Am Fluss des Lebens - Thomas Aebischer - E-Book

Am Fluss des Lebens E-Book

Thomas Aebischer

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Beschreibung

Angst ist häufig ein Tabuthema in unserer Gesellschaft, obwohl viele Menschen darunter leiden, so auch ich. Im Herbst 2021 konnte ich mein Leiden nicht mehr verstecken und nahm professionelle Hilfe in Anspruch. Anfangs 2022 trat ich in eine Klinik, die für psychosomatische Leiden spezialisiert ist, ein. Während sechs Wochen liess ich mich behandeln und stellte mich meinen Ängsten und meinen Lebensthemen. Die Auseinandersetzung mit mir und der Austausch mit Menschen, die unter ähnlichen Symptomen litten war für mich eine tiefgehende Erfahrung und hat mich in meinem Denken und Sein weitergebracht. Ich schrie täglich über mein Befinden, vor allem aber auch über meine Gedankengänge und Bilder, die in mir auftauchten, die weit über das Gefühl der Angst hinauswiesen. Somit entstand nicht ein eigentliches Tagebuch, sondern eine Sammlung von Texten, die in meiner Klinikzeit entstanden sind.

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

06. Januar Anfang

07. Januar Erwartungen

08. Januar Angst

09. Januar Führung

10. Januar Was tut mir gut?

11. Januar Lebensthemen

12. Januar Adieu Sweet Bahnhof

13. Januar Meine Ängste

14. Januar Mein Haus

15. Januar Wie kann ich selbstwirksam sein und mich dem, was ist, hingeben?

16 Januar Was ist gut in meinem Leben?

17. Januar Zu Fuss unterwegs

18. Januar Was klaut mir den Atem?

19. Januar Zyklen beenden

20. Januar Meine Ängste

21. Januar Literatur

22. Januar Erfahrungen mit PME

23. Januar Am Wasser und im Fluss

24. Januar Die Kulissen hochziehen

25. Januar Mein Körper und die Schmerzen

26. Januar Im Tal der Tränen

27. Januar Neue Ausrichtung

28. Januar Ausgeglichenheit

29. Januar Warten

30. Januar Pause

31. Januar Wirklich sein

01. Februar Wünschen – Wollen – Achtsamkeit

02. Februar Betriebssysteme

03. Februar Mich gehen lassen

04. Februar Radikale Akzeptanz

05. Februar Ein Märchen

06. Februar Sich verbinden

07. Februar Zartes Erwachen

08. Februar Die Gedanken sind frei

09. Februar Ich weiss nicht

10. Februar Ich bin genervt

11. Februar Begegnung mit mir

12. Februar Zwischenwelt

13. Februar Rahmen geben

14. Februar Komm! Ins Offene, Freund!

15. Februar Mein Shangri-La

16. Februar Abschied

17. Februar Ankommen

Danksagung

Vorwort

Angst und Panikattacken sind weit verbreitet. In der Schweiz gehen Fachkräfte davon aus, dass rund zehn Prozent der Bevölkerung daran leidet, einer von diesen bin ich. Diese Feststellung schnörkellos hinzuschreiben, wäre mir vor einem Jahr nicht gelungen. Ich hätte versucht, die Anzeichen gut möglichst zu ignorieren und mich nach aussen hin cool zu geben. Das habe ich tatsächlich getan, obwohl meine Angstsymptome sich kontinuierlich steigerten. Ein Kribbeln in den Armen, ein Stechen in der Brustgegend, Magenschmerzen und Verdauungsstörungen, ein permanentes Unwohlfühlen und zunehmende Angst vor Aktivitäten an mir nicht vertrauten Orten, begannen mein Leben schon vor Jahren zunehmend einzuschränken. In den letzten zwei Jahren war ich deswegen bei verschiedenen Ärzten, in der Meinung, die Symptome seien organisch bedingt. Dies bestätigte sich nicht. Das Thema Angst rückte nach all diesen Untersuchungen in den Vordergrund. Noch funktionierte ich in meinem Alltag, musste aber nach verschiedenen, für mich gravierenden Ereignissen, im November 2021 professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Fachkräfte empfahlen mir, mich in einer Klinik behandeln zu lassen. Nach einigen Recherchen entschied ich mich für die Klinik Schützen in Rheinfelden, die für psychosomatische Leiden spezialisiert ist.

