Kleinschmied und das Waldgrab - Peter Faust - E-Book

Kleinschmied und das Waldgrab E-Book

Peter Faust

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Beschreibung

Ein alter Mann saß auf einem steinernen Blumengeschirr gegenüber dem Riesentor des Stephansdoms in Wien. Er sagte immer wieder: Er hat meine Tochter getötet. Dabei rannen ihm zwei Ströme von Tränen aus seinen Augen. Die Passanten nahmen ihn nicht mehr zur Kenntnis, da er jeden Tag von 15 bis 16 Uhr da war und seine seltsame Anklage vortrug. Pünktlich um 16 Uhr erschienen zwei Polizisten, die gezielt auf den Alten zugingen und ihn aufs Polizeirevier mitnahmen. Einmal erfolgte die Festnahme, als Kleinschmied über den Stephansplatz ging. Ganz gegen seine Gewohnheit mischte er sich in die Amtshandlung ein und ließ den Alten ins LKA bringen. Er ahnte nicht, dass er sich damit einen komplizierten Fall einhandelte.

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Handlung, Personen und Orte der Handlung sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit ist rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

1

Ein alter Mann saß auf einem steinernen Blumengeschirr gegenüber dem Riesentor des Stephansdoms in Wien. Er sprach in einem ausgefallenen Tonfall, ja er leierte die Worte völlig gleichbetont herunter, so, als sagte ein ungeübtes Kind ein Gedicht auf. Was er sagte, war unverständlich. Dabei rannen ihm zwei Ströme Tränen aus seinen Augen. Die Passanten nahmen ihn nicht zur Kenntnis, da er jeden Tag von 15 bis 16 Uhr da war und seine seltsame Anklage vortrug. Während er sprach, schaute er unverwandt auf das Kirchentor, als erwartete er sich, dass daraus seine Erlösung erscheinen würde.

Pünktlich um 16 Uhr erschienen zwei Polizisten, die gezielt auf den Alten zugingen und ihn aufs Polizeirevier mitnahmen. Es fand sich ja immer ein Mensch, der sich vom Geplapper des Alten gestört fühlte und die Polizei rief.

Einmal passierte die Festnahme durch die Uniformierten, als Kleinschmied über den Stephansplatz ging, weil er seine Tochter in einem nahen Kaffee treffen wollte. Normalerweise mischte er sich nicht ein, wenn Uniformierte einen Sandler festnahmen, doch das Verhalten des Alten fiel ihm auf. Der Alte protestierte nicht lautstark, wie das Sandler oft taten, er streckte den Polizisten beide Hände hin, ließ sich die Handschellen umbinden und ging willig mit den Beamten mit, dabei sagte er: „Er hat meine Tochter getötet.“ Diesen Satz wiederholte er, während er mit den Beamten ging, immer wieder.

Kleinschmied gab sich einen Ruck, er ging auf das seltsame Gespann zu und zeigte den Kollegen seinen Ausweis. „Wie Sie sehen, bin ich von der Mordkommission 1. Sollte der Festgenommene tatsächlich ein Tötungsdelikt beobachtet haben, fällt das höchstwahrscheinlich in meine Zuständigkeit.“

Einer der Polizisten sagte: „Wir haben den Alten jetzt schon das dritte Mal festgenommen.“

Da sagte der Alte klar verständig: „Der Mörder kommt sicher gleich aus dem Dom. Er hat meine Tochter getötet.“

Die Polizisten lachten und sagten: „Er hat leider einen schwachen Verstand, Herr Chefinspektor.“

„Wieso meinen Sie das?“, fragte Kleinschmied.

„Weil er das jedes Mal sagte und niemand aus dem Dom kommt, den er als Mörder erkennen täte.“

„Haben Sie schon einmal mit ihm im Dom Nachschau gehalten?“

„Ja, ich das erste und zweite Mal“, antwortete der Ranghöhere. „Der Alte konnte aber keinen Mörder erkennen.“

„Diesmal werden wir ihn wohl ins Narrenhaus bringen müssen“, ergänzte der zweite Polizist und schien sich darüber auch noch zu freuen.

