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Da geht jemand in Braunschweig spazieren und erzählt Geschichten. Das hat inzwischen Tradition in unserer Stadt. Einst ging ein Herr Leue durch die Stadt und berichtete darüber in der Braunschweiger Zeitung und vor langer, langer Zeit erzählte ein gewisser Till Eulenspiegel den Braunschweigern die eigenartigsten Anekdoten. Also, das ist man in Braunschweig gewohnt, auch dass so manche Geschichte mit einem Augenzwinkern begleitet wird. Der Autor tut nichts anderes aber ohne den Anspruch zu belehren oder zu foppen. Dinge und Begegnungen des Alltags, wie sie eigentlich jeder erlebt oder erlebt hat. Nur, dass sie häufig allzu schnell wieder in Vergessenheit geraten. Die Geschichten in diesem Band sind stellvertretend für die vielen, vielen Geschichten, die wir alle kennen, nur dass sie diesmal eben aufgeschrieben wurden.
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Seitenzahl: 95
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Alle Ereignisse in diesem Band haben sich so oder so ähnlich zugetragen. Die beteiligten Personen hingegen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind daher zufällig und nicht beabsichtigt. Die Orte des Geschehens wurden im Einzelfall so gewählt, dass ein Rückschluss auf die Person nicht möglich ist. Personen des öffentlichen Raums sind bestätigt.
Linie 3
Alles voller Smombies
Traurige Augen
Mandala
2:3 gegen Nürnberg
Sparbeleuchtung
Das Mädchen mit dem grünen Kissen
Der Junge mit der Baseballkappe
Sein tägliches Gebet
Das wertvollste Gut
Ein Löwe kommt selten allein
Rechts-Links-Schwäche
Schoduvel
Nabucco
Home Run Party
Handmade
Friday for Future
Karlchen
Kleingartenverein e. V.
Calvados
Der Einohrige
180° Drehung
Alle Vögel
Marderjagd
Lebensretterin
Wochenmarkt
Die hätte ich auch geheiratet
Rollatorklau
7 – 1 – 2 – 5
Aale, Aale, Aale
Wunderbar
Die Linie 3 fährt von Volkmarode in die Weststadt, sozusagen vom dereinst angegliederten „Pfarrdorf am Sandbach“ im Osten der Stadt, zu der in den sechziger Jahren neu errichteten Stadtrandsiedlung im Westen. Auch wenn Volkmarode viel älter ist als die Weststadt, so ist es doch fast fünfzehn Jahre später dazugekommen, zu unserem Braunschweig.
Auf diesem Weg ändert die Stadt immer wieder ihr Gesicht. Kaum hat man die „Dorfidylle“ verlassen, findet man sich in Mitten einer vierspurigen Straße wieder, um kurzdarauf einer dieser wohl belebten Wohn- und Geschäftsstraßen zu folgen, wie es sie innerhalb der Ringes häufig gibt.
Der Hagenmarkt erscheint wie eine Art Wendepunkt. Die Bahn schlängelt sich von hier durch die Innenstadt. Zunächst geht es über unserem „Prachtboulevard“, nur dass der in Braunschweig „Bohlweg“ heißt. Von dort blickt man zum Schloß hinüber und aus dem Hintergrund zwinkert einem das Happy Rizzi Haus zu und wenn man Galeria Kauhof hinter sich gelassen hat, erhält man einen Eindruck, wie es ist, wenn „der Mensch aus starren Bindungen und Normen befreit“ wird. So heißt die Skulptur, die auf diesem kleinen Platz an der alten Hauptpost in der Friedrich-Wilhelm-Straße steht.
Wenn die Bahn auf den Kalenwall abbiegt, folgt sie wieder einer vierspurigen Straße, die zunächst am Westlichen Ringgebiet vorbei führt, um alsbald unter der Autobahn hindurch in die Weststadt zu gelangen. Dort geht es dann zwischen den Wohnblocks hindurch und am Ende an einer großen Kleingartenkolonie vorbei. Der Wendekreis an der Weserstraße wird von einem kleinen Park, einem Wald und einem großen Feld eingerahmt.
So unterschiedlich diese Strecke anmutet, so unterschiedlich sind die Begegnungen, die man auf der Fahrt haben kann.
Ich fahre diese Strecke einmal in der Woche. Fast immer zur selben Zeit und immer mit neuen Erlebnissen. Jeden Samstag besuche ich meine Mutter in ihrem Seniorenheim. Sie ist inzwischen fast neunzig Jahre alt und wie man so sagt, bei bester Gesundheit.
Es ist nicht das Gleiche, wenn man sich morgens um kurz nach sieben Uhr in die Bahn quetschen muss, und um sieben Uhr siebenundzwanzig die Linie 5 am Schloß kriegen will, um um sieben Uhr vierzig pünktlich am Bahnhof anzukommen, weil um einundfünfzig der Regionalexpress nach Hannover fährt und abends das Gleiche zurück, als wenn man am Samstag, am frühen Nachmittag, völlig entspannt in die Linie 3 einsteigt und sich in die Weststadt zu einem Besuch fahren lässt.
