Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Chefinspektor Kleinschmied wird vor dem Eingang seines Stamm-Wirtshauses von einem Sportwagen niedergestoßen. Sollte er daran gehindert werden, eine Serie von Frauenmorden aufzuklären? Einige Kundinnen einer Fußpflegerin wurden mit dem Rasiermesser ihrer Gefährten ermordet. Der marode Chefinspektor humpelt, nach kurzem Spitalsaufenthalt, zum Dienst und hat bald einen Verdacht, wer die Morde begangen haben könnte.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Handlung, Personen und Orte der Handlung sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit ist rein zufällig.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Chefinspektor Othmar Kleinschmied, der Leiter der Mordkommission 1 im Landeskriminalamt Wien, war gut gelaunt, er hatte wieder einmal Zeit, seinen Stammtisch zu besuchen, und mit seinen Freunden bei einem guten Glas Wein und einer geschnorrten Zigarre Karten zu spielen. Der Zigarrenlieferant war der Apotheker Magister Karl Kotter. Der Dritte im Bunde war der Allgemeinmediziner Doktor Ferdinand Zahnbrecher.
„Es geht nichts über eine heile Welt“, sagte Doktor Zahnbrecher, der mit seinem Arbeitstag sichtlich zufrieden war.
Kotter brummte nur Unverständliches.
„Was hast du, Karl?“, fragte Kleinschmied.
Kotter verzog sein Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Sonst schilderst du die Wonnen, die du mit deiner neuesten Flamme erlebst. Heute bist du seltsam still“, sagte Doktor Zahnbrecher.
„Die Flamme ist erloschen.“
„Jetzt schon?“, riefen Zahnbrecher und Kleinschmied unisono.
„Ja.“
„Die Flamme wurde doch erst kürzlich mit mehr Pomp als das olympische Feuer entzündet“, wunderte sich Kleinschmied.
„Was hat sie verbrochen, dass du ihr so schnell den Laufpass gibst?“, fragte Zahnbrecher.
Kotter schaute nur unglücklich, antwortete aber nicht.
„Das muss ein Kapitalverbrechen gewesen sein“, bemerkte Kleinschmied.
Kotter fühlte sich gefoppt, schwieg aber weiter.
„Wollte sie etwa Geld von dir?“, war Zahnbrecher neugierig provokant.
Kotter wurde grantig, schwieg aber weiter.
„Hast du deine Augen vielleicht auf eine andere gerichtet?“, wollte Kleinschmiedwissen.
„Ihr seid mir die richtigen Freunde“, platzte Kotter endlich heraus. „Dass mir das Mädchen den Laufpass gegeben hat, könnt ihr nicht glauben?“
„Nein“, sagte Zahnbrecher gedehnt, und Kleinschmied ergänzte schadenfroh und scheinheilig: „Niemals.“
„Und doch ist es so. Sie hat mich nur ausgenützt.“
„Erzähle!“, forderte Kleinschmied.
„Erleichtere dein Gewissen“, sagte Zahnbrecher übertrieben mitfühlen, um wenig später spöttisch nachzufragen: „Was hast du angestellt?“
„Ich?“
„Ja, du.“
„Sie hat mich reingelegt. Ein Bruder, so erklärte sie mir, studiere Pharmazie. Er habe durch einen unglücklichen Umstand versäumt, eine vorgeschriebene Ferialpraxis zu machen. Ob ich ihn nicht helfen könnte, wurde ich lieb gefragt.“
„Und du hast ihm die Praxis bestätigt?“, fragte Kleinschmied drohend.
„Jein“, wimmerte Kotter. „Ich bestand auf einer Woche, in der ich ihm ordentliche Unterweisungen gab. Die drei weiteren Wochen, die er hätte machen müssen, habe ich ihm dann wirklich als absolviert bestätigt.“
„Und der Bruder war der Freund des Mädchens, und du wurdest nach erfolgter Hilfe in die Wüste geschickt“, ergänzte Kleinschmied das Geständnis.
„So war es“, bestätigte Kotter. „Das Übelste war aber, dass meine Ex-Frau alles mitbekommen hat, sie ist ja noch immer Partnerin in der Apotheke.“
„Schau endlich, dass deine Welt heil wird. Du ruinierst nur deine Nerven. In deinem Alter musst du schon etwas vorsichtiger sein“, forderte Zahnbrecher.
