Kluge Köpfchen - Álvaro Bilbao - E-Book

Kluge Köpfchen E-Book

Álvaro Bilbao

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Beschreibung

Nie verfügt das Gehirn über mehr Potenzial als in den ersten sechs Lebensjahren. Müssen Kinder deshalb in diesen ersten Jahren so viel wie möglich lernen? Auf keinen Fall! Das ist ein weit verbreiteter Irrtum, der gravierende Folgen haben kann. Denn das Gehirn lässt sich in seiner Entwicklung nicht "beschleunigen". Es hat seinen eigenen Plan. Höchste Zeit, sich zum Wohl der Kinder damit vertraut zu machen. Immerhin ist heute über das Gehirn und dessen Entwicklung mehr bekannt als je zuvor. Wie Eltern dieses Wissen einsetzen können, um Kinder besser zu verstehen, zeigt der renommierte Neuropsychologe Alvaro Bilbao. Sein internationaler Bestseller erscheint erstmals auf Deutsch und zeigt anschaulich und fesselnd, wie Kindern emotional und intellektuell der beste Start ins Leben ermöglicht werden kann. Ein Muss für alle, die das Beste für unsere Kinder wollen.

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Álvaro Bilbao

Kluge Köpfchen

Die erstaunliche Entwicklung des kindlichen Gehirns

Aus dem Spanischen von Gabriele Stein

Originalausgabe: El cerebro del niño explicado a los padres, in spanischer Sprache erschienen bei Plataforma Editorial S. L. in 2021

© Álvaro Bilbao, 2021

Bei den Abbildungen im Innenteil (mit Ausnahme der Maslowschen Bedürfnispyramide) handelt es sich um vom Verfasser bearbeitete Grafiken von der gemeinfreien Bilddatenbank clker.com.

Der Abdruck der – ebenfalls vom Verfasser bearbeiteten – grafischen Darstellung der Maslowschen Bedürfnispyramide erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Dutch Renaissance Press LLC.

Für die deutsche Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Cover Grafik Verlag Herder

Umschlagmotiv: ra2 studio / shutterstock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-451-60777-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82663-4

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82662-7

In Erinnerung an Tristán, der dort, wo er jetzt ist, den lieben langen Tag mit seinen Eltern lacht und mit seinen Geschwistern, Cousins und Cousinen spielt.

Danksagungen

Ich möchte meinen Eltern und Schwiegereltern für die wunderbare Arbeit danken, die sie als Eltern geleistet haben und jetzt auf ihre Enkelkinder ausdehnen. Ebenso meinem Bruder und meinen Schwägern und Schwägerinnen, Onkeln und Tanten, Großeltern, Cousins und Cousinen, weil sie zusammen jene Sippe bilden, die es braucht, um ein Kind großzuziehen.

Ich möchte es auch nicht versäumen, allen Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern, die sich in jedem Winkel der Erde unermüdlich für die Entwicklung unserer Kinder einsetzen, meinen tiefempfundenen Dank und meine aufrichtigste Anerkennung auszusprechen. Ich kann mir für eine Gesellschaft nichts Wichtigeres vorstellen als die Arbeit derer, die den größten Schatz der Gegenwart und die größte Verheißung für die Zukunft behüten und fördern. Mit ihrer Erfahrung entdecken sie das Beste in jedem Kind, wenn wir Eltern mit unserer Weisheit am Ende sind; mit ihrer Begeisterungsfähigkeit wecken sie die Lust am Lernen, wenn wir Eltern unsere Kinder nicht mehr erreichen; und mit ihrer Geduld und Zärtlichkeit umarmen sie unsere Kinder, wenn wir Eltern einmal nicht da sind. Ein ganz besonderer Dank gilt den pädagogischen Fachkräften meiner Kinder: Amaya, Ana Belén, Elena, Jesús und Sonia, und den Erzieherinnen und dem Erzieher meiner eigenen Kindheit: Rosa, Marili und Javier.

Und natürlich meiner Frau Paloma und meinen drei wunderbaren Kindern: Diego, Leire und Lucía. Obwohl ich das menschliche Gehirn schon mein ganzes Leben lang studiere, haben diese vier meinem gesamten Wissen erst einen Sinn gegeben und mich alles gelehrt, was ich über die wunderbare Welt des kindlichen Gehirns weiß.

Inhalt

Danksagungen

Einleitung

Teil IGrundlagen

1. Prinzipien für eine volle Entwicklung des Gehirns

2. Ihr Kind ist wie ein Baum

3. Nutze den Augenblick

4. Gehirn-ABC für Eltern

5. Ausgewogenheit

Teil II Werkzeuge

1. Werkzeuge zur Unterstützung der zerebralen Entwicklung

2. Zuneigung und Verständnis

3. Empathie

4. Positive Regeln und Verhaltensweisen verstärken

5. Alternativen zur Bestrafung

6. Unaufgeregt Grenzen setzen

7. Kommunikation

Teil III Emotionale Intelligenz

1. Unterstützung der emotionalen Intelligenz

2. Bindung

3. Vertrauen

4. Angstfrei aufwachsen

5. Selbstbehauptung

6. Glück aussäen

Teil IV Entfaltung des intellektuellen Potenzials

1. Intellektuelle Entwicklung

2. Aufmerksamkeit

3. Gedächtnis

4. Sprache

5. Visuelle Intelligenz

6. Selbstkontrolle

7. Kreativität

8. Die besten Apps für Kinder unter sechs Jahren

9. Zum Abschluss

Bibliografie

Quellenverzeichnis

Über den Autor

Einleitung

Die wichtigste Zeit im Leben ist nicht das Studium, sondern der allererste Abschnitt; von der Geburt bis zum Alter von sechs Jahren.

Maria Montessori

Kinder wecken in jedem Erwachsenen ein einzigartiges Gefühl. Ihre Körpersprache, ihre ehrliche Freude und ihre Unschuld berühren uns, wie es keine andere Erfahrung im Leben vermag. Das Kind spricht einen ganz besonderen Teil in uns unmittelbar an: jenes Kind, das wir selbst einmal waren und immer noch sind. Vielleicht hatten Sie in den letzten Tagen das Bedürfnis, auf der Straße lauthals zu singen, Ihrem Chef gehörig die Meinung zu sagen oder an einem regnerischen Tag mit beiden Füßen in eine Pfütze zu springen. Aus Verantwortungsgefühl oder weil es Ihnen peinlich war, haben Sie es nicht getan. Das Zusammensein mit einem Kind ist eine kostbare Erfahrung, weil es uns mit einem ganz besonderen Teil unser selbst in Verbindung bringt: dem verlorenen Kind, das wir in so vielen Augenblicken unseres Lebens dringend brauchen und das womöglich der beste Teil eines jeden von uns ist.

