Kleider machen Bräute - Lucy Hepburn - E-Book
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Kleider machen Bräute E-Book

Lucy Hepburn

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Beschreibung

Von wegen Stadt der Liebe ...

Molly Wright verbringt mit ihrem Verlobten romantische Tage in Paris und ist sich sicher: Er wird ihr einen Heiratsantrag machen. Doch stattdessen trennt er sich von ihr! Zum Glück hat Molly keine Zeit, sich lange zu grämen, denn sie soll das Hochzeitskleid ihrer Schwester Caitlin beim Designer in Paris abholen und nach Venedig bringen, wo Caitlin bald heiraten wird. Als sie dabei Simon Foss kennenlernt, ist er zunächst nur ein weiteres Problem, das sie so gar nicht gebrauchen kann. Doch das soll sich ändern ...

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Das Buch

Molly Wright verbringt mit ihrem Verlobten romantische Tage in Paris und ist sich sicher: Jeden Moment wird er ihr einen Heiratsantrag machen. Doch beim Dinner im Mondschein an der Seine tut er stattdessen etwas ganz anderes – er trennt sich von ihr! Zum Glück kommt Molly gar nicht dazu, sich lange zu grämen, denn ihre Schwester Caitlin ruft sie mit einem dringenden Auftrag an. Molly soll Caitlins Hochzeitskleid beim Designer in Paris abholen und nach Venedig bringen, wo Caitlin in zwei Tagen heiraten wird. Doch kaum hält sie das Kleid in den Händen, geht alles schief. Als sie dann auch noch den attraktiven Simon Foss kennenlernt, ist er zunächst nur ein weiteres Problem, das sie so gar nicht gebrauchen kann. Doch das soll sich ändern …

Eine romantische Komödie zwischen Herzschmerz und Hochzeitschaos!

Die Autorin

Lucy Hepburn kann nie an einem Schuhladen vorbeigehen, ohne wenigstens einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Sie schrieb unterhaltsame Kurzgeschichten, um ihre Freunde bei der Arbeit zu amüsieren, bevor sie sich entschied, dass es an der Zeit war, sie stattdessen abendfüllend zu unterhalten. Ihre Inspiration sind die Dinge, ohne die keine Frau leben kann – ob es nun Schuhe sind, Handtaschen oder schicke Designerkleider. Kleider machen Bräute ist Lucy Hepburns vierter Roman.

LUCY HEPBURN

Kleider

machen

Bräute

ROMAN

Aus dem Englischen von Silvia Kinkel

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Titel der Originalausgabe ALL DRESSED UP

Vollständige deutsche Erstausgabe 05/2013

Copyright © 2012 by Lucy Hepburn

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Eisele Grafik·Design, München

unter Verwendung von Abbildungen

von © Masterfile Royalty Free;

Fotosmurf/Crestock/MasterfileSatz:

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-10268-5V002

www.heyne.de

1. Kapitel

Du siehst toll aus, Mol.«

»Es ist dir also aufgefallen.« Molly lächelte und spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen.

Das Restaurant war elegant, luxuriös, sehr pariserisch und lag weit über ihrem üblichen Preisniveau. Ein junger Pianist spielte langsamen Jazz, der unaufdringlich durch den Raum plätscherte, perfekt und unheimlichfranzösisch. Er sah gut aus in seinem schwarzen Anzug im Stil der 1960er, den Molly für einen frühen Christian Lacroix hielt.

»Dieses Restaurant hier aber auch«, sagte sie.

Reggie schwoll ein wenig die Brust, während er ihrem staunenden Blick folgte. »Nicht schlecht, was?«

»Danke, dass du mich hierhergebracht hast«, hauchte Molly. »Ich muss schon sagen, du bist heute echt gut darin, meine Träume wahr werden zu lassen.«

Reggie winkte ab und versteckte sein Gesicht hinter der Speisekarte. Wieder musste Molly lächeln und nagte an ihrer Unterlippe.

Sie fragte sich, wo er den Ring versteckt hatte.

Die Gourmetgerichte, die geschniegelte Kellner auf erhobenen Armen balancierten, waren lukullische Kunstwerke und dufteten köstlich. Reggie hatte ihr gesagt, sie solle nicht auf die Preise achten, aber das war einfach nicht möglich. Allerdings, murmelte er, würde er durchaus begrüßen, wenn sie nicht gerade den Hummer Thermidor bestellte. Sein Preis entsprach ihrem gemeinsamen wöchentlichen Lebensmittelbudget daheim in Yorkshire – auch unter Berücksichtigung des Wechselkurses.

»Wünschen Sie Wein zum Essen, Mademoiselle? Monsieur?« Der Oberkellner – Smoking, Schnurrbart und wie einem Film entsprungen – lächelte sie zuvorkommend an und sprach Englisch mit starkem französischem Akzent.

Molly sah Reggie an. »Wie du magst«, flüsterte sie.

»Ähm, vielleicht eine Flasche … Rotwein?« Reggie stockte und zuckte hilflos mit den Schultern.

Der Oberkellner nickte. »Wir hätten da einen sehr schönen Bordeaux, den Sie vielleicht probieren möchten?«

Molly registrierte dankbar, dass er auf den zweiten Wein von oben auf der Liste tippte, dessen Preis einem nicht ganz so das Wasser in die Augen trieb wie einige der anderen weiter unten.

»Das ist ein interessanter Malbec-Verschnitt«, fuhr der Kellner fort. »Unser Sommelier empfiehlt ihn sehr.«

»Oh, ein Malbec-Verschnitt?«, wiederholte Reggie. »Ausgezeichnet. Davon nehmen wir eine Flasche.«

Der Oberkellner verneigte sich und eilte davon. Molly kicherte und berührte Reggies Hand. »Netter Bluff, Kumpel.«

Reggie erwiderte ihr Lächeln nicht. Molly wusste, dass er nervös war. Genau wie sie. Ihr Magen hatte sich vor Erwartung zusammengezogen, aber für Reggie musste es bestimmt zehnmal schlimmer sein. Schließlich war er derjenige, der die Frage stellen musste.

Draußen floss träge die Seine dahin, vom Mondschein Ende August gespenstisch erleuchtet. Hin und wieder tuckerte eines dieser großen Boote vorbei, auf denen sich die Touristen tummelten. Wenn sie Notre-Dame passierten, gab es ein regelrechtes Blitzlichtgewitter. Die Kathedrale mit ihren Türmen und Spitzen lag am Ufer direkt gegenüber dem Restaurant und erhob sich majestätisch aus der Dunkelheit – was für ein Anblick! Molly wusste, dass echte Pariser auf diese unansehnlichen Touristenboote herabsahen, aber für sie machten sie diesen Ort für einen besonderen Anlass nur noch perfekter – wer würde nicht gern im Mondschein die Seine entlangschippern?

Molly spürte, wie ihr Gesicht rot anlief und sich höchstwahrscheinlich mit ihrem Kleid biss. Es war ein knielanges, bräunlich-rotes Satinballkleid aus den 1950er-Jahren, auf dessen Korsage sie liebevoll Perlen und Strasssteine in Form einer Lilie – ihrer Lieblingsblume – gestickt hatte. Die Farbe harmonierte wunderbar mit ihren langen, kastanienfarbenen Haar und den grünen Augen. Glühendrote Wangen hatte sie jedoch nicht einkalkuliert.

»Wie bist du denn auf dieses Restaurant gekommen?«, fragte sie in der Hoffnung, Reggie damit hinter der Speisekarte hervorzulocken und in die Gegenwart zurückzuholen.

»Google«, antwortete er und zuckte verlegen mit den Schultern.

Molly lächelte. »Und was hast du eingegeben, damit dieses Restaurant angezeigt wurde?«

Jetzt aber! Romantische Orte für einen Heiratsantrag …?

Endlich legte er die Speisekarte weg und umfasste ihre Hände. »Ich wollte es anständig machen, Molly.«

»Aha.«

Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie wünschte, er hätte es sofort hinter sich gebracht, gleich als sie sich setzten. Er hätte gefragt, sie hätte Ja gesagt, und das wär’s gewesen. Natürlich wäre es das gewesen. Welchen anderen Weg sollte ihre Beziehung denn nehmen? Nach vier gemeinsamen Jahren ohne nennenswerten Streit, abgerundet durch einen überraschenden Zwischenstopp in einer der romantischsten Städte dieser Welt? Sie würde sagen: »Ja, Reggie, ich will dich heiraten.«

Da gab es nicht viel zu überlegen.

Sie versuchte sich auf die Speisekarte zu konzentrieren und die günstigeren Gerichte zu übersetzen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was sie bestellen könnte. Dabei war Essen im Moment das Letzte, wonach ihr der Sinn stand, und die komplizierten Beschreibungen der Speisen verschwammen zu einem einzigen undeutlichen Irgendwas. Jus von diesem, Kompott von jenem …

»Guten Abend, Mademoiselle, Monsieur. Möchten Sie vielleicht den Wein probieren?« Der Oberkellner war durch einen jugendlich frisch aussehenden Nachwuchskellner in einem Anzug ersetzt worden, der ihm gut eine Nummer zu groß war. Nervös hielt er ihnen die Flasche zur Begutachtung hin.

»Sicher«, antwortete Reggie mit einer schnellen Grimasse in Mollys Richtung.

Reggie hatte keinen Schimmer, ob der Wein in Ordnung war oder nicht; er tat nur so. Molly kam es so vor, als würden sie beide Erwachsene spielen, und hob zur Ermutigung verstohlen den Daumen. Irgendwann einmal würden sie über diesen Abend lachen …

»Oh!«

Molly schrie leise auf. Der Kellner hatte sich mitsamt der Flasche vorgebeugt, das Glas verfehlt und eine Ladung Malbec auf das Revers von Reggies Jackett gespritzt.

