Klara - Wie geht es weiter? - Petra Kania - E-Book

Klara - Wie geht es weiter? E-Book

Petra Kania

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Beschreibung

Klara fühlt sich nur von ihrem Vater verstanden, da sie die Erwartungen ihrer Mutter nicht entspricht. Sie will kein Mädchen sein, schneidet sich die langen Haare ab, rauft mit den Jungen und spielt lieber Fußball als mit der Barbiepuppe. Klara wird nicht nur in der Familie zur Außenseiterin, von niemandem verstanden, sondern auch in der Schule. Dort von einer Mitschülerin als Lesbe beschimpft, schlägt sie zu. Klara kommt in ein Internat, doch an ihrem Leben ändern sich nichts. Dass sie wirklich lesbisch ist, erfährt sie erst, als Inga, die Sozialpädagogin ihrer Internatsgruppe, sie verführt. Nun weiß Klara, wer sie ist, doch ihr Weg, ein glückliches, queeres Leben führen zu können, ist noch lang. Erst als sie Jahre später als Sozialarbeiterin auf einer Klassenfahrt die Mutter einer Schülerin lieben lernt, glaubt sie, endlich ihr Glück gefunden zu haben.

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Klara

Wie geht es weiter?

Roman

Petra Kania

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.herzsprung-verlag.de

© 2023 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Bearbeitung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2023.

Cover gestaltet mit einem Bild von © Polarpx – lizenziert by Adobe Stock

ISBN: 978-3-96074-720-8 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-721-5- E-Book

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Inhalt

Impressum

Inhalt

Klara

Wie geht es weiter?

Die Autorin

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Klara

Wie geht es weiter?

Mein Vater war bei meiner Geburt enttäuscht, da er sich einen Jungen gewünscht hatte. Meine Mutter hingegen war glücklich, dass ich ein Mädchen war, und sie setzte alles daran, ein richtiges Mädchen aus mir zu machen. Heute würde ich sagen, dass sie besser eine Barbiepuppe geboren hätte.

Ich jedenfalls versuchte, alles zu tun, um die Liebe meines Vaters zu gewinnen. Er war mein Vorbild. Wenn er in der Garage an seinem Motorrad bastelte, war ich an seiner Seite. Und als er mein Talent zum Fußballspielen erkannte, da blühte er auf. „Eigentlich bist du doch ein Junge!“ Das war für mich das schönste Kompliment, denn ich wollte nichts lieber als ein Junge sein. Meine Eltern gerieten deswegen ständig in Streitereien. Meine Mutter startete immer wieder Versuche, mir ein Kleid und Lackschuhe schmackhaft zu machen, aber ich fühlte mich in meiner Jeans und den ausgetretenen Turnschuhen wohl. Als ich mir dann heimlich selbst meine langen Haare abschnitt, gab mich meine Mutter endlich auf. Von nun an konnte ich machen, was ich wollte. Es kümmerte sie nicht mehr. Während die Mädchen in meiner Straße draußen Gummitwist spielten, streifte ich mit den Jungen durch den nahe gelegenen Wald, wo wir Cowboy und Indianer spielten. Ich ließ dabei keine Rauferei aus. Dann wurde meine Mutter wieder schwanger, brachte endlich ihr heiß geliebtes Mädchen zur Welt, das sie wie mich damals in Rosa bettete und kleidete. Und Marie genoss es, die kleine Prinzessin zu sein. Meine Mutter war glücklich und ein Jahr später wurde sie wieder schwanger. Ungewollt, wie ich hörte, wenn sich meine Eltern am Abend stritten und Vater dann wütend auf sein Motorrad stieg und davonbrauste. Diesmal kam ein Junge zur Welt und von dem Tag an war ich für meinen Vater nur noch ein Mädchen. Je älter mein Bruder Leon wurde, umso mehr verlor ich die Liebe und Aufmerksamkeit meines Vaters. Meine Mutter äußerte sich nur abwertend über mein Aussehen und mein Verhalten. Ich war schlampig, trampelig, also genau das Gegenteil von meiner zierlichen Schwester Marie.

Zuflucht suchte ich bei meiner Oma, sie verteidigte mich stets. „Lasst das Kind doch in Ruhe. Sie ist, wie sie ist!“

***

Das erste Mal, als ich spürte, dass ich mich zu Frauen hingezogen fühlte, war, als wir eine neue Englischlehrerin bekamen. Sie schlug uns vor, dass wir uns alle englische Vornamen geben sollten. Natürlich Mädchennamen, da wir eine reine Mädchenklasse waren.

„Now, Klara, tell me your name.“

Ich schluckte und wurde rot, denn ich wollte keinen Mädchennamen. „My name is George.“

Verhalten fingen einige der Mädchen an zu kichern.

„Das ist doch ein Jungenname!“, flüsterte meine Banknachbarin Karin, die jetzt Jane hieß.

Frau Diedrich zog verwundert die Augenbrauen hoch und ich rechnete damit, dass sie mich jetzt auffordern würde, einen anderen Namen zu nehmen. Meine Hände zitterten und ich senkte meinen Kopf, das war einfach nur peinlich, wie war ich nur auf so eine dumme Idee gekommen, mich George zu nennen.

„It’s okay, I like your name“, hörte ich Frau Diedrich sagen und schon wandte sie sich einem anderen Mädchen zu.

Von da an himmelte ich Frau Diedrich an. Egal, was die anderen Mädchen zu meckern hatten, ich nahm sie stets in Schutz und lernte eifrig für den Englischunterricht. Wenn mich Frau Diedrich anlächelte, schlug mein Herz wie wild und ich schaute verlegen zur Seite. Nachts träumte ich von ihr und während ich meinen Körper streichelte, stellte ich mir vor, dass es ihre Hände wären.

Natürlich merkten die anderen, dass ich Frau Diedrich gerne hatte und es dauerte nicht lange, da stand eines Tages auf der Tafel: Klara liebt Frau Diedrich. Daneben hatte jemand Kussmünder und Herzen gemalt. Wütend nahm ich den Schwamm und wischte die Tafel ab.

„Warum wirst du denn rot!“, stichelte Tanja, die ganz vorne saß und bestimmt diejenige war, die die anderen dazu angestiftet hatte.

„Lass mich in Ruhe!“, zischte ich, aber Tanja machte munter weiter.

