Kodiert und nicht in Latein - Anne Swalski - E-Book

Kodiert und nicht in Latein E-Book

Anne Swalski

4,9

Beschreibung

Als Nik Nowak 1956 aus Oberschlesien seinen Bruder im Westen besucht, wird er vom BND als Agent angeworben. Er soll das militärische Potential erkunden, was sich aus dem dortigen Industriegebiet an Produktion von Panzern ergibt sowie der Truppenstärke aus der nahen Garnisonsstadt. Nik, als Bauführer mit dem Fahrrad auf mehreren Kolchosen unterwegs, macht entsprechende Beobachtungen, wird aber wiederholt bei nächtlichen Ausflügen gestellt und kann sich den Festnahmen nur durch Einsatz eines Schlagstocks entziehen. Seine schwierige Ehe wird im Laufe seiner Nebentätigkeit noch schwieriger, und es kommt zu Verrat und weiteren familiären Verwerfungen.

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Seitenzahl: 222

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Anne Swalski

Kodiert und nicht in Latein

Generationenroman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

I – Ein Oberschlesisches Dorf vor und nach dem zweiten Weltkrieg

II – Doppelleben

III – Mein Gepäck

Impressum neobooks

I – Ein Oberschlesisches Dorf vor und nach dem zweiten Weltkrieg

Anne Swalski

Kodiert und nicht in Latein

Roman

Generationenroman in drei Teilen

I – Ein Oberschlesisches Dorf vor und nach dem zweiten Weltkrieg

II – Doppelleben

III – Mein Gepäck

I – Ein Oberschlesisches Dorf vor und nach dem zweiten Weltkrieg

Diese Geschichte trug sich in den 1950er Jahren in einem Oberschlesischen Dorf nahe der Oder zu. Sie nahm ihren Anfang mit einem unguten Ereignis in einer schwierigen Situation, und eine darauf folgende Entscheidung aus Abenteuerlust führte in eine Affäre hinein, aus der am Ende nicht alle glimpflich davon kommen konnten. Nachdem sich mehr als ein halbes Jahrhundert später die damaligen Akteure alle verabschiedet haben, schreibe ich diese Geschichte nieder.

Zu jener Zeit waren die Verhältnisse in Oberschlesien durch die Folgen des Potsdamer Abkommens gekennzeichnet: Die Wirtschaft war durch die Reparationsleistungen an Russland geschwächt, und die Bevölkerung war wegen der polnischen Besetzung zusätzlich belastet und verunsichert: neben der neuen Sprache brachten die neuen Herren den Kommunismus ein, und das Recht erhielt einen anderen Stellenwert. Als weiteres kam die Umsiedlung dazu. Direkt nach dem Krieg war eine Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie angelaufen mit dem Ziel, Platz für nachrückende Ostpolen zu schaffen. Schon vor dem Krieg hatte Stalin Ostpolen annektiert; die dortigen Polen sollten nach dem Krieg in die deutschen Ostgebiete umgesiedelt werden. Nun hatte Polen aber in Oberschlesien ein größeres Industriegebiet zu verwalten, dessen Arbeitsplätze nicht direkt durch polnische Kräfte ersetzt werden konnten. Um den Kohleabbau fortzusetzen und die Fabriken in Betrieb zu halten, hat man die Vertreibung der Deutschen erst einmal ausgesetzt, und Deutsche, die aussiedeln wollten, mussten sogar einen Antrag stellen, der umfänglich geprüft wurde.

Dies war immer noch die Situation in 1956, als meine Eltern daran dachten, eventuell einen Antrag auf unsere Aussiedlung in den Westen Deutschlands zu stellen. Nachdem schon Abertausende von Flüchtlingen in den Westen gezogen waren, war es durchaus fraglich, ob mein Vater Arbeit und Wohnung für uns hätte finden können. Er hatte einen älteren Bruder namens Nolte, der nach dem Krieg nicht zurück in die Oberschlesische Heimat gekommen, sondern in Schleswig-Holstein in der Nähe von Kiel geblieben war. Er hatte dort bereits auf einem Gut in seinem alten Beruf als Mechaniker Arbeit und Wohnung gefunden, war mittlerweile verheiratet und hatte eine Tochter in meinem Alter. Dorthin wollte mein Vater nun für ein paar Wochen reisen, um mit seiner Hilfe zu einer Entscheidung zu kommen.