Wenn Sie dieses Buch in Händen halten, dann deshalb, weil es in Ihrem Leben als Vater, Mutter oder Pädagoge ein Kind gibt und Sie folglich die Gelegenheit haben, mit jenem Teil Ihres Gehirns Verbindung aufzunehmen, der in Ihnen lacht, spielt und träumt. Ein Kind großzuziehen, ist vielleicht das Transzendenteste, was viele Menschen in ihrem Leben tun. Die Transzendenz der Elternschaft betrifft alle Ebenen des menschlichen Daseins: In biologischer Hinsicht sind Kinder der Same, der die Gene seiner Eltern weitergeben und ihr Fortleben in den künftigen Generationen gewährleisten kann; in psychologischer Hinsicht bedeutet Elternsein für viele Menschen die Verwirklichung eines nicht zu unterdrückenden Instinkts; und in spiritueller Hinsicht steht Elternschaft für die Chance, Erfüllung zu finden, indem man seine Kinder zu glücklichen Menschen heranwachsen sieht.

Wie alle Eltern spätestens in dem Augenblick begreifen, in welchem sie ihr Kind zum ersten Mal in den Armen halten, bringt Elternschaft auch in vieler Hinsicht Verantwortung mit sich. Da sind zunächst einmal die diversen Aspekte der Fürsorge wie Ernährung, Hygiene und der grundlegende Schutz des Kindes. Sicherlich haben Ihnen die Hebammen im Krankenhaus und die immer hilfsbereiten Großmütter die theoretischen und praktischen Grundlagen all dessen bereits vermittelt. Dann ist da die wirtschaftliche Verantwortung. Ein Kind erfordert eine große Menge an Ausgaben, die man zur Freude der großen Kaufhäuser und Apotheken, Kitas und Supermärkte tätigen muss. Zum Glück hat Sie das Bildungssystem in durchschnittlich zwölf Jahren so weit gebracht, dass Sie Geld verdienen. Sie können lesen und schreiben; sie können mit dem Computer umgehen. Sie sprechen Englisch oder versuchen es zumindest. Sie sind in der Lage, fast acht Stunden am Tag im Sitzen zu verbringen. Sie sind teamfähig und verfügen, was auch immer Sie beruflich machen, über eine entsprechende Qualifikation. Die dritte und größte Verantwortung aller Eltern ist die Erziehung ihrer Kinder. Aus meiner Sicht bedeutet Erziehen nichts anderes, als das Kind bei seiner zerebralen Entwicklung zu unterstützen, damit das Cerebrum, sein Gehirn, es ihm eines Tages ermöglicht, selbstbestimmt zu leben, seine Ziele zu erreichen und sich mit sich selbst wohlzufühlen. Wenn man es so formuliert, mag sich das recht einfach anhören, aber das Erziehen in diesem Sinne hat seine Tücken und die meisten Väter und Mütter haben nicht wirklich gelernt, wie sie ihren Kindern bei diesem Prozess helfen können. Im Grunde wissen sie nichts über die basalen Funktionen des Gehirns, wissen nicht, wie es sich entwickelt oder was sie tun müssen, um seine Reifung zu fördern. In bestimmten Situationen tappen alle Väter und Mütter im Dunkeln oder sind unschlüssig, wie sie ihre Kinder bei den jeweiligen Aspekten ihres intellektuellen und emotionalen Reifungsprozesses unterstützen sollen. Und oft glauben sie es zu wissen und tun doch genau das Gegenteil dessen, was das Gehirn ihres Kindes gerade braucht.

Ich will Ihnen weder etwas vormachen noch Ihnen einen falschen Eindruck davon vermitteln, inwieweit Sie als Mutter oder Vater die intellektuelle und emotionale Entwicklung Ihres Kindes beeinflussen können. Ihr Kind ist von der Natur mit einem Charakter ausgestattet, der seine Persönlichkeit ein Leben lang prägen wird. Manche Kinder sind eher introvertiert, andere eher extrovertiert. Manche Kinder sind ruhig, andere hibbelig. Außerdem wissen wir, dass die Intelligenz Ihres Kindes zu mindestens 50 Prozent genetisch festgelegt ist. Einige Studien weisen darauf hin, dass weitere 25 Prozent womöglich von seinen Mitschülern und seinem Freundeskreis abhängen. Das hat einige Experten zu der Annahme veranlasst, dass Eltern die Entwicklung ihrer Kinder so gut wie gar nicht beeinflussen könnten. Diese These ist jedoch falsch. Vor allem in den ersten Lebensjahren braucht das Kind seine Eltern, um sich zu entwickeln. Ohne ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge, ohne ihre Ansprache, ohne ihre Arme, die es halten und beruhigen, würde das Kind mit irreparablen emotionalen und intellektuellen Defiziten aufwachsen. Nur in der Sicherheit, der Fürsorge und der anregenden Umgebung, welche die Familie bietet, kann sich das Gehirn des Kindes in aller Ruhe voll entwickeln.

Heute haben Eltern eine viel größere Chance, bei ihren Kindern vieles richtig zu machen, als in jeder anderen Epoche der Geschichte. Wir verfügen über mehr Informationen und die Hirnforschung gibt uns Erkenntnisse und praktische Werkzeuge an die Hand, die unseren Kindern helfen können, sich gut zu entwickeln. Leider sind aber auch die Möglichkeiten, Fehler zu machen, zahlreicher geworden. Fakt ist, dass sich die Zahl der Kinder, die neurologische oder psychiatrische Medikamente nehmen, in den USA in nur zwei Jahrzehnten versiebenfacht hat. Die Tendenz ist weiter steigend und der Prozess scheint wie ein Flächenbrand auf die gesamte »entwickelte« Welt überzugreifen: Eins von neun Kindern steht heutzutage während seiner Schulzeit unter dem Einfluss von Psychopharmaka. Tatsächlich sind uns in der Kindererziehung gewisse Werte abhandengekommen: Werte, die die Wissenschaft als grundlegende Voraussetzungen für eine ausgewogene zerebrale Entwicklung betrachtet. Und das treibt auf dem Gebiet der Erziehung und der kindlichen Entwicklung merkwürdige und massenhafte Blüten: Konzerne, die mit komplexen Hirnstimulationsprogrammen Geld verdienen, Zentren für frühkindliche Bildung, die kleine Genies produzieren und Pharmafirmen, die die Konzentrationsfähigkeit und das Verhalten von Kindern medikamentös verbessern wollen. Diese Unternehmen arbeiten im Schutz der landläufigen Annahme, dass derartige Programme, Stimulationen oder Therapien einen positiven Einfluss auf die zerebrale Entwicklung hätten. Und am anderen Ende der Skala fehlt es nicht an Eltern, die sich auf Studien mit dem Ergebnis stützen, dass Frustrationserlebnisse bei einem Baby emotionale Probleme hervorrufen, Grenzen das kreative Potenzial des Kindes beeinträchtigen oder zu viele Belohnungen sein Vertrauen untergraben können und die somit auf eine radikal natürliche Erziehung vertrauen und das Kind ohne Regeln und Enttäuschungen aufwachsen lassen wollen. Beide Vorstellungen, zum einen, dass sich das Potenzial des kindlichen Gehirns technologisch steigern lässt, und zum anderen, dass der Mensch sich nur dann voll entfalten kann, wenn er in aller Freiheit forscht und Erfahrungen sammelt, sind inzwischen widerlegt. Tatsache ist, dass das Gehirn nicht so funktioniert, wie wir es gerne hätten, und zuweilen auch nicht so, wie wir glauben. Das Gehirn funktioniert so, wie es eben funktioniert.