„Oh, wie ich sie liebe, Frau Diedrich I love you so! Kiss me, darling!“ Die Klasse brüllte vor Lachen über Tanjas Showeinlage.

„Halt die Klappe!“ Wütend schmiss ich den nassen Schwamm, der eigentlich Tanjas Gesicht treffen sollte, aber nur auf ihrem Tisch landete.

„Die Arme, warum regst du dich denn so auf? Soll ich Frau Diedrich holen, damit sie dich tröstet?“

Ich stand jetzt vor Tanja, die mich grinsend ansah, und schubste sie gegen ihren Stuhl. Tanja konnte sich gerade noch an dem Tisch festhalten, um nicht zu fallen.

„Fass mich nicht noch einmal an, du Lesbe!“, schrie Tanja und die anderen in der Klasse klatschten Beifall.

„Nimm das sofort zurück!“ Ich packte Tanja an ihren Armen und stieß sie mit aller Wucht, sodass sie das Gleichgewicht verlor und krachend auf den Boden fiel. Dass sie dabei mit dem Kopf auf eine der Tischkanten stieß, hatte ich wirklich nicht gewollt. Jammernd saß Tanja nun auf dem Boden und tastete ihren Kopf ab. Tatsächlich zeigten sich Blutspuren auf ihrer Hand.

„Das wollte ich nicht“, stotterte ich und wollte Tanja aufhelfen. Aber die anderen Mädchen ließen das nicht zu.

„Bist du bescheuert!“, brüllte mich Tanjas beste Freundin Susanne an. „Du hast sie ja wirklich nicht mehr alle!“

Genau in diesem Moment ging die Tür auf und Frau Diedrich erschien. „Was ist denn hier passiert?“ Sie blickte zu Tanja, die nun gestützt von ihren Freundinnen herzergreifend schluchzte. „Bist du verletzt?“

„Frau Diedrich, Tanja blutet. Das war Karla. Sie ist einfach auf Tanja los und hat sie zu Boden gestoßen“, berichtete Susanne und die anderen Mädchen bestätigten dies durch gemurmelte Zustimmung.

Frau Diedrich sah mich an und ich glaubte, im Boden versinken zu müssen. Ich konnte ihr doch nicht sagen, was passiert war.

„Susanne und Birgit, ihr bringt Tanja bitte in den Sanitätsraum. Ich komme gleich nach und werde Tanjas Eltern anrufen, damit sie sie abholen.“

Triumphierend, wie es mir schien, zogen die drei Freundinnen davon. Ich stand immer noch wie versteinert da.

„Karla, stimmt das, was Susanne gesagt hat? Hast du Tanja auf den Boden gestoßen?“ Alle Freundlichkeit war aus der Stimme von Frau D verschwunden.

Ich konnte nur nicken, während mir Tränen in den Augen traten.

„Das hätte ich nicht von dir gedacht. Ich bin enttäuscht. Du kommst jetzt mit zu Frau M.. Und ihr“, sagte sie an den Rest der Klasse gewandt, „setzt euch auf eure Plätze und übersetzt das Kapitel sieben in eurem Englischbuch.“ Auf dem Weg zu dem Direktorat sprach Frau Diedrich kein Wort und schaute mich auch nicht an.

Natürlich wurden meine Eltern darüber informiert, was sich an der Schule ereignet hatte. Meine Mutter kam, da ich für diesen Tag vom Unterricht ausgeschlossen wurde.

„Deine Tochter!“, wetterte meine Mutter, als mein Vater von der Arbeit zu Hause eintraf. „Sie hat eine andere Schülerin blutig geschlagen! Das ist deine Erziehung, du wolltest ja unbedingt, dass sie wie ein Junge ist!“ Ich hatte mich in mein Zimmer verzogen, lauschte aber, als meine Eltern nun heftig miteinander stritten, wer daran schuld sei, dass ich ein brutaler Schläger geworden war. Wie immer endete der Streit damit, dass mein Vater auf sein Motorrad stieg und davonfuhr.

Meine Mutter verhängte Stubenarrest und essen musste ich alleine auf meinem Zimmer. Wie dumm von ihr, denn ich blieb ohnehin lieber alleine. Meine Geschwister waren noch zu klein, um zu verstehen, warum ich nicht zum Essen runterkommen durfte. Meine Mutter redete ihnen ein, dass ich böse gewesen und dass das ansteckend sei. Wie konnte sie Kindern nur solche Märchen erzählen? Leon war gerade mal fünf Jahre und Marie sechs Jahre alt.

Nur um zur Schule zu kommen, verließ ich das Haus, aber dort erwarteten mich nur die Schikanen meiner Klassenkameradinnen. Aus meinem Fahrradreifen war ständig die Luft rausgelassen, auf meinen Rücken klebten sie mit Vorliebe Zettel, ohne dass ich es merkte. Erst wenn ich aus dem Klassenzimmer kam und andere Schüler auf mich zeigten und sich über mich lustig machten, merkte ich es.

Ich bin eine Lesbe! Ich ficke Frauen!

Das waren nur zwei dieser Botschaften, mit denen sie mich abstraften. Auch in meine Hefte schmierten sie Botschaften. Schlimm war es, wenn wir in den Umkleideraum zur Sporthalle mussten. Dann hatte Tanja immer ihren Auftritt.

„Oh mein Gott. Hoffentlich fällt Klara jetzt nicht über mich her. Wie sie uns anstiert.“ Die anderen Mädchen machten den Spaß mit und taten so, als wenn sie sich gegenseitig küssen würden. Ich versuchte, das alles zu ignorieren, nur merkte ich, wie mich deren Verhalten verletzte, und nur mühsam konnte ich mich zusammenreißen, um nicht loszuheulen.

In den Englischstunden vergrub ich mich auf meinem Platz, vermied es, Frau Diedrich ins Gesicht zu schauen, dabei liebte ich sie immer noch, aber mir fehlte der Mut, ihr offen zu begegnen. So kam es, dass meine Leistungen rapide bergab gingen. Als die letzte Arbeit ausgeteilt wurde, hatte ich eine glatte Fünf.

Die Schulklingel ertönte und kündigte das Ende der Stunde an. Schnell leerte sich der Klassenraum und auch ich wollte so schnell wie möglich an dem Pult vorbei nach draußen, aber Frau D hielt mich zurück.