Kleinschmied kam die seltsame Handlungsweise des Alten verdächtig vor, daher ließ er ihn ins Landeskriminalamt bringen, um ihn systematisch zu befragen. Den uniformierten Kollegen erklärte er: „Manche von meinen schweren Fällen hatten einen ähnlich kuriosen Anfang.“

Der Alte wurde also ins LKA gebracht und Kleinschmied ging ins Kaffeehaus, wo schon seine Frau und seine Tochter auf ihn warteten. Als er deren bösen Blicke sah, wusste er, dass er sich durch seine Einmischung in die Festnahme des Alten ordentlich verspätet hatte.

„Dass du uns auch noch wahrnimmst“, empfing ihn seine Frau, die Psychologin Magister Alma Kleinschmied. „Statt der Familie suchst du lieber krampfhaft einen neuen Fall!“

„Lass nur Mama, zwei Polizisten gegen einen Sandler ist ungerecht, da musste Papa doch einschreiten“, spottete Doktor Viktoria Kleinschmied, Gymnasialdirektorin, die nach der Scheidung von ihrem liederlichen Mann wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte.

„Wieso habt Ihr mitbekommen, dass ich mit den Kollegen geredet habe, die gerade dabei waren, einen alten Mann festzunehmen?“

„Ich hab schon zum dritten Mal nachgeschaut, wo Du bleibst“, antwortete Viktoria.

„Bitte entschuldigt, aber den Alten musste ich wirklich ins LKA bringen lassen, mein Bauchgefühl sagte mir, dass er tatsächlich einen Mord gesehen haben könnte.“ Und, um weiteren Bemerkungen seiner Lieben vorzubeugen: „Auch, wenn mein Bauchgefühl nicht sehr familienfreundlich zu sein scheint ...“

Ein Anruf von Frau Berta Dolies, Bezirksinspektor und Kleinschmieds Kriminal-Assistentin, störte ihn mitten in der Entschuldigung: „Herr Chefinspektor, der Alte, den Sie ins LKA bringen haben lassen, hat bei uns durchgedreht. Die Rettung hat ihn ins Spital mitgenommen. Dort wurde er ruhiggestellt.“

„Sehr lustig“, sagte Kleinschmied, und zu seiner Familie, „Ich kann bei euch bleiben, mein neuer Fall verzögert sich.“

Nach einer eher eisigen Runde mit Kaffee und Kuchen trennten sich die Familie und der Chefinspektor wieder, ohne sich um den Grund des Treffens, Einigung über ein Geburtstagsgeschenk für Kleinschmieds Enkelin Lydia, gekümmert zu haben. Der Chefinspektor fuhr missmutig wieder ins Büro.

Am übernächsten Tag war der Alte wieder halbwegs munter und wurde ins Landeskriminalamt überstellt. Kleinschmied vernahm ihn persönlich, Frau Dolies war dabei.

„Nun“, begann der Chefinspektor freundlich, „sagen Sie mir Ihren Namen.“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Das ist doch nicht Ihr Name. Wie heißen Sie?“

„Er hat meine Tochter getötet.“

Auf Kleinschmieds Frage, warum er vor der Stephanskirche wartete, sagte der Alte nur: „Er hat meine Tochter getötet.“

„Wer?“, fragte der Chefinspektor.

„Er hat meine Tochter getötet“, war wieder seine Antwort. So konnte er nicht richtig vernommen werden, die Antworten des Alten waren auf jede Frage dieselbe: „Er hat meine Tochter getötet.“

Frau Schmidt, Kleinschmieds Büroassistentin, kam ins Zimmer und legte ihren Chef eine Aktenmappe auf den Tisch: „Das sind die spärlichen Unterlagen über Ihren seltsamen Gast. Ein Kollege vom Einbruch wohnt zufällig im selben Haus, er hat die Einlieferung zu uns gesehen und uns informiert.“

Kleinschmied blätterte in den Unterlagen und sagte:

„Ihr Name ist Karl Neubauer.“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Sie haben doch gar keine Tochter, Herr Neubauer!“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Herr Neubauer!“, begann Kleinschmied geduldig. „Sie waren Zuckerbäcker in einer der Konditoreien von Nicolas Hadrian. Wann und wo haben Sie den Mord an einer Frau, die Sie für Ihre Tochter halten, gesehen?“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Wann?“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Wann, Herr Neubauer?“, war Kleinschmied schon etwas entnervt.