Neurowissenschaftler in aller Welt versuchen seit Jahrzehnten herauszufinden, nach welchen Prinzipien die zerebrale Entwicklung vonstattengeht und mit welchen Strategien Kinder am wirkungsvollsten darin unterstützt werden können, glücklicher zu sein und von einem voll entfalteten intellektuellen Potenzial zu profitieren. Evolutionsbiologische und genetische Forschungen zeigen, dass wir Menschen keineswegs durch und durch gut sind, sondern widerstreitende Instinkte besitzen. Sie müssen nur über einen Schulhof gehen, um zu sehen, wie sich, sobald die Lehrer nicht hinsehen, großzügige Regungen in Form von Selbstlosigkeit und wechselseitiger Kooperation, aber auch wildere, zum Beispiel aggressive oder dominante Verhaltensweisen Bahn brechen. Ein Kind wäre verloren ohne Eltern und Lehrer, die es anleiten und ihm helfen, seine Bedürfnisse innerhalb der vom Respekt gegenüber anderen gebotenen Grenzen zu befriedigen. Wir wissen, dass wir die Evolution unserer Spezies zu einem Großteil unserer Fähigkeit zu verdanken haben, Werte und Kultur von einer Generation an die nächste weiterzugeben und so – auch wenn es zurzeit vielleicht nicht danach aussieht – immer zivilisierter und solidarischer zu werden. Diese Aufgabe kann das Gehirn nicht allein bewältigen: Es braucht die aufmerksame Arbeit von Eltern und Lehrern.

Die Ergebnisse anderer Forschungsprojekte sprechen dafür, dass frühkindliche Bildung keinerlei Auswirkungen auf die Intelligenz eines gesunden Kindes hat. Das Einzige, was hier erwiesen zu sein scheint, ist, dass das Kind in den ersten Lebensjahren eine größere Fähigkeit besitzt, das sogenannte absolute Gehör und musikalisches Können zu entwickeln oder eine andere Sprache so zu erlernen, als wäre es seine Muttersprache. Das bedeutet aber nicht, dass eine bilinguale Schule besser wäre als eine nicht bilinguale: vor allem deshalb, weil das Kind, wenn die Lehrerinnen und Lehrer keine Muttersprachler sind, einen Akzent entwickeln wird. In dieser Hinsicht könnte es zielführender sein, die Kinder – wie in einigen unserer Nachbarländer üblich – Filme in der Originalsprache sehen oder nur ein paar Stunden pro Woche, dafür aber bei muttersprachlichen Lehrern Englisch- oder Chinesischunterricht nehmen zu lassen. Wir wissen ferner, dass ebenso wenig Programme wie Baby Einstein oder die Musik von Mozart zur intellektuellen Entwicklung des Kindes beitragen. Ein Kind, das klassische Musik hört, kann sich entspannen und einige Minuten später bestimmte Konzentrationsübungen besser ausführen, aber das ist auch schon alles. Nach ein paar Minuten verflüchtigt sich der Effekt. Überdies liegen uns Daten vor, die eindeutig beweisen, dass sich das Risiko von Verhaltensauffälligkeiten oder Aufmerksamkeitsdefizitstörungen (ADS) erhöht, wenn Kinder Smartphones, Tablets und anderen elektronischen Geräten ausgesetzt werden. Dieselben Daten weisen zudem darauf hin, dass dieses Defizit ganz ohne Zweifel überdiagnostiziert ist, will sagen: Der Anteil von Kindern, die psychiatrische Medikamente einnehmen, die sie eigentlich nicht brauchen, ist vergleichsweise hoch. Die Tendenz zur Überdiagnose von ADS ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Pharmakonzerne sind nicht dafür verantwortlich, sondern machen sich lediglich den Erziehungskontext vieler Haushalte zunutze: Lange Arbeitstage, mangelnde Zuwendung seitens der Eltern, fehlende Geduld und fehlende Grenzen und, wie schon angedeutet, das Aufkommen von Smartphones und Tablets scheinen den schwindelerregenden Anstieg der Fälle kindlicher Aufmerksamkeitsdefizitstörungen und Depressionen zumindest teilweise zu erklären.

Unzählige Wunderprogramme versprechen, die Intelligenz des Kindes zu fördern, doch streng wissenschaftlich betrachtet sind alle diese Programme, wie Sie sehen konnten, wirkungslos. Möglicherweise scheitern deshalb so viele von ihnen, weil sie – ausgehend von der Annahme, dass, wer sein Ziel früher erreicht, insgesamt weiter kommt – hauptsächlich darauf abzielen, den natürlichen Entwicklungsprozess des Gehirns zu beschleunigen. Doch die zerebrale Entwicklung ist kein Prozess, der sich beschleunigen lässt, ohne dass ein Teil seiner Eigenschaften dabei verlorengeht. So, wie eine genetisch veränderte Tomate binnen weniger Tage zu »perfekter« Größe und Farbe heranreift, aber an Geschmacksintensität verliert, kann ein Gehirn, das sich unter Druck und überhastet entwickelt und Etappen überspringt, unterwegs wesentliche Bestandteile verlieren. Empathie, die Fähigkeit, zu warten, das Gefühl der Ruhe oder die Liebe lassen sich nicht im Treibhaus heranzüchten, sondern müssen mit Muße wachsen. Hier sind geduldige Eltern gefragt, die gelassen abwarten können, bis das Kind – dann nämlich, wenn es dazu bereit ist – seine besten Früchte hervorbringt. Aus ebendiesem Grund beschränken sich die wichtigsten Entdeckungen der Neurowissenschaft über die Entwicklung des kindlichen Gehirns auf scheinbar einfache Aspekte: dass es positive Folgen hat, wenn die Mutter während der Schwangerschaft und das Kind in den ersten Lebensjahren Obst und Fisch zu sich nehmen; dass es sich in psychologischer Hinsicht günstig auswirkt, das Baby in den Armen zu wiegen; dass bei der intellektuellen Entwicklung des Kindes die Zuneigung eine Rolle spielt; dass die Gespräche zwischen Eltern und Kind für die Ausbildung des Gedächtnisses und der Sprache wichtig sind. Alledem liegt die klare Erkenntnis zugrunde, dass es bei der Entwicklung des Gehirns um Wesentliches geht.