„Klara, bleib bitte hier, ich möchte mit dir sprechen!“

Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich glaubte, jeden Moment umzukippen zu müssen.

„Was ist eigentlich mit dir los in letzter Zeit? Du machst im Unterricht nicht mehr mit, deine schriftlichen Arbeiten sind ebenfalls miserabel und von Kollegen habe ich gehört, dass dies nicht nur in meinem Fach so ist.“

Ich spürte, dass Frau Diedrich versuchte, mit ihren Blicken in mich hineinzusehen. Doch ich schaffte es nicht, den Kopf zu heben und sie anzusehen. Sollte ich ihr etwa sagen, dass ich sie liebte? Wie würde sie auf mein Geständnis reagieren? Ich wollte nur noch weg. Mein Mund war so trocken, dass ich keinen Laut von mir geben konnte. Und wenn sie mich jetzt in die Arme nehmen würde …?

Natürlich tat sie das nicht. Da ich stumm vor ihr stehen blieb, gab sie wohl auf und meinte nur, dass sie erwarten würde, dass ich mich wieder anstrengen würde. Ansonsten sehe sie meine Versetzung gefährdet. „Dann kannst du jetzt gehen!“, endete Frau Diedrich unsere Unterhaltung, drehte sich von mir weg und begann, ihre Aktentasche zu packen.

Ich stürzte aus dem Klassenraum, rannte aus dem Schulgebäude runter in den Fahrradkeller. Tränen rannen meine Wangen herunter. Alles hatte ich vermasselt. Jetzt war ich nicht nur bei den Schülern, sondern auch bei Frau Diedrich unten durch.

Von diesem Tag an begann ich, die Schule zu schwänzen. Ich hätte es nicht ertragen, den spöttischen Blicken meiner Klassenkameraden ausgesetzt zu sein, geschweige denn Frau Diedrich gegenüberzutreten.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Schule meine Eltern über mein Fehlen informierte. Trotz aller Drohungen weigerte ich mich, in den Klassenraum zurückzukehren.

„Dann kommst du eben in ein Heim!“, wetterte meine Mutter. Allerdings wäre meinen Eltern dies viel zu blamabel gegenüber Nachbarn und Verwandten gewesen, hätte dies doch besagt, dass sie in der Erziehung versagt hätten. Also entschieden sie sich, mich in ein Internat zu stecken. Da würde ich sicherlich Disziplin und anständiges Verhalten lernen. Das Geld dafür gaben sie gerne aus. Insgeheim waren sie sicherlich froh, so die Verantwortung für mich abgeben zu können und mich los zu sein.

Meine Oma versuchte vergeblich, meine Eltern umzustimmen, und auch die Bitten meiner Geschwister verliefen im Sand. Schließlich wurde ich weit weg, in einem anderen Bundesland, in einem kirchlichen Mädcheninternat angemeldet.

***

Obwohl der Tagesablauf dort streng durchorganisiert war, lebte ich mich schnell ein. Eigentlich ging es mir hier besser als zu Hause. Mit drei anderen Mädchen teilte ich das Zimmer und wir kamen gut miteinander aus. Ich freundete mich enger mit Lena an. Wir saßen in der dem Internat angeschlossenen Schule zusammen, und auch die andere Zeit verbrachten wir gemeinsam. Sie teilte meine Leidenschaft für Fußball. Deshalb zogen wir meist in Trainingsanzügen herum, die denen unserer Lieblingsvereine entsprachen. Lena stand allerdings völlig auf Männer und so hatte ich ihr bisher verschwiegen, warum ich die Schule geschwänzt hatte. Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion. Bisher war es kein Problem, wenn wir abends uns zusammen in mein Bett legten und alberten. Wie sollte ich Lena klarmachen, dass ich sie mochte, aber natürlich nur als Freundin. Ich war nicht in sie verliebt.

Dann geschah es, dass unsere Erzieherin eines Abends, nachdem das Licht ausgeschaltet war, plötzlich in unserem Zimmer erschien. Ich weiß nicht, ob sie unser Gekicher gehört oder ob eines der anderen Mädchen uns verpetzt hatte. „Sofort verschwindest du in dein Bett, Lena!“, schrie Frau Hannen, „solche Schweinereien dulde ich nicht in meinem Haus!“

Lena war ebenso erschrocken wie ich und huschte vorbei an der wild gestikulierenden Frau Hannen in ihr Bett.

„Wenn ich euch noch einmal dabei erwische, dann …!“ Was dann geschehen würde, verriet sie nicht, knallte stattdessen die Zimmertür zu. Aus dem Bett von Martina hörte ich unterdrücktes Kichern.

„Findest du das etwa lustig!“, schnauzte ich.

„Warum hat die sich so aufgeregt? Was meinte die mit so was dulde ich nicht in meinem Haus?“, fragte Lena leise aus ihrer Ecke heraus.

Bevor ich mir eine Antwort zurechtgelegt hatte, schlug Martina in voller Boshaftigkeit zu. „Bist du so naiv, Lena? Die Bitch“, so nannten wir Frau Hannen insgeheim, „hält euch für ein Liebespaar, das unter der Bettdecke lesbische Schweinereien treibt.“

Ich konnte mich nicht mehr beherrschten und schleuderte mein Kopfkissen in Richtung Martina. „Halt endlich deine Klappe!“

„Könnt ihr nicht aufhören, ich will schlafen!“, brummte Sabine, die sich bisher aus allem rausgehalten hatte.

„Wir sind doch nur Freundinnen!“, verteidigte sich Lena, die sich mittlerweile aufrecht in ihr Bett gesetzt hatte.

„Na und. Deswegen könnt ihr doch trotzdem lesbisch sein!“, konterte Martina und schmiss mein Kopfkissen in meine Richtung. Allerdings landete es auf dem Boden.

„Ich liebe Jungen“, beteuerte Lena. Ihre Stimme hatte nun einen leicht weinerlichen Klang. „Und Klara auch. Sie ist doch in Gigi Buffon verknallt!“

„Hör nicht darauf, was Martina sagt, Lena. Sie ist einfach eine selten blöde Tussi!“ Ich konnte nur hoffen, dass Martina jetzt Ruhe geben würde.