Am 6. Januar 2022 trat ich für sechs Wochen ein. Ich begann meine Therapien ohne Erwartungen, mit der Absicht, die verschiedenen Angebote kennenzulernen und möglichst für mich nutzen zu können. Neben den Therapieeinheiten blieb viel Zeit für mich. Ich machte ausgedehnte Spaziergänge in der Natur und beschloss, täglich über Themen, die assoziativ auftauchten, zu schreiben. Mir wurde schnell klar, dass ich kein Tagebuch im herkömmlichen Sinn schreiben wollte. Es sollte also nicht eine Auflistung der Geschehnisse der einzelnen Tage entstehen, sondern eine Sammlung von Gedanken, die sich während meines Klinikaufenthalts zeigten. Und so entstand der nachfolgende Text.

Das Schreiben war für mich eine Katharsis, ein in mich Hineinhorchen und ein wertvoller Prozess in der Auseinandersetzung mit mir selber und meinen Ängsten, Hoffnungen und meinem Sein. Emotionen und Gedanken verschmolzen dabei zu einem Ganzen und sind mit dem Text für mich greifbar und nachlesbar geworden. Es ist somit auch ein Text gegen das Vergessen dieser für mich so hilfreichen und erhellenden Zeit in der Klinik.

Jeweils zu Beginn der einzelnen Einträge habe ich einen Haiku geschrieben. Ich habe diese japanische Gedichtform vor einigen Jahren entdeckt und begonnen, eigene Haikus zu schreiben. Ein Haiku besteht aus drei Zeilen mit fünf, sieben und fünf Silben und bildet somit eine minimalistische Form der Lyrik, die mir sehr zusagt, geht es doch dabei nicht primär um das, was geschrieben wird, sondern um die Zwischenräume und Tiefen, die dabei entstehen und spürbar werden. Für mich war der tägliche Haiku eine Inspirationsquelle und er wurde für mich zu einem unverzichtbaren Ritual. Neben der verbalen Sprache ist auch der Ausdruck in der Musik für mich seit jeher wichtiger Bestandteil menes Lebens. Dies bewog mich dazu, jeden Tag einen Song auszuzwählen, der für mich in diesem Moment, an diesem Tag passend schien.

Das Zusammenspiel von Haiku, Musik und Text berührt mich auf verschiedenen Ebenen und ermöglicht es mir, individuelle Zugänge zu meinen Themen jener Zeit in Rheinfelden zu finden, Themen, die auch heute in meinem Alltag präsent sind.

6. Januar

Haiku

Ich steh‘ am Anfang

Auf der Reise zu mir selbst

Willkommen Thomas

Musik

Nena: Der Anfang

Anfang

Nach wochenlangem Warten ist der Tag nun da, ich bin in Rheinfelden in der Klinik Schützen, wo ich voraussichtlich die nächsten sechs Wochen verbringen werde. Um halb elf Uhr hat mich meine Herzensfrau „abgeliefert“, was mir richtig gut tat, war ich doch ein bisschen nervös, und einen so vertrauten Menschen an meiner Seite zu haben, war einfach schön. Die Aufnahme war von einigen Pannen geprägt, das Zimmer noch nicht bereit und ich musste letztlich über zwei Stunden warten, bis ich mein kleines neues Zuhause beziehen durfte. Während des Wartens überlegte ich mir kurz, ob dies zum Aufnahmeprozedere gehört, so unter dem Motto: „Mal schauen, wie sich der Klient in seiner solchen Situation zurecht findet und wie er darauf reagiert.“ Nun, ich blieb ruhig und gab keine deutungswürdigen Zeichen. Das Einrichten des Zimmers musste ich aus Zeitgründen verschieben, da bereits das Mittagessen wartete. Mit einer Mitarbeiterin meines Stockwerks und einer anderen neuen Klientin betraten wir das Restaurant des Hotels, wo uns erklärt wurde, was es beim Ablauf der Mahlzeiten zu beachten gilt; ich denke, ich werde es schaffen.

Der Auftakt war durchaus vielversprechend, ein schönes Fenchelsalätlein zum Einstieg, danach ein herzhafter Lammbraten mit Teigwaren und kleinen Maiskölblein, alles sehr lecker. Nach dem Essen richtete ich das kleine Zimmer ein, das mir mit dem Balkon und dem Blick auf den Rhein sehr zusagte. Kurzum, ich bin gut angekommen und bin nun sehr gespannt, was folgen wird, welche Phasen ich hier durchleben werde und was sich in mir vielleicht verändern wird, ohne dass ich es gleich wahrnehmen werde oder sich auch durch Paukenschläge bemerkbar machen wird.