Tatsächlich ist vieles von dem, was wir inzwischen über das Gehirn wissen, den Vätern und Müttern, denen es helfen könnte, gar nicht bekannt. Ich möchte Ihnen zeigen, dass – und wie – Sie die Entwicklung Ihres Kindes sehr wohl positiv beeinflussen können. Hunderte von Studien beweisen, dass das Gehirn eine enorme Formbarkeit besitzt und dass Eltern mit den geeigneten Strategien besser in der Lage sind, ihre Kinder bei einer ausgewogenen zerebralen Entwicklung zu unterstützen. Deshalb habe ich einige Grundlagen, Werkzeuge und Techniken zusammengetragen, die Ihnen helfen können, den bestmöglichen Einfluss auf die intellektuelle und emotionale Entwicklung Ihres Kindes zu nehmen. Auf diese Weise haben Sie die Möglichkeit, es beim Erwerb guter intellektueller und emotionaler Fertigkeiten zu unterstützen und außerdem Entwicklungsschwierigkeiten wie der Aufmerksamkeitsdefizitstörung, kindlichen Depressionen oder Verhaltensauffälligkeiten vorzubeugen. Gewisse Grundkenntnisse über die Entwicklung und den Aufbau des kindlichen Gehirns können, davon bin ich überzeugt, für Väter und Mütter, die davon Gebrauch machen wollen, eine große Hilfe sein. Ich vertraue darauf, dass die Kenntnisse, die Strategien und die Erfahrungen, die Sie im Folgenden kennenlernen werden, dazu beitragen, Ihre Aufgabe als Vater oder Mutter zu einer rundum befriedigenden Erfahrung werden zu lassen. Vor allem aber hoffe ich, dass diese Erkundungsgänge durch die wunderbare Welt des kindlichen Gehirns Ihnen helfen werden, Verbindung mit Ihrem verlorenen inneren Kind aufzunehmen, damit Sie Ihr Kind besser verstehen und so aus Ihnen beiden das Beste herausholen können.

Teil IGrundlagen

1. Prinzipien für eine volle Entwicklung des Gehirns

Kluge Menschen richten sich nach Plänen; weise nach Prinzipien.

Raheel Farooq

Ein Prinzip ist eine allgemeine und notwendige Bedingung, die uns hilft, die Welt um uns herum zu erklären und zu begreifen. Das Gesetz der Schwerkraft ist ein Grundprinzip der Astronomie, die Hygiene ist ein Grundprinzip der Gesundheit und das wechselseitige Vertrauen ist beispielsweise ein Grundprinzip der Freundschaft. Wie bei jeder Aufgabe, die der Mensch übernimmt, gibt es auch bei der Kindererziehung einige Grundprinzipien, dank deren alle Mütter und Väter wissen, was zu tun ist, und auf die sie zurückgreifen können, um die Alternativen abzuwägen, die sich ihnen bei der Erziehung und Versorgung ihrer Kinder bieten.

Wie alle Eltern standen und stehen Sie während des langen Reifungsprozesses Ihrer Kinder immer wieder vor etlichen Dilemmata. Das können konkrete und praktische Fragen sein wie etwa die Entscheidung, ob Sie schimpfen oder geduldig sein wollen oder ob Sie warten, bis Ihr Kind seinen Teller leergegessen hat, oder ihm erlauben, etwas übrig zu lassen. Darüber hinaus aber gibt es noch weiterreichende, geradezu philosophische Fragen wie die Wahl der Schule, an der wir es anmelden, die Entscheidung für oder gegen außerschulische Aktivitäten oder unsere Meinung dazu, wie viel Zeit es vor dem Fernseher oder mit Handyspielen verbringen sollte. Tatsächlich werden alle diese Entscheidungen, die philosophischen ebenso wie die scheinbar unwesentlichen, die Gehirnentwicklung Ihres Kindes beeinflussen, und deshalb ist es gut, ihnen einige klare, praktische und tragfähige Prinzipien zugrunde zu legen.

In diesem ersten Teil des Buches werde ich Ihnen die Grundprinzipien der Entwicklung des kindlichen Gehirns vorstellen, die jede Mutter und jeder Vater kennen sollte. Es handelt sich um vier sehr einfache Gedanken, die Sie problemlos verstehen und sich einprägen werden. Vor allem aber handelt es sich um vier Leitlinien, auf denen Sie aufbauen können, wenn Sie das intellektuelle und emotionale Gehirn Ihres Kindes unterstützen. Es sind dieselben Prinzipien, auf die ich mich auch bei der Erziehung meiner eigenen Kinder gestützt habe und nach denen ich mich richte, wann immer ich diesbezüglich eine Entscheidung treffen muss. Wenn Sie diese Prinzipien in alltäglichen Situationen und auch in Zweifelsfällen auf die Erziehung und Versorgung Ihrer Kinder anwenden, werden Sie ganz sicher die richtigen Entscheidungen treffen.

2. Ihr Kind ist wie ein Baum

Wenn es dir gelingt, etwas anderes zu sein als das, was du wirklich werden kannst, wirst du mit Sicherheit nur eines werden: unglücklich.