„Ach, du bist selber bescheuert, du blöde Lesbe!“ Das waren vorerst die letzten Worte von Martina, danach wurde das Zimmer von einer seltsamen Stille erfüllt.

Ich lag noch lange wach, wälzte mich in meinem Bett hin und her und ahnte, dass dieser Abend nicht ohne Folgen bleiben würde.

Am nächsten Morgen versuchten wir, uns so wie immer zu geben, aber innerlich spürte wohl jede von uns in dem Zimmer, dass es seit der letzten Nacht anders war. Ich vermied jeden Körperkontakt mit Lena, ich konnte sie einfach nicht mehr zwanglos berühren. Auch Lena blieb auf Abstand, verlor aber kein Wort darüber, was passiert war. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Hatte ich Lena als Freundin verloren? Sollte ich sie ansprechen, aber das wagte ich nicht. Das Frühstück schien an diesem Tag kein Ende nehmen zu wollen. Die zwölf anderen Mädchen aus unserer Gruppe schwatzten fröhlich miteinander, während Lena und ich kaum einen Bissen herunterbrachten. Am meisten ärgerte mich das dämliche Gesicht von Martina. Sie saß gegenüber von Lena und mir und während sie mich mit verachtenden Blicken strafte, lächelte sie Lena süffisant zu.

Nach der Schule hielt mich Frau Hannen zurück, bevor ich die Stufen hinauf zu unserem Zimmer laufen konnte. „Halt, du bleibst noch, hier!“

Lena, die zusammen mit mir die Schule verlassen hatte, blieb kurz auf der untersten Treppenstufe stehen und drehte sich fragend zu der Erzieherin um.

„Lena, du kannst nach oben gehen. Klara, du kommst mit mir zu Frau W.“ Ohne weitere Erklärungen ging Frau Hannen los und ich trottete hinterher. Um es kurz zu machen, die Pädagogen hatten beschlossen, dass ich in eine andere Gruppe umziehen musste. Weg von Lena, da ich als die Verführerin galt, auch wenn mir das natürlich nicht so gesagt wurde. Vielleicht sollte der Umzug auch nur dazu dienen, dass Lena und ich uns positiv weiterentwickeln konnten.

So kam ich in eine andere Gruppe und in ein neues Viererzimmer. Die drei Mädchen dort waren alle zwei Jahre älter als ich und sollten ein Auge auf mich halten, wie sie mir am ersten Abend verrieten. Reines Wunschdenken der Pädagogen, denn diese sechzehnjährigen Mädchen hatten anderes im Kopf, als auf mich aufzupassen. Natürlich hatten Lena und ich uns ewige Treue geschworen, trotz der erzwungenen räumlichen Trennung. Immerhin sahen wir uns täglich in der Schule und saßen vorerst im Klassenraum weiter nebeneinander, bis ich eines Morgens in die Klasse kam und auf Lenas Platz die dicke Gabi saß. Gabi, neben der eigentlich niemand sitzen wollte. Sie war nicht nur fett, sie stank und sie petzte. Ich hatte an dem Morgen rumgetrödelt und kam gerade noch vor unserer Mathematiklehrerin in die Klasse, die mich aufforderte, mich sofort hinzusetzen. Die dicke Gabi machte keinerlei Anstrengungen, mir etwas zu erklären. Sie tat gerade so, als wäre ich nicht vorhanden. Ich drehte mich um und entdeckte Lena, die jetzt zwei Reihen schräg hinter mir saß. Neben Martina. Verzweifelt warf ich ihr durch Blicke und Körpersprache Fragezeichen entgegen. Aber Lena zuckte nur ratlos mit den Schultern und sah dann angestrengt zur Tafel, auf die Frau Sommer eine Aufgabe schrieb. Ich riss ein Stück Papier aus meinem Rechenheft und schrieb Lena eine Nachricht. Ich wollte wissen, was los war. Möglichst unauffällig wurde der Zettel von Schülerin zu Schülerin gegeben, bis er bei Lena landete. Ich drehte mich wieder um. Wollte ihre Reaktion sehen. Tatsächlich kritzelte sie etwas auf den Zettel und schickte ihn zurück zu mir. Mit zitternden Händen entfaltete ich das Papier.

Es ist besser so! stand dort.

Was sollte das denn heißen? Es ist besser so? Wer hatte ihr das eingeredet? Voller Ungeduld wartete ich auf das Ende der Mathestunde. Ich musste Lena unbedingt sprechen.

„Lena, warte!“ Noch bevor das Klingelzeichen verklungen war, war ich zu Lena gehechtet und hielt sie an ihrem Arm fest.

„Klara, lass mich los.“ Lena versuchte, ihren Arm aus meinem Griff zu befreien.

„Ich will doch nur mit dir reden!“, flehte ich und wurde im gleichen Moment an der Schulter gepackt und nach hinten gezogen. Ich schwankte, verlor das Gleichgewicht und krachte gegen einen Stuhl. Ein Schmerz durchzog meinen Rücken und ich schnappte nach Luft. Lena hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

„Lässt du Lena jetzt endlich in Ruhe?“ Martina baute sich vor mir mit verschränkten Armen auf. Außer uns dreien war niemand mehr in der Klasse. Die anderen Mädchen waren schon in die Pause gegangen.

„Bist du bescheuert?“, schrie ich und rappelte mich vom Boden auf. Ich sah zu Lena, hoffte, dass sie eingreifen würde, aber sie stand nur da und sagte keinen Ton.

„Lena, bitte. Wir können doch wohl miteinander reden. Und du Martina, hau endlich ab!“

„Kapierst du es immer noch nicht! Lena will mit einer Lesbe nichts zu tun haben!“, grinste Martina und wandte sich zu Lena: „Komm, die Pause ist gleich rum, lass uns rausgehen!“

Lena lief vor Scham rot an, als ich sie noch einmal bat, zu bleiben, aber sie ging vor Martina raus aus dem Klassenzimmer. Ich konnte es nicht fassen. Warum ließ mich Lena einfach fallen?

„Ich bin keine Lesbe! Martina lügt!“, schrie ich.

Worauf Martina sich nur umdrehte und mir den Stinkefinger zeigte. Wutentbrannt lief ich hinter ihr her und trat ihr mit voller Wucht gegen das Schienbein. Martina krümmte sich und schrie wie am Spieß! Da hatte ich mein Dé­jà-vu. Jetzt würde sich genau das wiederholen, was ich an meiner alten Schule erlebt hatte. Rausschmeißen würden sie mich aus Schule und Internat.