Irgendwann fing das mit dem Straßenbahnfahren an. Ich glaube es war, als ich mein Auto einem Freund geliehen hatte, der übers Wochenende nach Hamburg zur Beerdigung musste. Genauer gesagt, er musste nach Buxtehude und „… da kommt man so schlecht … hin.“ In die Weststadt hingegen kommt man wunderbar, also stieg ich um.
Bei all den Fahrten ist es inzwischen dasselbe. Wenn vier Personen einsteigen, dann haben drei davon Ohrstöpsel im Ohr und einen starren Blick auf das Smartphone. Manche sind so fixiert auf ihr „Gadget“, dass es wie ein Wunder erscheint, dass sie überhaupt an der richtigen Haltestelle wieder aussteigen, ähnlich wie es manchmal wie ein Wunder erscheint, dass sie auf dem Fußgängerweg nicht vor eine Ampel rennen. Aber es passiert nicht, alles verläuft ruhig und friedlich. Vielleicht ist das ja das Wunder.
Nur einmal, auf dem Weg zurück nach Volkmarode, passierte etwas Ungewöhnliches. Eine Frau stieg an der Luisenstraße zu. Im hinteren Teil des Wagens saß nur ich, alle übrigen Sitze waren frei. Sie setzte sich ebenfalls in den hinteren Teil des Wagens. Sie schien völlig abwesend zu sein, völlig unbeteiligt. Nachdem die Bahn wieder angefahren war, stand sie auf und wechselte den Platz. Sie machte das ganz ruhig. Ein Stück weiter nach vorne. Dann noch einmal und noch einmal. Am Friedrich-Wilhelm-Platz war sie auf diese Art und Weise fast durch den ganzen Wagen gekommen. Hier stieg sie wieder aus und verschwand in Richtung Wallstraße.
Jetzt füllte sich der Wagen. Eine Mutter mit Kinderwagen und einem älteren Kind stieg zu. „Schau mal, Mama!“ Das Mädchen hatte einen kleinen Zettel vom Sitz genommen und hielt ihn in die Luft. „Da steht was.“ Die Mutter schob den Kinderwagen zurecht und setzte sich zu ihrer Tochter. Sie las ihr leise vor, was auf dem Zettel stand. Ich konnte es nicht verstehen, weil ich zu weit weg saß. „Was heißt denn das?“ fragte das kleine Mädchen. „Das heißt so viel, dass wir mehr mit einander reden sollen“, antwortete die Mutter. „Aber wir reden doch miteinander“, gab das Mädchen zurück. „Ja“, sagte die Mutter. „Wir reden viel miteinander.“
Inzwischen war der Wagen voll. Wir fuhren am Rathaus vorbei und die Fallersleberstraße hoch. Eine Reihe von Fahrgästen hatte kleine Zettel gefunden. Die meisten lasen sie, andere ließen sie unbeachtet oder steckten sie in die Tasche. Wieder andere zerknüllten sie und ließen sie dann auf dem Sitz liegen.
Am Moorhüttenweg stieg ich aus. Ein Zettel war liegengeblieben. Ich hob ihn auf und las.
„Fools“, said I, „You do not know
silence like a cancer grows“.1
Ich hielt inne und dachte an die Frau, die in der Luisenstraße zugestiegen war. Schade, jetzt hätte ich gerne gewusst, wer sie war. Und ich hätte ihr gesagt, dass es mir oft auch so geht.
„Alles voller Smombies“, sagt meine Tochter immer. „Mach Dir nichts draus Papa, die Zeiten sind halt so.“
Ich lasse das Auto inzwischen bewusst stehen. Das soll jetzt keine große moralische Ansage werden. Nein, es ist einfach Pragmatismus. Es gibt Tage, da kommt man mit dem Auto einfach nicht durch, Karneval z.B. Ehrlich gesagt, kommt man dann auch mit der Straßenbahn nicht durch. An diesen Tagen meide ich solche Fahrten. Leider klappt das nicht immer.
Irgendwie hatte ich das Datum übersehen oder den Vorbericht in der Zeitung überlesen. Schon ab der Petzvalstraße war ich von einer Reihe etwas eigenartiger Gestalten umgeben. Manche benahmen sich irgendwie aufgekratzt, andere wieder trugen eigenartige Accessoires oder waren auffällig geschminkt. Die Amerikaner kennen dafür den Begriff „queer“ und genauso mutete es an. Nicht unangenehm, nur eben etwas eigenartig.
Auf der Gliesmaroder Straße stieg ein älterer Mann zu. Er trug einen halblangen, grauen Frauenrock, hohe Schuhe, eine kurze graugrüne Jacke mit Paillettenmuster und eine dunkle Frauenperücke. Die Frisur war eindeutig eine Frauenfrisur und er trug Frauenkleider. Aber, er war eindeutig ein Mann. Er hatte eine kräftige Statur und einen leichten Bauch. Auch wenn er frisch rasiert zu sein schien, waren Barthaare dunkel und als Schatten auf dem Kinn zu erkennen.