„Du kannst leicht von einer heilen Welt reden“, sagte Magister Kotter zu Doktor Zahnbrecher, „du bist Arzt, das Heilen ist dein Beruf.“
„Was wollt Ihr?“, fragte Kleinschmied, „Meine Welt ist auch heil.“
„Deine Welt?“, staunten die Freunde.
„Du kommst doch beruflich nur mit Mord und Totschlag zusammen. Deine Zeugen leiden an Amnesie und deine Verdächtigen sind Weltmeisterim Lügen“, protestierte Kotter.
„Meine Welt ist heil, ich gewinne heute im Spiel“, antwortete Kleinschmied.
„Das machst du doch immer“, protestierten die Freunde.
„Heile Welt“, antwortete Kleinschmied vergnügt lächelnd.
Da platzte dem armen Apotheker endlich der Kragen und er fragte zornig: „Was versteht ihr den unter einer heilen Welt?“
„Eine Reihe von normalen Tagen gaukelt jeden seine heile Welt vor“, meinte Kleinschmied.
„Die Welt ist nicht heil, kann gar nicht heil sein. Ob ein Tag als normal empfunden wird oder nicht, hängt von den zyklischen Hormonphasen der einzelnen Menschen ab“, sagte Doktor Zahnbrecher.
„Wie geht das?“, wollte Kotter wissen.
„Zwei Schlechtgelaunte vermiesen einander den Tag, zwei Gutgelaunte machen euphorisch, können aber zur Unachtsamkeit Anlass geben. Ein Schlechtgelaunter und ein Gutgelaunter können die Stimmung neutralisieren oder in eines der Extreme kippen lassen“, erklärte der Doktor.
„Hochgerechnet auf die Gesellschaft gibt es also nur heile Inseln, aber keine heile Welt“, schlussfolgerte Kleinschmied.
„So ist es“, bekräftigte Zahnbrecher.
„Dann spiel ich ein Solo“, sagte Kleinschmied und lachte. „Ich befinde mich nämlich gerade auf einer heilen Insel.“
„Kontra“, rief der Apotheker.
Kleinschmied verlor tatsächlich, er war etwas unachtsam gewesen und hatte sich in der Verteilung der Tarocks verschätzt. Dann musste er sich noch gefallen lassen, dass Kotter ihn fragte: „Ist deine Welt noch immer heil?“
„Ja. Aber du schaust nicht so aus, als würdest du dich freuen, mir das Solo verdorben zu haben.“
„Ich musste an die Kessler denken.“
„Beim Soloabfangen?“
„Ja.“
„Wer ist die Kessler?“
„Seine erloschene Flamme“, antwortet Zahnbrecher für Kotter.
„Hat sie keinen Vornamen?“, wunderte sich Kleinschmied.
„Ich verwende bei meinen Flammen nur die Zunamen. Das geschieht aus Sicherheitsgründen, damit meine Ex-Frau in der Apotheke nicht weiß, mit wem ich telefoniere.“
„Ich kannte einen Kollegen, der so geheißen hat“, sagte Kleinschmied nachdenklich, und seine Welt schien auf einmal nicht mehr heil zu sein.
„Erzähle!“, forderte Zahnbrecher, dem Kleinschmieds Stimmungsänderung nicht verborgen geblieben war.
„Erzähle!“, forderte auch Kotter, dem das Kartenspielen an dem Tag keine rechte Freude machte.
„Der Kollege hatte Eltern, die eines ungewöhnlichen Todes starben“, begann Kleinschmied. „Das war einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit den Besatzern kam Rauschgift zu uns und der Schwarzhandel blühte damit. Der Vater meines Kollegen war Kriminalbeamter und mit der Eindämmung des Schwarzhandels mit einer Sisyphusarbeit betraut. Die Mutter meines Kollegen war als Schreibkraft in einem Kommissariat halbtags beschäftigt. Die Rauschgiftszene versuchte den Kriminalisten zuerst zu bestechen und als dies nichts nützte, ihn einzuschüchtern. Der alte Polizist blieb standhaft. Und so verschwand eines Tages am helllichten Tag seine Frau aus dem Kommissariat. Eine Nachbarin brachte einen Brief, der nichts anderes enthielt als den Ehering der Verschwundenen. Am Kuvert stand: ‚Wegschauen bringt Wiedersehen‘.“
„Hat er weggeschaut?“, fragte Zahnbrecher.