Lena hatte sich zu Martina hinuntergebeugt und sie tröstend in den Arm genommen. Immerhin hörte Martina so auf rumzuschreien.

„Hau ab!“ Lenas Worte trafen mich wie ein giftiger Pfeil. Da war kein Funken von Zuwendung oder Verständnis für mich mehr vorhanden. Ich drehte mich um, ging zurück in den Klassenraum. Freundschaft! Lächerlich. Es gab keine Freundschaft. Das hatte ich jetzt am eigenen Leib gespürt. Nie mehr würde ich auf irgendwelches Freundschaftsgeschwätz reinfallen. Keinen würde ich mehr an mich ranlassen oder ihn in mein Inneres blicken lassen.

Anscheinend hatten auch Martina und Lena über den Vorfall in der Schule geschwiegen, denn es folgten keinerlei Konsequenzen seitens der Schule oder der Erzieher. In der Schule ignorierten mich Lena und Martina, taten, als würde ich gar nicht existieren. Aber was sollte es auch. Mich interessierten die beiden nicht mehr. Mit einigen Mädchen aus der Schule traf ich mich nun öfter, um mit ihnen Fußball zu spielen, eine AG, die von unserer Sportlehrerin initiiert worden war. Über meinem Bett im Internat befestigte ich ein Poster von verschiedenen Fußballstars. Wie konnte da noch jemand behaupten, ich sei lesbisch, wenn über meinem Bett lauter Männer hingen? Ich zog mich immer mehr von allen Mädchen in meiner Klasse zurück. Immerhin wurde ich so in Ruhe gelassen.

***

Eines Tages rief uns unsere Erzieherin vor dem Abendessen zusammen. Frau Schröder war eigentlich ganz okay, jedenfalls tausendmal besser als die Erzieherin in meiner vorherigen Gruppe. Nun teilte sie uns mit, dass sie für fünf Wochen zur Kur fahren werde. Wann sie genau wiederkommen würde, stand noch nicht fest. Sie bräuchte einfach Erholung und eine Auszeit, um wieder zu Kräften zu kommen. Die älteren Mädchen tauschten verständnisvolle Blicke untereinander aus, anscheinend wussten sie mehr als wir jüngeren, schienen weniger überrascht zu sein. Ich hatte als Jüngste in der Gruppe keinerlei Ahnung, was genau der Grund für den Kuraufenthalt war. Als Vertretung würde eine Sozialpädagogin in das Zimmer von Frau Schröder einziehen und sich um uns Mädchen kümmern. Wir sollten nett zu ihr sein und sie in allem unterstützen. Inga Söhnke, so hieß die Vertretung, habe bisher in keinem Internat gearbeitet und sei noch nicht lange mit dem Studium fertig. Mir war es ziemlich egal, wer hier als Erzieherin arbeiten würde. Hauptsache, ich würde in Ruhe gelassen.

Drei Tage später fand der Erzieherwechsel statt. Als ich aus der Schule kam, traute ich meinen Augen nicht. Ein großer, schwarzer Mischlingshund stürmte auf mich zu, sodass ich fast rückwärts umgefallen wäre.

„Pablo, langsam. Sitz!“ Eine junge Frau kam aus ihrem Zimmer, packte den Hund am Halsband und beruhigte ihn. „Hoffentlich hat dich Pablo nicht zu sehr erschreckt. Tut mir leid. Ich bin Inga Söhnke. Und ich denke mal, dass du Klara bist!“

„Kein Problem“, sagte ich, kniete mich zu dem Hund, um ihn zu streicheln. Genussvoll ließ er sich hinter den Ohren kraulen.

„Pablo scheint dich zu mögen. Normalerweise ist er nicht so stürmisch bei Menschen, die er nicht kennt.“ Inga Söhnke lächelte mich an.

„Die kann mir viel erzählen“, dachte ich. Warum sollte der Hund ausgerechnet auf mich so abfahren. Das war doch nur so ein pädagogisches sich Einschmeicheln. „Ich muss jetzt Hausaufgaben machen!“, sagte ich und nahm meine Schultasche vom Boden auf.

„Klar, wenn du Lust hast, dann kannst du gerne mit Pablo spazieren gehen. Sag mir einfach Bescheid.“

„Mal sehen!“ Schnell rannte ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch und schmiss mich auf mein Bett.

Sobald ich von da an in die Nähe von Pablo kam, heftete er sich an meine Beine. Dabei versuchte ich stets, ihn zu ignorieren. Nur wenn niemand in der Nähe war, setzte ich mich zu Pablo auf den Boden, tollte und schmuste mit ihm. Die Wärme und Nähe des Hundes taten meiner Seele gut, hier hatte ich einen Freund, der mich so liebte wie ich ihn. Sobald ich allerdings jemanden kommen hörte, sprang ich auf und verschloss meine Gefühle wieder.

Inga Söhnke lächelte mich stets freundlich an, als warte sie auf eine Reaktion von mir. Eines Tages, das Mittagessen war gerade beendet, drückte mir meine Erzieherin die Hundeleine in die Hand. „Heute kannst du mit Pablo spazieren gehen. Ich habe leider eine Besprechung und keine Zeit.“ Schon hatte sie sich umgedreht und ließ mich mit Hund und Leine einfach stehen.

Zuerst wollte ich laut protestieren, aber Pablo sprang voller Vorfreude auf den Spaziergang hin und her, sodass ich nicht anders konnte, als mit ihm loszuziehen. Zusammen liefen wir an den Feldern rings um das Internat vorbei, folgten einem Weg durch den Wald, der bis zu einem kleinen See führte. Hier trafen sich abends die älteren Mädchen aus dem Internat mit ihren Freunden, meist Jungen aus dem Dorf. Erlaubt war dies seitens der Lehrerschaft nicht, denn hier wurde getrunken, geraucht und rumgeknutscht. Allerdings gab es auch hin und wieder Ausnahmen, zum Beispiel, wenn eines der Mädchen hier ihren Geburtstag feiern wollte, was natürlich nur denen zugutekam, die in den Sommermonaten geboren waren. Man musste allerdings damit rechnen, dass jederzeit eine der Erzieherinnen auftauchte, um zu kontrollieren, dass keine Sauf- und Sexorgien stattfanden. Alkohol in Maßen war zwar erlaubt, aber nur für diejenigen, die sechszehn und älter waren.