Ein älterer Mann als Frau verkleidet. Man hätte sagen können, es wirkte lächerlich, aber das traf es nicht. Sein Gesichtsausdruck schien Entschlossenheit auszudrücken oder mehr den Versuch. Es lag etwas Trauriges in diesen Augen.
Die Straßenbahn wurde jetzt richtig voll. Immer mehr eigenartige Leute waren zugestiegen und erst jetzt wurde mir bewusst, dass an dem heutigen Tag etwas Besonderes in der Stadt los sein musste.
Als die Bahn über den Hagenmarkt fuhr, machten sich die meisten der Fahrgäste bereit um auszusteigen. Von draußen war laute Musik zu hören. Dumpfes Rollen und Schlagen, dann wieder discoartige Klänge. Jetzt erst wurde mir klar, um welches Ereignis es sich handelte. Heute war „Sommerloch Festival“ womit eigentlich der Christopher Street Day gemeint ist.
Auch der als Frau gekleidete Mann stieg aus. Ich fragte mich, was er wollte. Suchte er Gleichgesinnte oder war er auf der Suche nach einem Partner? Als ich ihn über die Straße gehen sah, leicht gebückt in seinem Kostüm und mit den hohen Schuhen, hatte ich noch mehr den Eindruck, dass er nicht zum Feiern gekommen war.
Mit einem Ruck blieb die Straßenbahn plötzlich stehen. Die Musik drang von draußen durch die Scheiben. Neben uns stand ein Lastwagen, von dem aus Lautsprecher direkt auf uns gerichtet waren. Oben auf der Ladefläche standen junge Leute tanzten und winkten herunter. Hinter dem Lastwagen liefen ebenfalls Leute, die ihn aber jetzt, wo er zum Halten gekommen war, überholten und vor ihm weitergehen wollten. Erst jetzt konnte ich erkennen, dass es sich um einen kleinen Zug von mehreren Wagen handelte. ‚Wie beim Karneval‘, dachte ich, nur etwas kürzer.
Dann setzte sich die Straßenbahn wieder in Bewegung. Hundert Meter weiter blieb sie erneut mit einem Ruck stehen. Diesmal genau auf der Höhe des Rathauses. Wieder stiegen einige Fahrgäste aus. Ich blieb sitzen, ich wollte ja in die Weststadt.
Der LKW mit den Lautsprechern rückte wieder auf und stand jetzt erneut neben uns. Hinter ihm tanzte ein junger Mann, allein. Er schleuderte seine Arme hin und her. Er warf sich von links nach rechts. Er verdrehte seinen ganzen Körper. Vor allem aber fiel mir auf, dass er unbeschreiblich dünn erschien. Auf mich wirkte es wie der Tanz eines Verzweifelten, eines Gefangenen.
Der Schaffner hatte die Türen offen gelassen. Die Lautsprecher hämmerten direkt in den Wagen hinein und der Tanz des jungen Mannes machte mir den Eindruck, als seien es seine letzten Zuckungen, kurz vor dem Tod.
Ich stieg aus. Die Musik, bzw. die Lautstärke war mir einfach zu viel. Ich wollte meinen Weg zu Fuß fortsetzen, am besten quer durch die Innenstadt. Vielleicht nahm mich die jetzt sicher verspätete Straßenbahn dann irgendwo wieder auf oder vielleicht gab es ein Taxi auf dem Weg.
Auf Langer Hof begegnete mir eine Frau. Sie trug ein eierschalenfarbenes Kostüm, rote Schuhe und eine rote Handtasche. Auch die Lippen waren rot geschminkt. Sie schien unschlüssig. Sie suchte meinen Blick und lächelte. Das Lächeln war unsicher. Sie war ein Mann. Es war sofort erkennbar, obwohl Ihre Kleidung und das Makeup perfekt erschienen.
Ich schaute sie an. Ihr Blick wurde traurig als sie merkte, dass ich das Lächeln nicht erwiderte.
Am 28. Juni 1969 gingen in den frühen Morgenstunden hunderte junger Amerikaner in der New Yorker Christopher Street auf die Straße. Die Polizei hatte zuvor in immer wiederkehrenden Razzien vornehmlich Schwarze, Latinos. Schwule, Lesben, Dragqueens und Transsexuelle massiv drangsaliert. Jetzt sollte Schluss sein. Tagelang lieferten sich die jungen Leute Straßenschlachten mit der New Yorker Polizei. Seitdem wird in New York an jedem letzten Samstag des Juni, dem sogenannten Christopher Street Liberation Day, mit einem Straßenumzug an dieses Ereignis erinnert.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auch grade, wenn wir nicht alle gleich sind, wäre ein schönes Ziel. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Vielleicht trifft man an diesem Tag deshalb auf so viele traurige Augen.
1 Paul Simon
In einem Hinterhof an der Petzvalstraße auf dem Gelände der ehemaligen Rollei-Werke steht ein altes Bürogebäude. Vor einigen Jahren wurde der Standort umgewidmet und dort finden sich nun Büros des DRK und anderer sozialer Einrichtungen. Hier ist auch der Christian Hope Church e.V. untergebracht. Völlig