Der maßgebliche Grund für den Umsiedlungsplan meiner Eltern war die Augen-Erkrankung meines kleinen Bruders Florian, für den man glaubte, im Westen eine bessere medizinische Versorgung zu bekommen. Die Situation in den polnisch besetzten Ostgebieten war ja durchaus schlechter als die im Westen, und dann war damals noch in Einzelfällen der Hass der Polen auf die Deutschen recht virulent, und er ging offenbar auch von der Mittelschicht aus.

Denn es war, dass mein damals fünfjähriger Bruder im Jahr davor einen Unfall hatte, er war mit dem Kopf auf eine Betonplatte gestützt und hatte eine Augenverletzung davon getragen. Jedenfalls verfärbte sich der weiße Glaskörper des linken Auges, es zeigten sich braune und hellbraune millimetergroße Punkte. Er kam in eine Klinik in G., und es begann leider schon damit, dass sich die Kommunikation mit dem medizinischen Personal als schwierig gestaltete: Man war einigermaßen reserviert, und meine Mutter war eingeschüchtert; außerdem konnte sie natürlich noch nicht so gut polnisch sprechen, verstand daher auch nicht alles, was ihr gesagt worden war. Auch die Anwesenheit der Angehörigen am Krankenbett war nur stundenweise üblich; die Besuchszeit war nur zweimal in der Woche für zwei Stunden erlaubt. Meine Mutter war auch sehr darüber bestürzt, dass das Kind in einem Einzelzimmer untergebracht war, es war eine Kammer, klein und dunkel, da das Fenster nur so winzig wie ein Ausguck war. Mein Bruder hatte keinen Kontakt zu den anderen kranken Kindern - er war also die meiste Zeit allein. Auf die Frage, was er den Tag über machte, gab Florian an, dass er immer auf seinem Bett sitzen und weinen würde. Das schlimmste aber war die Art der Operation, denn man hatte das Kind bei vollem Bewusstsein operiert. Als meine Mutter es nach der OP besucht hatte, fragte sie nach, wie es gewesen wäre. Der Junge beschrieb – so klein er war - die Prozedur genau, wie die Schwestern ihn während der Operation festgehalten hätten und was für ein Instrument es gewesen wäre, mit dem der Operateur ihm das Auge ausgestochen hätte. Meine Mutter war entsetzt, sie konnte nicht verstehen, warum man das Kind so unmenschlich behandelt hatte. Diese Brutalität hatte meine beiden Eltern stumm gemacht; sie redeten Tage nicht miteinander. Als mein Bruder dann wieder zu Hause war, bekamen meine Eltern Furcht, dass auf dem rechten Auge noch irgendetwas nach kommen könnte. Sie hatten – wie der eine oder andere in ihrem Bekanntenkreis – die Erfahrung gemacht, dass das Verhalten der Polen gegenüber den Deutschen nicht gerade auf gutes Zusammenleben ausgerichtet war, sondern eher auf Abstoßung, obwohl schon seit dem Krieg ein ganzes Jahrzehnt ins Land gegangen war. Die Rollen waren genau verteilt: Die Polen hatten die Macht, und die Deutschen die Ohnmacht. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass es ein paar Jahre vorher im Krieg genau umgekehrt gewesen war. Das war nun die alttestamentarische Retourkutsche.

Mein Vater hatte sich nun aufgemacht, zu Onkel Nolte zu fahren. Dieser hatte vor dem Krieg auf dem Gut in unserem Dorf F. den Beruf des Mechanikers gelernt. Er hielt zusammen mit seinem Vater – also meinem Großvater - den Landmaschinenpark des örtlichen Gutes in Schuss und chauffierte bei Bedarf den Gutsbesitzer, Herrn von Valste, in seiner Mercedes-Limousine.

Als der zweite Weltkrieg ausbrach, ging Nolte zur Marine, wo er durch Aufmerksamkeit, Schnelligkeit und vor allem Nervenstärke auffiel, so dass er eine Ausbildung zum Einzelkämpfer erfuhr und als Fahrer in einem Ein-Mann-Torpedo-Boot eingesetzt wurde. Dieses Fahrzeug war eine Neuentwicklung der Nazis; bis dahin konnte eine Bombe nur aus der Ferne abgeschossen werden, es verging Zeit, in der das anvisierte Schiff die Richtung ändern und die Bombe ihr Ziel verfehlen konnte. Die Bombe in einem Ein-Mann-Torpedo-Boot jedoch wurde durch den Fahrer nah an das feindliche Schiff gebracht und erst dann abgeschossen. Der Fahrer des Torpedobootes kehrte in seinem Gefährt zurück und konnte erneut laden. Damit war der Einsatz der Bomben effektiver – d.h. tödlicher und kostengünstiger - geworden. An wie vielen Versenkungen englischer Schiffe Nolte persönlich auf diese Weise beteiligt war, ist mir nicht bekannt. Die Orden, die er erhalten hat, wurden von seiner Frau unter Verschluss gehalten.