„Vor zwei Wochen. Er hat meine Tochter getötet.“

„Aha!“, rief der Chefinspektor erfreut, „Endlich etwas Konkretes. Sie waren bis vor zwei Monaten in einer der Konditoreien von Nicolas Hadrian angestellt und jetzt sind Sie in der Rente. Seit etwa zwei Wochen beschuldigen Sie die Hadrians, ohne es beweisen zu können, was auch die zu Hilfe gerufene Polizei nicht konnte, die Verkäuferin Adriana Hochpichler getötet zu haben.“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Adriana Hochpichler ist nicht Ihre Tochter, Herr Neubauer.“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Sie konnten bis dato nicht erhärten, dass Frau Hochpichler getötet wurde. Frau Hochpichler wurde als abgängig gemeldet, nachdem sie drei Tage nicht im Geschäft erschienen ist, wo sie als Verkäuferin gearbeitet hat.“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Herr Neubauer! Frau Hochpichler konnte bis dato nicht aufgefunden werden. Man weiß also nicht, ob sie noch lebt. Den Hadrians, sowohl dem Vater als auch dem Sohn, konnte also auch kein Tötungsdelikt nachgewiesen werden.“

„Er hat meine Tochter getötet.“

„Wer von den Hadrians, Herr Neubauer?“

„Wenn es wer anderer war, geben Sie uns seinen Namen“, versuchte es auch Frau Dolies.

„Er hat meine Tochter getötet.“

Da sah der Chefinspektor ein, dass eine weitere Vernehmung nichts bringen würde, und ließ Karl Neubauer nach Hause fahren. Doch nach einer Stunde waren die Beamten, die Neubauer heimbringen sollten, mit ihm wieder da. Die Meldung des einen Beamten war: „Er wohnt dort nicht mehr, sagte die Mieterin der Parterre-Wohnung, die die dort die Hausbesorgerin spielt.“ „Er konnte die Miete nicht bezahlen und wurde hinausgeworfen“, ergänzte der andere. „Wir werden ihm wohl Quartier geben müssen.“

„Da wird er doch noch verstörter!“, sagte Frau Dolies. „Am besten geben wir ihm vorerst zur Caritas. Vielleicht beruhigt er sich dort.“

„Unruhig erscheint er mir nicht“, sagte Kleinschmied. „Ich fürchte, er befindet sich geistig in einer anderen Welt, in die ihm ein furchtbares Erlebnis gebracht hat.“

So übergab Kleinschmied Karl Neubauer der Caritas zur kurzfristigen Betreuung. Er wollte ihn zur Verfügung haben, wenn er vielleicht, nach einer betreuten Ruheperiode, konkretere Angaben machen könnte.

Mit den spärlichen Ergebnissen der Vernehmung war nichts anzufangen. Doch Kleinschmied ging der stereotype Satz des Alten nicht mehr aus dem Sinn. Also beauftragte er Frau Schmidt, alle Unterlagen kommen zu lassen, die Frau Hochpichlers Abgängigkeit betrafen.

Kleinschmied wollte inzwischen seinem Vorgesetzten, den Oberst Franz Kupsky, Bericht erstatten. Doch dessen Sekretärin sagte von oben herab: „Der Herr Oberst ist für Sie erst in einer Stunde zu sprechen, wenn er bis dahin vom Minister zurück ist.“

„Blöde Kuh!“, murmelte Kleinschmied und wollte den Telefonhörer auflegen. Da bemerkte er, dass Frau Dolies die Verbindung bereits unterbrochen hatte. Zum Glück war die Anlage gerade so eingestellt, dass sie mithören konnte.

„Mit ‚blöde Kuh‘ wird sie nicht ihre Freundin werden, Herr Chefinspektor.“

„Ohne ‚blöde Kuh‘ auch nicht“, war Kleinschmied überzeugt.