»Pardon, Monsieur, ich bitte vielmals um Verzeihung!«, stammelte der junge Kellner entsetzt.

»Mein bestes Jackett!«

Genau genommen war es Reggies einziges Jackett. Molly lehnte sich zu ihm hinüber und tupfte mit einer Serviette darauf herum. »Das war ein Versehen, Reggie.«

»Mit dem man an einem Ort wie diesem nicht unbedingt rechnet, oder?«, flüsterte er ihr zu. »Schon gut, ich schenke selber ein.« Er entließ den sich immer noch entschuldigenden jungen Kellner mit einem Lächeln. »Das ist sicherer.«

Molly schwieg, während Reggie ihr Glas füllte. »Ich dachte, in Paris müssten die Kellner mindestens fünf Jahre lang die Kellnerschule besuchen, um zu lernen, wie man Gäste nicht mit Wein bekleckert.«

»Ist doch nicht so schlimm. So etwas passiert schon mal«, antwortete sie. Aber sie seufzte und nahm sein Jackett genauer in Augenschein. Von seinen Sachen war es ihr Lieblingsstück; schmal geschnitten, aus handgewebtem Harris-Tweed. Sie hatten es im Jahr zuvor bei einem Besuch des Edinburgh Festival gemeinsam gekauft. Und obwohl sie wusste, dass die Reinigung die Flecken wieder herausbekommen würde, konnte sie seine Verärgerung ein wenig nachvollziehen. Das Jackett war ein Stück Handwerkskunst, dafür gemacht, ein Leben lang zu halten, solange man es pfleglich behandelte.

Armer Reggie. Normalerweise war er nicht so empfindlich, aber der heutige Abend war nun mal eine große Sache.

Molly holte tief Luft und versuchte sich zu entspannen. Theoretisch sollte dieser Abend einer der prickelndsten, aufregendsten ihres Lebens sein. Aber als sie jetzt sah, wie Reggie verärgerte Blicke über die Schulter warf und an der Stelle mit den winzigen Tropfen des – für sie – kostspieligen Weins herumtupfte, zog sich ihr Magen noch mehr zusammen.

Im Nu war der Oberkellner wieder an ihrem Tisch, entschuldigte sich überschwänglich und bot an, das Jackett auf Kosten des Hauses reinigen zu lassen. Auch der junge Kellner tauchte mit hochroten Wangen wieder auf, stammelte seinerseits eine Entschuldigung, bevor er wieder fluchtartig in Richtung Küche entschwand. Als der Oberkellner dem Fliehenden eine Kopfnuss verpassen wollte, zuckten Molly und Reggie zusammen.

»Lassen Sie nur«, sagte Reggie. »Ich kümmere mich auf der Herrentoilette selbst darum.« Er sprang auf, stieß mit dem Knie gegen den Tisch und hätte um Haaresbreite die ohnehin schon angespannte Situation noch hundertmal schlimmer gemacht. Dann fasste er sich und zwang sich zu lächeln. »Ich bin gleich wieder da, Molly. Lass mir was vom Wein übrig, ja?«

»Ich werd’s versuchen«, antwortete Molly trocken und verdrehte die Augen.

Reggie schoss davon wie ein Blitz. Molly sah ihm nach und wusste, dass er lediglich eine Atempause brauchte, um seine Gedanken zu ordnen. So ging er immer mit stressigen Situationen um. Er entfernte sich vom Schauplatz, um eine andere Perspektive zu bekommen. Reggie war eben mit Leib und Seele Fotojournalist, eine Gabe, die ihm ganz sicher eines Tages den Ruhm und die Anerkennung einbringen würde, nach der er sich so sehnte.

Zu Beginn ihrer Beziehung fand sie es aufregend, mit diesem dynamischen, medienerfahrenen Mann zusammenzusein, der das Leben in Bildern sah, in Blickwinkeln und Stillleben. Ständig hielt er Ausschau nach der einen großen Aufnahme, dem einen Foto, das sein Leben verändern und die ganze Welt erschüttern würde, das Preise gewann und über das man sprach.

Er würde es gar nicht schätzen, wenn seine sorgfältig arrangierte Szene in einem Pariser Restaurant zum Slapstick eines »schusseligen Kellners« und »wütenden Restaurantbesuchers« verkamen, sondern sich schwarz ärgern über dieses Klischee. Ausgerechnet heute, am Abend aller Abende!

Molly trank einen Schluck Wein. Er war vermutlich köstlich, aber sie war viel zu nervös, um wirklich etwas zu schmecken. Noch einmal ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und fühlte sich mehr als je zuvor in ihrem Leben als Außenseiterin.

All das hier war ein bisschen erdrückend. Reggie war kühl und reizbar. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn er so war. Und besonders nicht an dem Abend, an dem er sie bitten würde, seine Ehefrau zu werden.

Ehefrau! Was für ein erwachsenes Wort. Ihre Kleinmädchenträume von diesem Abend, an dem sie in Freudentränen ausbrechen und sich ihrem Liebsten in die Arme werfen würde, entpuppten sich als genau das – Träume. Kindische Fantasien. In Wahrheit konnte sie sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal leidenschaftlich in Reggies Arme geworfen hatte.

Die ganz große Leidenschaft konnte aber vermutlich sowieso nicht von Dauer sein. Das hier war schließlich das echte Leben und kein Disney-Film. Menschen gewöhnen sich aneinander. Beziehungen verändern sich. Und nur weil sich bei ihr und Reggie eine Routine eingestellt hatte, sie nicht mehr so oft ausgingen, nicht mehr so viel miteinander lachten, hieß das ja nicht, dass sie nicht die Richtigen für einander waren. Stimmte doch, oder? Ihnen lag viel aneinander, und nur das zählte.

Sie glaubte wirklich daran, dass ihre Beziehung trotz zunehmender Routine stimmte. Sie wusste jedoch auch, sich nicht eingestehen zu wollen, dass der Druck in ihrem Magen nicht von der Aufregung oder freudiger Erwartung stammte.

Sie hatte Angst.

Wenn sie sich die anderen Gäste im Restaurant ansah, bestand kein Zweifel – sie waren in Paris. Hauptsächlich Paare, die Eleganz und unaufdringliche Raffinesse ausstrahlten und sich ununterbrochen miteinander unterhielten, begleitet von lebhaften Gesten und einem Mienenspiel, das so typisch europäisch war. Die Damen trugen alle tolle Frisuren von scheinbar unangestrengter Einfachheit, die für Molly von einem Lebensstil rührten, bei dem sorgfältige und kostspielige Schönheitspflege so normal war wie atmen.

Weitaus mehr interessierte sich Molly jedoch für die Garderobe der Damen. Mode war ihre Leidenschaft, ihre Berufung und der Hauptgrund, weshalb Reggies unerwarteter Vorschlag, auf dem Weg zur Hochzeit ihrer Schwester in Italien hier einen Zwischenstopp einzulegen, sie in schiere Ekstase versetzt hatte.

Und so starrte sie schamlos. Dort drüben in der Ecke saß eine Frau, die vom Alter her alles zwischen vierzig und achtzig sein konnte und ein Chanel-Kostüm trug – aus der aktuellen Kollektion! Molly hatte dieses Kostüm bisher nur einmal gesehen, auf einem Schwarz-Weiß-Foto in der britischen Vogue. Aber hier, in natura, versetzte seine Schönheit sie in entzücktes Schaudern. Dieser Schnitt! Dieser klare, knappe Saum und die Bordierungen – es war so unglaublich vollkommen! Und direkt dahinter eine stockdürre Dame in austerngrauem Balenciaga, das ihren Körper umspielte wie ein zärtliches Streicheln. Der Anblick erinnerte an die Marmorstatue einer griechischen Göttin. Mollys Herz schmolz dahin und am liebsten wäre sie hinübergelaufen, um die seidigen Falten zu berühren. So absonderlich wäre das doch nicht, oder? Die Trägerin würde es sicher verstehen.

Während Mollys Blick weiter durch den Raum wanderte, spulte sie im Kopf Namen von Modeschöpfern ab und vergaß, umgeben von diesem berauschenden Ansturm an Ikonen der Branche, unauffällig zu schauen. Der Hermès-Schal dort drüben, als Turban getragen – genial! Das graue, schmal geschnittene Kleid von Delametri Chevalier, perfekt wie immer. Wunderbar, Chevalier hatte es in dieser Saison wieder einmal geschafft, seit Jahren spielte er jetzt schon in der obersten Liga mit. Es war auch ein klassisches Yves-Saint-Laurent-Kostüm vertreten, vollendet getragen von einer Dame, die mindestens einsachtzig groß war. Molly kniff die Augen zusammen und fuhr mit ihrem Blick seine Konturen ab.

So hat er also die Abnäher an der Taille gearbeitet, dachte sie und war versucht, ihr Notizbuch zu zücken und sich eine Skizze zu machen. Ich könnte eine vereinfachte Version davon übernehmen. Jeder sollte die Möglichkeit haben, diesen Look zu tragen …

»Die Flecken sind weg.« Reggies Stimme holte sie zurück in die Realität … sofern man diese vergoldete Umgebung so bezeichnen konnte.

Für ein paar Augenblicke hatte sie sich so im Wiedererkennen dieser Kultlabels verloren, dass sie praktisch alles um sich herum vergessen hatte. Heute Nachmittag, als sie staunend vor den Schaufenstern der bekannten Modeboutiquen gestanden hatte und viel zu schüchtern gewesen war, um hineinzugehen, hatte sie sich wie ein Fan gefühlt, der hinter der Absperrung am roten Teppich steht und seine Idole aus der Ferne anhimmelt. Viele davon heute Abend tatsächlich vor sich zu haben, war so, als hätte sie eine VIP-Einladung zur Backstage-Party ihrer Träume erhalten.

