Kleine Scheißhausgeschichten - Markus Walther - E-Book

Kleine Scheißhausgeschichten E-Book

Markus Walther

4,5

Beschreibung

Wissen Sie, warum immer wieder Socken in Waschmaschinen verschwinden? Oder haben Sie eine Ahnung, weshalb es die Zahnfee nicht (mehr) gibt? Was hat man mit Godzilla gemacht, nachdem er besiegt wurde? Und ahnen Sie, zu welcher genauen Uhrzeit das Ende der Welt sein wird? Diese Zwischendurchlektüre beantwortet in 68 Kurz- und Kürzestgeschichten aus verschiedensten Genres die wirklich wichtigen Fragen dieser Welt. . und ganz nebenbei auch einige der Unwichtigeren. Dass in einer Kurzgeschichte eine philosophische Weisheit, ein ganzes Lebensgefühl oder völlig neue, hyperreale Welten Platz haben können, beweist dieser Sammelband von Markus Walther. Wer gerne gewitzt pointierte Anekdoten liest, wird die Scheißhausgeschichten lieben.

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Seitenzahl: 169

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Markus Walther

Kleine Scheißhausgeschichten

68 kurzweilige Geschichten zum Schmunzeln

Walther, Markus: Kleine Scheißhausgeschichten. 68 kurzweilige Geschichten zum Schmunzeln, Hamburg, ACABUS Verlag 2010

1. Auflage

ISBN: 978-3-941404-65-6

Die Buchausgabe dieses Titels trägt die ISBN 978-3-941404-64-9

und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Lektorat: Anne Baumann, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: Anne Baumann, ACABUS Verlag

Umschlagmotiv: © Petra Rudolf

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2010

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

für

meinen Schatz,

mein Goldstück

und

mein Nugget

Ein paar Worte vorab

Der Schutzengel

Vorbereitungen

Der Koch

Die Rolltreppe

Umzug

Der Arzt

Das Versteck

Robotergesetze

Der Drache

Das geflügelte Pferd

Der Eiskunstläufer

Kornkreise

Der letzte Trip

Psychopath

Der Holzfäller

Das Biestarium

Die Prophezeiung

Der Mann im Mond

Das Einhorn

Der letzte Satz

Fotosession

Die Zahnfee

Karamellchen

Ein paar Worte zwischendurch

Die Veranstaltung

Fairplay

Die Hausfrau

Der Vorsitzende

Nur zu Besuch

Federfeuer

Amnesie

Der Lehrer

Der Autor

Streitgespräch

Der Komponist

Der Blockwart

Baumeister

Der Reporter

Verlangen

Anderswelt

Fährmanns Schach

Im Spukschloss

Auf dem Kirchhof

Der Astronaut

Umrüstung

Trekkies II

Der Fußabtreter

Noch ein paar Worte zwischendurch

Der Zorn des Kellners

Körperkult

Liebesgezwitscher

Blümchen furzender Dinosaurier

Der letzte Troll

Der Morgen danach

Fatalis

Der Tick

Nachtod

Nachttränen

Der Spoon

Der Barkeeper

Unsere Wahrheit

Die Klinge

Einige Einkäufe

Handlungsreisende

Der Künstler

Vernissage

Der fliegende Händler

Der Unsterbliche

Endzeit

Streifzüge

Ein paar Worte danach

Ein paar Worte vorab

Ah, da sind Sie ja. Schön, Sie hier zu treffen. Sie haben also gerade etwas Zeit und Lust, eine kurze Geschichte zu lesen. Das ist gut.

Gehören Sie denn zu den Leuten, die kaum Zeit zum Lesen finden? Prima, dieses Buch ist wie gemacht für Sie. Lesen Sie es da, wo sich ein jeder die Zeit nehmen muss, etwas still zu sitzen. Sie wissen schon: Da, wo selbst der König zu Fuß hingeht.