Frau Schmidt brachte noch ein Blatt Papier und gab es dem Chefinspektor, indem sie den Inhalt zusammenfasste: „Da ist noch der Bericht der Beamten, die sich im Haus umgehört haben, wo Frau Hochpichler ihre Wohnung im Dachausbau hatte. Frau Adriana Hochpichler unterhielt keine Kontakte zu den anderen Mietern. Sie wurde zwar regelmäßig im Stiegenhaus in der Früh und am Abend gesehen, hat aber dann auch mit niemanden gesprochen.“

„Wann wurde sie zuletzt gesehen?“, wollte Frau Dolies wissen.

Kleinschmied sah nach und sagte: „Sie wurde im Haus seit drei Tagen nicht gesehen.“

„Was ist, wenn sie einfach auf Urlaub gefahren ist?“, fragte Frau Dolies.

„Urlaub? Die Konditorei hat sie als abgängig gemeldet. Im Geschäft hätte man doch etwas vom Urlaub wissen müssen.“

„Das gibt es nicht!“, rief Frau Schmidt.

„Was gibt es nicht?“, riefen Kleinschmied und Frau Dolies gemeinsam.

„Frau Adriana Hochpichler ist Mutter von Zwillingen. Die Zwillinge sind 20 Jahre alt und leben in den USA. Frau Hochpichler hat ihre Zwillinge in Amerika auf die Welt gebracht. Sie dürfte selbst dort einige Zeit gelebt haben.“

„Ist ein Vater bekannt?“, fragte der Chefinspektor.

„Hab ich nicht gefunden. Die Zwillinge habe ich auch nur gefunden, weil Frau Hochpichler in Österreich wegen ihrer in den USA lebenden Kinder alle Sozialleistungen haben wollte.“

„Bei wem lebten die Kinder, während Frau Hochpichler in Wien war?“, fragte Frau Dolies.

„Die Wohnadresse der Kinder dürfte ein Kinderheim gewesen sein, schließe ich aus dem Namen. Name und Adresse des Heimes stehen in der Anfrage um Sozialleistungen.“

„Und das Datum der Anfrage ist vor 17 Jahren?“, fragte der Chefinspektor gespannt.

„So ist es.“

„Dann war Frau Hochpichler nur etwa drei Jahre in Amerika?“

„Das ist seltsam“, brummte Frau Schmidt. „Es gibt zwei Anfragen. In der zweiten Anfrage wird darauf Bezug genommen, dass die Kinder in Wien gemeldet sind. Die Adresse ist ihre heutige Wohnadresse.“

„Gibt es eine Reaktion der Behörde?“, wollte Frau Dolies wissen.

„Beide Anfragen wurden ablehnend beschieden.“

„Warum?“

„Mangels Beweise.“

„Und die Meldung der Kinder in Wien?“

„Gab es tatsächlich.“

„Das reicht!“, entschied der Chefinspektor. „Frau Schmidt, drucken Sie alles aus, was Sie über Frau Adriana Hochpichler finden. Frau Dolies, schnappen Sie sich den Kollegen Pospischil und prüft vor Ort alles nach: Schaut euch die Wohnung an, befragt die Leute vom Meldeamt, die Kollegen, die die Vermistenmeldung bearbeiten, macht euch ein persönliches Bild von Frau Hochpichler. Fragt in der Konditorei nach, ob sie nicht zu ihren Kindern nach Amerika gefahren sein könnte. Unser Amtsleiter wird veranlassen müssen, dass mit den Zwillingen in USA Kontakt aufgenommen wird.“

Frau Dolies tat, wie ihr befohlen worden war und Kleinschmied ging zu seinem Vorgesetzten.

2

Die Forensikerin, Frau Doktor Agnes Burgfried, fragte im Sekretariat Frau Schmidt, ob Kleinschmied kurz für sie Zeit hätte.

„Setzen Sie sich einen Augenblick zu mir, Frau Doktor. Der Herr Chefinspektor wird gleich kommen, er ist schon eine Ewigkeit beim Herrn Oberst“, antwortete Frau Schmidt.