»Denen schicke ich trotzdem eine saftige Reinigungsrechnung«, sagte er. »Wieso auch nicht?«

Der Knoten in ihrem Magen war wieder da. Fester noch als zuvor.

»Bitte, Reggie, lass das. Sie waren doch so nett zu uns. Sobald wir wieder zu Hause sind, bringen wir die Jacke zu dieser Spezialreinigung in Harrogate. Beim Smoking deines Vaters für meinen Abschlussball haben sie reine Wunder vollbracht, erinnerst du dich?«

»Hm, ja sicher. Also gut.« Reggie nahm sein Glas und trank es auf einen Zug halb leer. Dabei wich er ihrem Blick aus.

Molly schüttelte den Kopf und kämpfte gegen die aufsteigende Wut an. Er war hier nicht der Einzige, der sich abstrampelte!

Der Oberkellner kehrte zurück und füllte schweigend Reggies Glas so vorsichtig nach, als hätte er es mit einem Neugeborenen zu tun.

»Ich bitte nochmals um Entschuldigung, Monsieur. Diese Flasche Wein geht aufs Haus.«

Reggie nickte dem Mann gnädig zu, aber Molly konnte sehen, wie er unter dem Tisch die Faust zu einer Siegerpose ballte. Ihre Wangen wurden noch heißer.

»Möchten Sie jetzt bestellen?«

»Später«, erwiderte Reggie. Der Oberkellner deutete einen Diener an und ging.

»Sei bitte nicht so«, konnte es sich Molly nicht verkneifen. Sie griff nach Reggies Hand. Warm fühlte sie sich an und vertraut und schien sich unter ihrer Berührung allmählich zu entspannen.

»Tut mir leid«, sagte er und senkte den Kopf. »Du hast ja recht.« Dann richtete er sich kerzengerade auf und war wieder genauso nervös wie zuvor.

Jetzt vielleicht?, dachte Molly. Aber Reggie machte weder Anstalten, vom Stuhl zu rutschen und vor ihr auf die Knie zu fallen, noch griff er in die Tasche, um den Ring herauszuholen.

Vielleicht hatte er aber auch am Nachmittag, als er für eine Stunde verschwand, um »ein bisschen zu shoppen«, nicht den richtigen gefunden?

Sie war sicher, dass er wegen eines Rings unterwegs gewesen war. Reggie ging nie shoppen. Es war eine lästige Pflicht, der er nur selten nachkam, und wenn, dann gewöhnlich per Internet. Aber heute Nachmittag war er so gut gelaunt gewesen, hatte sie auf die Wange geküsst und gesagt, er müsse ein paar Kleinigkeiten an der Place Vendôme besorgen. Und er wollte allein losziehen. Das hatte er natürlich anders verpackt. Angeblich wollte er ihr ein bisschen Zeit für ihr »Fashion Stalking« geben, wie er es nannte, aber sein Verhalten hatte alles gesagt. Und ihr Verdacht wurde nur noch mehr bestärkt, weil er zur Place Vendôme wollte – dieser Platz war schließlich berühmt für seine Juweliere.

Nachdem er weg war, hatte sie in den Reiseunterlagen nach ihrer Metrokarte gesucht und einen Kontoauszug gefunden. Eine lange Reihe von Nullen fiel ihr ins Auge. Reggie hatte am Vortag über eintausend Euro abgehoben und damit seinen Kontostand in die Miesen gebracht. Eintausend Euro! Was für einen Diamanten konnte man mit so viel Geld wohl kaufen? Wahrscheinlich keinen sehr großen. Außerdem hatte er immer gewollt, dass sie sich ihren Ring selbst aussuchte. Sie wäre zu gern bereit gewesen zu warten. Zu gern …

»Ich wollte dich heute Abend an einen besonderen Ort ausführen …«

»Und das war sehr aufmerksam von dir!«, fiel Molly ihm ins Wort, plötzlich von dem Drang überwältigt, Zeit zu schinden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Alle reden bloß noch über Caitlins Hochzeit. Deshalb ist es echt süß von dir, dass du das für mich tust.«

Ein feiner Schweißfilm schimmerte auf seiner Stirn. Er nagte an der Unterlippe und sein Blick irrte nervös durch den Raum.

Dann nahm er einen großen Schluck Wein. »Ja, also, ich muss …«

»Das perfekte Timing! Ich meine, ist doch schön, dass wir uns mal was gönnen, nicht wahr? Denn wenn wir in Venedig ankommen, wird die Hochzeit in vollem Gange sein, wie ich meine Schwester kenne …«

»Molly …«

»Drei Tage!« Reggie sah sie stirnrunzelnd an, aber Molly hörte nicht auf. »Caitlin erwartet tatsächlich, dass alle zu einer Hochzeit kommen, die drei Tage dauert! Allerdings braucht sie vermutlich mindestens drei Tage, um all die affektierten Italiener zu begrüßen, die Francesco eingeladen hat.« Sie stieß ein übertriebenes Lachen aus. Was war nur los mit ihr? »Vierhundertachtzig seiner engsten Freunde! Von denen vermutlich keiner weniger als eine Milliarde schwer ist, auch …«

»Molly?«

»Promis, Bankiers, unbedeutendere Mitglieder von Königshäusern – was genau ist das eigentlich? Weniger als ein Prinz? Oder jemand aus einem kleinen Land wie Liechtenstein oder Monaco?«

Reggie schüttelte den Kopf. Molly war bewusst, dass er ihr gar nicht zuhörte, aber sie redete weiter.

»Egal. Das werden wir Montag ja rausfinden. Caitlin will wohl unbedingt Kate Middleton spielen. Sie hat behauptet, dass ihr Paparazzi auflauern – kannst du dir das vorstellen?«

»Nein.« Er wich ihrem Blick aus.

»Weißt du, Reggie, ich habe jedes winzige, qualvolle Detail der Vorbereitungen für diese Veranstaltung miterlebt. Manchmal denke ich, wir bräuchten gar nicht hin, ich habe alles Dutzende Male mit meiner Schwester am Telefon durchgesprochen – abgesehen vom Kleid natürlich.«

»Das Kleid …«, sagte er und seufzte.

»Ach, darüber bin ich weg«, erklärte sie und setzte ihr überzeugendstes »Alles in Ordnung«-Gesicht auf. »Über das Kleid, meine ich. Natürlich bin ich drüber weg. Aber es kommt mir so vor, als hätte die Hochzeit schon stattgefunden. Sie ist jetzt schon so lange ein großer Teil unseres Lebens. Diese ganzen Einzelheiten! Wer hätte gedacht, dass eine spezielle Auswahl an kandierten Mandeln so wichtig sein kann?«

Ihr war klar, dass sie im Schnellsprechmodus war, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, Zeit gewinnen zu müssen. Sie hatte all das zuvor schon einmal gesagt, und noch sehr viel mehr über das bevorstehende große Ereignis, das sie beide sarkastisch als »Die Promi-Hochzeit des Jahrhunderts« bezeichneten. Aber sie musste einfach weiterreden. Bis wie durch Zauber irgendetwas geschah, das sie davon überzeugte, das Richtige zu tun, wenn Reggie es endlich schaffte, sie zu fragen.

Wie lange es auch dauern würde.

Reggie räusperte sich. Laut und deutlich.

Molly entspannte sich. »Also, ja, jedenfalls … Paris … ist toll … nicht wahr? Es ist wirklich toll, Reggie. Ich danke dir.«

Das war’s. Sie steckte fest.

»Ich muss dir etwas sagen, Mol.«

»Tatsächlich?« Das war ihr so rausgerutscht, bevor sie sich zurückhalten konnte. »Heute Abend?«

»Ja«, antwortete er und biss sich auf die Lippe. »Ja, heute Abend.«

»Okay. Schieß los.«

Sie sah in seine rauchgrauen Augen, suchte darin nach einem Anhaltspunkt für die Antwort, die sie geben könnte.

»Du bist ein tolles Mädchen, Molly.« Sein Blick wanderte zum Boden. »Und …«

»Und du ein toller Junge, Reggie.«

»Und …« Er verstummte, blickte überall hin, nur nicht in ihre Augen.

»Ja?« Molly hielt den Atem an.

»Und das ist ein tolles Kleid. Wirklich hübsche … Träger.« Hilflos zuckte er mit den Schultern.

Mollys Herz schmolz dahin. Was Modebegriffe anging, war er hoffnungslos verloren, aber er bemühte sich. Sie berührte seine Hand. »Mir gefallen auch vor allem die Träger.«

Molly wusste, dass es für ihn genauso schwierig war wie für sie.

»Es ist ein Klassiker«, sagte sie leise.

»Wie bitte?« Reggie sah sie verwirrt an.

»Das Kleid. Alexander MacQueen. Ein Vorführmodell. Habe ich über ebay gekauft.«

Warum sprach sie über das Kleid? Aber vor allem: Warum tat er es?

»Hast du gut gemacht. Es ist … toll. Steht dir.«

Der Pianist hatte aufgehört zu spielen. Flüchtiger Applaus erfüllte den Raum. Reggie blickte sich verlegen um und applaudierte ebenfalls, wobei seine Hände keinerlei Geräusch verursachten.

Er zögert es hinaus, dachte Molly.

Als er sich ihr wieder zuwandte, sah sie, dass er tief Luft holte. »Paris ist dein Heiliger Gral, stimmt’s?«

Molly runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Hier sind alle bekannten lebenden Modeschöpfer.«

»Und die toten auch«, korrigierte sie ihn.