Oder gehören Sie zu den Leuten, die in jeder Situation lesen können? Prima, dieses Buch ist auch für Sie wie gemacht. Anstatt des dicken Schmökers, der bestimmt zu schwer ist, um ihn überallhin mitzunehmen, passt dieses Buch bequem aufs stille Örtchen …

Bevor wir uns aber der Lokuslektüre und ihren Protagonisten zuwenden, ein paar Worte vorab.

Das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, verfolgt ein recht eigenwilliges Konzept: Fast alle der zu Papier gebrachten Gedankengänge sind nicht länger als eine DIN-A4-Seite. Im Fachjargon des Literaturbetriebs nennt man das „Microfiction“ oder zu Deutsch: Kürzestgeschichten. Das hört sich vielleicht nicht spannend an, doch Sie werden überrascht sein, wie viel auf eine Seite passt: Ein Tag, ein Jahr, manchmal ein ganzes Leben oder nur ein Augenblick.

Das Erzählte auf einen bestimmten Umfang zu begrenzen, ist – wie ich zugeben muss – ein sehr eigenwilliges Verfahren, ein Buch zu schreiben. Eigenwillig ist aber auch der Inhalt der folgenden Seiten. Mein Bitte ist deshalb: Lesen Sie immer nur eine Geschichte und machen Sie dann etwas Pause. Nur so können sich die einzelnen Ereignisse richtig entfalten. Ich gehöre nämlich nicht zu der Art Schriftsteller, die sich fest und ausschließlich einem einzelnen Genre verpflichtet hat. Wenn Sie gleich umblättern, werden Sie sich möglicherweise gruseln, in fremde Welten entführen lassen, durch die Zeit reisen und … hoffentlich auch hin und wieder schmunzeln.

Viel Spaß beim Lesen.

Ihr Markus Walther

PS: Bitte vergessen Sie nicht, sich gleich die Hände zu waschen.

Der Schutzengel

Gabrielle war eine Schutzengel-Dame der ersten Klasse. Das heißt: Sie erhielt nur Jobs der dringlichen Sorte. Und außergewöhnlich drängend war auch die Situation, in der sie jetzt steckte.

Sie hastete durch die engen Gassen der Altstadt, bedacht darauf, mit ihren langen Flügeln nirgendwo anzustoßen. Es war bereits spät in der Nacht und alles menschenleer. So musste sie nicht auf Passanten achten.

Eben noch hatte sie einen Autounfall verhindert. Fast wären mehr als zwanzig Fahrzeuge ineinander gerast, nur weil ein Fahrer sich während der Fahrt nach seiner hingefallenen Kippe bückte. Gabrielle hatte im Vorbeiflug durch das offene Fenster gegriffen und das Lenkrad gehalten. Als der Mann sich wieder aufrichtete – nichts war geschehen – eilte Gabrielle bereits zu ihrem nächsten Job, denn sie spürte, dass ihre Zeit inzwischen knapper geworden war. Im Ort nebenan war ein Haus in Brand geraten. Sie rettete ein Baby aus seiner Wiege und sorgte dafür, dass es wohlbehalten im Sprungtuch der Feuerwehr landete. Niemand sah, wer das Kind geworfen hatte. Wichtig war nur, dass es dem Kleinen gut ging.

Allein davor hatte sie schon dreiundzwanzig Kleinaufträge erledigt. Sogar einen Passagierjet musste sie vor dem Absturz bewahren. Und das alles in einem unwahrscheinlich kurzen Zeitfenster.

Sie war mittlerweile fast fünfzehn Stunden ohne Pause unterwegs und hatte heute schon zahlreiche Leben gerettet. Bislang hatte sie ihr Pensum an Aufträgen ohne größere Komplikationen einhalten können.

Jetzt war sie schon wieder in Eile, doch sie wusste nicht, ob sie es dieses Mal noch rechtzeitig schaffen würde. Am Ende der Altstadt erreichte sie endlich ihr Ziel: Ein altes Fachwerkhaus, noch aus den ersten Tagen der Stadt.

Die Tür! Sie stieß sie auf, rannte durch den kurzen Flur, dann die Holztreppe hinauf. Am Ende der Diele, vorbei an Küche und Wohnzimmer, war wieder eine Tür.