Abraham Maslow

Vielleicht haben Sie schon einmal beobachtet, wie ein neugeborenes Fohlen oder ein Rehkitz versucht, sich auf den Beinen zu halten. Schon nach wenigen Minuten kann es aufstehen und die ersten, wenn auch noch recht wackligen Schritte hinter seiner Mutter herlaufen. Für den Menschen, dessen Kinder erst nach ungefähr einem Jahr ihre ersten Schritte tun – und sich manchmal erst nach 40 Jahren von ihrem elterlichen Zuhause abnabeln –, kann es faszinierend sein, diesem Schauspiel zuzusehen. Das Schutzbedürfnis eines menschlichen Neugeborenen ist absolut. Kein anderes Säugetier braucht so viel Schutz wie ein menschliches Baby. Das führt dazu, dass sich in vielen Eltern die Vorstellung verfestigt, ihr Kind sei ein zerbrechliches und abhängiges Wesen. Auch wenn dies für das erste Lebensjahr und in mancher Hinsicht auch für die Jahre danach durchaus zutrifft, würde ich es doch begrüßen, wenn Sie am Ende dieses Kapitels zu der Überzeugung gelangten, dass Ihr Kind im Großen und Ganzen nicht anders ist als das Rehkitz, das Fohlen oder das kleine Zebra, das Sie schon bald nach der Geburt haben auf eigenen Beinen stehen sehen.

Natürlich kann ein Säugling nicht hinter seiner Mutter herlaufen, wenn die beiden nach der Geburt das Krankenhaus verlassen. Doch er ist zu etwas in der Lage, das nicht weniger faszinierend ist. Wenn ein Neugeborenes gleich nach der Entbindung auf den Bauch seiner Mutter gelegt wird, bleibt es nicht etwa ruhig liegen, sondern schiebt sich nach oben, bis es den dunklen Fleck der mütterlichen Brustwarze erspäht, und dann noch weiter hinauf, bis es daran »andocken« kann. Dieses Schauspiel ist für alle Eltern etwas Unglaubliches. Sie werden mir zustimmen, wenn Sie es schon einmal erleben durften. Und doch ist es vollkommen natürlich. Jeder Mensch ist gleichsam darauf programmiert und mit dem nötigen Drang ausgestattet, selbstständig und glücklich zu werden. Die Vorstellung, dass der Mensch einen natürlichen Antrieb hat, sich voll zu entwickeln, ist eine in der Welt der Psychologie und der Pädagogik allgemein verbreitete und akzeptierte Annahme. Und sie ist ein Grundprinzip der Biologie: Alle Lebewesen haben die Eigenschaft, zu wachsen und sich vollständig zu entfalten. Auf fruchtbarem Boden und mit einem Minimum an Licht und Wasser wird eine Eichel unaufhaltsam wachsen, ihren Stamm verdicken und strecken, ihre Zweige ausbreiten und ihre Blätter sprießen lassen, bis aus der kleinen Eichel schließlich eine ausgewachsene, große und majestätische Eiche geworden ist. Ebenso werden sich das Gefieder eines Vogels, die Kraft seiner Flügel und die Geschicklichkeit seines Schnabels so lange entwickeln, bis er fliegen, Würmer jagen und sein eigenes Nest bauen kann, und ein Blauwal wird zum außerordentlichsten Geschöpf unseres Planeten heranwachsen. Wenn sich ihnen nichts in den Weg stellt, haben alle Wesen der Natur den natürlichen Antrieb, ihr Potenzial voll zu entfalten. Mit Ihrem Kind ist es genauso. Die Ersten, die dieses Prinzip Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckt haben, waren die Vertreter der sogenannten »humanistischen« Psychologie. Damals teilte sich die Psychologie in zwei große Schulen: die Psychoanalyse, die im Wesentlichen die Auffassung vertrat, dass der Mensch durch unbewusste Begierden und Bedürfnisse konditioniert ist; und den Behaviorismus, der der Meinung war, dass Belohnungen und Strafe für das Verhalten und das Glücksempfinden des Menschen maßgeblich sind. Abraham Maslow, der Vater der humanistischen Psychologie, verfocht die These, dass der Mensch genau wie andere Lebewesen den Antrieb hat, sich voll zu entwickeln. Bei einem Kirschbaum drückt sich diese volle Entwicklung darin aus, dass er jeden April blüht und später süße und köstliche Früchte trägt; bei einem Gepard bedeutet volle Entwicklung, dass er schneller läuft als jedes andere Landsäugetier, und bei einem Eichhörnchen, dass es sich einen Kobel bauen und Nüsse für den Winter sammeln kann.

Die Entfaltung des menschlichen Potenzials verläuft zwar auf einer höheren Evolutionsstufe, aber nach demselben Prinzip wie bei den Pflanzen oder Tieren. Weil Ihr Kind ein komplexes Gehirn besitzt, mit dem es fühlen und denken, soziale Beziehungen knüpfen und Ziele erreichen kann, verlangt seine Natur von ihm etwas mehr als von einem Vogel. Das Gehirn des Menschen weist die natürliche Eigenschaft auf, sich mit sich selbst und in der Gesellschaft anderer wohlzufühlen, nach Glück zu streben und seinem Dasein einen Sinn zu verleihen. Wir Psychologen bezeichnen dieses letzte Ziel jedes Menschen als »Selbstverwirklichung«, und wir wissen, dass jeder danach strebt, sofern die nötigen Voraussetzungen gegeben sind. Der berühmte Harvard-Neurowissenschaftler Steven Pinker höchstselbst war es, der die Evolution unseres Gehirns am gründlichsten erforscht hat. Er erklärt, dass der Überlebenskampf, der Wunsch nach Freiheit und das Streben nach Glück in unsere DNA eingeschrieben sind. Laut Maslow besteht die Verwirklichung des eigenen Potenzials für den Menschen darin, sich in der Gesellschaft anderer Menschen und mit sich selbst wohlzufühlen und einen Zustand der Harmonie und völligen Zufriedenheit zu erreichen. Diesen Drang zur Entfaltung hat Maslow anhand einer Pyramide von Grundbedürfnissen veranschaulicht, die Sie ganz sicher kennen. Hier möchte ich Sie Ihnen in einer Version vorlegen, die auf die Bedürfnisse von Kindern abgestimmt ist.