Tatsächlich kam Kleinschmied nach fünf Minuten ins Büro. „Frau Doktor!“, rief er. „Welch ein angenehmer Besuch nach der langweiligen Belehrung beim Oberst. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich hab da ein Unfallopfer auf dem Tisch und bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Unfall war.“

„Die Kollegen, die das Unfallopfer zu Ihnen gebracht haben offensichtlich auch nicht. Seit wann werden Unfallopfer obduziert? Also erzählen Sie mir Ihre Zweifel.“

„Das Unfallopfer, eine Frau mittleren Alters, soll von einem schweren Auto von vorne niedergestoßen worden sein. Sie wurde nicht von der Seite gestreift, wie bei den meisten Unfällen zwischen Auto und Fußgänger, sondern direkt von vorne. Die Verletzungsspuren waren in Kniehöhe von der horizontalen Stoßstange und ein gewaltiger Schädelbruch hinten, der durch den heftigen Aufprall auf der Straße verursacht wurde. Das Opfer musste sofort tot gewesen sein.“

„Moment! Schädelbruch hinten und Aufprall auf die Straße? Landet nicht ein derartiges Unfallopfer auf der Windschutzscheibe des Autos?“, wunderte sich der Chefinspektor.

„Das Auto war daher nicht so schnell, dass es das Opfer über die Kühlerhaube gegen die Windschutzscheibe geschleudert hätte“, erklärte Doktor Burgfried.

„Interessant! Das muss aber noch kein Mord sein. Vielleicht wurde dem Fahrer schlecht und er hat die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren, ist auf die linke Straßenseite gekommen und hat die Fußgängerin gerammt.“

„Das hab ich mir zuerst auch gedacht. Aber da gab es noch andere Spuren. Wegen dieser Spuren wurde das Unfallopfer zu mir gebracht.“

„Welche Spuren waren das?“

„Keine Lackspuren an der Kleidung, jedoch dunkelgrüne Lacksplitter in die schlimmen, beidseitigen Kniewunden eingepresst. Doch irgendwer musste sie von der Straße gerollt haben. Es gibt Spuren, die von einem seitlichen Abrollen stammen.“

„Na ja, wird der Unfallfahrer, der in Panik war, gemacht haben.“

„Ja, kann sein. Die Frau wurde auf der Straße zwischen Jedlersdorf und Stammersdorf neben der Straße gefunden. Sie lag neben der Straße, mit dem Kopf Richtung Stadt. Sie ist also nach Stammersdorf gegangen. Wie sie lag, lässt vermuten, dass der verantwortliche Fahrer nach der Kollision die Tote nur von der Straße gerollt hat und weitergefahren ist. Kann das ein Mensch in Panik machen? Würde der nicht weiterfahren, ohne auszusteigen?“

„Ist eher wahrscheinlich, als auszusteigen und die Leiche an den Straßenrand zu rollen.“

„Wenn er töten wollte, musste er nachschauen.“

„Da ist was dran, Frau Doktor. Beweis ist das aber keiner.“

„Die verbogene Stoßstange, von dunkelgrüner Farbe, könnte sicher schon ausgetauscht sein“, jammerte Doktor Burgfried.

„Wir werden die Stoßstange schon finden, wir haben noch jede Stange gefunden, mit der ein Mensch böse verletzt wurde“, sagte Kleinschmied und lächelte versonnen, während Doktor Burgfried weiter jammerte, dass sie also ins Protokoll schreiben müsse, dass die Ursache des Todes ein Unfall, eine fahrlässige Tötung oder ein geplanter Mord sein könnte.

„Wenn Sie keine Möglichkeit ausschließen, werden Sie sich bei der Staatsanwaltschaft keine Freunde machen“, sagte Kleinschmied.

„Ja, sicher nicht.“

„Kennen Sie den Namen des Opfers?“

„Nein.“

„Tatzeit?“

„Später Nachmittag. Im Polizeiprotokoll steht 18.30 Uhr.“

„Sind persönliche Sachen des Opfers vorhanden?“

„Nur, was sie am Leib hatte. Keine persönlichen Sachen, wie eine Tasche, was für eine Frau sehr ungewöhnlich ist.“

„Wie weit kann eine kleine Handtasche fliegen, wenn die Trägerin mit voller Wucht umgestoßen wird?“, sagte der Chefinspektor mehr zu sich selbst. „Die Tasche könnte noch am Unfallort liegen.“

„Aber die Polizisten müssten sie doch gefunden haben“, protestierte Frau Schmidt, die am Türstock zu Kleinschmieds Büro lehnte.