Gabrielle sprang hindurch und wirbelte herum. Sie konzentrierte sich und schloss die Augen, während sie sich vorsichtig hinhockte. Dann blieb sie für einen Moment regungslos: Das erste Mal Ruhe an diesem Tag. Sie seufzte tief. Gerade noch rechtzeitig hatte sie es geschafft.

„Gerettet“, dachte sie und zog an der Kette der Klospülung.

Vorbereitungen

Heribert erwachte vom leisen Summen des Weckers. Es war sechs Uhr am Morgen.

Er zog die Vorhänge zur Seite und warf einen Blick hinaus. Der Tag hatte mit einem zarten Rot am Himmel begonnen. Wolkenlos. Makellos. Es war schön, sich an diesem Ausblick zu erfreuen.

Nachdem er sich ausgiebig gereckt und gestreckt hatte, zog er das Laken zu Recht und glättete Kissen und Bettdecke. Erst als die Oberfläche des Stoffs vollkommen ebenmäßig war, warf er die Tagesdecke darüber. Anschließend dekorierte er die Zierkissen an ihrem Platz am Kopfende des Bettes.

Er machte fünf Kniebeugen mit nach vorne gestreckten Armen, fünf Kniebeugen mit zur Seite gestreckten Armen und warf einen kurzen Blick auf seine Wanduhr. Der unerbittlich tickende Zeiger ermahnte ihn, dass er schon eine Minute zu spät war – also schnell ins Bad.

Sorgsam achtete er darauf, dass seine Bürste jeden Zahn erreichte. Statt der empfohlenen vier, putzte er sie nur drei Minuten. Hoffentlich würde er sich deshalb nicht den ganzen Tag schmutzig fühlen. Sicherheitshalber hauchte er kurz in seine hohle Hand, um den Atem zu prüfen – besser er nahm gleich noch das Mundspray mit auf den Weg. Er wusch, rasierte und kämmte sich die Haare. Der Mittelscheitel gelang ihm auf Anhieb.

Bevor er sich anzog, ging er in die Küche, um sich sein Frühstück zu bereiten – es wäre sehr ärgerlich gewesen, wenn sein weißes Hemd mit Kaffee bekleckert werden würde. Und Frühstück musste sein. Wie hatte seine Mama immer gesagt? „Das Frühstück, Spatzl, ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.“

Er machte sich Toast, Fruchtmüsli und ein hartgekochtes Ei. Der Dotter musste grau, fast grün sein, damit auch dem letzten Krankheitserreger der Garaus gemacht war. Er trank – wie immer – ein Glas Milch dazu. Gerne hätte er auch die Zeitung gelesen, doch im Pyjama wollte er nicht hinaus an den Briefkasten gehen. Also saß er da, ganz still, und aß – alles wie immer.

Manchmal – so wie heute – stahlen sich Gedanken in seinen Kopf. Gefährliche Gedanken. Fragen nach dem Warum.

Aufstehen, waschen und frühstücken. Arbeiten und pünktlich Feierabend machen. Fernsehen und dann schlafen gehen – immer dasselbe. Meistens sagte er sich dann, dass die Dinge nur auf diese Weise funktionierten. Heute gestand er sich sogar, dass er selbst nur so funktionierte.

Doch war dem auch so? Oder vermochte er auch anders zu sein?

Er wusste, wie er das prüfen konnte …

Nachdem er abermals im Bad war, um sich das zweite Mal die Zähne zu putzen, ging er in sein Schlafzimmer. Er zog sich an. Den Feinripp, die schwarzen Socken, das weiße Hemd und den dezent grauen Anzug mit dem dunkelgrauen Binder hatte er sich bereits gestern, vor dem Zubettgehen, über seinen Stummen Diener gelegt. Für das Amt die richtige Bekleidung.

Doch heute wollte er ausbrechen, anders sein. Nicht integer. Nicht konform. Er wollte seine eigene kleine Revolution machen, mit der er in ein neues Leben aufbrechen würde. Das Mittel dazu hatte ihm letzte Woche sein Bruder zum Geburtstag geschenkt.