Wie das Bild anschaulich zeigt, hat das Gehirn eines Kindes ein paar Grundbedürfnisse, genau wie ein Baum, der einige grund­legende Dinge braucht, damit er wachsen und sich entwickeln kann: das heißt vor allem ein bisschen festen Boden, Wasser, Sonnenlicht und Platz, um sich auszubreiten. Beim Kind entspricht dem festen Boden, der ersten Stufe, die körperlichen Sicherheit. Sie ist dadurch gewährleistet, dass seine notwendigen Bedürfnisse nach Nahrung, Erholung und Hygiene befriedigt werden. Der zweiten Stufe entspricht das Licht, was bedeutet, dass das Kind ungetrübt in einem sicheren Zuhause ohne Gefahren oder Misshandlungen aufwachsen kann. Die dritte Stufe, das Wasser, das die Wurzeln des Baumes feuchthält, ist nichts anderes als die Zuneigung liebevoller Eltern, die das Kind beschützen und emotional nähren und ihm so zu einem guten Selbstwertgefühl verhelfen. Viertens braucht das Kind ähnlich wie der Baum Platz, um sich auszubreiten: Es benötigt das Vertrauen seiner Eltern und den nötigen Freiraum, weil sein Talent und sein Forschungsdrang andernfalls in der Unsicherheit und Enge zu ersticken drohen, die seine Eltern ihm vermitteln. Und schließlich sucht das Gehirn des Kindes in seinem Bestreben, sich voll zu entwickeln, genau wie die Zweige des Baumes, die sich der Sonne entgegenstrecken, von Natur aus nach Anreizen, die es ihm ermöglichen, die Gegenstände und Personen in seiner Umgebung zu erkunden, spielerisch zu erproben und zu entdecken. Wir werden uns in den verschiedenen Kapiteln des vorliegenden Buches noch eingehender mit diesen vier elementaren, aber für die volle Entwicklung des Gehirns unverzichtbaren Bedingungen beschäftigen. In diesem Kapitel aber möchte ich die wesentliche Rolle des Vertrauens betonen. Denken Sie daran, dass Ihr Kind wie ein Baum darauf programmiert ist, zu wachsen und sich voll zu entwickeln. Weder seine Erzieher und Lehrer noch seine Eltern noch das Kind selbst wissen, was für ein Baum es werden wird. Mit den Jahren werden Sie herausfinden, ob Ihr Kind ein mächtiger Mammutbaum, eine einsame Pappel, ein Kirschbaum voller Früchte, eine widerstandsfähige Palme oder eine ­majestätische Eiche ist. Auf eines aber können Sie vertrauen: Das Gehirn Ihres Kindes ist darauf programmiert, sich voll zu entwickeln und sein ganzes Potenzial auszuschöpfen. Und in vielen Fällen ist das Einzige, was Sie tun müssen: vertrauen.

3. Nutze den Augenblick

Echte Großzügigkeit gegenüber der Zukunft besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben.

Albert Camus

Vor etwa fünf Jahren war ich einmal ziemlich gestresst auf dem Weg zum Zug, der mich jeden Tag zur Arbeit bringt, als ich unseren Metzger traf. Er lächelte breit und sagte: »Guten Morgen! Wie geht’s?« Damals hatte ich gerade begonnen, meinen Sohn jeden Morgen in die Kita zu bringen. Wenn er aufwachte, musste ich schon mit allem fertig sein, und deshalb stand ich eine Stunde früher auf als bisher. Obwohl ich immer davon geträumt hatte, eine Familie zu gründen, und obwohl ich Kinder liebe, fühlte ich mich offen gestanden wie viele junge Eltern von meiner neuen Verantwortung überfordert und litt unter dem Verlust meiner Freiheit. Es war, als müsste ich jeden Morgen zweimal aufstehen, mich zweimal anziehen, zweimal frühstücken und zweimal zur Arbeit gehen: eine drastische Veränderung verglichen mit meinem früheren Leben, als ich mich nur um mich selbst hatte kümmern müssen. Ich war müde, neben der Spur und fühlte mich irgendwie unglücklich. Also klagte ich dem Metzger mein Leid und jammerte über meine Müdigkeit und meine fehlende Zeit. Daraufhin gab er, älter und mithin weiser als ich, mir einen Rat, den ich nie vergessen werde: »Die Zeit mit den Kindern vergeht schnell und sie vergeht nur einmal. Was du jetzt nicht tust, kannst du nicht mehr nachholen. Das hast du für immer versäumt.« In diesem Augenblick machte in meinem Kopf irgendetwas klick. Ich wachte auf.

Das Elternsein genießen

Vater oder Mutter zu sein ist viel mehr als nur eine Verantwortung. Es ist ein Privileg. Oft begegnen mir Eltern, die das Elternsein, genau wie ich an jenem Morgen, als Belastung empfinden. Immer wieder machen sie sich den Verlust von Freiheit, die Müdigkeit oder die Enttäuschung bewusst, die das Familienleben mit sich bringt, und vergessen darüber offenbar, welche Freude es sein kann, Kinder zu haben. Vater oder Mutter zu sein bedeutet zweifellos, auf vieles zu verzichten oder vieles auf später zu verschieben: Freizeit, Reisen, Karriere oder Erholung, das alles tritt in den Hintergrund. Jeder, der sich für ein Kind entscheidet, weiß, dass man ein sorgloses gegen ein sehr, sehr sorgenreiches Leben eintauscht. Meiner Meinung nach hat dieser ganze Verzicht nur dann einen Sinn, wenn auf der anderen Seite eine Entschädigung steht – und bei Kindern besteht die beste Entschädigung darin, die Zeit mit ihnen zu genießen.

Wenn die Verantwortung für Ihre Kinder Sie oft niederdrückt, dann rate ich Ihnen, Ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes, Posi­tiveres zu lenken. Wenn das Gehirn seinen Fokus verschiebt, ist es imstande, die Dinge in einem völlig anderen Licht zu sehen. Schauen Sie sich die abgebildete ­Zeichnung an. Sie stammt aus dem Jahr 1915 und stellt eine Frau und eine Schwiegermutter dar (das ist der Originaltitel der Zeichnung: My Wife and My Mother-In-Law, von W. E. Hill). Sehen Sie beide? Die Besonderheit des Bildes besteht darin, dass man je nach Blickpunkt entweder eine junge oder eine alte Frau sieht. Wenn Sie Ihren Blick auf den Teil der Zeichnung richten, wo der Pelzkragen zusammenläuft, sehen Sie ein vorstehendes Kinn und deuten das Bild als die Darstellung einer alten Frau. Wenn Sie dagegen auf den Teil des Gesichts gleich unterhalb des Hutes blicken, dann sehen Sie die Silhouette einer jungen Frau mit seitwärts gedrehtem Kopf. Alt oder jung. Schwiegermutter oder Ehefrau. In Wirklichkeit zeigt die Zeichnung sie beide, aber man kann sie nicht gleichzeitig sehen. Die Erfahrung, ein Kind großzuziehen, ist ein bisschen wie dieses Bild: Man kann sein Leben lang über die bittere Seite und die Opfer nachdenken, die man bringen muss – oder man richtet den Fokus darauf, wie schön es ist, sein Kind heranwachsen zu sehen.