„18.30 Uhr, Frau Schmidt, da ist es zu dieser Jahreszeit schon ziemlich dunkel. Man wird sich auf das Opfer konzentriert haben, vielleicht hat sie noch Lebenszeichen von sich gegeben?“

„Das ist eher unwahrscheinlich“, warf Doktor Burgfried ein.

„Nach Lebenszeichen wurde sicher intensiv gesucht. Eine Lebensrettung zu versuchen, ist für die Polizisten oberste Pflicht. Was steht genau im Polizeiprotokoll, warum wurde die Obduktion beantragt?“

„Es gab Rollspuren auf der Straße, die Rollspuren am Körper konnten die Polizisten nicht erkennen. Die Forensik sollte feststellen, ob das Opfer selbst von der Straße gerollt wäre, bevor es gestorben ist.“

„Konnte das Opfer aus eigener Kraft noch rollen?“

„Nein, konnte es nicht mehr.“

„Gibt es Zeugen?“

„Im Protokoll ist nichts vermerkt.“

„Also keine Zeugen? Das ist unwahrscheinlich. Um diese Uhrzeit muss noch viel Verkehr gewesen sein. Ein Unfalllenker, der aussteigt und das Opfer zur Seite rollt, dann wieder einsteigt und rasch weiterfährt, muss bemerkt worden sein, weil er den Verkehr behindert hat.“

„Niemand wollte Scherereien haben, alle haben geschaut, dass sie weiterkommen“, bemerkte Frau Schmidt.

„Ist wenigstens bekannt, wer die Polizei verständigt hat?“, fragte Kleinschmied weiter.

„Anonym.“

„Natürlich! Haben Sie das Protokoll da, Frau Doktor?“

„Ja.“

„Frau Schmidt, machen Sie mir bitte eine Kopie, ich werde der Sache nachgehen.“ Dann zeigte er der Forensikerin das Bild von Adriana Hochpichler. „Haben Sie diese Person schon einmal gesehen?“, fragte er.

„Aber das ist doch meine Leiche!“, rief Doktor Burgfried.

„Wenn das so ist, war Frau Hochpichler nur bis eben abgängig.“

„Wer ist Ihre Leiche, Frau Doktor?“, fragte der Oberst erschrocken, der gerade in Kleinschmieds Büro kam.

„Niemand von uns, Franz“, konnte sich Kleinschmied nicht verkneifen, „nur unsere abgängige Adriana Hochpichler.“

„Heißt das, dass der Fall gelöst ist?“, war der Oberst hoffnungsvoll erfreut.

„Nein, der Fall mutierte eben bloß zum Mordfall!“

„Das heißt, du wirst die Verbindung nach USA zu den Zwillingen brauchen?“

„Ja.“

„Der Amtsleiter lässt dir ausrichten, dass er bereit ist, jederzeit offiziell Kontakte zu den Polizeibehörden der USA herzustellen. Du musst halt von Fall zu Fall genau spezifizieren, was du von wem haben willst.“

„Ja“, stöhnte Kleinschmied, „das hab ich schon befürchtet.“

„Hast du wirklich keine persönlichen Beziehungen zu amerikanischen Polizisten?“, fragte der Oberst und es klang ernsthaft.

„Franz!“, sagte Kleinschmied Verzweiflung spielend, „Du weißt doch, dass einem die persönliche Freundschaft zu einem Kollegen einer Stadt in den USA in einer anderen Stadt nichts nützt, Amerika ist ja riesengroß.“

„Über das FBI geht es auch nicht besser?“, fragte Doktor Burgfried.

„Mord geht das FBI nichts an“, antwortete der Oberst wie ein gutmütiger Lehrer zu einem zurückgebliebenen Kind.

„Auch nicht bei Massenmord?“, blieb Doktor Burgfried stur.

„Dann halten Sie uns und Ihnen die Daumen, dass sich dieser Mord nicht zum Massenmord entwickelt!“, antwortete der Oberst und verließ das Büro rasch.