Gleich also würde Heribert an den Kleiderschrank gehen und seine neue, knallrote Krawatte anziehen.

Der Koch

Mein Restaurant liegt am Rand der Stadt. Die Panoramafenster präsentieren eine wundervolle Aussicht auf den nahen Fluss, und der große Parkplatz hinter dem Haus bietet genügend Raum für die protzigen Limousinen meiner Gäste. Die vier Sterne am Ende meines Namens über dem Eingang bekommen bald Gesellschaft von einem fünften. Das hat den Effekt, dass die Portionen auf den Tellern nicht mehr ausreichend groß, sondern nur noch edel aussehen müssen.

Die Kochbücher in der Vitrine, neben der Garderobe – allesamt handsigniert – verkaufen sich bereits in der dritten Auflage. Selbst die Kritiker stehen auf der Warteliste für eine Tischreservierung in meinem Hause.

Was ich hier mit vielen Worten sagen will: Ich muss mir um nichts Sorgen machen. Neben der Küchenarbeit, die ich inzwischen nicht mehr selbst ausführe, habe ich viel Zeit, mich um meine Kunden zu kümmern. Ich muss viel reden. Das gehört als etabliertes Mitglied der oberen Zehntausend mit zum Geschäft. Die Leute sollen sich wohl fühlen. Sie wollen hofiert und geschmeichelt werden. Als Gegenleistung kommen sie wieder. Sie bringen dann Freunde oder auch ihre Familien mit – wenn sie denn welche haben.

Das Problem neureicher Yuppies nämlich ist, dass sie viel für ihre Karriere opfern. Im Jetset haben Kinder und Freunde nicht viel Platz. Schnell und oberflächlich muss ihr Lebensstil sein.

Ich halte das nicht für gut, denn es sollte doch ein natürlicher Prozess sein, dass gerade die, denen es wirtschaftlich gut geht, sich vermehren. In unserer Gesellschaft aber scheint es genau umgekehrt zu sein. Die sozial Schwachen bekommen die Kinder und die Reichen haben Angst davor, ihr Leben anders zu gestalten.

Nun, vor ein paar Wochen habe ich einen Entschluss gefasst. Mit einfachen Mitteln kann man dieser Entwicklung Einhalt gebieten.

Seit einiger Zeit lasse ich mir von meinem Arzt regelmäßig zwei Medikamente verschreiben. Er hat zwar keine Ahnung, wofür ich sie verwende, aber da ich Privatpatient bin, fragt er glücklicherweise nicht nach.

Es ist so: Wenn eine Frau Antibiotika einnimmt, dann hebt das die Wirkung der Antibabypille auf. Auch Johanniskraut hat diesen Effekt.

Versetzt mit etwas pulverisiertem Viagra, habe ich für eine bestimmte Altersgruppe meiner Klientel eine neue Würzmischung entworfen. Mit viel Pfeffer, Paprika und verschiedenen anderen Geheimzutaten empfehle ich sie als kleine „Scharfmacher“.

Was soll ich sagen? Die Würzmischung ist der Renner.

Die Rolltreppe

Die Mechanik war nicht besonders anspruchsvoll. Nichts also, was Reiner Mühe bereiten sollte. Allerdings war die Technik vollkommen veraltet. Es gestaltete sich daher als schwierig, Ersatzteile zu improvisieren. Außerdem entsprach die Fahrtreppe keinem geläufigen Fabrikat.

Wenn er sich doch nur einmal richtig konzentrieren könnte! Hinter ihm drängelten sich die Menschen an der Absperrung, warfen Blicke über seine Schulter und fragten mitunter recht ungehalten, wann er die Stufen endlich wieder freigeben würde.

Und dann diese Musik! Sie war emotional und dabei viel zu laut. Die Klänge betäubten seine Gedanken. Immer und immer wieder der gleiche Titel. Bedeutungsschwanger. Anspruchsvoll. Und nach dem zwanzigsten Mal einfach nervtötend. Und obwohl er es nicht wollte, sang sein Unterbewusstsein insgeheim den Ohrwurm mit.