»Natürlich. Die auch.«

Molly lachte künstlich. Reggie stimmte nicht mit ein. Natürlich war ihre Bemerkung nicht lustig gewesen, aber trotzdem.

»Das ist für dich, Molly«, flüsterte er.

Sie sog hörbar die Luft ein und blickte auf seine Hände. Aber da war kein Ring. Jetzt war sie verwirrt. »Wie meinst du das?«

Er beugte sich vor. »Paris. Paris ist für dich.«

»Ach so. Stimmt.« Das war ein verdammt komplizierter Heiratsantrag.

»Eines Tages wirst auch du hier sein. Genauso berühmt wie die Besten von ihnen. Das weiß ich einfach.«

»Nun ja … so sieht zumindest die Planung aus.«

»Ich hatte mir versprochen, dich eines Tages herzubringen, damit du dir ein Bild machen kannst.« Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. »Und das ist jetzt der Moment.«

Das war’s.

»Meine letzte Chance.«

Jetzt kam es.

»Die Sache ist die …«

»Reggie Pine, würdest du mir bitte sagen, worauf du hinaus willst?« Und dann durchfuhr sie ein schrecklicher Gedanke. »Was meinst du mit ›letzte Chance‹? Du bist doch nicht etwa krank?« Sie hielt die Luft an.

Endlich sah er ihr in die Augen und erkannte die panische Angst darin. »Nein, ich bin nicht krank.«

»Was ist denn dann los, um Himmels willen?« Fingen etwa alle Verlobungen so an?

»Ich werde weggehen, Mol.«

Für einen Moment herrschte im ganzen Restaurant Totenstille. Kein Gläserklirren, kein Geplauder, keine Klaviermusik, kein Lufthauch.

»Wie bitte?«

»Ich gehe nach L. A.«, sagte er mit heiserer Stimme. »Hollywood, um genau zu sein.«

»Oh.« Was?

»Ich habe es gerade erst erfahren.«

Wie bitte?

Molly zerbrach sich den Kopf, aber ihr Gehirn funktionierte nicht. Sie erinnerte sich vage daran, dass Reggie in den kommenden Wochen ein paar Aufträge für Fotoreportagen in verschiedenen Ländern hatte. Aber soweit sie wusste, hatte L. A. nicht auf der Liste gestanden.

»Warum?«, flüsterte sie. In ihrer Kehle formte sich ein Kloß.

Winzige Schweißperlen hatten sich auf Reggies Stirn gebildet. Er rieb sich den Nacken.

»Du weißt, dass ich seit Ewigkeiten auf meine große Chance warte.«

»Natürlich weiß ich das.« Reggie war seit Jahren frustriert, weil sich seine Karriere nicht wie erhofft entwickelte. Molly wusste das nur allzu gut.

»Nun ja«, sagte er und sah ihr in die Augen. »Jetzt ist es passiert.«

»Es ist was?« In ihrem Kopf drehte sich alles.

»Du erinnerst dich an Hughie?«

»Ja.«

»Er braucht mich für ein Projekt.«

»Tut er das?« Warum sprach sie nur noch in Sätzen, die aus maximal drei Wörtern bestanden? Aber zu mehr war ihr Gehirn momentan nicht in der Lage.

Reggie nickte. »Kennst du Howard Schulz, den Avantgarde-Künstler?«

»Nein.« Sie sah ihn stirnrunzelnd an und wünschte, er würde endlich deutlich werden. »Tut mir ja leid, Reggie, aber du weißt doch, Namen wie Lanvin sagen dir auch nichts.«

Er nickte.

»Für mich ist Howard Schulz vermutlich das, was Lanvin für dich ist. Können wir uns darauf einigen?« Sie lachte kurz.

»Unser Interesse am Beruf des anderen ist irgendwie nicht besonders ausgeprägt, wie?«

Reggie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Vermutlich nicht.« Er beugte sich vor. »Nun ja, Howard Schulz wird bald hundert und hat zum ersten Mal grünes Licht für eine Fotoretrospektive über sein Leben und seine Arbeit gegeben.« Reggies Lächeln wurde zusehends breiter und ungekünstelter. »Und Hughie möchte, dass ich bei dieser Sache mit ihm zusammenarbeite!«

Mollys Stirnrunzeln verstärkte sich. »Reggie, seit wann weißt du das schon?« Sie war zutiefst verwirrt.

Jetzt fing Reggie damit an, seine Gabel genauer in Augenschein zu nehmen. »Noch nicht lange. Es ist alles, na ja, ziemlich plötzlich gekommen. Ehrlich gesagt hatte ich noch gar keine Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen. Ich dachte, ich würde einfach nach Paris fahren und …«

»Und?«, drängte Molly. Irgendetwas lief hier fürchterlich schief.

Aber er zuckte nur mit den Schultern und sah sich im Restaurant um, als würde er nach Fluchtwegen Ausschau halten.

»Reggie? Hast du vor, irgendwann in nächster Zeit wegzugehen?«

Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schloss die Augen.

»Noch heute Nacht.«

Molly verspürte einen Stich in der Herzgegend. Es war so heftig, dass sie sich fragte, ob ihr jemand ein Messer hineingestoßen hatte.

»Mein Flug geht um Mitternacht vom Charles de Gaulle«, sagte er, und die Heiserkeit war in seine Stimme zurückgekehrt. »Hughie hat mir ein Zimmer organisiert.«

Einen Moment lang hätte Molly schwören können, Reggie habe ihr gerade erzählt, er werde noch diese Nacht nach Los Angeles aufbrechen. Er würde ihr keinen Antrag machen und auch nicht zu Caitlins Hochzeit gehen. Caitlins Hochzeit! Die Tischordnung! Caitlin würde …

»Möchten Sie jetzt bestellen?« Wie aus dem Nichts war der Oberkellner wieder aufgetaucht.

»Nein!«, erwiderten sie im Chor.

»Danke«, fügte Molly hinzu, als der Kellner auf dem Absatz kehrtmachte, vermutlich, um seine Irritation zu verbergen, und davonstolzierte.

»Es tut mir so leid, Molly«, sagte Reggie und umklammerte ihre Hände.

»Was ist mit der Hochzeit?«, war alles, woran sie denken konnte. Sie zog ihre Hände weg.

»Ich kann da nicht hin«, murmelte er.

»Was?«, schrie Molly. »Caitlin wird ausflippen! Sie hat Platzkarten mit Goldprägung! Vierhundertachtzig Stück, und deine steht auf dem Tisch mit dem Brautpaar!«

»Es ist alles so schnell gegangen«, stotterte Reggie herum. »Es hat nicht den richtigen Zeitpunkt gegeben, es dir zu sagen. Ich wusste, dass ich nicht mit dir zu der Hochzeit gehen kann, aber ich dachte, ich könnte wenigstens … das hier …« Er breitete die Arme aus, als wolle er das Restaurant, ihre Beziehung und ganz Paris auf einen Streich umfassen.

»Für … wie lange?«, stammelte Molly. Allmählich sickerte es in ihr Bewusstsein. Reggie würde sie tatsächlich verlassen, um einen Job in L. A. anzunehmen. Und er ließ sie in Paris zurück …

Reggie seufzte und streckte sich. Dann beugte er sich vor und ergriff wieder Mollys Hände. Seine Finger waren klamm.

»Genau das ist es ja, Mol.«

»Es gibt noch etwas?«

Er nickte und fuhr mit gequälter Stimme fort. »Ich muss diese Chance ergreifen, und es ist endgültig. Ich werde mir einen Agenten suchen und mir da drüben einen Namen machen.«

Molly konnte es einfach nicht glauben.

»Ich bin neunundzwanzig, und ich werde nicht jünger.«

Dieses Gespräch wurde immer unwirklicher.

»Wenn ich sowieso schon mal da drüben bin, werde ich mir ein Netzwerk aufbauen und dafür sorgen, dass meine Arbeiten gezeigt werden. Ich werde eine Arbeitserlaubnis beantragen …«

»Wie lange, Reggie?«, wiederholte Molly. Ihre Stimme klang sonderbar fremd.

»Ich weiß es nicht.« Reggie zuckte mit den Schultern. »So lange, wie es eben dauert.«

Sie lächelte ihn an und wunderte sich, dass sie so ruhig blieb. Vermutlich stand sie unter Schock. »Mannomann! Du verlässt mich also. Du trennst dich von mir.«

»Es tut mir leid, Mol, aber du und ich, wir brauchen mal etwas Abstand …«

»Du trennst dich von mir«, wiederholte sie.

Sein Schweigen sagte alles. Molly ließ die Schultern hängen und lehnte sich zurück. Sie versuchte zu verarbeiten, was er gerade gesagt hatte, und wartete darauf, in hemmungsloses Schluchzen auszubrechen oder einen hysterischen Anfall zu bekommen. Vielleicht sollte sie einfach aufstehen und ihm Schimpfworte an den Kopf werfen. Oder würde sie jeden Moment ohnmächtig werden?

Wie sich herausstellte, geschah nichts davon.

»Mir ist klar, dass ich dir früher davon hätte erzählen müssen«, murmelte Reggie.

Molly stieß ein verächtliches Lachen aus. »Das ist die Untertreibung des Jahres.«

»Aber in letzter Zeit lief es mit uns auch nicht mehr so prima, stimmt doch, oder?« Er sah ihr fragend in die Augen, ganz offensichtlich wollte er, dass sie ihm zustimmte und sein Verhalten absegnete. »Zwischen uns ist es nicht mehr so wie am Anfang. Ich meine, du bist ein tolles Mädchen und alles …«

»Das ist dir also nicht entgangen.« Molly wusste nicht, wo dieser sarkastische Tonfall plötzlich herkam. Aber sie hatte auch keine Ahnung, ob sie wütend oder verzweifelt sein sollte.