„Was ist ihm denn anderes übrig geblieben“, meinte Kotter.
„Er hat mit seinem Vorgesetzten gesprochen und wurde vom Fall abgezogen.“
„Oje!“, rief Kotter. „Das wird den Verbrechern nicht gereicht haben.“
„Natürlich nicht“, setzte Kleinschmied seine Erzählung fort. „Eine lange Woche geschah nichts. Dann brachte ein kleines Kind einen in einem alten Tuch eingewickelten Gegenstand.“
„Sag nicht, dass das ein Fingerglied war“, versuchte Zahnbrecher, die böse Geschichte zu beeinflussen.
„Wie ging es weiter“, forderte Kotter.
„Die Polizei hatte ihre Informanden und daher auch einen hochrangigen Verdächtigen, der bei den Obersten der Besatzungsmächte ein- und ausging. Nach einigen Versuchen diesen Mann zumindest einzuvernehmen, die kläglich an den Interventionen der Besatzer scheiterten, gab man tatsächlich für einige Zeit die Kontrolle des Rauschgifthandels auf.“
Kleinschmied griff zum Weinglas. „Ich habe nichts zum Trinken mehr“, stellte er fest, stand auf und wollte nachbestellen.
„Was brauchst du Wein, wenn es um Leben oder Tod geht“, schimpfte Kotter.
„Hör nicht auf den Apotheker“, sagte Zahnbrecher. „Wenn du die Wirtin siehst, sag ihr, dass auch ein Doktor der Allgemeinmedizin Alkohol braucht.“
„Willst du jetzt auch noch was, Karl?“, fragte Kleinschmied.
„Ja“, stöhnte Kotter. „Vielleicht bist du dann geneigt, ohne weitere Unterbrechung die Schauergeschichte bis zum Ende zu erzählen.“
Kleinschmied verließ kurz das Extrazimmer und kam bald mit der Wirtin wieder, die eine Karaffe Rotwein trug. Nachdem die Freunde wieder Wein in ihren Gläsern hatten, war Kleinschmied bereit, die Geschichte fertig zu erzählen.
„Trotz des Kontrollmoratoriums, der arme alte Kessler hatte ja keinen Ansprechpartner bei den Entführern, geschah nichts, und die Entführte blieb verschwunden. Nach etwa zwei Wochen, es war genau vier Wochen nach der Entführung, fand man in den frühen Morgenstunden die Leiche der Kessler vor ihrem Haus auf der Straße liegen. Mein Kollege war damals zwei Jahre alt und verstand nicht wirklich, was da vorgefallen war. Der Vater hatte ihn, weil keine Verwandten mehr lebten, kurz nach der Entführung seiner Mutter zu den Ursulinen gebracht gehabt. Der alte Kessler sprach von dem Zeitpunkt der Auffindung der Leiche seiner Frau kein Wort mehr.“
„Eine böse Geschichte“, sagte Kotter. „Da ist ja meine Kessler-Erfahrung direkt harmlos dagegen.“
„Woran ist die Frau gestorben?“, wollte Doktor Zahnbrecher wissen.
„Es gab keine Obduktion. War auch nicht nötig. Die Kessler wurde erschossen, mit einer alten 08-Pistole.“
„Und natürlich hat man nie erfahren, wer das war“, ärgerte sich Kotter.
„Nachkriegszeit. Weißt du, in welchem Jahr das war, Othmar?“, fragte Zahnbrecher.