„Das haben Sie gut gemacht, Frau Doktor“, lobte Kleinschmied.

„Was?“

„Das FBI ins Spiel zu bringen.“

„War keine Absicht. Warum war das gut?“

„Die Erwähnung des FBIs hat doch den Oberst vertrieben. Ich hätte mir sonst ausführliche Ermahnungen über die Durchführung von Ermittlungen anhören müssen. Irgendein Klugscheißer im Ministerium hat sich dazu neue Richtlinien einfallen lassen.“

„Das konnte ich doch nicht wissen, Herr Chefinspektor. Warum war das gut?“

„In der angewandten Kriminalistik, dazu gehört auch die forensische Medizin, leben wir ganz gut, trotz neuester gefinkelter Richtlinien, mit dem Bauchgefühl“, sagte Kleinschmied und lachte, dass ihm die Tränen über die Backen liefen.

„Jetzt weiß ich aber noch immer nicht, warum das gut war, Herr Chefinspektor.“

„Seit einiger missglückter Kontaktversuche von Oberst Kupsky zum FBI hat der Amtsleiter alle Kontaktnahmen zu Polizeistellen in USA an sich gezogen.“

„Nicht zu glauben! Nur der Amtsleiter spricht mit der amerikanischen Polizei?“

„Nein, er stellt nur den Kontakt her, sprechen darf ich mit den Kollegen dann schon selbst. Der Amtsleiter will sich ja nicht blamieren, wenn er Details über den zu besprechenden Fall nicht kennt. Der Amtsleiter ist ein kluger Mann, er weiß deshalb, dass er nicht alle Details wissen kann wie seine Sachbearbeiter.“

„Erzählen Sie!“, war Doktor Burgfried neugierig, „Was ist dem Herrn Oberst passiert?“

„Ein hoher Herr aus dem Innenministerium hat den Amtsleiter gefragt, ob er einen Oberst Kuby kennt, der FBI-Stellen mit unsinnigen Fragen über Einbrecherbanden quält, Fragen, die dann die subalternen Beamten inhaltlich ganz anders sahen.“

„Wieso hat er das gemacht, der Herr Oberst?“

„Weil er auch nicht jedes kleinste Detail wissen kann. Er hat sich aber geniert, hat so getan, als wüsste er alles, und füllte seine Wissenslücken fantasievoll aus. Erst die Gespräche unterer Ränge brachten die Wahrheit ans Licht und unser Oberst sorgte in den USA für Gelächter.“

„Nimm das Lachen zur Feier mit, Opa, dort wird nie gelacht und es ist immer unendlich fad“, sagte Kleinschmieds Enkelin Lydia, die sich von allen unbemerkt ins Büro geschlichen hatte.

„Was machst du denn da, Lydia?“, fragte Kleinschmied.

„Du weißt doch, Opa, dass wir heute den Geburtstag von Oma feiern. Mama hat mich hergeschickt, mit dem Auftrag, nur mit dir wegzugehen. Auch soll ich darauf aufpassen, dass du das Geburtstagsgeschenk nicht vergessen hast.“

„Na, dann überlasse ich Sie Ihrer Familie, Herr Chefinspektor“, sagte Doktor Burgfried und wollte gehen. Doch Lydia fragte schnell: „Du bist die Doktorin, die die Leichen aufschneidet. Wird dir dabei nicht schlecht?“

„Lydia!“, rief Kleinschmied. „Wenn du nicht gleich höflich zur Frau Doktor bist, bleibst du da, wenn ich zur Geburtstagsfeier gehe?“

„Ja!“, freute sich Lydia, „Eine Nacht in einer Arrestzelle verbringen wollte ich schon immer.“

Während Kleinschmied fassungslos war, lachten die Damen und Frau Schmidt sagte: „Der Reiz der Neuheit würde nach einer Stunde vergangen sein und nach drei Stunden zähltest du die Sekunden vor Langeweile.“

„Um deine Frage zu beantworten, Lydia, ich bin neugierig und will wissen, woran ein Mensch wirklich gestorben ist. Was bewirkt ein Schlag auf den Kopf oder ein Geschoß, das in den Körper dringt? Wie reagieren die Systeme des Menschen auf äußere Gewalt? An den Geruch in der Pathologie und an das Aussehen meiner Patienten musste ich mich aber auch erst gewöhnen.“

„Hast du etwa auch mit Gift zu tun? Das wär doch Chemie pur“, fragte Lydia und verzog ihren Mund. Der Gedanke allein erzeugte ihr sichtbar großes Unbehagen.