»Natürlich ist mir das nicht entgangen!«, erwiderte er. »Aber wir wollen unterschiedliche Dinge vom Leben … und das an unterschiedlichen Orten.«

Zwischen Los Angeles und Yorkshire zu pendeln war kein Pappenstiel, das stand mal fest. Plötzlich beschäftigte sich Molly mit der albernen Frage, was er nun mit dem Ring anfangen würde. Es dauerte ein bisschen, bis ihr dämmerte, dass es gar keinen Ring gab. Es hatte nie einen gegeben.

»Wo warst du heute Nachmittag?« Sie war wirklich gespannt auf die Antwort.

Der plötzliche Themenwechsel überraschte ihn offensichtlich. »Oh … ich … ähm … ich habe ein Teleobjektiv gekauft.«

Ein Teleobjektiv. Ich wette, diese Dinger sind ziemlich teuer, dachte Molly.

»Ich werde da drüben ein richtig gutes brauchen, und hinter der Place Vendôme gibt es dieses Fachgeschäft, das mir ein Superangebot gemacht hat.«

»Lass mich raten. Etwas über tausend Euro?«

Reggie sah sie verdutzt an.

»Ich habe den Kontoauszug gesehen.«

»Oh.«

Bleiernes Schweigen senkte sich über sie. Reggie leerte sein Weinglas. Er wirkte am Boden zerstört, und seltsamerweise verspürte Molly Mitleid mit ihm.

»Heute Nacht?«, flüsterte sie.

»Molly …«

Aber jetzt war sie an der Reihe mit Reden. »Hör zu, Reggie, ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Ich bin geschockt.«

»Ich bin so …«

»Ich wünschte, du hättest früher mit mir gesprochen … aber, weißt du was? Streich das. Für so etwas gibt es nie den richtigen Moment.«

»Wir hatten eine schöne Zeit.« Reggie war ein Häufchen Elend, schlimmer noch, als es der Kellner gewesen war, nachdem er den Wein verschüttet hatte. Reggie schien genauso zu leiden wie sie.

Molly spürte ihre Miene sanfter werden. Es war sinnlos, das zu bestreiten. »Ja, die hatten wir.« Dann verfiel sie in Schweigen.

Der Oberkellner tauchte hinter Reggie auf, den Bestellblock demonstrativ in der Hand und seine Miene eine starre Maske geduldigen Wartens.

»Sollen wir jetzt essen?«, fragte Reggie mit matter Stimme.

»Essen?«

»Du weißt schon, das, was Menschen normalerweise in Restaurants tun.«

Molly schüttelte den Kopf, und Reggie nickte nach kurzem Zögern zustimmend.

»Tut mir leid«, sagte er zu dem Oberkellner. »Aber ich fürchte, wir müssen gehen. Die Rechnung für den Wein, bitte. Nein, warten Sie. Der geht aufs Haus, nicht wahr?«

Von einem Moment auf den anderen verwandelte sich die ruhige Unterwürfigkeit im Gesicht des Kellners in flammende Empörung. »Sie, Monsieur, verursachen nichts als Ärger! Wenn Sie in meinem Restaurant einen Tisch reservieren, erwarte ich, dass Sie auch dafür bezahlen!«

»Lauf!« Reggie packte Molly an der Hand und zog sie in Richtung Ausgang.

»Reggie!«, keuchte Molly, schnappte sich ihre Handtasche und flitzte hinter ihm her zum Ausgang, vorbei an den Reihen schicker Pariser, die sich besser zu benehmen wussten als sie beide.

Sie rannten aus dem Restaurant und die Stufen hinunter auf die Straße. Der Kellner kam ihnen nach draußen hinterhergelaufen, und Molly war froh, dass sie nicht genügend französische Schimpfwörter kannte, um zu verstehen, was er ihnen nachrief. Sie blieben erst stehen, als sie um die Ecke gebogen waren und sicher sein konnten, dass ihnen niemand folgte.

Atemlos sah Molly Reggie an und merkte, dass sie lächelte. »Du bist mir vielleicht einer, Reggie.«

Er schüttelte den Kopf. Seine Lippen zitterten, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen. »Ich fühle mich schrecklich.«

Sie strich über die vertrauten Stoppeln auf seiner Wange. »Ich kann nicht fassen, was du mir gerade angetan hast.«

»Es tut mir leid.«

»Das weiß ich.« Sie atmete hörbar aus und blickte zurück in Richtung Restaurant. »Aber jetzt sollten wir ein bisschen Abstand zwischen uns und diesen Ort bringen. Nur für den Fall, dass der Manager die Polizei ruft.«

Sie gingen zu Fuß das kurze Stück bis zum Seine-Ufer. Die warme Luft des Frühherbstes, erfüllt von den Geräuschen und Düften von Paris, umhüllte sie. Einen Moment lang sahen sie genauso aus wie die Dutzende, Hunderte verliebter Paare, die in Zweisamkeit versunken am Ufer entlangspazierten. Molly hakte sich bei Reggie ein und wollte in Richtung des Apartments abbiegen, das sie gemietet hatten.

Aber Reggie machte sich behutsam von ihr los und sah sie an.

»Ich gehe hier lang«, sagte er und deutete in die entgegensetzte Richtung. »Der Flug …«

Seine Worte hatten den schrecklichen Beigeschmack von Endgültigkeit. Molly spürte einen Stich in der Magengegend. »Oh«, sagte sie dumpf. »Sicher, in Ordnung.« Dann fiel ihr etwas ein. »Was ist mit deinen Sachen?«

»Die habe ich zum Flughafen geschickt, bevor wir losgegangen sind«, gestand er und betrachtete seine Schuhe.

Dieses simple Detail schmerzte aus irgendeinem Grund mehr als alles, was er zuvor gesagt hatte. Molly blinzelte angestrengt, um die Tränen zurückzuhalten. »Kein Wunder, dass das Zimmer so aufgeräumt war!«, entfuhr es ihr spitz. »Offensichtlich hast du alles schon seit Ewigkeiten geplant. Du hast ganz schön Nerven, mir das hier und auf diese Weise zu sagen und …«

Er zog sie an sich und küsste sie auf den Mund, langsam und zärtlich. Mollys erster Reflex war, ihn wegzustoßen. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich nie wieder küssen würden. Daraufhin erwiderte sie seinen Kuss und kostete den Moment bis ins Letzte aus.

»Pass gut auf dich auf, Molly«, sagte Reggie mit erstickter Stimme. »Danke für vier wundervolle Jahre.«

Sie konnte nur nicken.

»Ach, und Caitlins Hochzeit«, fuhr er fort. »Sag ihr bitte, dass es mir leid tut. Und wünsch ihr von mir, du weißt schon, das Übliche.« Das feuchte Glitzern in seinen Augen war unverkennbar.

»Sicher.« Molly nickte.

»Mach’s gut«, sagte er, und jetzt liefen ihm die Tränen über die Wangen. Dann wandte er sich ab und ging mit schnellen Schritten zur Metrostation am Seine-Ufer.

Ich dachte, ich würde diesen Abend mit einem Verlobten beenden, dachte Molly. Stattdessen bin ich Single. Zitternd atmete sie tief ein. Und was jetzt?

2. Kapitel

Die Liebespaare, die im Mondschein am Seine-Ufer entlangspazierten, hatten für Molly nichts Romantisches mehr. Als sie zusah, wie Reggie die Stufen zur Metro hinablief, ohne sich noch einmal umzudrehen, kamen sie ihr sogar vor wie der blanke Hohn. Sie drehte sich um, ging in Richtung ihres Apartments und kam sich auffallend und lächerlich allein vor.

Wie aufs Stichwort blieb das Pärchen unmittelbar vor ihr stehen und küsste sich. Molly musste ausweichen, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen, dabei wäre sie mit ihren hohen Absätzen beinahe umgeknickt.

Ein älteres Paar, das Arm in Arm einen winzigen Hund spazierenführte, der aussah wie ein flauschiges Knäuel, bot ein solches Abbild lebenslanger Zufriedenheit, dass Molly die beiden finster anstarrte.

Ein Straßenhändler, die Arme voller Rosen, bot seine Ware inmitten dieser Schau der Liebenden feil. Er hielt eine Rose in der ausgestreckten Hand und signalisierte den Männern mit anzüglichem Zwinkern, allein der Erwerb einer Rose werde ihnen Bettfreuden für diese Nacht garantieren. Als Molly an ihm vorbeiging, trat er einen Schritt zurück und ließ sie passieren.

In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander.

Wer verjagt jetzt die Spinnen aus meiner Badewanne?

Ich muss die Wohnung aufgeben – für mich allein ist die Miete zu hoch.

Caitlin wird ausflippen. Ihre Tischordnung ist Makulatur.

Was wird Mom dazu sagen?

Wer zieht den Reißverschluss an meinem Brautjungfernkleid hoch?

Wer wird mit mir tanzen?

Reggie war soeben aus ihrem Leben verschwunden. Noch immer wartete sie darauf, dass sie zusammenbrach. Vermutlich war sie noch zu betäubt.

Mit seinen 29 Jahren war Reggie fünf Jahre älter als sie, in vielerlei Hinsicht aber um einiges unreifer. Seine angeberische Zurschaustellung von Gegensätzen hatte sie oft wahnsinnig gemacht. Er mochte Röhrenjeans zu Großvaterhemden. Gepflegte Kurzhaarschnitte zu struppigen Bartstoppeln. Champagner und Fischfinger. Sonntags Mittagessen im Pub auf dem Land und ein Penthouse in New York – er hatte geschworen, irgendwann mal eines zu besitzen –, wenn er erst einmal reich wäre.