„1948. Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Die österreichische Kripo hatte ja einen ganz bestimmten Verdacht, wer der Drahtzieher im Drogengeschäft war. Also wartete Kessler vor dem Haus des Drogenbosses auf der Straße. Als ein amerikanischer Jeep mit dem Drogenhändler am Steuer das Grundstück verließ, hielt ihn Kessler auf, indem er mit der linken Hand ein Haltezeichen gab. In der rechten hielt er eine amerikanische Handgranate, aus der der Splint schon gezogen war. Nur ein noch angelegter, gefederter Bügel hinderte sie am Explodieren. Kessler hatte noch eine Jutetasche umgehängt, in der sich vermutlich etwa zehn weitere Handgranaten befanden. Der Jeep stoppte nur kurz. Dann gab der Fahrer Vollgas und überrollte Kessler. Als ihn der Jeep niederwarf, ließ Kessler den Bügel los und die Handgranate explodierte. In Übertragungszündung explodierten auch die anderen Handgranaten in der Jutetasche. Der Jeep soll durch die Wucht der Explosion etwa drei Meter in die Luft geschleudert worden sein.“
„Ist die Geschichte amtlich?“, wunderte sich Kotter.
„1948, Karl!“, antwortete Kleinschmied. „Ich habe sogar Frau Schmidt suchen lassen. Sie hat nichts gefunden, kein Protokoll, keinen Zeitungsbericht. Und was Frau Schmidt nicht findet, existiert nicht.“
„Die Besatzungsmächte werden kein Interesse an der Aufklärung des Falles gehabt haben“, meinte Zahnbrecher.
„Die menschlichen Überreste und das völlig deformierte Wrack wurden am nächsten Tag entfernt, der Sprengkrater mit Schotter zugeschüttet.“
„Wie hat das der junge Kessler ausgehalten?“, wollte Doktor Zahnbrecher wissen.
„Der junge Kessler hat mir die ganze Geschichte anlässlich seiner Pensionierungsfeier vor ein paar Jahren erzählt. Nachdem er seine Eltern nicht wirklich gekannt hat, hat ihm die Tragödie nicht geschadet. Bei seiner Pensionierungsfeier war sogar eine alte Klosterschwester anwesend, die als blutjunge Ordensfrau 1948 im Waisenhaus gearbeitet hat.“
„Weißt du, Othmar, warum mir die Geschichte merkwürdig vorkommt?“, fragte Magister Kotter.
„Warum?“
„Woher wusste der Kessler von der Explosion, wenn es kein Protokoll und keinen Zeitungsbericht gegeben hat?“
„Er selbst war ja im Waisenhaus“, ergänzte Zahnbrecher.
„Eine gute Frage, meine Herren. Die hab ich Kessler auch gestellt. Da hat der Kollege einen vergilbten Briefumschlag aus seiner Brieftasche gezogen und mir einen Brief einer Frau Emma Ganzweiler zu lesen gegeben. Sie war auch Schreibkraft im Kommissariat, also eine Kollegin der Kessler, und schrieb für den Bub ihrer Kollegin das Drama auf, damit er, wenn er es vertragen könne, über das Ende seiner Eltern Bescheid wisse. Den Brief gab Frau Ganzweiler im Waisenhaus ab.“
Das Trio legte nun die Karten endgültig weg, nach der bösen Geschichte war allen die Lust am Spiel verloren gegangen. Der gute Rotwein schmeckte auch so.
„Es gibt immer Menschen, die dafür sorgen, dass andere eine heile Welt haben können“, sinnierte Kotter.
„Meinst du die Emma Ganzweiler?“, fragte Zahnbrecher.
„War der Kessler über den Brief der Ganzweiler froh, Othmar?“, wollte Kotter wissen.
„Er hütete ihn jedenfalls wie einen wertvollen Schatz.“
Als die Freunde den Heimweg antreten wollten, bat die Wirtin den Chefinspektor, noch etwas zu bleiben, sie hätte noch eine wichtige Frage. Doktor Zahnbrecher und Magister Kotter ließen sich vom Wirt ein Taxi rufen und verabschiedeten sich.