Ich habe mich entschieden, in den nächsten Wochen die sozialen Medien nicht zu bedienen, das heisst kein Instagram und kein Vivino. Haikus möchte ich aber weiterhin täglich schreiben, jedoch ohne sie zu veröffentlichen. Bei Vivino fällt es mir insofern leicht, als dass der Konsum von Alkohol während der Dauer des Aufenthalts voll und ganz verboten ist, auch ausserhalb der Klinik und zuhause. Also, ich wende mich einer nüchternen Zeit zu und bin überzeugt, dass darin auch ein Zauber innewohnt.

Es ist spannend, welche Bilder im Laufe der Vorbereitung auf meinen Klinikaufenthalt auftauchten, so zum Beispiel das von Ali Baba, der völlig überraschend einen grossen Schatz entdeckt und so warte ich beinahe schon ungeduldig, ob der Spruch „Sesam öffne dich“ auch für mich nicht geahnte Schätze freilegen wird. Aber es gibt auch innere Bilder, die einen düsteren Charakter haben: Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird, sprich: Es gibt auch Ängste, denen ich mich stellen möchte. Und ich bin sehr gewillt, dem Metzger zu entkommen …

Freitag, 7. Januar

Haiku

Neue Gesichter

Viel Not, Ohnmacht und bla bla

Schicksalsgemeinschaft

Musik

Christoph Graupner: Angst und Jammer, Arie: Mein Elend drückt mich fast zu Boden

Erwartungen

Vielleicht ist der Text der Arie zu dramatisch, aber letztlich ist mein Empfinden durchaus vergleichbar, habe ich doch dauernd irgendwelche körperliche Schmerzen, die in ihrer Ursächlichkeit wahrscheinlich nicht physisch bedingt sind, sondern von seelischem Schmerz herrühren. Dem nachzugehen ist meine Intention hier in der Klinik und dies ohne Weichspülfilter, sondern in einer entwaffnenden Klarheit. Heute Morgen hatte ich den ersten Termin mit meinem Psychologen. Das Gespräch war sehr offen und ich fühlte mich gut aufgehoben. Nach dieser Kennenlernstunde bin ich gespannt auf die nächsten Sitzungen, wenn wir dann mehr in die Tiefe gehen können und sich dabei hoffentlich auch neue Erkenntnisse auftun.

Ich werde immer wieder gefragt, welche Erwartungen oder Hoffnungen ich durch meinen Aufenthalt hier habe und ich merke, dass das Körperliche sich in den Vordergrund drängt. Ich möchte keine Magenschmerzen haben, möchte keinen Druck in der Herzgegend und in meiner Brust mehr spüren. Ich möchte, dass meine Verdauung wieder normal funktioniert und dass meine Arthroseschmerzen abklingen. Da es nun so scheint, dass diese Symptome teilweise seelisch bedingt sind, komme ich nicht umhin, meinen Fokus darauf zu richten und ein „seelisches Inventar“ zu erstellen und dann meine „Innenräume“ so einzurichten, dass ich mich darin besser bewegen und die Eckpfeiler, die für mein Wohlbefinden wichtig sind, erkennen kann. Es ist ein Erkunden und Ausmessen eines brachliegenden Landes, mit all den Gefahren, die sich bei einer Expedition in unbekannte Gefilde auftun. Und so komme ich mir momentan vor wie der Forschungsreisende Alexander von Humboldt. Auch ich erforsche in mir einen mir nicht wirklich bekannten Kontinent und werde neben dem Entdeckergeist auch eine grosse Portion Einsteckqualitäten dabei haben müssen. Das Gute ist, dass es hier qualifizierte Menschen gibt, die mich auf meiner Expedition unterstützen, auch wenn ich die Reise in meine eigene Tiefe alleine antreten muss. Ich bin aber gewillt, mich darauf einzulassen und habe das Gefühl, dass der äussere Rahmen hier günstig ist. Nun denn, wohlan, das Abenteuer darf beginnen.

Erkenntnis des Tages

Mir ist heute aufgefallen, wie gesegnet ich bin, von so vielen lieben Menschen umgeben zu sein; so meine Partnerin, die mich in die Klinik gefahren hat, meine Tochter, die mir schreibt und mir alles Gute wünscht und viele weitere Freunde, die sich gemeldet haben und mir zeigen, dass sie Anteil nehmen an meinem Sein. Und heute ganz besonders, die grosse Überraschung: In meinem Fächli war Post für mich, eine wunderbar gestaltete Karte, von meiner Schwester, mit Menschen darauf, die mir wichtig sind sowie ein herrliches Gedichtbuch aus Japan mit deutscher Übersetzung mit einem mich sehr anrührenden Brief meines besten Freundes. Da wurde mir bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, soviel Empathie erleben zu dürfen und dass dies nur möglich ist, weil die Beziehungen zu jenen Menschen tief, echt und aufrichtig sind. Dafür empfinde ich eine grosse Dankbarkeit.

