du?“ Die kurze und leicht verständliche Frage überforderte mich und ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich überlegte und rang mich dann doch zu einer Antwort durch, die der Beginn des hier niedergeschriebenen Dialogs sein soll.
Tobias: „Ich sehe Wasser, Büsche, Bäume und den Himmel, dich und ein Teil der Kapelle.“
Bruno: „Ja, all das kann ich auch sehen, was aber bedeuten diese Gegenstände für dich? Ist es derselbe Fluss, dieselbe Kapelle und dieselbe Umgebung, oder ist deine Wahrnehmung von meiner verschieden?“
Tobias: „Du meinst, ist Wahrnehmung subjektiv oder gibt es so was wie eine absolute Wahrnehmung, die sowohl für mich wie auch für dich stimmig ist?“
Bruno: „Genau, wir haben uns als Menschen geeinigt, dass wir dem langsam vorbeifliessenden Wasser, Bach, Fluss oder Strom sagen, insofern können wir uns eine Vorstellung davon machen, was das Gegenüber meint, wenn es von einem Fluss spricht.
Aber welche persönlichen Erwartungen, Erinnerungen und weltanschaulichen Standpunkte stehen hinter diesem Begriff?
Das meine ich, wenn ich dich frage: Was siehst du? Wie ist deine Einstellung zu dem Szenario, das sich dir hier präsentiert? Gibt es eine Erwartung dahinter oder eine Erinnerung, so wie bei mir? Wenn ich den Fluss hinunterblicke, erinnere ich mich zuerst an eine lauschige Bootsfahrt mit meiner Frau, zwei Monate bevor sie starb. Ist dies also derselbe Fluss wie du ihn siehst?“
Tobias: „Hm … das tut mir leid, ich …“
Bruno: „Es braucht dir nicht leid zu tun, ich habe den Tod meiner Frau aus freien Stücken erwähnt, weil mich interessiert, wie persönliche Färbungen die Wahrnehmung prägen und mich der Austausch darüber interessiert.
Ich heisse Bruno, und wenn du magst, würde ich mich freuen, ein wenig Zeit mit dir zu verbringen und mich mit dir auszutauschen.“
Tobias: „Nun gut, das kommt alles ein wenig überraschend und ungestüm auf mich zu, aber ich lasse mich gerne darauf ein und bin gespannt, wo die Reise hinführt - ich bin Tobias.“
Für einen Moment sitzen wir beide schweigend nebeneinander, verbunden durch das, was uns umgibt und doch jeder für sich allein mit seiner Welt, die durch ihre jeweilige Einzigartigkeit unvergleichbar ist. Die Schatten werden länger, der Himmel verwandelt sich in eine Farbenpalette, die im Minutentakt neue Tönungen hervorbringt, gemalte Vergänglichkeit in ihrer ganzen Pracht. Ich lasse mich in das Schauspiel hineinziehen und auf einmal ist es, als ob der Mantel der Ewigkeit mich behutsam umhüllen würde. All das, was ich bis vor ein paar Minuten noch als Element und Ding wahrgenommen habe – Fluss, Baum, Himmel und Bruno – verschwindet und verliert das Greifbare, stattdessen durchflutet mich eine Welle von Wärme und pulsierendem Leben, in der Fluss, Baum, Himmel und Bruno wirken, ohne physisch relevant zu sein. Ich weiss nicht, wie lange wir wortlos nebeneinandersitzen, aber so plötzlich wie die Energiewelle aufgetaucht ist, so spontan verabschiedet sie sich wieder. Die Konturen werden wieder deutlicher und die Dinge erheben sich aus dem Meer der formlosen Energie. Bruno ist wieder Bruno, kahlköpfig, das Gesicht mir zugewandt, mit einem Lächeln auf den Lippen.