Die Wirtin setzte sich zu Kleinschmied ins Extrazimmer und begann: „Unser Piccolo hat in den vergangenen Tagen öfters eine rothaarige Frau in einem roten Sportwagen in der Nähe unseres Wirtshauses gesehen. Das kam ihm irgendwie komisch vor.“
„Hat er gesagt“, fragte Kleinschmied, „was daran komisch war?“
„Sie stand ein paar Häuser oberhalb des Wirtshauses auf unserer Seite mit laufendem Motor. Als der Piccolo aus dem Tor auf den Gehsteig getreten ist, hat sie stark Gas gegeben und ist an ihm sehr schnell vorbeigefahren. Das geschah mindestens dreimal in dieser Woche.“
„Weiß der Piccolo die Zulassungsnummer des Autos?“
„Darauf hat der dumme Bub nicht geschaut, die rothaarige Fahrerin hat ihn mehr interessiert. Er hat sogar ihren Bubikopf bewundert. Heute, zu Mittag, ist sie auch vorbeigefahren, hat der Piccolo in die Küche gerufen. Dann hat ihn der zweite Koch hinausgeworfen, zu Mittag kann man in der Küche keinen Störenfried gebrauchen. Ich hab leider nichts gesehen, war scheußlich unter Druck, gleich drei Maurerpartien wollten ihr Essen. Da hab ich keine Zeit, auf die Straße zu gehen.“
„Der Wirt weiß nichts davon?“
„Der Wirt hat nur gesagt, dass der Piccolo zum Schauen zu blöd ist. Man soll daher auf seine Beobachtung keinen Wert legen.“
„Hat ihr Piccolo vielleicht mit seinem Smartphone ein Foto vom Wagen oder zumindest von der Frau gemacht? Junge Leute nehmen doch heutzutage alles auf.“
„Das weiß ich leider nicht. Ich werde ihn gleich morgen fragen. Meinen Sie, dass die rote Frau eine Gefahr darstellt?“
„Das ist schwer zu sagen. Das Vorbeifahren kann einen ganz harmlosen Grund haben.“
„Ich fürchte aber doch, dass wieder jemand etwas gegen uns vorhat. Mein Mann spürt immer noch die Stichverletzung, die er nur mit viel Glück überlebt hat. Vielleicht ist ja nichts daran, ich bin halt ängstlich.“
„Der Attentäter von damals, als der Wirt verletzt wurde, lebt nicht mehr. Von ihm ist also keine weitere Gefahr zu erwarten. Er war außerdem ein Einzeltäter, also ist ein Racheakt eines Komplizen nicht zu befürchten. Der Piccolo soll mir jedenfalls seine Fotos per E-Mail schicken. Meine Mailadresse haben Sie doch noch?“
„Ja“, sagte die Wirtin über Kleinschmieds beruhigenden Worte erfreut.
Kleinschmied wollte zu Fuß heimgehen. Der Chefinspektor war kaum auf die Gasse getreten, als ein rasendes Auto von der Straße auf den Gehsteig fuhr und ihn niederstieß. Kleinschmied wurde aber von seinem „Bauchgefühl“ gewarnt und so trat er rechtzeitig einen Schritt zurück in den schützenden Hausflur des Wirtshauses. Verletzt wurde er trotzdem. Zuerst spürte er nur unerträgliche Schmerzen in den Beinen und dann verlor er das Bewusstsein, als er mit dem Hinterkopf auf das Türblatt des Wirtshauseingangs prallte.
Der Wirt hatte hinter Kleinschmied die Tür abgesperrt, als er durch den Lärm des Motors, den Aufprall des Kopfes an der Tür samt Schmerzensschrei erschreckt wurde. Er sperrte sofort wieder auf, öffnete die Tür und hatte den bewusstlosen Kleinschmied in den Armen. Auf der Straße war nur noch der Motor eines davonrasenden Autos zu hören.
„Ulrike!“, rief der Wirt, Franz Sprenger. „Ruf die Rettung und die Polizei, der Kleinschmied ist niedergeführt worden.“ Er schleppte Kleinschmied in den Gang herein und ließ ihn vorsichtig auf den Teppich gleiten. Dann brachte er ihn in die Seitenlage, wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Den Kurs hatte er nach seiner Genesung von der Messerattacke gemacht. Von seinen Gästen, die oft ein loses Mundwerk hatten, wurde er gehänselt, ob sein Bier so schlecht sei, dass er ohne einen Ersthilfekurs zu viel Schadenersatz leisten müsste. „Den Kurs brauche ich, wenn ich dir mit dem Bierschlägel zu fest aufs Maul gehaut habe“, war dann meistens Sprengers Antwort.