Samstag, 8. Januar

Haiku

Mit Blick auf den Fluss

Auf der Brücke zum Gestern

Ankunft im Heute

Musik

To Athena: Angscht

Angst

Das Thema Angst hat mich heute, vor allem am Morgen, wieder heimgesucht und mich auf eine Reise zurück in die Vergangenheit genommen. Ausgelöst wurde dieses diffuse Gefühl meiner inneren Ohnmacht durch die kleine Zugfahrt, die ich unternommen habe, um am Standortgespräch meiner Tochter in der Sekundarschule teilzunehmen. Frohgemut machte ich mich in Rheinfelden auf den Weg zum Bahnhof. Und auf einmal, wie durch einen Schalter umgelegt, kam dieses Gefühl der Angst über mich, das ich nun schon seit Jahren kenne, das Gefühl der Unsicherheit, die lähmende Ohnmacht, die Angst, keinen Fluchtweg zu haben. Hier materialisiert mit dem für mich gefährlichen Zug, der die Türen schliesst und abfährt, ohne dass ich entrinnen kann, was ich auch nicht wirklich möchte. Der Zug ist die Verkörperung eines Gefühls, das in mir Panik auslöst. Es könnte auch ein Tunnel sein, ein Sessellift, ein langes Gespräch, ein Essen in einem Restaurant oder irgendein Anlass. Hatte ich dieses Unbehagen früher, bezog es sich, so glaubte ich, auf reale, für mich angsteinflössende Dinge, so zum Beispiel eben die Angst, durch einen Tunnel zu fahren. Ich war überzeugt, dass diese Phobie mit der architektonischen Enge des Tunnels zu tun hat. Oder die Angst, mit einem Sessellift zu fahren mit der Höhe. Diese Aspekte wirken sicher mit, aber sie sind nicht die eigentliche Ursache, dessen bin ich mir heute sicher. Dieses für mich so bedrohende Gefühl stellt sich unterdessen bei mir bei x-beliebigen Gelegenheiten ein, als würde die Angst immer stärker das Kommando übernehmen, als ob sie uneingeschränkte Macht über mich ausüben möchte, mit einem grössenwahnsinnigen Anspruch. Sie hat die Rolle eines wertvollen Begleiters, der mich in heiklen Situationen zur Vorsicht oder auch zum Handeln mahnt, eingetauscht gegen eine nichtsnutze, eigensüchtige Vorherrschaft, die nicht mehr die Funktion des Warnens wahrnimmt, sondern sich anarchisch in mir ausbreitet. Dies stelle ich fest, ohne zu wissen, warum und wie sich die Angst auf diese Weise für mich missbräuchlich entwickeln konnte. Es ist mir klar, dass es Angst ohne ein Gegenüber kaum gibt, respektive, dass die Angst wohl, einem Parasiten gleich, einen Wirt braucht, in dem sie sich ungehindert entfalten kann. Aber sie müsste eigentlich wissen, dass sie nur existieren kann, solange der Wirt an ihr nicht zu Grunde geht. Dieses Wissen gilt es nun zu erkennen, damit die Angst und der Wirt zu einem starken Gespann zusammenwachsen können.