Nolte muss wohl sehr erfolgreich agiert haben, denn nach dem Krieg, als man für die Marineausbildung eine Akademie in Norddeutschland mit Personal auszustatten hatte, haben sich die Admirale an ihn erinnert und ihm eine Stelle als Dozent angeboten. Nolte hat abgelehnt – in der Familie hieß es, dass seine Frau ihn klein halten wollte und daher Widerstand gegen seinen eventuellen Aufstieg geübt hat. Vielleicht wollte Onkel Nolte aber nichts mehr mit der Marine zu tun haben und hat aus Bequemlichkeit seine Frau vorgeschoben.

Nolte war in der Familie als Kriegsheld angesehen, und wegen des eben erwähnten Angebots, obwohl er es nicht angenommen hatte, mutierte er zur großen Nummer. Jedes Mal, wenn der Name Nolte fiel, wurden alle Anwesenden lebendig, und im Besonderen bei den jungen Nichten und Neffen leuchteten die Augen auf. Nach Aussagen der Familie wurde Nolte nach dem Krieg von den Engländern gejagt. Sein Name und einige wenige weitere Namen seiner Kameraden, die wie er ein Ein-Mann-Torpedo-Boot gefahren hatten, waren in einem Wehrmachtsbericht verzeichnet gewesen, der den Siegermächten in die Hände gefallen war. Nach diesen Einzelkämpfern, welche so viele englische Schiffe in die Tiefe geschickt hatten, wurde natürlich gefahndet. Einige der Männer wären auf der Flucht erschossen worden, hieß es, Nolte soll der einzig Überlebende gewesen sein. Man hat ihn in Norddeutschland in einem Getreidefeld aufgebracht, festgenommen und länger verhört. Er wurde zum Bergbau unter Tage verurteilt und ins Ruhrgebiet verschickt. Aus diesem wurde er aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig entlassen und kam nach Norddeutschland zurück. Letztlich war er natürlich nur Befehlsempfänger, insofern hat man ihn später wie begnadigt und auf freien Fuß gesetzt. Dennoch war von seiner Rolle in der Ausübung des Kriegsdienstes eine nicht unerhebliche Zerstörungskraft ausgegangen.

Nachdem Nolte aus der Haft entlassen war, konnte er auf dem Gut in W., einem Dorf im weiteren Umkreis von Kiel, in seinem alten Beruf eine Arbeit aufnehmen. Das Gut gehörte einer Hamburger Reederfamilie und wurde von einem Verwalter geführt. Diesen chauffierte Onkel Nolte auch ab und an in einer Mercedes-Limousine, wie seinerzeit den Gutsherrn in Oberschlesien.

Demgegenüber war mein Vater zwar auch bei der Kriegsmarine gewesen, allerdings unterschieden sich sowohl sein Dienst als auch sein Schiff gänzlich von dem seines Bruders. Mein Vater, der 18jährig freiwillig zur Kriegsmarine gegangen war, wurde zum Signalgast ausgebildet und auf einem Frachter eingesetzt. Dadurch war er an direkten Kriegshandlungen nicht beteiligt. Sein Schiff brachte Erzgestein aus Norwegen zur Verhüttung an den Kontinent. Aus strategischen Gründen wurde die Ladung des Schiffes im besetzten Frankreich gelöscht, und zwar im Hafen von Bordeaux. Eine Tour im April 1945 war die letzte, wo sein Schiff, im Bestimmungshafen angekommen, versenkt wurde. Die Besatzung schwamm an Land und wurde gefangen genommen. Aus dieser Gefangenschaft kehrte mein Vater erst Weihnachten 1946 zurück.

Die Zeit der Gefangenschaft hat er an der Côte Sauvage in der Nähe von Royan verbracht, wo er vor allem in der Landwirtschaft arbeiten musste. Die Gefangenen bekamen streckenweise nur unzureichend zu essen, und medizinische Versorgung war nicht zu erhalten. Er sah einige seiner Kameraden sterben, besonders ältere. Wenn sich einer abends in seine Decke mit angezogenen Beinen einrollte, dann war die Erfahrung meines Vaters, dass jener bis zum nächsten Morgen verschieden war.