Zuerst kam der Notarzt und dann folgte die Funkstreife. Der Arzt stellte fest, dass Kleinschmied noch lebte, aber neben gebrochenen Beinen auch noch einen gebrochenen Schädel haben könnte. Er ließ ihn mit der Rettung ins Unfallkrankenhaus bringen.
Die Funkstreife löste eine Alarmfahndung aus, um das fahrerflüchtige Fahrzeug zu finden. Als der Wirt den Polizisten erklärte, wer da niedergestoßen wurde, verständigte man sofort das Landeskriminalamt, die Dienststelle Kleinschmieds.
Chefinspektor Bach, der Leiter der Mordkommission 2 hatte Dienst. Als er hörte, Kleinschmied wurde am Gehsteig von einem Auto niedergestoßen, kam er sofort ins Wirtshaus, ließ sich schildern, was passiert war, verständigte die Spurensicherung und schickte die Funkstreife ins Spital, um das Gewand des Unfallopfers abzuholen, damit man eventuell darauf Spuren des Tatfahrzeugs finden könnte.
Die Wirtin war überzeugt, dass der Unfall kein Unfall, sondern ein Mordanschlag war, und erzählte Bach die Geschichte vom Piccolo und der rothaarigen Sportwagenfahrerin.
„Wo ist der Piccolo?“, fragte Bach.
„Zu Hause, wie es sich für einen Minderjährigen gehört“, antwortete grantig der Wirt. Er hielt nichts von der Beobachtung seines jüngsten Mitarbeiters.
„Die Adresse“, forderte Bach.
Der Wirt schrieb die Adresse auf einem Zettel des Rechnungsblocks und gab sie Bach.
„Herr Kollege“, sagte Bach zu einem Funkstreifenbeamten. „Holt mir den Piccolo her, aber sanft, er ist ein wichtiger Zeuge.“
„Und er soll sein Handy mitbringen, wir wollen die Fotos des Sportwagens sehen“, rief die Wirtin dem Beamten nach.
„Jawohl, Piccolo samt Handy“, wiederholte der Beamte gehorsam und brauste mit der Funkstreife davon.
Dann machte Bach telefonisch beim Oberst Kupsky Meldung. Der Oberst war nicht nur Kleinschmieds, sondern auch Bachs Vorgesetzter. „Fahren Sie sofort zu Kleinschmieds Frau und bringen Sie ihr schonend bei, was passiert ist“, befahl der Oberst. „Und Bach, warten Sie im Spital auf den behandelnden Arzt. Ich will sofort wissen, wie es um Kleinschmied steht. Ein Mordanschlag auf einen Polizeibeamten! So was ist unerhört!“
Bachs Bemerkung „Es kann aber auch ein Unfall gewesen sein. In der Nähe des Wirtshauses haben zwei neue Heurige aufgemacht“, kam beim Oberst nicht gut an. Er brüllte nur: „Machen Sie wie befohlen.“
Die Funkstreife brachte den neugierigen Piccolo, der sich über die gedrückte Haltung von Wirtin und Wirt wunderte und begeistert die Fotos auf seinem Handy zeigte. Er hatte drei Fotos gemacht, alle von der Seite mit dem Fokus auf die Fahrerin, die eine knallrote Perücke trug. Nummernschild war keines auf den Aufnahmen zu sehen. Das, was man über das Auto sah, ließ nur vermuten, dass es sich um einen weinroten Sportwagen mit schwarzem Stoffdach handelte.
„Da ist ja nicht einmal die Type zu erkennen“, maulte Bach.
„Die kenn ich doch“, antwortete der Piccolo.
„Also welche Type“, wurde Bach ungeduldig.
„Ein MG.“
„Geht das etwas genauer?“
„Ich glaube, es war ein MGA 1500.”
„Tatsächlich?”