Molly lächelte bei dem Gedanken, bis ihr klar wurde, dass sie das nicht miterleben würde.

»Reggie?«, rief sie und wirbelte herum.

Die Metrostation war bereits außer Sichtweite und von Reggie weit und breit keine Spur.

Sie stolperte zurück in Richtung Metro. Fragen stürmten auf sie ein. Sie musste ihn unbedingt noch erwischen. Wieso konnte sie nicht mit ihm nach L. A. gehen? Oder ihn wenigstens besuchen, sobald er sich eingelebt hatte? Vielleicht würde ihre Beziehung in der neuen Umgebung wieder etwas von der Frische zurückgewinnen, die er in den letzten Monaten vermisst hatte. Oder im letzten Jahr? In den letzten zwei Jahren?

Und wenn sie sich heute Abend zum ersten Mal eingestanden hatten, dass alles eintönige Gewohnheit geworden war, dann sollten sie vielleicht daran arbeiten. Warum hatte sie nicht um ihn gekämpft? Wie hatte sie vier Jahre so einfach abschreiben können?

Wenn er nun der Richtige war und sie zu selbstgefällig, um es zu merken?

Ihre silbernen Riemchensandaletten mochten es gar nicht, wie schnell sie am Seine-Ufer entlanglief. Nach fünfzig Metern musste sie dem Bogen eines Geigenspielers ausweichen, der den Liebespaaren ein Ständchen brachte. Dabei stolperte sie, stürzte zu Boden und zerriss sich den Saum ihres Kleids.

»Argh!«

Das weiche Gras zwischen Gehweg und Straße dämpfte zum Glück ihren Fall. Es wäre typisch für sie, wenn sie sich in dieser Nacht der Nächte auch noch den Kopf aufgeschlagen hätte.

»Mademoiselle!«

Der Geiger und mehrere Passanten kamen herbeigeeilt.

Sie halfen ihr so behutsam und freundlich auf, dass Molly zu weinen begann. »Tut mir leid, alles in Ordnung,merci beaucoup, vielen Dank …«

Verlegen und voller Grashalme versicherte sie den freundlichen Parisern, dass sie unverletzt sei, und ließ sich auf eine Bank ganz in der Nähe fallen. Schluchzend untersuchte sie den Schaden. Sie dachte daran, wie sie das Kleid an diesem Abend angezogen hatte, den Rock glattgestrichen und sich gefragt hatte, ob es in Tulpenform vielleicht noch besser aussähe als bauschig. Wie es aussah, war der gerissene Saum leicht zu reparieren. Schön, jetzt hatte sie die perfekte Entschuldigung, es umzuschneidern. Obwohl sie sich im Moment nicht vorstellen konnte, es jemals wieder auch nur anzusehen. Ihr Trennungskleid.

Molly wischte sich die Tränen von den Wangen und sah sich um.

Sie wollte nicht mehr rennen.

Zur Metrostation ging es da lang. Zur ihrem einsamen Apartment in die andere Richtung. Molly blickte über die Schulter und entdeckte in einem abgedunkelten Schaufenster ihr Spiegelbild. Sie runzelte die Stirn.

Mir wird nicht das Herz brechen.

Ich bin traurig. Ich bin allein.

Aber mein Herz ist nicht gebrochen, nur … ein bisschen zerrissen, so wie mein Kleid.

Und diese Dinge kann man flicken, oder?

Ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, befand sie sich plötzlich auf dem Rückweg zu ihrem Apartment. Sie hielt den zerfetzten Saum von den Schuhen fern und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Noch vor einer Stunde hatte sie gedacht, sie würde sich verloben, und jetzt kam es ihr so vor, als wäre dies der Traum einer anderen jungen Frau gewesen.

Stattdessen hatte Reggie den Wirt auf spektakuläre Weise um die Zeche geprellt, und sie war allein und nicht verlobt. Sie hatte nicht einmal mehr einen Freund.

Seltsam, dachte sie. »Ich bin frei.« Was fange ich jetzt damit an?

Sie hatte absolut keine Vorstellung, abgesehen davon, inihr Apartment zurückzukehren und hemmungslos zu weinen. Und danach? Nun, sie würde erhobenen Hauptes dastehen und alleine zu Caitlins Hochzeit gehen müssen, sich für ihre Schwester bemühen, fröhlich zu sein. Und danach? Ihr Leben allein weiterleben. Denn Reggie war weg.

Sie musste ins Apartment zurück. Sie würde sich auf das große Bett werfen und hoffen, dass das Karussell in ihrem Kopf endlich aufhörte, sich zu drehen. Und dann mit ein bisschen Glück zehn Stunden schlafen.

Sie dachte an den letzten zärtlichen Kuss. In diesem Moment klingelte ihr Handy und sie wäre vor Schreck beinahe ohnmächtig geworden.

Reggie! Ihm war klar geworden, dass er einen Riesenfehler begangen hatte, er suchte verzweifelt nach ihr und wollte alles rückgängig machen.

Hektisch wühlte sie in ihrer Handtasche. Ihre Finger waren so unbeholfen, als hätten sie sich allesamt in Daumen verwandelt. Endlich fand sie das Handy, zog es heraus und …

… er war es nicht.

Stattdessen leuchteten ihr Caitlins Name und ihr bescheuert grinsendes Gesicht entgegen. Molly dachte, ihr würde das Herz stehenbleiben. Sie holte tief Luft, um sich darauf vorzubereiten, den Anruf entgegenzunehmen. Es war heute bereits der vierte. Zweifellos gab es irgendeine Krise, weil die Rosen nicht die richtige Farbnuance hatten oder auf den Fotos die Sonne in die falsche Richtung schien.

Wenn sie das mit Reggie erzählte, würde Caitlin sofort in Tränen ausbrechen.

Seufzend meldete sie sich. »Hallo, Cait, wie läuft’s denn so?« Molly war überrascht, wie normal ihre Stimme klang. Das war ein vielversprechender Anfang. »Hör mal, ich muss dir was sagen …«

»Molliiii!«, heulte ihre Schwester so laut los, dass Molly das Telefon ein Stück vom Ohr weghalten musste.

»Brr!«, rief Molly und zuckte zusammen. »Bist du betrunken?«

»Molliiii, alles läuft schief!«

Zu ihrem Entsetzen erkannte Molly, dass Caitlin keineswegs betrunken war, sondern hysterisch weinte.

»Cait … was um Himmels willen ist denn passiert?«

»Alles läuft schief! Der schlimmste Albtraum ist wahr geworden! Ich kann es nicht ertragen!«

Caitlins Schluchzen wurde schwächer. Offenbar hatte sie den Arm mit dem Telefon sinken lassen, um sich ganz aufs Weinen konzentrieren zu können. Molly war bestürzt. Der schlimmste Albtraum? Hatten etwa beide Wright-Mädchen am selben Abend von ihren Männern den Laufpass bekommen?

»Was hat er dir angetan?«, knurrte Molly. Sie kannte Francesco kaum und hatte noch nicht entschieden, ob er gut genug war für ihre Schwester – abgesehen davon, dass er unglaublich reich war und umwerfend aussah.

Statt einer Antwort schluchzte Caitlin nur.

Die kleine Schwester eilte sofort zu Hilfe. »Ohne ihn bist du besser dran, Cait«, sagte sie und dachte an die Worte, die sie sich selbst in den nächsten Monaten immer wieder sagen würde. »Ich weiß, dass du dir deine Zukunft schon ausgemalt hast, aber wir kriegen das hin und es wird eine noch viel bessere Zukunft. Selbst wenn er reicher ist als Gates, na wenn schon …« Beim Gedanken an den Verlobten ihrer Schwester machte Molly ein grimmiges Gesicht. Sie hatte ihn nie persönlich kennengelernt, aber genügend Fotos in Tageszeitungen und Promi-Magazinen gesehen, um sich ein Bild zu machen. »Was er auch getan hat, wir kriegen das schon wieder hin. Davon abgesehen, wer braucht schon einen Multimillionär?«

»Mir angetan?«, erwiderte Caitlin, und ihr Schluchzen wurde ruhiger. »Sei nicht albern, Molly!«

»Aber du hast doch gesagt …«

»Francesco hat mir gar nichts angetan!« Caitlin lachte laut. »Er ist der perfekte Verlobte wie eh und je. Und ohne ihn wäre ich ganz sicher nicht besser dran.« Jetzt klang sie eingeschnappt.

»Ups, entschuldige.« Molly hoffte inständig, dass ihre Schwester zu durcheinander war, um sich morgen noch daran erinnern zu können, was sie gerade über die Liebe ihres Lebens vom Stapel gelassen hatte.

»Es ist mein …« Caitlin unterdrückte einen Schluchzer, bevor sie erneut losheulte: »Es ist mein … mein … Kleid! Es ist nicht da!«

»Was?«, kreischte Molly. Das war wirklich ernst. Furchtbar. Eine Katastrophe. »Warum zum Teufel nicht? Wo ist es?«

»Der Kurier, der es abholen sollte, hat angerufen und gesagt, dass …« Unterdrückte Schluchzer brachten ihre Schwester wieder ins Stocken.

»Caitlin?« Molly musste sich gegen einen Laternenpfahl stützen. »Wurde es gestohlen?« Das Kleid war mehrere tausend Euro wert. Es war, sofern man sich auf Caitlins atemlose Berichte irgendwie verlassen konnte, das Werk eines Genies. Und damit die perfekte Zielscheibe. Vielleicht gäbe es ja eine Lösegeldforderung. Natürlich würden sie zahlen.