Nach der Kapitulation im Mai 1945 konnte auch in Frankreich wieder das normale Leben einkehren, u.a. hat man dann offenbar die restliche Munition und das Kriegsgerät wieder zusammen gezogen und an die Stellen verfrachtet, wo jenes dauerhaft verwahrt werden konnte, und diese Stellen befanden sich teilweise in den Höhlensystemen der Küstenstreifen der Côte Sauvage und der Bretagne. Die Gefangenen waren dann auch zum Schleppen eingeteilt und wurden mit Lastwagen von ihren Schlafstellen in sogenannten Depots dorthin gefahren.

Mein Vater konnte schon ein paar Brocken Französisch sprechen und war innerlich über die Monate zur Ruhe gekommen. Es passierte, dass er sich in einen der Wachleute verguckt hatte. Es war ein junger netter Franzose seines Alters, der viel mit seinen Kollegen sprach und gern lachte. Hätte mein Vater auch gerne gemacht. Es war wohl die Sehnsucht nach einem normalen Leben als junger Mensch mit Reden und Lachen und Spaß haben. Er begann, sich Gedanken um ihn zu machen; die Kisten mit Gewehren, Munition und Schwarzpulver wurden von den Lastwagen abgeschoben und je nachdem, wie die Pulverkisten unten angelangt waren, platzten wohl an manchen Stellen die Verpackungen auf, und es rieselte ein wenig Pulver aus den Kisten auf den Boden im Eingangsbereich der Höhle. Die Kisten wurden dann auf Loren geladen und in die ausgebauten Tunnel und Hangars der Felsenküste verbracht und verstaut. Im Eingangsbereich sah mein Vater immer mehr kleine Spuren des Pulvers und dachte bei sich: ‚Na, wenn da mal nichts passiert.‘ Denn, fast alle der Wachleute rauchten. Der Rest einer glühenden Zigarette konnte vielleicht kaum etwas anrichten, aber wenn eine größere Ladung in der Nähe war und diese den Funken auffing, dann wäre ein Unglück wohl nicht zu vermeiden.

Eines Morgens war die Gefangenkolonne gerade wieder unterwegs an ihren Arbeitsplatz in die Munitionshöhle, als von weitem eine Explosion zu hören war. Meinem Vater war sofort klar, was da passiert sein mochte. Er erfuhr, dass sein Wachmann Dienst gehabt hatte. „Es war schade um ihn“, sagte er mir mit abwesendem Blick.

Während der Gefangenschaft hat er auch Freundschaft mit einem Mitgefangenen aus Frankfurt geschlossen. Mit ihm zusammen hat er einen Ausbruchsversuch unternommen. Die beiden konnten eines Nachts dem Depot entfliehen, klauten irgendwo ein Fahrrad und wollten damit durch Frankreich nach Hause fahren. Zwei Männer auf einem Fahrrad fielen schon irgendwie auf, so dass sie sich dachten, die Marseillaise zu pfeifen. Die Idee war gut, aber nicht gut genug. Sie wurden geschnappt, zurück verfrachtet und im Keller des Depots eingesperrt. Die Verhandlung ging ganz schnell: Sie sollten am nächsten Tag erschossen werden. Die Nacht in dem Keller war für beide die schlimmste ihres bisherigen Lebens. Doch am Morgen, als sie immer noch wach waren, gab es Unruhe auf dem Hof. Wagen fuhren vor, und Leute begannen, das Gebäude auszuräumen. Möbel und Gerätschaften wurden auf Lastwagen geladen und weggefahren. Das Depot wurde überraschenderweise an diesem Tage verlegt. Es war wohl dieser verwaltungstechnischen Angelegenheit und einem neuen Chef zu verdanken, dass von einer Exekution der beiden abgesehen worden war. Mein Vater und sein Freund kamen in die Gefangenkolonne zurück und wurden an die nächste Arbeitsstelle an der Küste gefahren.

Als er aus seiner fast zweijährigen Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, kam er nach Oberschlesien zurück und wurde von der polnischen Verwaltung, da er zu Beginn des Krieges eine Lehre als Zimmermann gemacht hatte, für die Wiederaufbaugruppe rekrutiert und konnte nach einer Zeit zum Bauführer in der Kolchose in unserem Dorf aufsteigen.

Privat konnte er auch ein wenig aufsteigen; im Jahr danach heiratete er nämlich meine spätere Mutter, die er aus der Schule kannte: Sie brachte einen Wohnhaus-Rohbau mit Hof und ein gutes Stück Gemüseland in die Ehe ein. Da er das Haus zu Ende baute, hat er es damit auch zu seinem Haus gemacht. Damit war er, als Sohn mittelloser Einwanderer aus Polen und der Tschechei, in die dortige Gesellschaft integriert.