„Ja.“
„Na, wenigstens etwas. Von der Nummer hast du dir nichts gemerkt?“
„Darauf hab ich nicht geachtet. Ich wollte die Fahrerin knipsen.“
„Kam sie dir bekannt vor?“
„Nein, nur seltsam.“
„Wieso seltsam?“
„Die roten Haare waren wie ein Topf aufgesetzt. Man konnte fast greifen, dass sie nicht echt waren. Sehen Sie doch selbst.“
Bach warf noch einmal einen Blick auf eines der Bilder. „Du hast recht. Schick mir die drei Fotos auf mein Handy.“ Er gab ihm die Telefonnummer.
„Jetzt?“
„Ja, jetzt. Dann kannst du wieder heimgehen.“
Im Spital hatte man inzwischen festgestellt, dass Kleinschmied beide Schienbeine verletzt waren. Der Schädel war ganz geblieben. Kleinschmied bekam die Beine eingegipst und wurde stationär aufgenommen, weil eine Gehirnerschütterung vermutet wurde.
Alma Kleinschmied, die Frau vom Chefinspektor staunte nicht schlecht, als sie den ehemaligen Mitarbeiter ihres Mannes, den nunmehrigen Chefinspektor Bach vor ihrer Haustür stehen sah.
„Herr Bach!“, fragte sie überrascht. „Was gibt es denn zur späten Stunde? Mein Mann ist mit seinen Freunden im Wirtshaus. Aber das werden Sie ja noch wissen.“
„Ja, weiß ich. Entschuldigen Sie die Störung. Ihr Mann hatte einen Unfall und wurde ins Unfallkrankenhaus gebracht.“
„Du lieber Himmel!“, rief Frau Alma. „Da muss ich gleich hinfahren.“
„Wenn Sie wollen, bring ich sie hin“, stotterte Bach verlegen. Besuche bei Familienmitgliedern von Verbrechensopfern waren ihm noch immer unangenehm.
Frau Alma wollte hingebracht werden und so wurde sie mit Blaulicht ins Spital gefahren. Unterwegs rief Frau Alma noch ihre Tochter Viktoria an und beorderte sie zum Spital. So warteten also die beiden Kleinschmied-Damen und der bedrückte Chefinspektor Bach auf die Mitteilung des Arztes, wie es um Kleinschmied bestellt war. Ohne den ärztlichen Befund traute sich Bach nicht, dem Oberst unter die Augen zu treten.
Kleinschmieds Enkelin Lydia musste zu Hause bleiben, was sie erst nach heftigen Protesten hinnahm, als ihre Mutter versprach, sie bei nächster Gelegenheit ins Spital mitzunehmen. Alle fünf Minuten rief sie ihre Mutter am Handy an und wollte wissen, wie es ihrem Opili geht.
Schließlich stießen auch noch Doktor Zahnbrecher und Magister Kotter zu den Wartenden. Die Wirtin hatte beide benachrichtigt.
„Kann man den Othmar keine Minute alleine lassen?“, versuchte Kotter zu scherzen, was bei den anderen nicht besonders ankam. „Alleine, ohne seine Freunde im Wirtshaus zu bleiben, ist auch für den mutigsten Mann gefährlich. Aber, wir sind wieder da. Jetzt kann ihm nichts mehr geschehen.“
Zahnbrecher brachte schließlich die Meldung:
„Es ist nicht ganz so schlimm: Othmar ist im Gipsraum. Der Kopf ist ganz geblieben. Eine Gehirnerschütterung wird aber vermutet. Othmar wird eine Weile dableibenmüssen.“
„Die Unterwelt von Wien kann jubeln“, meldete sich wieder der Alkohol aus Kotter. „Die Polizei ist extrem geschwächt.“
Vom behandelnden Arzt wurde Zahnbrechers Bericht bestätigt. Und weil man Kleinschmied nicht nur Gips an seinen Füßen anbrachte, sondern auch ein Schlafmittel verabreicht hatte, war ein Besuch am Krankenbett erst am nächsten Tag möglich.
„Gehirnerschütterung?“, fragte Bach, „Da ist wohl eine Amnesie möglich?“
„Nicht nur möglich, sondern ziemlich wahrscheinlich“, sagte der Arzt und ließ die Wartenden stehen.
Bis auf die Kleinschmied-Damen, die noch ans Krankenbett wollten, gingen die anderen heim.