»N…ein, nicht gestohlen.«

Puh! Wenigstens das nicht.

»In Delametri Chevaliers Geschäft haben sie es dem Kurier nicht ausgehändigt!«

Molly konnte sich nicht vorstellen, aus welchem Grund. »Hat er ausgesehen wie ein Ganove oder hatte er dreckige Hände? Dann wäre es zumindest verständlich …«

»Nein! Weil … weil … es nicht fertig war!« Caitlin brach sofort wieder in heftiges Schluchzen aus.

»Du machst Witze«, stieß Molly atemlos hervor.

»Ich wünschte, es wäre so! Sie kannten den Termin und haben gewusst, wie wichtig es ist. Letzte Woche hatte ich die letzte Anprobe, und da sah noch alles gut aus!« Caitlins Stimme hatte eine Frequenz erreicht, die ausschließlich Hunde wahrnehmen. »All diese wichtigen Leute werden da sein, und ich habe kein Scheiß-Kleid! Da kann ich mich genauso gut gleich umbringen!«

»Das tust du nicht«, fuhr Molly sie harscher als beabsichtigt an. Sie wollte sich nicht von Caitlins blinder Panik mitreißen lassen, aber das war nicht ganz einfach. »Zumindest jetzt noch nicht. Weißt du Genaueres? Wie fast fertig ist es denn? Es bleiben doch noch vier Tage …«

Caitlin antwortete nicht sofort. Molly hörte sie schniefen. »Sie haben gesagt, dass es jetzt fertig ist, aber ich habe mein Zeitfenster für den Kurier verpasst.«

Okay. Damit konnten sie arbeiten.

Aber Caitlin schimpfte wütend weiter. »Der Kurier sagt, dass sie es erst morgen Nachmittag abholen können. Und geliefert wird es dann am Montag!«

»Montag!«, schrie Molly. »Aber das ist …«

»Der Tag der Hochzeit!«, sagten sie gleichzeitig.

»Sind die übergeschnappt?«, fragte Molly.

Caitlin hörte ihr gar nicht zu, sondern redete einfach weiter. »Bilden die sich etwa ein, ich würde mich zurücklehnen und sagen: Kein Problem, bringen Sie mir das Kleid einfach, wann es Ihnen passt, am Tag der Hochzeit ist prima …« Caitlin brach in den nächsten Schwall mitleiderregender Seufzer aus.

»Ich hätte von denen mehr Professionalität erwartet«, stimmte Molly zu. Sie wollte eine schnippische Bemerkung loslassen, dass das niemals passiert wäre, wenn Caitlin sie gebeten hätte, das Kleid zu entwerfen und zu nähen, aber sie verkniff es sich. Das Thema hatten sie ein für alle Mal hinter sich. Der Zug war abgefahren.

Und bis zu diesem Moment hatte Molly auch zugestimmt, dass Caitlins Entscheidung, Delametri Chevalier für Entwurf und Ausführung ihres Brautkleids zu wählen, verdammt gut war. Schließlich hatte er eines der weltweit berühmtesten Ateliers. Und auch wenn er Molly im Kampf um den begehrten Job ausgestochen hatte, so gehörte er doch immer noch zu ihren großen Vorbildern. Molly hatte sogar im letzten Jahr ihres Modedesign-Studiums in Newcastle ihre Abschlussarbeit über ihn geschrieben. Und wenn Francesco es sich leisten konnte, ein Chevalier-Modellkleid für seine Braut schneidern zu lassen, na, dann wünschte sie allen viel Glück. Sie war vollkommen darüber hinweg. Vollkommen. Darüber. Hinweg.

Molly fröstelte. Vom Fluss her wehte eine kühle Brise. Die Leute um sie herum begannen schneller zu gehen, die Mäntel zugeknöpft und die Hände in die Taschen gesteckt. Es wurde allmählich spät. Aber sie hatte jetzt auch die schmale Straße erreicht, in der sich ihr Apartmentgebäude befand. Sie beschleunigte ihren Schritt und eilte darauf zu.

»Weißt du was, Molly?«, schniefte Caitlin.

»Sag’s mir.«

»Gegenüber der Kapelle haben sie bereits alles abgesperrt, um am Montag die Schaulustigen und die Presse fernzuhalten!«

»Wie bitte? Du machst Witze! Das ist ja beängstigend.«

Caitlin hatte ihr zwar erzählt, dass Francesco Marino in seinem Heimatland Italien eine Berühmtheit war, über das Ausmaß war sich Molly jedoch nicht im Klaren gewesen. Trotz ihrer Vorliebe für alles, was mit Mode zu tun hatte, war sie kein großer Fan von Klatschmagazinen und Promi-Zeitschriften. Offenbar war Francesco Marino in den Kreisen der feinen europäischen Gesellschaft bestens bekannt, was vermutlich an seinem hochrangigen Job in den italienischen Medien lag. Ansonsten wusste Molly eigentlich nichts über ihn; und bis zu diesem Moment und der Katastrophe mit dem Kleid hatte sie genau das an dieser Hochzeit am meisten beunruhigt.

»Beängstigend ist nicht das richtige Wort!« Die Panik ließ Caitlins Stimme wieder schrill werden. »Und wenn es nicht rechtzeitig hier ist? Der Kurier könnte einen Unfall bauen. Oder wenn es nicht richtig sitzt? Es bleibt dann keine Zeit, um es zu ändern! Beängstigend? Von wegen! Das ist apokalyptisch! Vierhundertachtzig Freunde und Familienangehörige von Francesco, Molly – die meisten von denen reisen im Hubschrauber oder im Privatjet an. Und ich kenne so gut wie niemanden …«

»Okay, wir werden das Problem bestimmt nicht lösen, indem wir durchdrehen.« Endlich hatte Molly die Stufen zu ihrem Apartment erreicht und schloss die Wohnungstür auf. »Jetzt beruhige dich erst einmal und …«

»Ich kann mich nicht beruhigen!«, heulte Caitlin. »Mein Leben ist vorbei. Was wird Francesco sagen? Wenn mein Kleid nicht passt oder gar nicht da ist, werde ich zur internationalen Witzfigur!«

Insgeheim dachte Molly, dass Francesco ihre Schwester hoffentlich für das liebte, was sie war, und nicht dafür, was die Presse über ihr Kleid dachte.

»Was soll ich denn jetzt machen? In Jeans und T-Shirt zum Altar schreiten?«

Molly schloss für diese Nacht die Tür zur Stadt ihrer Träume hinter sich und seufzte erleichtert. »Okay, Caitlin, wir werden Folgendes tun …«

»Uns umbringen?«, jammerte Caitlin.

»Noch nicht, sagte ich das nicht bereits?« Molly gestattete sich ein Lächeln. Jetzt war Handeln angesagt. »Soll ich das Kleid abholen und mit nach Venedig bringen?«, fragte sie und warf sich auf das Doppelbett, das ihr plötzlich geradezu höhnisch riesig vorkam.

»Wie in aller Welt willst du das machen?« Mollys unerwarteter Vorschlag hatte Caitlin offenbar so überrascht, dass sie das Schluchzen für einen Moment einstellte.

»Na ja … ich bin in Paris.« Jetzt herrschte am anderen Ende der Leitung verblüfftes Schweigen. Molly schüttelte den Kopf. Caitlin war anscheinend so mit ihren Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, dass sie Mollys und Reggies Zwischenstopp in Paris ganz vergessen hatte. Quelle surprise!

»Das weiß ich doch«, antwortete Caitlin mit schwacher Stimme.

»Natürlich weißt du das.« Wieder musste Molly lächeln. »Wäre das eine Hilfe? Ich könnte das Kleid abholen und mitbringen, wenn ich morgen nach Venedig fliege. Dann kannst du es am Nachmittag in die Arme schließen. Problem gelöst!«

Die jetzt einsetzende Stille war anders. Molly konnte es förmlich hören, und eine Welle altbekannter Traurigkeit überkam sie.

»Ich … denke, das wäre okay …«

Molly seufzte. »Du vertraust mir nicht …«

Dieses Mal seufzte Caitlin. »Es ist ja nicht, dass …«

»Natürlich nicht.« Molly rieb sich über die Stirn und presste die Zähne zusammen. Dass Caitlin ihr nach all den Jahren immer noch nicht traute.

»Es ist nur«, begann Caitlin. »Du und ich haben mit Kleidern unsere Geschichte, oder?«

Jetzt wurde Molly wütend. »Das? Wie viele Jahre muss ich mir das noch anhören? Vielleicht solltest du auch noch Spieldosen erwähnen, da haben wir auch unsere Vorgeschichte!«

»Molly …«

»Uralte Geschichten! Vergiss einfach meinen Vorschlag, okay?«

Damit hatte sie ihre Schwester. Caitlin war aus dem Konzept gebracht. »Tut mir leid, Kleines, ehrlich. Gib meinem Zustand als Braut die Schuld.«

»Brautzilla-Zustand«, murmelte Molly.

»Das habe ich gehört.«

Das sollte sie auch. »Also. Möchtest du, dass ich dein Kleid mitbringe, oder nicht? Wenn, dann muss ich es noch heute Abend abholen, mein Flug geht morgen ganz früh. Würde das helfen?«

»Ja, ja, bitte. Es würde helfen. Ja.«

Die Erleichterung in Caitlins Stimme besänftigte Molly. Was für eine Nacht! Eine gescheiterte Verlobung. Eine unerwartete Trennung. Und von ihrer Schwester für nicht vertrauenswürdig gehalten – na toll!