Bruno: „Und?“
Tobias: „Ich habe eben die persönlichen Färbungen hautnah erlebt. Das Farbenspiel des Himmels hat mich in einen Sog hineingezogen, der die Grenzen der Sachlichkeit verschwimmen liess. Ist es das, was du meinst, wenn du sagst, dass dich die persönlichen Färbungen der Wahrnehmung interessieren? Ist es die Wirkung, die die Welt in so viele Welten Aufteilt wie es persönliche Wahrnehmungen gibt?“
Bruno: „Tobias, du hast das gut beschrieben. Es gibt bei diesen Themen kein richtig oder falsch, das dualistische System ist hier zum Scheitern verurteilt. Es gibt deine Wahrheit und meine und viele andere. Und auch hier ist es kein entweder oder, sondern ein sowohl als auch, also ein dialektischer Ansatz. Was siehst du also?“
Tobias: „Erinnerung, so wie bei dir, ruft dieser Ort bei mir nicht hervor, aber so etwas wie Sehnsucht, eine Sehnsucht nach etwas, das ich nicht genau definieren kann. Massgebend daran beteiligt sind das Fliessen des Flusses, die Weite des Himmels und das Geheimnis, das sich hinter der nächsten Flussbiegung verbirgt. Es ist für mich eine Mischung aus der Suche nach Geborgenheit und Freiheit, nach Nestwärme und Neugier, das Unbekannte zu erforschen.
Ja vielleicht ist es auch für mich das Sowohl als Auch. Nur Geborgenheit würde mich schnell langweilen und nur Exploration gäbe mir ein Gefühl der Verlorenheit. Wahrscheinlich ist es die Balance zwischen den Gegensätzen, die ich hier ganz deutlich wahrnehmen kann. Dies entspricht auch meiner Weltanschauung, ich spüre mich in den Gegensätzen und die Balance dient als Mittler, um nicht in die Einseitigkeit zu fallen. Das dualistische System dient als Werkzeug, um das Dialektische aushalten zu können. Ich pendle von links nach rechts, tue dies bewusst und versuche dem dadurch erzeugten Wirbel standzuhalten, in meiner Mitte, die nicht einfach in sich ruht, sondern, je grösser die Gegensätze sind, desto kräftiger schwingt.
Wir Menschen, auch ich, neigen dazu, eine Seite zu wählen und uns ganz dafür einzusetzen, sei es mit dem Ziel, glücklich zu sein, Erfolg zu haben oder auch in der Gesellschaft anerkannt zu sein. Dabei vergessen wir häufig, dass der Schwung nach vorne zwangsläufig auch wieder in die andere Richtung gehen muss. So brauchen wir viel Kraft, um von einer Seite wieder in die Mitte zu gelangen und verfügen dann häufig nicht mehr über die Energie, uns weiter zu entwickeln. Die vermeintliche Ruhe, die wir dann wahrnehmen, ist nichts anderes als resignierter Stillstand, in dem nichts schwingt. Davor fürchte ich mich am meisten. In der eigenen Mitte zu sein, bedeutet für mich, im Auge des Sturms zu sein, wenn rundum die Gegensätze toben uns alles schwingt.“
Bruno: „Puh, das war ja ein richtiger Sturm, der durch dich gefegt ist. Mir haben deine Ausführungen gefallen. Ich kann sie nachvollziehen. Aber es zeigt sich, dass die Sprache zur Umschreibung dessen, was wir fühlen und zu erklären versuchen, recht ungeeignet ist. Ich bin überzeugt, dass du die Verbundenheit, die du eben in Bezug auf den Himmel mit seiner Farbenpracht beschrieben hast, viel stärker war und du kaum die passenden Worte dazu gefunden hast. Das Erlebnis war Sprache in reiner Form und im Erzählen musstest du auf die Krücke der verbalen Sprache zurückgreifen. Genau das macht es so schwierig, darüber zu sprechen und deshalb gibt es die eine absolute Wahrheit nicht, weil sie immer nur mit Wortbildern beschrieben werden kann, ohne dem Kern gerecht zu werden. Aber spannend ist es allemal, Worte zu suchen und die eigene Wahrheit damit ein bisschen einzukreisen.“
Wieder Schweigen, diesmal aber nicht als Zustand des Nicht- Sprechens, sondern nur eine andere Form von Sprache, es ist ein Austausch im miteinander schweigen.
Der Fluss murmelt leise mit und fliesst sanft und ruhig an uns vorbei. Es kommt mir vor wie eine Pause, ein Innehalten am Fluss des Lebens. War ich vorhin beim himmlischen Farbenspiel mitten drin und Teil davon, so bin ich jetzt Beobachter und Zeuge dessen, was mich umgibt.