„In meinem Beruf komme ich nicht ohne Chemie aus. Übrigens braucht auch ein Allgemeinmediziner Chemie. Woher kommt deine Chemie-Abscheu?“

„Na, beichte, Lydia“, forderte der Chefinspektor.

„Wir haben heuer zum ersten Mal Chemie im Gymnasium und ich hab auf die Prüfung einen Fleck gefangen“, gab Lydia freimütig zu.

„Vielleicht brauchst du einmal im Beruf die Chemie. Ein Grundwissen kann nirgends schaden.“

„Ich will Kriminalinspektor werden, da brauche ich keine Chemie. Der Opa ist der beste Beweis dafür, er hat für all diese Fragen doch dich.“

„Mach erst einmal die Matura“, meinte Kleinschmied sachlich.

„Dann will ich Sie nicht länger von der Geburtstagsfeier abhalten“, sagte Doktor Burgfried und ging.

„Und ich packe Ihr Geburtstagsgeschenk ein“, sagte Frau Schmidt und wollte auch gehen.

„Ach, Frau Schmidt, rufen Sie bitte zuvor noch Frau Dolies an, und sagen Sie ihr, dass Adriana Hochpichler tot ist und bereits in der Pathologie liegt. Nicht, dass sie da noch sinnlose Kilometer macht.“

Frau Schmidt erledigte den Anruf rasch und widmete sich dem Geschenkeinpacken.

„Wenn wir jetzt gehen, bin ich zum ersten Mal pünktlich bei einer Geburtstagsfeier meiner Frau. Alle werden glauben, dass ich krank bin“, raunzte Kleinschmied. Seine Enkelin lächelte nur zufrieden.

3

Kleinschmied rief bei der Polizeiinspektion in Stammersdorf an, Frau Dolies hörte zu, damit sie die Fakten auch aus erster Hand hören konnte.

„Wer hat bei euch den Verkehrsunfall der Adriana Hochpichler bearbeitet?“, fragte der Chefinspektor.

Als er den zuständigen Kollegen am Telefon hatte, sagte er: „Chefinspektor Kleinschmied, LKA, Morkommission1, ich bearbeite den Fall der Adriana Hochpichler, die bei einem Verkehrsunfall auf der Brünner Straße Höhe Heeresspital ums Leben gekommen ist. Habt Ihr die Handtasche der Frau gefunden? Eine Frau ohne Handtasche ist doch nicht denkbar.“

„Ich habe Ihren Anruf erwartet, Herr Chefinspektor. Hat die Gerichtsmedizin doch Anzeichen für ein Gewaltverbrechen gefunden?“, antwortete der Kollege.

„Ja.“

„Die Handtasche lag gut 30 Meter vom Unfallort entfernt, die Wucht des Anpralls muss sie so weit geschleudert haben. Als wir zum Unfall gerufen wurden, war es schon dunkel und die Handtasche ist klein und schwarz. Sie war auch am Tag schwer zu finden. Ich schicke Ihnen die Tasche mit der Funkstreife ins Landeskriminalamt.“

„Danke, sehr gut. Haben Sie eine Vorstellung, wie der Unfall passiert sein könnte?“

„Das war entweder ein Mordversuch oder doch nur ein Schwächeanfall des noch unbekannten Fahrers. Er muss sie mit der Mitte des Fahrzeuges niedergestoßen haben, was sehr ungewöhnlich ist. Zumeist werden Fußgänger von der Seite gerammt. Die Frau, Adriana Hochpichler, wohnhaft in Stammersdorf, die Adresse finden Sie im Ausweis in der Handtasche, könnte zu Fuß, auf der Straße heimgegangen sein. Dort gibt es aber einen Gehsteig. Sie wird wohl besoffen gewesen sein.“