Ich habe mir heute einige Gedanken dazu gemacht, woher diese Unsicherheit herrühren könnte, diese Unsicherheit, die sich letztlich in ein sich ausbreitendes Angstgefühl verwandelt. Ich bin überzeugt, dass am Anfang nicht die Angst stand, sondern eine Irritation des Selbstwertgefühls, im Wahrgenommen werden in meiner Kernfamilie. Ich glaube nicht, dass es mir an Urvertrauen mangelt, das Elend begann erst mit dem Erwerb der Sprache, als sich die Welt zusehends verbalisiert zeigte und gerade in Aussagen meines Vaters immer mehr an Zynismus und im Verkannt werden dazugewann. Im System meiner Eltern hatten ich und meine Schwester ein schönes und von den Eltern zugewandtes Leben. Dieses war aber primär nur innerhalb des von den Eltern begründeten Systems möglich. Das Entwickeln eigener Ansichten, Hobbies und Interessen ausserhalb des elterlichen Rahmens war dagegen eher schwierig. Es wurde zwar nicht verhindert, aber auch nicht wirklich wohlwollend begünstigt. Als ich als Neunzehnjähriger Sänger einer Rockband wurde und meinem Vater gerne ein Lied vorgestellt hätte, war sein lapidarer Kommentar: „Nein das möchte ich nicht, ich weiss, was so halbstarke Typen machen.“ Dies entsprach weder der Wahrheit noch war es mir gegenüber taktvoll. Solche Momente, in denen mir vernichtender Zynismus entgegenschlug, gab es immer wieder und sie bildeten letztendlich die verbalisierte Unzulänglichkeit meines Vaters ab, der es offensichtlich nicht verstand, andere Meinungen, andere Interessen und andere Menschen in ihrem Tun gelten zu lassen, vielleicht weil er Angst hatte, dass sein eigener Erfolg damit geschmälert würde. Ich machte meine eigenen Dinge weiterhin, hatte aber meine Unbeschwertheit verloren, schwankte ich doch zwischen Neugier aufs Leben und der Angst, die Gunst meines Vaters zu verlieren – oder sie vielleicht nie wirklich gewinnen zu können. Als mein Vater 2020 starb, habe ich für mich die Zeilen geschrieben: „Ich weine nicht um den Vater, der gestorben ist, ich weine um den Vater, den ich nie gehabt habe.“ Diese Aussage stimmt nicht in allen Teilen, aber im Kern eben doch. War dieses Gefühl, um die Gunst des Vaters kämpfen zu müssen, doch ein bestimmendes Motiv in meiner Entwicklung zum jungen Erwachsenen. Das verbalisierte Unvermögen meines Vaters, der Zynismus und das Gefühl, nicht – im wörtlichen Sinn – wahrgenommen zu werden, haben mich meiner Sicherheit beraubt.

Ich war mit meinen eigenen Schritten im Erwachsenenleben stets angewiesen auf starke Persönlichkeiten, die mir diese Sicherheit gaben, oder ich war zumindest der Meinung, dass sie sie mir gaben. Ich war auf Menschen angewiesen, die ich zu lieben versuchte, in der Hoffnung, dass diese Liebe erwidert würde und ich in meinem Kern gemeint sei. Das Lieben und Geliebtwerden gelang immer wieder mal und immer wieder mal nicht. Das Dilemma, in dem ich mich befinde ist, dass ich meine eigene Sicherheit nie richtig finden konnte. Und dass ich die Aspekte meiner Seelenlandschaft, in der ich als einzigartiges Wesen existiere, kaum kenne, weil ich sie veräussert habe, indem ich sie an starke Menschen und an Menschen, denen ich mein Herz schenkte, angehängt habe und somit immer auf das Wohlwollen dieser Menschen angewiesen war. Wenn sich diese Figuren in meinem Lebensstück verabschieden, zurückziehen oder sich von mir abwenden, mich verletzen oder eigene Wege gehen, fällt für mich meine Existenz in sich zusammen. Ich habe meine Existenz outgesourced, weil ich sie in mir nicht zusammenhängend finden kann. Die Frage stellt sich nun für mich viel weniger, warum es soweit kommen konnte, da habe ich vage Vermutungen, sondern vielmehr, wie kann ich dieses System durchbrechen, meine Sicherheit bei mir finden und damit meine eigene Quelle werden, die mich speist und die sich auch in andere Flüsse ergiessen kann, ohne dass sich Verlustangst breit macht. Verlustangst, die mich trifft, als einer der fürchtet, dass es ihn nicht gibt, nie gegeben hat, obwohl er sich im Spiegel der äusseren Welt immer wieder in Teilstücken erkennt.

Erkenntnis des Tages

Der heutige Tag war geprägt von meinem Besuch in der Sekundarschule, wo das Standortgespräch meiner Tochter stattfand. Wie zu erwarten war, gab es nur positives Feedback, was mich sehr freute. Nach dem Gespräch fuhren mich meine Ex-Frau und meine Tochter zurück nach Rheinfelden, wo wir zusammen zu Mittag assen und anschliessend noch in der Altstadt bummelten und shoppen gingen. Mir tat die aufgeräumte Stimmung sehr gut und ich bin froh, dass wir miteinander, nach vielen schmerzlichen Trennungsmonaten und Jahren, einen Umgang miteinander gefunden haben, der von Respekt und einer gewissen Dankbarkeit geprägt ist. Ich habe mir dies immer gewünscht und nun spüre ich, dass die Balance gegeben ist und das stimmt mich froh.