Als der Oberst am nächsten Tag schließlich Bachs Bericht über die Affäre Kleinschmied las, tobte er über den leichtfertigen Bach und ließ vor Kleinschmieds Krankenzimmer eine Wache aufziehen. „Solange unser Verdacht nicht widerlegt wird, dass der Unfall ein Attentat war, müssen wir vom Attentat ausgehen“, machte er Bach nieder. Und der hatte das Gefühl, für den unglücklichen Kleinschmied-Unfall persönlich verantwortlich gemacht zu werden.
„Wie der Kleinschmied wieder ansprechbar ist, fahr ich ihn besuchen. Planen Sie das ein“, herrschte der Oberst seine Sekretärin an, als er am Weg in Kleinschmieds Büro durch sein Vorzimmer ging. Im Büro der Mordkommission 1 sagte der Oberst Frau Schmidt, dass sie auf ihren Chef nicht warten müsse, weil er verletzt im Spital liege und gab die Weisung, dass Bezirksinspektor Berta Dolies bis auf Weiteres die Mordkommission 1 leiten solle.
„Wie geht es dem Chefinspektor?“, fragte Frau Schmidt bedrückt. „Kann man ihn besuchen?“
„Es ist nicht allzu schlimm, was ihm passiert ist. Der Chefinspektor Bach hat die Ermittlungen übernommen. Sie hören noch von mir.“
Dann schlich der Oberst wie ein geprügelter Hund zum Amtsleiter, um ihn über den Angriff auf einen führenden Kriminalbeamten des Landeskriminalamtes zu berichten, bevor er es aus der Zeitung erfahren könnte. Zu seinem Pech war der Amtsleiter schon informiert, die Neuigkeit hatte sich wie ein Lauffeuer im ganzen Amt ausgebreitet. Der Oberst wurde mit den konkreten Fragen empfangen: „Zustand? Spurensicherung? Fahndung?“
„Stabil. Alles eingeleitet“, meldete Oberst Kupsky. „Ich habe den Chefinspektor Bach mit den Ermittlungen und Bezirksinspektorin Dolies mit der provisorischen Leitung der Mordkommission 1 betraut.“
„Gut. Herr Kupsky“, fragte der Amtsleiter, „kann es sein, dass der Unfall mit einem der Fälle zusammenhängt, die Kleinschmied bearbeitet hat?“
„Kleinschmied würde an meiner Stelle sicher antworten, dass der Unfall mit einem Fall zusammenhängt, den er noch nicht bearbeitet hat“, versuchte der Oberst, schlagfertig zu sein.
„Wecken Sie keine schlafenden Hunde, Kupsky. Jedenfalls soll der Bach mit der Frau Dolies die bearbeiteten Fälle der letzten Zeit nach Anhaltspunkten für ein Attentat auf Kleinschmied durchsehen.“
Als Kleinschmied am Morgen erwachte, war er erstaunt, eine Krankenschwester an seinem Bett zu sehen, die ihm ein Frühstück brachte.
„Ihr Frühstück, Herr Kleinschmied.“
„Was mach ich da?“, fragte er.
„Das wissen Sie nicht?“, wurde er statt einer Antwort zurückgefragt.
„Ich hab keine Ahnung. Ich wollte doch aus dem Wirtshaus heimgehen. Das hier ist doch nicht mein Zuhause.“
„Sie sind im Spital.“
„Was ist mit meinen Füßen los?“, fragte Kleinschmied und klopfte auf sein linkes Schienbein. „Die fühlen sich so hart an.“
„Der Doktor wird gleich kommen“, sagte die Schwester. „Essen Sie ihr Frühstück.“ Und ließ Kleinschmied mit seinen Fragen allein.
Das Frühstück wollte er nicht, er grübelte nach, warum er im Spital war. Griff sich unwillkürlich auf den brummenden Kopf und merkte, dass er einen dicken Verband trug. Vorsichtig betastete er den Kopf und merkte, dass er am Hinterkopf wohl eine dicke Beule haben musste. Er war mit dem Erforschen seines Zustandes so beschäftigt, dass er den uniformierten Polizisten und den Arzt nicht bemerkte, die an seinem Bett standen.