Wenn Sie Ihr schlafendes Kind ins Bett tragen, dann bedeutet das, dass es sich in Ihren Armen vollkommen sicher fühlt. Wenn Sie zu spät zur Arbeit kommen, weil Sie auf dem Schulweg mit Ihrer Tochter Kastanien gesammelt und darüber die Zeit vergessen haben, dann bedeutet das, dass Sie an diesem Morgen einen magischen Moment mit Ihrem kleinen Mädchen genießen durften. Wenn Sie die ganze Nacht wachbleiben, weil Ihr Kind zahnt, dann bedeutet das, dass Sie an seiner Seite sind, wenn es ihm schlecht geht. Und wenn Sie auf einen Arbeitstag verzichten, um zu einer Schulaufführung zu gehen, dann bedeutet das, dass Sie in wichtigen Momenten seines Lebens einfach da sind. Es steht außer Frage, dass es auch schwere Zeiten gibt. Aber wenn Sie als Vater oder Mutter über das nackte Überleben hinaus erfüllende und befriedigende Erfahrungen machen wollen, dann rate ich Ihnen, dass Sie Ihren Blick auf die schönen Seiten des Elternseins richten und sie nach Kräften genießen.

Nutzen Sie den Augenblick

Wie das Zitat von Maria Montessori in der Einleitung dieses Buches schon vorwegnahm, sind die ersten sechs Jahre die wichtigsten im Leben eines Kindes. In diesen Jahren bauen wir Vertrauen in uns selbst und in die Welt um uns herum auf, wir entwickeln die Sprache, festigen die Art und Weise, wie wir lernen, und schaffen die Grundlagen, mit deren Hilfe wir in der Zukunft Probleme lösen und Entscheidungen fällen können.

Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, dass Sie die ersten Lebensjahre Ihres Kindes nutzen, um bei ihm zu sein und es bei der Entfaltung seiner kognitiven und emotionalen Fähigkeiten zu unterstützen. Es geht nicht darum, es an komplexen frühkindlichen Bildungsmaßnahmen teilnehmen zu lassen oder in die beste Kindertagesstätte der ganzen Umgebung zu schicken. Jedes alltägliche Spiel, jedes Weinen, jeder Spaziergang und jedes Fläschchen ist für Sie eine Gelegenheit, die zerebrale Entwicklung Ihres Kindes zu steuern und zu fördern. Wir wissen, dass in den ersten Lebensjahren nicht etwa die Kita oder die Schule und schon gar nicht die außerschulischen Angebote, sondern die Eltern und Geschwister den größten Einfluss auf seine Entwicklung und Reifung ausüben. Werte, Normen, Situationsverständnis, Gedächtnis und die Fähigkeit, Probleme anzugehen, werden durch die Sprache, durch Spiele, durch kleine und große Gesten und durch all die anderen, scheinbar unbedeutenden, Details vermittelt, aus denen sich Erziehung zusammensetzt. Dieses Buch ist nichts anderes als der Versuch, Ihnen Werkzeuge und Strategien zur Anwendung im täglichen Leben an die Hand zu geben, damit Ihr Kind ohne Druck, spielerisch und mit Freude lernt. Und zwar auf eine ganz natürliche Weise, die dazu beiträgt, dass zwischen Ihnen und Ihrem Kind eine erfüllende und dauerhafte Beziehung entsteht.

Genießen Sie den Augenblick

Während für alle Menschen, die das Beste aus ihrem Leben herausholen wollen, die Maxime gilt: »Nutze den Augenblick« (Carpe diem), müsste das Motto für Menschen wie uns, die ihren Kindern beim Ausschöpfen ihres Potenzials helfen wollen, entsprechend lauten: »Genieße den Augenblick«. Genuss, Spaß und Spiel müssen grundlegende Bestandteile der kindlichen Entwicklung sein. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Wir Erwachsenen nehmen die Welt in Form von Ideen, Wörtern und Schlussfolgerungen wahr. Aber haben Sie sich einmal die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, wie Ihre Kinder die Welt wahrnehmen? Nicht alle Lebewesen nehmen ihre Umgebung auf dieselbe Weise wahr. Das Gehirn eines Hundes zum Beispiel nimmt die Welt über Gerüche wahr; das einer Fledermaus über die Geräusche, die auf ihr Sonar treffen; und das der Bienen über elektromagnetische Impulse. Genauso nimmt ein Kind die Welt in seinen ersten Lebensjahren völlig anders wahr als Sie. Die Weltwahrnehmung eines Kindes ist in erster Linie emotional, spielerisch und affektiv.

In diesem Sinne ist Spielen entscheidend, wenn Sie die intellektuelle und emotionale Entwicklung Ihres Kindes unterstützen wollen. Natürlich kann ein Kind auch von Eltern, die wenig oder gar nicht spielen, manches lernen, doch das Spiel bietet viele Vorteile. Das kindliche Gehirn ist so ausgestattet, dass es auf spielerische Weise lernt. Wenn wir mit einem Kind spielen, schaltet es in den Lernmodus: Alle seine Sinne kreisen um die betreffende Tätigkeit und es kann sich sehr viel länger und besser auf Ihre Gesten und Worte konzentrieren und an sie erinnern, als wenn Sie es belehren oder ihm sagen, was es tun soll. Wenn wir mit einem Kind spielen, kommen wir emotional mit ihm in Kontakt. Seine Gefühle werden durch das Spiel an sich, aber auch durch die Berührungen seines Vaters oder seiner Mutter geweckt, die es im Rahmen des Spiels festhalten, umarmen oder zärtlich an ihm herumknabbern. Wenn ein Kind spielt, vermag es Rollen zu interpretieren, sich in andere hineinzuversetzen und an die Zukunft zu denken. Es ist außerdem in der Lage, mit einer Intelligenz und Reife zu handeln, die über sein Alter hinausgehen, weil das Spiel seinen Geist mehr als jede andere Tätigkeit zu weiten vermag. Wenn Sie sich auf die Welt Ihres Kindes einlassen und diese aus seinem Blickwinkel betrachten wollen, dann rate ich Ihnen, sich auf den Boden zu setzen oder zu legen und sich auf seine Ebene zu begeben. Es gibt keinen besseren Weg, die Aufmerksamkeit eines Kindes auf sich zu ziehen, das verspreche ich Ihnen: Ohne dass Sie auch nur ein einziges Wort sagen müssen, wird sich jedes Kind im Zimmer – begierig zu spielen und froh darüber, dass Sie die Welt seiner Emotionen und seines Spiels betreten haben – auf Sie zubewegen. Ich lade Sie ein, im Leben Ihrer Kinder in der ersten Reihe zu sitzen. Und deshalb werde ich Ihnen in diesem Kapitel und das ganze Buch hindurch immer wieder nahelegen, sich auf den Teppich zu setzen und Spiel und Spaß als Mittel der Erziehung zu gebrauchen. Ein so tiefgelegener Ort wie der Boden Ihres Hauses ist der allerbeste Aussichtspunkt, um die zerebrale Entwicklung Ihres Kindes zu beobachten und daran teilzuhaben. Genießen Sie es!