An diesem Tag war es regnerisch, wenn auch nicht sonderlich kalt, daher hatten Pablo und ich den Strandabschnitt für uns alleine. Wir tobten und tollten herum, ich warf Stöcke, denen Pablo hinterherrannte. Dann kam er wedelnd mit seiner Beute auf mich zu, aber bevor ich den Stock zu greifen bekam, machte er einen Satz zur Seite und ich griff ins Leere. Immer wieder kam er und forderte mich auf, mit ihm zu spielen. Ich fühlte mich frei, lachte und kämpfte mit Pablo auf dem Boden herum. Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal gelacht?

„Oh nein, wir müssen sofort zurück!“ Mit Entsetzen hatte ich mit einem Blick auf meine Uhr gesehen, dass ich die Ausgangszeit schon eine Viertelstunde überschritten hatte. Wenn ich Pech hatte, dann bedeutete das für mich ein paar Tage Ausgangsverbot. Während Pablo und ich zum Internat liefen, überlegte ich, wie ich meine Verspätung rechtfertigen könnte. Eigentlich bräuchte ich nur sagen, dass Pablo weggelaufen sei und ich ihn gesucht hätte, aber vielleicht würde mich Frau Söhnke dann nie mehr mit Pablo spazieren gehen lassen.

Außer Atem erreichten wir das Internatsgelände und schlichen uns zu unserer Gruppe. Als wir in das Haus eintraten, konnte ich sehen, dass die anderen Mädchen bereits im Lernsaal saßen. Jedes an seinem Schreibtisch.

„Ich …!“

Inga Söhnke lächelte und ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen. „Na, ihr beiden. Habt sicher vor lauter Spaß die Zeit vergessen. Klara, siehe zu, dass du an deinen Schreibtisch kommst. Ich mache die Pfoten von Pablo sauber!“

Ich nickte, zog meine nassen Schuhe und den Anorak aus und setzte mich zu den anderen in den Lernsaal. Keine Vorwürfe, keine Strafen! Stattdessen ein Lächeln. Erleichterung, Verwunderung und ein Gefühl von Glück mischten sich in meinen Körper.

Von nun an ging ich jeden Tag mit Pablo spazieren. Dabei war es mir egal, ob es heiß war oder in Strömen regnete. Nur das Fußballspielen in der AG machte ich noch mit. Ansonsten kam ich sehr gut alleine zurecht. Sobald ich selber in der Lage sein würde, würde ich mir auch einen Hund anschaffen. Als ich an einem Abend völlig durchnässt mit Pablo nach unserem Gang ins Internat zurückkam, fing mich Inga Söhnke im Eingangsbereich ab. Sie reichte mir ein großes Badetuch.

„Hier, damit kannst du dich erst einmal trocken reiben. Ich mache Pablo sauber. Und, Klara, wenn du magst, dann komm in mein Zimmer. Ich habe schon einen Tee aufgegossen.“

Verlegen rubbelte ich mit dem Handtuch Gesicht und Haare. Ich war noch nie in dem Zimmer der Erzieherin gewesen und obwohl die Einladung ganz normal klang, spürte ich ein Magendrücken. Dabei waren schon einige der Mädchen bei Inga Söhmke im Zimmer gewesen, um mit ihr zu quatschen. „Ich ziehe mir nur schnell eine trockene Hose an!“, sagte ich und rannte an Hund und Frauchen die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Als ich nur ein paar Minuten später an die Tür der Erzieherin klopfte, schlug mein Herz um einige Takte schneller als sonst.

Ich hatte Mühe die Teetasse, die mir Inga Söhnke reichte, festzuhalten, so zitterten meine Hände. Vergeblich versuchte ich, dies unter Kontrolle zu bekommen. Warum war ich nur so nervös? Das war doch nur eine nette Einladung zu einer Tasse Tee. Immerhin schaffte ich es, ohne Stottern mit meiner Erzieherin zu plaudern. Wir sprachen über unsere Liebe zu Hunden und Tieren allgemein. Da fühlte ich mich recht sicher, zudem ich mit einer Hand beständig Pablos Kopf kraulte, der zufrieden die Augen schloss.

„Sag mal Klara, du hast in drei Wochen Geburtstag. 16 Jahre wirst du?“

Ich nickte nur.

„Und hast du dir schon überlegt, wie du deinen Geburtstag feiern willst?“

Das hatte ich nicht. Mit wem sollte ich denn auch feiern? Eigentlich hatte ich dazu keinerlei Einstellung. In unserer Familie wurden Geburtstage nicht groß gefeiert. Das heißt – zumindest meiner nicht. Als meine Geschwister zur Welt kamen, hatte sich das nämlich geändert. Schon um mit den anderen Müttern gleichzuziehen, gab sich meine Mutter große Mühe, für die beiden Kleinen einen einmaligen Kindergeburtstag zu gestalten.

„Wen würdest du denn gerne einladen?“, fragte mich Inga Söhnke unvermittelt und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

„Weiß nicht. Es würde sowieso keiner kommen.“ Gemütlich war es hier in dem kleinen Zimmer, das ja das Zimmer von Frau Schröder war, wie mir jetzt einfiel. Vielleicht hatte Inga Söhnke einen ganz anderen Geschmack.

Anscheinend hatte die Erzieherin meine Gedanken erraten. „Ich bin ja nur vorübergehend hier, deshalb habe ich auch nur ein paar persönliche Dinge verändert. Zum Beispiel sind diese Fotos von mir. Es ist mein Hobby, zu fotografieren.“ Sie zeigte mir die Fotos, auf denen hauptsächlich Pablo in allen Lebensjahren abgelichtet war, aber auch das Porträt einer Frau und dann noch ein Bild dieser Frau Arm in Arm mit Inga Söhnke irgendwo an einem Strand.

„Das ist Marie, meine Freundin. Da waren wir zusammen in Urlaub an der Ostsee.“ Inga Söhnkes Blick hatte etwas Verträumtes, als sie mir das Foto zeigte und dann wieder wegstellte.