Sonntag, 9. Januar

Haiku

Klinische Freizeit

Wie früher im Elternhaus

Heute unverwandt

Musik

Genesis: The Chamber of 32 Doors

Führung

Ich habe gestern über das Gefühl des nicht Wahrgenommen werdens geschrieben, über den Zynismus meines Vaters, der nach aussen stark, unverletzbar und mächtig erschien, aber wahrscheinlich viele Schwächen hatte, die er nie zeigte. Und doch gab mir diese oberflächliche Stärke ein Gefühl von Sicherheit, zumindest solange ich seine fragile Fassade, mit den dahinter verborgenen Abgründen, nicht erahnen konnte. Nach dem Auszug aus meinem Elternhaus war ich lange auf der Suche nach einem spirituellen Führer, nach jemandem, der mir zeigen würde, wie Leben funktioniert. Ich sehnte mich nach einem Wissenden, der es gut mit mir meint und der für mich ein Rezept bereithält, das mich zu meinem inneren Selbst führen würde. Diese Sehnsucht war natürlich eine Illusion und so wurde ich regelmässig geblendet von vermeintlichen Einsichten und Erkenntnissen, die sich stets als hohl und nicht stimmig herausstellten. Unterdessen ist mir klar, dass Sehnsucht nicht auf diese Weise gestillt werden kann. Ich suchte letztlich einen Vaterersatz, einen Menschen, der mir Sicherheit geben kann und mich gleichzeitig wahrnimmt, mich unterstützt und empathisch mit mir den Weg geht. Da sich in der physischen Welt dieser Führer nicht finden liess, flüchtete ich mich zusehends in die Literatur, vor allem in Schriften aus den Bereichen Psychologie, Philosophie und Esoterik. Darin fand ich Theorien und Modelle, die mir kurzzeitig einleuchteten. Ich erhoffte mir, sie würden mein Leben erhellen und für mich den in der körperlichen Welt nicht gefundenen Führer ersetzen. Ich las Carlos Castaneda, Paulo Coelho, James Redfield, Mary Summer Rain, Krishnamurti, Ken Wilber, C. G. Jung, Steve de Shazer und viele mehr. Die Ansätze in all diesen Büchern sind inspirierend, aber es sind Erlebnisberichte anderer Menschen, nicht meine eigenen, es sind Theorien, die Vorgänge erklären und Modelle, die Prozesse veranschaulichen, das Problem dabei ist: Ich als eigenständiges Wesen finde darin nicht statt. Ich kann allenfalls etwas davon über mich stülpen oder mir einverleiben, es bleibt aber etwas Fremdes, das nicht aus mir heraus lebt.

Es ist genauso wie Ken Wilber feststellt: „Die Landkarte ist nicht das Land“. Und genau dort liegt die Täuschung, zu glauben, je mehr ich lese und Bescheid über Theorien weiss, desto näher würde ich mir selber kommen. Diese Fremdmeinungen und vielleicht auch Weisheiten, stehen als Beispiele und fordern mich bestenfalls auf, meine eigene Theorie zu entwickeln, um schliesslich alle fremden Theorien und Modelle irgendwann abstreifen zu können, weil ich bei mir in immer schnelleren Kadenzen ankomme und aufgehe in meinem Sosein, das sich jenseits von Dogmen ausbreitet. All dieses Fremdwissen hat nicht dazu geführt, dass ich mich in mir aufgehoben fühle, im Gegenteil: Meine Ängste sind grösser geworden, meinen inneren Schutzraum habe ich noch nicht entdeckt. Ergo gilt es, die Strategie zu ändern und den Theoretiker gegen den Praktiker einzutauschen. Dies möchte ich hier in der Klinik ausprobieren und ich hoffe, dass ich Möglichkeiten finde, mein Kopfwissen mit meinem Körperwissen verbinden zu können. Ich glaube nämlich, dass meine Ängste eine Kopfgeburt sind, die sich im Körper manifestieren. Vielleicht muss ich den Mut aufbringen, die Kommandozentrale in meinem Kopf, der wahrscheinlich ein grosser Teil der Verantwortung für meine Misere zuzuschreiben ist, vorübergehend in Quarantäne zu schicken, um anderen Quellen Raum zu geben, sich zeigen zu können.

Erkenntnis des Tages