Mit dem Schraubenschlüssel schlug er verzweifelt auf eine Mutter ein, die sich nicht lösen ließ. Festgefressen bewegte sie sich nicht einen Millimeter. Fast wäre ihm ein Fluch über die Lippen gehuscht. Aber vor den kritischen Augen seines Auftraggebers konnte er es sich gerade so verkneifen. Ruhig Blut. Versuch es mit Gefühl, sagte er sich.

„Wie lange dauert es denn noch?“, fragte der bärtige Mann hinter ihm. „Meine Gäste werden langsam ungeduldig.“

Reiner schloss die Augen, nahm den Schraubenschlüssel wieder runter und atmete einmal tief durch, bevor er antwortete: „Der Weg ist zu Fuß zwar ziemlich lang, aber ich denke, es ist wohl besser, wenn Sie ihre Gäste heute über die alte Treppe nach oben führen. Und wenn ich nicht andauernd in meiner Arbeit gestört werden würde, könnte ich sicherlich bis zum Abend fertig werden. Vorausgesetzt, ich bekomme diese verf…, also diese Mutter los.“

„Gut. Ich kümmere mich darum. Die Leute werden umgeleitet“, sagte der Mann. „Soll sonst noch etwas veranlasst werden, damit die Reparatur beschleunigt werden kann?“

Reiner zögerte kurz. „Petrus, wenn Sie mich so direkt fragen: Auch wenn die Leute jetzt die Treppe benutzen, wäre es wirklich nett, wenn Sie die Musik abschalten würden. Ich kann Stairway to Heaven einfach nicht mehr hören.“

Umzug

Der alte Lastwagen stand direkt vor dem Hauseingang. Fett verkrustet klebte der Dreck auf dem Lack des Führerhauses, bedeckte den darunter fressenden Rost in beinahe kosmetischer Weise. Und das Fahrzeug war nicht nur für das Auge eine Beleidigung. Ohne die TÜV-Plakette oder mit ausgeblichenen, unleserlichen Nummernschildern hätte jeder Polizist das Fahrzeug umgehend aus dem Verkehr gezogen.

Das einzig Neue an diesem Fahrzeug war wohl die Beschriftung der Plane über der Ladefläche. Umzugs-Service stand dort. Darunter hatte der Unternehmer eine Handynummer anbringen lassen.

Edmund stand am Fenster und betrachtete mit mildem Entsetzen das ungewöhnliche Fahrzeug. Es war ihm nicht bekannt, dass einer seiner Nachbarn ausziehen wollte. Außerdem: Wer bitteschön im Hause würde seinen Hausrat einem so zwielichtigen Umzugsunternehmen anvertrauen?

Ein bärtiger Mann stieg aus dem Fahrzeug, betrachtete die Briefkästen und drückte den Klingelknopf der vierten Etage. Da wohnte doch Neumann!

Edmund öffnete sein Fenster. „He, Sie da!“ rief er dem Fremden zu. „Kann ich Ihnen helfen?“

Der Mann schaute auf, während er sich über seinen dicken Wanst kratzte. „Ich will zu …“, er blickte auf das kleine Schildchen an der Klingel, „Neumann.“

„Der ist nicht da. Der ist arbeiten.“

Ein Lächeln wuchs zwischen dem ungepflegten Dickicht im Gesicht des Mannes. „Wirklich?“

„Natürlich. Ich bin hier der Hausmeister. Ich muss so etwas wissen.“

„’türlich. Darf ich kurz zu Ihnen raufkommen?“

Zögerlich drückte Edmund dem Mann die Tür auf. Das Stampfen schwerer Schuhe begleitete den Fremden hinauf. „Tach“, sagte er. „Ich soll die Wohnung für Herrn Neumann räumen.“

„Was?“, fragte Edmund perplex. „Wieso das denn?“

„Nun, ganz im Vertrauen gesagt: Der Neumann ist pleite. Privatinsolvenz. Der Gute ist schon seit Monaten arbeitslos.“

„Nein“, sagte Edmund, „das kann doch nicht sein. Der geht doch jeden Tag zur Arbeit. Heute Morgen ist er pünktlich um sieben Uhr …“

„Er ist arbeitslos. Glaub’n Sie mir. Alles nur Fassade, denk’ ich.“

„Das wusste ich nicht.“ Wie konnte es sein, dass niemand in der Hausgemeinschaft etwas mitbekommen hatte? Er schämte sich etwas. Waren hier nicht alle so stolz darauf, dass sie so ein gutes nachbarschaftliches, fast freundschaftliches Verhältnis zueinander hatten?