„Ich habe keine Freundin“, sagte ich und kraulte Pablo weiter hinter seinen Ohren.

„Möchtest du mir erzählen, warum du keine Freundin hast?“

Ich schluckte. Unmöglich konnte ich erzählen, warum die Freundschaft mit Lena in die Brüche gegangen war. „Ich hatte eine Freundin, aber dann hat sie eine andere Freundin gehabt und seitdem … Zuerst haben sie mich gemobbt, jetzt lassen sie mich in Ruhe. Ist mir auch egal. Ich brauche keine Freundin.“

Inga Söhnke machte keine Anstalten zu erfahren, was vorgefallen war, vielmehr stellte sie mir eine ganz andere Frage. „Würdest du gerne wieder mit den Mädchen befreundet sein?“

Was sollte ich darauf sagen? Wollte ich wieder mit Lena oder sogar mit Martina Freundschaft schließen? War das überhaupt möglich, nachdem, was vorgefallen war?

Meine Erzieherin schien mir anzusehen, dass ich nicht wusste, was ich wirklich wollte. „Klara, es braucht keine Freundschaft zu werden, wie es einmal war. Aber wäre es nicht schön, wenn ihr euch freundschaftlich begegnen könntet? Ohne unheilsame Gedanken? Gibt es nicht schon genug Streit auf Erden? Es kostet Mut, den ersten Schritt zu machen. Wie denkst du darüber. Du könntest die Mädchen zum Beispiel zu deinem Geburtstag einladen.“

„Die würden nie und nimmer kommen!“, preschte es aus mir heraus.

„Vielleicht hast du recht. Aber ein Versuch wäre es doch wert, oder? Denk einfach mal darüber nach. Letztendlich entscheidest du, wie und mit wem du deinen Geburtstag feiern möchtest.“

Ich lag nach diesem Gespräch noch lange wach und meine Gedanken fuhren Karussell mit mir. War es tatsächlich möglich, wieder mit Martina und besonders mit Lena Freundschaft zu schließen? Wieder dazuzugehören!

In den nächsten Tagen überlegte ich zusammen mit Inga Söhnke, wie und wo ich meinen Geburtstag feiern könnte. Hier im Haus, das fand ich zu spießig, da würde man sich zu kontrolliert fühlen. Schließlich blieb der Platz an dem See als geeignet übrig, der offiziell zum Internat gehörte. Dort befand sich auch ein recht komfortables Blockhaus, sodass man bei schlechtem Wetter dort Unterschlupf finden konnte. In dem Blockhaus gab es zudem einen Kühlschrank und eine kleine Teeküche. Dieser Platz durfte nur mit Genehmigung der Heimleitung benutzt werden. Natürlich gab es diverse Auflagen. Es durfte kein Alkohol konsumiert werden für Mädchen unter sechzehn, der Platz musste nach der Feier gründlich gesäubert werden. Zigarettenkippen mussten, wenn sie nicht in den dafür vorgesehenen Behälter kamen, ebenfalls vom Boden aufgesammelt werden. Musikanlagen durften einen gewissen Lärmpegel nicht überschreiten und um 22 Uhr musste ohnehin Schluss sein.

Da es zu dieser Zeit noch keine Handys oder Computer gab, zumindest nicht für den Normalbürger, schrieb ich die Einladungen per Hand auf eine Karte. Diese legte ich in der Schulpause Lena unbemerkt auf ihren Platz. Den Rest des Schultages mied ich es, sie anzusehen, und verschwand als Erste nach der letzten Stunde aus dem Klassenzimmer. Ich hatte es nicht gewagt, ihre Reaktion auf die Einladung zu beobachten. Vielleicht hatte sie diese bereits zerrissen oder Martina und sie machten sich darüber lustig.

Je näher der Geburtstag rückte, umso unsicherer wurde ich, ob es wirklich richtig war, diese Fete zu organisieren und die beiden Mädchen einzuladen. Ich hoffte, dass ich krank werden würde und alles absagen könnte oder dass das Wetter dermaßen schlecht wäre, sodass wir nicht draußen feiern konnten. Ohne den ständigen Zuspruch meiner Erzieherin, dass alles gut werden würde, hätte ich mich wohl krank ins Bett gelegt.

Als der Geburtstag dann da war, ein Samstag, wachte ich mit einem unklaren Gefühl auf. Hoffen, Erwartungen, dass alles gut würde, aber auch die Angst nagte an mir, dass der Tag im Chaos enden würde. Als ich die Augen aufschlug, war es erstaunlich still im Zimmer. Gut, eines der Mädchen war übers Wochenende nach Hause gefahren, wie so viele im Internat, aber wo waren die zwei anderen Mädchen? In ihren Betten jedenfalls nicht. Gerade als ich den Entschluss gefasst hatte, aufzustehen, ging die Tür auf. Ein Geburtstagslied singend und mit einem Tablett, auf dem ein Napfkuchen mit brennenden Kerzen bestückt stand, kamen meine Mitbewohnerinnen Luise und Marie ins Zimmer – gefolgt von Inga Söhnke. Zwischen all den Beinen wurschtelte sich Pablo durch und sprang mit einem Satz in mein Bett. Ich konnte es nicht fassen. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Schnell vergrub ich mein Gesicht in Pablos Fell, um die Tränen zu verbergen, die mir die Wangen herunterliefen.

„Alles Gute zum Geburtstag! Den Kuchen haben Luise und ich extra für dich gebacken!“, erklärte Marie. „Du musst die Kerzen auspusten!“, ergänzte Marie und hielt mir das Tablet entgegen.

Ich pustete und meine Überraschungsbesucher applaudierten.

Dann setzte sich Inga Söhnke zu mir auf das Bett. „Alles Liebe, Klara. Ich wünsche dir einen wunderschönen Geburtstagstag!“

Bevor ich etwas sagen konnte, drückte sie mir einen Kuss auf die rechte Wange. Ich wusste, dass mein Gesicht vor Verlegenheit rot angelaufen war.„Danke!“, krächzte ich und wusste nicht, was ich tun sollte. Zum Glück entspannte meine Erzieherin die Situation. Sie forderte uns auf, uns fertig zu machen, um dann zusammen unten zu frühstücken.