4. Gehirn-ABC für Eltern

Eine Investition in Wissen bringt noch immer die besten Zinsen.

Benjamin Franklin

Nach meiner Erfahrung kann es für Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder ungeheuer praktisch sein, über gewisse Grundkenntnisse darüber zu verfügen, wie das Gehirn funktioniert und sich entwickelt. Dazu muss man kein Neurowissenschaftler sein. Mit einigen wenigen Pinselstrichen lassen sich ein paar grundlegende Ideen skizzieren, die Ihnen helfen werden, Entscheidungen zu treffen und den Erziehungsprozess Ihrer Kinder zu steuern. Sie werden das ganze Buch hindurch immer wieder nützliche und praktische Informationen darüber finden, wie Sie Ihr Kind bei der vollen Entfaltung seines Potenzials unterstützen können. In diesem Kapitel wollen wir die Tore zur unbekannten Welt des Gehirns aufstoßen, damit Sie ihr ABC erlernen: das Grundlegende, was alle Mütter und Väter wissen müssen, ehe sie ihrem Kind bei der Ausschöpfung seiner Möglichkeitenhelfen können. Es handelt sich um drei einfache Gedanken, die Sie problemlos verstehen und sich einprägen können.

Verknüpfung

Ein Neugeborenes besitzt schon beinahe alle hunderttausend Millionen Neuronen, die es als erwachsener Mensch haben wird. Der Hauptunterschied zwischen dem Gehirn des Kindes und dem des Erwachsenen besteht darin, dass diese Neuronen später untereinander Trillionen von Verknüpfungen gebildet haben werden. Jede dieser Verknüpfungen nennen wir »Synapse«. Damit Sie sich ein Bild von der unglaublichen Verknüpfungsfähigkeit des menschlichen Gehirns machen können, müssen Sie sich vorstellen, dass solche Verknüpfungen in nur zwei Sekunden entstehen und dass manche Neuronen sich mit bis zu 500 000 weiteren benachbarten Neuronen verknüpfen können.

Interessanter als diese Zahlen ist die Tatsache, dass jede einzelne dieser Verknüpfungen für etwas Neues steht, das das kindliche Gehirn gelernt hat, wie Sie auf der Abbildung nachvollziehen können. Wenn das Kind nach seinem Lieblingsdino greift, spiegeln Stellung, Kraft und Richtung des Daumens sich in seinem Gehirn in verschiedenen neuronalen Verknüpfungen wider, außerdem in dem Gefühl, dass es bekommt, was es will, wenn es sich nur konzentriert. Wenn Sie mit Ihrem Kind sprechen, wenn Sie es küssen oder wenn es Sie einfach nur ansieht, stellt sein Gehirn Verbindungen her, die ihm später, wenn es erwachsen ist, helfen, sein Leben anzupacken. In diesem Buch werde ich Ihnen beibringen, Kontakt mit Ihrem Kind aufzunehmen, damit es wertvolle Verknüpfungen bilden kann, mit deren HIlfe es fähig wird, seine Ziele zu erreichen und sich mit sich selbst wohlzufühlen. Wir nehmen uns ein ganzes Kapitel Zeit, damit Sie lernen, wie Sie Ihrem Kind dabei helfen können, auf effektivere Weise wertvolle Verknüpfungen zu bilden. Für den Moment möchte ich Sie nur darum bitten, sich zu merken, dass sich alles, was Sie Ihrem Kind beibringen, als Verknüpfung ausprägt, die es womöglich sein Leben lang begleitet.

Verstand und Intuition

Der Buchstabe B in diesem Gehirn-ABC für Eltern gibt Ihnen eine genauere Vorstellung von der Intelligenz Ihres Kindes und davon, wie Sie sein Selbstvertrauen stärken können. Der äußere Teil des Gehirns, den wir auch als »Großhirnrinde« bezeichnen, ist in zwei Hälften geteilt: die linke und die rechte Hemisphäre. Die linke Hemisphäre steuert die Bewegungen der rechten Hand und ist bei den meisten Menschen die dominante Hirnhälfte. Zu den Funktionen dieser Hirnhälfte gehören die Fähigkeit zu sprechen, zu lesen oder zu schreiben, sich Namen zu merken, sich zu beherrschen oder mit Initiative und Optimismus an das Leben heranzugehen. Wir könnten also sagen, dass diese Hemisphäre rational, logisch und positiv ist und dass sie Kontrolle ausübt. Die rechte Hemisphäre steuert die linke Hand und ist genau wie diese eher unauffällig, was ihre intellektuelle Aktivität betrifft. Dennoch sind ihre Funktionen, wie Sie noch sehen werden, nicht weniger wichtig. Diese Hirnhälfte repräsentiert und interpretiert die nichtverbale Sprache, erzeugt rasche und allgemeine Eindrücke, hat einen Blick auf das Ganze und ist in der Lage, kleine Fehler sozusagen nebenbei zu korrigieren. Sie lässt sich als eher intuitiv, künstlerisch und emotional charakterisieren.

Mit dieser Aufteilung will ich nicht sagen, dass Linkshänder eher intuitiv und Rechtshänder eher logisch veranlagt sind (tatsächlich weist nichts auf einen solchen Zusammenhang hin). Sie sollen auch nicht den Eindruck gewinnen, Kinder könnten nicht intuitiv und zugleich auch rational sein. De facto wissen wir, dass alle Menschen die Funktionen beider Hirnhälften brauchen, damit sich ihr Gehirn voll entwickelt. Ein Maler muss einen guten Blick für das Ganze haben (rechte Hirnhälfte) und gleichzeitig jeden seiner Pinselstriche kontrollieren können (linke Hirnhälfte). Ein Anwalt muss sich an viele geschriebene Gesetze erinnern (linke Hirnhälfte) und gleichzeitig ihre allgemeine Gültigkeit vertreten können (rechte Hirnhälfte). Im letzten Teil des Buches erfahren Sie, was Sie tun müssen, um die Entwicklung der verschiedenen Funktionen in der einen wie in der anderen Gehirnhälfte zu unterstützen. Und Sie werden lernen, dass jede der beiden Hemisphären die emotionale Entwicklung des Kindes beeinflusst.

Drei Gehirne in einem