Oh nein, erst gestern, beim Pokern, hatte er zwanzig Euro von Neumann gewonnen. Vermutlich war es sein letztes Bargeld gewesen und er hatte es ihm einfach abgenommen. Wie konnte er das nur wieder gutmachen?

„Herr Neumann ist also nicht da? Hm, das bringt mich nun etwas in Verlegenheit. Ich muss noch heut’ seine Wohnung leer kriegen. Sonst komm’ ich nicht hin mit meiner Kostenplanung und muss dem armen Schlucker noch eine doppelte Anfahrt berechn’n.“

Das war in der Tat ein Problem. Doch Edmund hatte eine Idee: Als Hausmeister hatte er selbstverständlich einen Ersatzschlüssel für Neumanns Wohnung. Gemeinsam gingen sie zur Wohnungstür.

„Werden Sie eigentlich auf Zeit bezahlt? Oder rechnen Sie pauschal mit Herrn Neumann ab?“ Der Mann schien auf die Frage gewartet zu haben.

„Ich werde auf Zeit bezahlt. Das war mein spezielles Angebot für Herrn Neumann, damit er – wenn er mir tragen hilft – etwas Geld sparen kann. Deswegen bin ich auch allein hier.“ Er zuckte mit den Schultern. „Leider is’ er nicht wie verabredet da. Jetzt wird’s teurer. Ich muss jetzt alles allein buckeln.“

Edmund dachte nach. „Warten Sie kurz.“

Natürlich wollte Edmund helfen. Innerhalb kürzester Zeit mobilisierte er die gesamte Nachbarschaft. Wenigstens diesen kleinen Dienst wollten sie Neumann leisten. Die Frauen packten, die Männer schleppten. Oma Greven versorgte alle mit frischem Kaffee und backte zum Nachmittag hin noch einen Kuchen für alle Helfer.

Als um vier Uhr Herr Neumann zurückkam, empfingen ihn seine Nachbarn in freudiger Erwartung. Sie hatten es tatsächlich geschafft, ohne ihn seinen Umzug zu bewältigen. Die Wohnung war leer, das Umzugsunternehmen vor einer halben Stunde wieder gefahren.

Nachdem Herr Neumann kurz seine Wohnung besichtigt hatte, fragte er Edmund, ob er mal bei ihm telefonieren dürfe. „Ich muss die Polizei anrufen.“

„Wieso?“

„Mein Telefon wurde auch gestohlen.“

Der Arzt

Es war alles da. Eine komplette Praxiseinrichtung nur für ihn. Sein Traum war Wirklichkeit geworden.

Im Wartezimmer hingen noch zwei Luftballons von der Eröffnungsfeier und auf jedem Fensterbrett stand eine Vase mit einem üppigen Blumenstrauß. Niemand wusste, dass Dr. med. Neugebauer noch kein erfahrener Arzt war. Deshalb war es ihm wichtig, dass er gerade während der Anfangszeit besonders professionell wirkte.

Aus diesem Grund hatte er Fräulein Klaasen als Arzthelferin berufen – die Verwendung von Fräulein sollte dabei nicht über ihr Alter hinwegtäuschen. Beim Einstellungsgespräch hatte Neugebauer höflicherweise nicht danach gefragt. Aber er konnte schon leise die Rente nach ihr rufen hören.

Jedenfalls hatte sie die Erfahrung, die er am Anfang benötigen würde.

Der erste Patient stand nun im Sprechzimmer und kleidete sich jenseits des Sichtschutzes wieder an, um sich gleich den Befund geben zu lassen.