»Danke Molly. Vielen Dank.« Man konnte förmlich hören, dass Caitlin strahlte. »Ich rufe Delametri an und sage, dass du unterwegs bist. Einverstanden? Du kannst doch jetzt sofort hinfahren, oder?«

Eigentlich wollte sich Molly nur noch unter der Bettdecke verkriechen und in den Schlaf weinen.

»Du brauchst die Adresse …«

Molly seufzte und setzte sich mühsam wieder auf. »Ich weiß, wo es ist. Heute Nachmittag habe ich mir die Nase an der Schaufensterscheibe platt gedrückt und beim Anblick der tollen Klamotten gesabbert.«

»Nette Vorstellung, Schwesterherz.« Caitlin lachte.

Molly fühlte sich sonderbar. Sie war erschöpft und wie durch die Mangel gedreht, aber allmählich wurde ihr klar, dass sie die paradiesische Welt der Haute Couture betreten und den Meister persönlich kennenlernen würde! Den großen Delametri Chevalier!

»Ach, und Molly?«

Jetzt wird sie mir sagen, dass ich das Kleid mit meinem Leben verteidigen muss.

»Ja, Caitlin?«

»Du wirst dieses Kleid doch mit deinem Leben verteidigen, oder?

Molly verdrehte die Augen. »Ich werde das Kleid im Flugzeug auf meinen Sitzplatz anschnallen und selber mit meinen Koffern im Gepäckraum mitfliegen … nur für dich.«

»Ausgezeichnet. Oh, und Molly?«

Molly schüttelte den Kopf und lächelte. »Gern geschehen.«

Sie wischte schnell den Straßenstaub von den Schuhen, kontrollierte, dass die Tränen von vorhin keine verräterischen Wimperntuschespuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatten, und machte sich auf den Weg. Sie war unterwegs zu Delametri Chevalier! Allein der Gedanke ließ sie vor Aufregung schwindelig werden.

Ich sollte mich eigentlich nicht so freuen – schließlich habe ich gerade erst den Laufpass bekommen …

Sie fragte sich, ob ihr Gehirn ihren Kummer auf Eis gelegt hatte, während sie sich auf den aktuellen Notfall konzentrierte. Vielleicht war es auch eine Art Selbstschutzmechanismus. Morgen im Flugzeug hatte sie noch reichlich Zeit zum Weinen.

Vielleicht lag es auch an Paris. In der Stadt ihrer Träume zu sein, so nah bei ihren großen Vorbildern. Dior! Chanel! Chevalier …

Als sie jetzt den Weg vom Nachmittag noch einmal ging, waren die Boulevards, die vor wenigen Stunden voller Menschen, Romantik und Pariser Charme gewesen waren, unbelebt und still. Molly versuchte, sich ganz auf ihre Aufgabe zu konzentrieren.

Delametri Chavalier war ein großer, gutgebauter Mann mit kurzem grau meliertem Haar, das er auf altmodische Weise mit Pomade glatt nach hinten gekämmt trug, kleinen, mandelförmigen Augen und einem stets perfekten schmalen Oberlippenbart. So viel wusste Molly von Fotos in der Vogue und im Tatler. Sie wusste auch, dass er ausschließlich seine eigenen maßgeschneiderten Anzüge trug und vier Sprachen beherrschte.

Glücklicherweise war Englisch eine davon. Molly verzog vor Aufregung das Gesicht und überlegte, was sie ihm sagen sollte.

Also, Mr. Chavalier – nein, das war nicht richtig – also, Monsieur Chevalier, als studierte Modedesignerin, die davon träumt, eines Tages ein Atelier wie das Ihre zu besitzen, dürfte ich Ihnen da ein paar Fragen stellen? Ich bin seit Jahren eine leidenschaftliche – nein – eine hingebungsvolle Bewundererin Ihrer Arbeit. Würden Sie den Kritikern – nein – Bewunderern zustimmen, die sagen, dass Ihre Kreationen von Jahr zu Jahr immer erfolgreicher wurden? Die Kollektionen der letzten zehn Jahre waren die überragendsten von allen! Und dürfte ich Ihnen meine Sichtweise zur derzeitigen Entwicklung des Chevalier Signature Looks erläutern? Und Ihnen bitte meinen Lebenslauf und ein paar Skizzen schicken?

Und … und … Sie sind umwerfend.

Hm. Zu viel? Vor ein paar Jahren hatte sie eine komplette Abschlussarbeit über ihn geschrieben. Wenn sie doch nur ihre Mappe dabei hätte! Doch die hatte nun nicht gerade ganz oben auf der Liste gestanden, als sie packte, um zur Hochzeit ihrer Schwester zu fahren.

Als sie das Geschäft von Chevalier – sein Atelier – erreichte, wuchs ihre Aufregung. Sogar die Fassade des Jugendstilgebäudes wirkte mit seinen eleganten Linien und den um die erleuchteten Fenster drapierten herrlichen Vorhängen wie ein geschmackvolles Kunstwerk.

Ihr Handy piepte. Molly zuckte zusammen. War das jetzt Reggie?

Los! Los! Los!

Die Nachricht stammte von Caitlin. Molly brachte ein Lächeln zustande und steckte das Handy in die Manteltasche zurück. Dann stieg sie die Stufen hinauf zu der gewaltigen hölzernen Doppeltür, sammelte allen Mut, den sie aufbringen konnte, und drückte auf die Klingel.

Gib dich selbstbewusst. Lächle. Wirke elegant und professionell. Mach dich nicht zum Idioten.

Die Tür wurde von einer zierlichen weißhaarigen Dame in einem schlichten schwarzen Kleid geöffnet. »Miss Wright?«, fragte sie mit starkem französischem Akzent.

Molly nickte. »Molly.«

»Treten Sie bitte ein.«

»Danke. Sie haben eine wunderschöne Eingangstür.« Was für eine dämliche Bemerkung! Molly kam sich schon jetzt wie ein Trottel vor, dabei hatte sie bisher nur mit Chevaliers Assistentin gesprochen.

Drinnen roch es sogar gut, nach Duftkerzen, frischem Leinen, Marmorböden und etwas Unbeschreiblichem, das mit Schönheit und Erfolg und mit Schere, Nadeln und Faden zu tun hatte. Diesen Duft würde sie am liebsten bis in alle Ewigkeit atmen. Sie verspürte eine geradezu körperliche Sehnsucht, zu dieser Welt zu gehören. Sie wollte über die auf Kleiderständern aufgereihten Modelle streichen – nur wenige an der Zahl –, sie herausziehen, genau betrachten und betasten. Dürfte sie doch nur eine einzige Stunde hier allein verbringen! Oder einen Tag! Oder ihr ganzes Leben!

Sie reichte der alten Dame die Hand. »Mein Name ist Molly.« Das hast du schon gesagt. Sie hätte sich ohrfeigen können.

»Annabelle, ma petite chère«, erwiderte die Dame und drückte Mollys Hand für den Hauch einer Sekunde.

»Ähm, Monsieur Chevalier holt wahrscheinlich gerade das Kleid für meine Schwester?«

Die Frau schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Monsieur ist bereits vor Stunden gegangen, Mademoiselle. Sein Assistent wird sich um Sie kümmern.«

»Oh …« Natürlich würde ein Mann seines Formats nicht ungeduldig darauf warten, einem Niemand wie ihr zu begegnen. Aber sie konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht verbergen. »Ich hatte gehofft, ihn kennenzulernen.«

Ruckartig schossen Annabelles Augenbrauen in die Höhe, als wundere sie sich über dieses Ansinnen. Molly hingegen überlegte, wie viele Nackenschläge sie an diesem Abend wohl noch einstecken musste. Bestürzt sah sie Annabelle an, besann sich dann jedoch ihrer guten Manieren. »Oh, natürlich, tut mir leid – danke, dass Sie hier sind.« Eine Stimme aus dem hinteren Teil des Raums ersparte ihr, darüber nachdenken zu müssen, was sie noch sagen könnte.

»Ah! Da ist sie ja. Die wunderbare Schwester der wunderbaren Caitlin Wright!« Molly wirbelte herum und sah einen tadellos gekleideten, athletisch gebauten Mann mit ausgestreckten Armen auf sie zuwirbeln. »Verlobt mit dem wunderbaren Francesco Marino! Herzlich willkommen, meine kleine Blume!« Ehe Molly sich versah, waren seine Hände auf ihren Schultern und sie wurde auf beide Wangen geküsst. »Pascal Lafayette, a votre service, Mademoiselle. Sie sehen Ihrer Schwester so unglaublich ähnlich. So wunderschön auf diese frische englische Weise. So natürlich und unverdorben.«

Molly verengte die Augen. Natürlich, häh? Wollte er etwa andeuten, dass sie schlampig aussah? Nur weil sie nicht so geschniegelt herumlief wie er und gerade die schlimmste aller Nächte durchzustehen hatte?

Andererseits sah er verboten gut aus, mit seinem gebräunten Teint, dem zurückgekämmten schwarzen Haar und den herzerweichend braunen Augen. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig oder Anfang vierzig – es war so schwierig, das Alter der Pariser zu schätzen.

»Ich bin Pascal Lafayette, Monsieur Chevaliers … Assistent«, erklärte er und betonte das letzte Wort auf seltsame Weise.

Und hatte Molly es sich nur eingebildet, oder hatten er und Annabelle gerade einen Blick gewechselt? Wieder kniff sie misstrauisch die Augen zusammen.

»Ich hatte das große Vergnügen und Privileg, Monsieur Chevalier beim Brautkleid der Verlobten von Signor Francesco Marino assistieren zu dürfen. Ein wunderbarer Mann!«