Ich war noch ganz überwältig von der Überraschung und wankte mehr oder weniger in den Waschraum. Als ich in den Spiegel schaute, fuhr ich mit den Fingerspitzen über die Stelle, auf die Inga Söhnke mich geküsst hatte. Ich starrte mein Gesicht an und stellte mir vor, wie sich ihre Küsse wohl auf meinem Mund anfühlen würden, und heiße Wellen durchliefen meinen Körper.

***

Zuerst hatten sich Lena und Martina über Klaras Einladung nur lustig gemacht. Klar, dass sie garantiert nicht zu der Geburtstagsfeier gehen würden. Dann aber bekam Lena doch ein komisches Gefühl, vielleicht war es an der Zeit, Frieden zu schließen. Immerhin waren Klara und sie einmal eng befreundet gewesen. Martina hatte dafür allerdings kein Verständnis, sie konnte Klara nicht leiden und daran würde sich bestimmt nie etwas ändern. Umso erstaunter war Lena, als Martina dann ihre Meinung änderte. Vielleicht war es doch eine gute Idee, zu der Feier zu gehen, meinte sie und grinste Lena geheimnisvoll an.

„Weißt du was, auf der Feier kann Klara uns beweisen, dass sie keine Lesbe ist.“

Lena schaute ihre Freundin ungläubig an. Wie sollte denn dieser Beweis aussehen.

„Ganz einfach. Wir bestellen ein paar Jungs auf die Fete. Und ich weiß auch schon, wen ich auf Klara ansetzen werde. Und zwar: King!“

„King?“, wiederholte Lena.

King, das war der Frauenaufreißer aus dem Dorf. Nie und nimmer würde der sich mit Klara abgeben. Die entsprach nun überhaupt nicht seinem Typ. Aber Martina gab sich zuversichtlich. Sie würde King schon dazu bringen, sich auf der Fete an Klara ranzumachen. Immerhin war das doch fair. Dann würde sich zeigen, ob Klara lesbisch war oder ob sie mit King rummachen würde. Es brauchte nicht viel Mühe, bis auch Lena von diesem Vorschlag überzeugt war. Schließlich sollte Klara nicht mit irgendeinem hässlichen Dorfbubi knutschen, sondern mit King, für den jedes normale Mädchen schwärmte. Als Geburtstagsgeschenk kauften die zwei Freundinnen eine Flasche Champagner. Sekt kam ihnen einfach zu billig vor. Alkohol war zwar verboten, aber ihrer Meinung nach gehörte Sekt einfach zu einer Geburtstagsfeier.

Jetzt standen sie im Waschraum vor den Spiegeln und schminkten sich. Sie wollten auf alle Fälle Eindruck auf die Jungen machen.

***

Für 18 Uhr hatte ich die Einladung angesetzt, nun wartete ich vor dem Holzhaus. Marie und Lucie hatten mir geholfen, die Musikanlage aufzubauen und Lichterketten zu installieren. Getränke, Chips. Käsestücke und mehrere Baguettes lagen bereit. Kurz nach 18 Uhr kamen die Mädchen, mit denen ich Fußball spielte. Von zwölf eingeladenen Mädchen kamen immerhin zehn. Zwei der Fußballerinnen waren übers Wochenende nach Hause gefahren. Um 19 Uhr war ich mir sicher, dass Lena und Martina nicht kommen würden. Eigentlich hätte ich ja erleichtert sein müssen, aber ich war enttäuscht. Hatte ich doch darauf gehofft, dass wenigstens Lena erscheinen würde.

„He, Klara, nicht so trübsinnig. Das ist dein Geburtstag!“, schrie Lucie, die ohne Scheu zu der Musik tanzte. Zusammen mit Wolfgang, ihrem Freund, der inzwischen auch angekommen war. Ich hatte nichts dagegen gehabt, als Lucie und Marie mich fragten, ob ihre Freunde auch kommen dürften. Ich ging in das Holzhaus und nahm mir eine Flasche Bier. Eigentlich mochte ich Bier nicht besonders, aber ich hatte das Gefühl, meinen Frust runterspülen zu müssen, und als mir Julia, unsere beste Torschützin, eine Zigarette anbot, sagte ich nicht Nein. Natürlich hatte ich schon hin und wieder eine geraucht, meistens dann, wenn mir eine angeboten wurde.

100 Mark hatten mir meine Eltern zu meinem Geburtstag mit einer fürchterlich kitschigen Karte geschickt. Sie hatten auch im Laufe des Tages einmal angerufen, wie mir Frau Söhnke berichtete, aber da war ich gerade mit Pablo unterwegs gewesen. Für einen erneuten Anruf fehlte ihnen wohl die Zeit, aber ich konnte ohnehin darauf verzichten.

Plötzlich kamen Lena und Martina. Mir blieb beinahe das Herz stehen, als sie vor mir standen. Sie hatten sich wie zu einem Discobesuch zurechtgemacht. Dagegen sah ich mal wieder wie eine graue Maus aus. Jeans, ein blaues T-Shirt und ein Sweatshirt waren mein Outfit. Dazu ausgelatschte Adidas-Turnschuhe. Kein Wunder, dass mich Martina abschätzig begutachtete.

„Hier, das ist unser Geburtstagsgeschenk!“ Lena reichte mir eine Flasche Champagner, die mit einer roten Schleife verziert war.

„Das ist Champagner, kein Sekt!“, klärte mich Martina auf und sicher hätte sie am liebsten auch noch den Preis verraten.

„Danke!“ Ich hielt die Flasche unsicher in der rechten Hand. In der linken befand sich immer noch die fast leere Bierflasche. „Wenn ihr etwas essen wollt, im Blockhaus steht alles. Auch Getränke.“

„Wenn wir gewusst hätten, dass du auf Bier stehst, hätten wir dir natürlich besser einen Kasten Bier geschenkt“, stichelte Martina.

„Unsinn“, fuhr Lena dazwischen. „Die Flasche wird jetzt getrunken. Klara, du musst sie öffnen, aber pass auf, dass nicht alles rausläuft!“

Ich hatte zwar schon Sektflaschen aufgemacht, aber noch nie eine Champagnerflasche. So vorsichtig wie nur möglich drehte ich den Korken, damit er langsam nach oben rutschte, und mit einem lauten Peng gab er den Inhalt der Flasche frei.

---ENDE DER LESEPROBE---