„Geht das so?“, fragte Neugebauer.

Fräulein Klaasen stand hinter ihm und blickte ihm über die Schulter. Etwas Missbilligendes lag in ihren Augen, als sie den Kopf schüttelte.

Was für eine Blamage! Direkt am ersten Tag. Beim ersten Patienten. Das war der Alptraum, der ihn seit vielen Tagen heimsuchte: Er versagte als Mediziner.

„Es wirkt dilettantisch“, erklärte sie.

Natürlich war es ihm peinlich, in dieser Weise auf sein Personal angewiesen zu sein. Doch für den Augenblick ging es nicht anders.

„Versuchen Sie es lieber noch mal.“ Es klang fast wohlwollend. Sie erinnerte ihn an seine alte Grundschullehrerin. Benutzte sie dasselbe Parfum? Er befürchtete, dass sie ihm insgeheim Noten erteilte. Zurzeit jedenfalls erwiesen sich seine Leistungen noch als äußerst mangelhaft. Er griff wieder nach seinem teuren Kugelschreiber. Die Prozedur wiederholte er jetzt schon zum siebten Mal. Hoffentlich sah der Patient nicht, wie er sich hier abmühte.

„Nicht so verkrampft“, was für ein Ratschlag!

Wenn sich das herumsprach, konnte er die Praxis gleich wieder schließen. Die Kollegen würden ihn auslachen. Kein Apotheker nahm ihn auf diese Weise ernst …

„Tut mir leid, Chef“, sagte Fräulein Klaasen. Sie schien seine Gedanken zu lesen. „So geht das wirklich nicht.“ Sie nahm den Zettel und betrachtete ihn eingehend. „Das Rezept ist immer noch lesbar.“

Das Versteck

Die Geschwister Barbara und Daniela Kraus hatten schon immer ein schwieriges Verhältnis gehabt. Sie selbst hätten es durchaus als Hassliebe bezeichnet.

So wunderte es niemanden, dass nach dem Tod der 86-jährigen Mutter ein erbitterter Erbschaftskrieg losbrach. Es ging nicht um eine beträchtliche Hinterlassenschaft – die Mutter hatte keinen großen Besitz gehabt. Allerdings hatte sie eine kleine Schatulle besessen, in welcher der Familienschmuck ruhte.

Das einzig wirklich kostbare Stück darin war ein kleiner Ring. Das echte Gold – kunstvoll verarbeitet und mit kleinen Diamanten besetzt – machte aus dem Schmuck ein kostbares Kleinod, das seit Generationen weitergereicht wurde. Antiquitätenhändler hätten sich die Finger danach geleckt.

Der Streit um das Erbstück ging bis vor Gericht. Es wurde gekeift und geschrien, während die Anwälte und der Richter fast ratlos dabeistanden. Die Gerichtsdiener hatten alle Hände voll zu tun, die beiden Frauen, die sich wie Furien aufführten, zu trennen. Nach langen und zähen Verhandlungen schließlich sprach der Richter der älteren Barbara den Ring zu.

Daniela heulte vor Wut und noch im Gang vor dem Gerichtssaal lauerte sie ihrer Schwester auf, um ihr das Erbstück mit Gewalt zu entreißen. Sie wusste, was es zu tun galt, würde sie den Ring in ihre Finger bekommen!

Schon als Kinder hatten sie sich oft um kleine Spielsachen und Süßigkeiten gestritten. Da Barbara damals die Stärkere war, erdachte sich Daniela eine Methode, mit der sie sich erkämpfte Beute sichern konnte: Sie nahm alles, worum sie sich stritten, in den Mund und schluckte es runter.

Es schien, als sei sie ein anatomisches Wunder, denn nie blieb ihr etwas im Halse stecken und wenn die Spielsachen später an anderer Stelle wieder herauskamen, wollte sie Barbara verständlicherweise nicht mehr haben.

Überrascht von der Attacke, musste Barbara nun mit ansehen, wie Daniela den Ring an sich riss und ohne zu zögern in den weit geöffneten Mund steckte. Dann schluckte Daniela …

… nein, sie versuchte