Für die Freizeit hatte sich mein Vater einen großen Atlas zugelegt, und sonntags nachmittags habe ich ihn oft darin blättern gesehen. Er sprach dann manchmal von Samoa und anderen Inseln und Ländern der Kolonialmächte Englands und vor allem Frankreichs. So kam es, dass ich schon ziemlich früh von den Namen ferner Städte hörte, wie Timbuktu oder Windhuk, die von großen Männern erobert und dann bereist worden waren. Er verfolgte auf den Weltkarten die Schiffsrouten von Europa aus über die bekannten Hafenstädte in der ganzen Welt. Er erzählte von Legionären in der Stadt Marseille, von wo aus diese in viele Teile der Welt geschickt wurden.

Bevor mein Vater bei Onkel Nolte in Schleswig-Holstein angekommen war, hatte dieser mit dem Gutsverwalter, Herrn Unstfeld, über den geplanten Aufenthalt meines Vaters gesprochen. Dieses Gespräch hatte etwas ausgelöst, was dem Besuch meines Vaters eine ganz andere Wendung geben sollte. Von dem Inhalt des Gesprächs bzw. den darauf folgenden hat die Familie nie etwas erfahren, ich wusste davon erst dreißig Jahre später.

Der Bedeutung von Nolte als ehemaligem Wehrmachtsangehörigen mit einer speziellen Aufgabe war es wohl zuzuschreiben, dass er von dem Gutsverwalter – einem ehemaligen Oberst – mehr als nur ein normaler Angestellter wahrgenommen wurde, und er pflegte, wenn auch nicht häufigen, so doch besonderen Kontakt zu ihm. Als Nolte ihm erzählte, dass ihn sein Bruder besuchen würde und nachfragte, ob es für die Zeit seines Besuchs auf dem Gut Zimmerarbeiten für ihn gäbe, hat Herr Unstfeld gern die Gelegenheit ergriffen und Nolte aufgefordert, etwas mehr über meinen Vater zu vermitteln. Für die Änderung des weiteren Verlaufs war es dann wohl entscheidend, dass mein Vater in der Kriegsmarine als Signalgast gedient hatte. Der Signalgast hatte auf der Brücke des Schiffes eine Vertrauensstellung; bei Sichtkontakt mit anderen Schiffen oder küstennahen Stationen an Land konnte er mit seinen Fähnchen Nachrichten übermitteln, die z.B. für Funk ungeeignet waren, da dieser abgehört werden konnte. Die Nachrichtenübermittlung während der Kriegszeiten war geheim und wurde kodiert weiter gegeben. Als der Oberst hörte, was für ein Besuch sich da angekündigt hatte, hat es bei ihm gefunkt, und er setzte sich sofort mit dem BND (Bundesnachrichtendienst) in Verbindung.

Doch davon wusste in Oberschlesien niemand etwas und hätte allerdings auch niemanden interessiert. Im Vordergrund stand dort die Frage, was der Aufenthalt meines Vaters der Familie bezüglich Ausreise bringen würde. Bei den Nowaks, der Familie meines Vaters, war es beinahe schon entschieden, dass man einen Ausreiseantrag stellen würde, es kam nur auf die Nachrichten an, die mein Vater mitbringen würde und was er über die Verhältnisse im Westen zu erzählen hatte. Diese Familie hatte nichts zu verlieren und konnte leichten Herzens den Platz verlassen, so, wie sie Polen und die Tschechei verlassen hatten auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensumständen und ins Deutsche Reich gekommen waren.

Es waren die Krügers, die Familie meiner Mutter, die zweigespalten waren und von denen eigentlich keiner weg wollte. Es war eher der Druck der anderen, die ausreisten, die den Zurückgebliebenen ein ungutes Gefühl gaben, möglicherweise etwas zu verpassen, wenn sie nicht auch ausreisten. Zeitweise wirkte die Ausreisewelle auf die zurück Gebliebenen wie ein Sog, andererseits ging es wirtschaftlich gesehen tatsächlich sehr schlecht, und die Alten, die schon Rente bekamen, wussten, dass diese unzureichend war, und die, welche sich dem Rentenalter näherten, wie meine Großeltern, wurden immer unruhiger.

Meine Mutter versprach sich wegen meines Bruders zwar etwas von dem Westen, aber grundsätzlich wäre sie auch lieber geblieben. So hielt sie sich zurück und beobachtete gleichzeitig das Kind, wie es sich entwickelte. Da der Krieg doch schon länger zurück lag, konnte sich doch Hoffnung ausbreiten, dass es irgend wann einmal besser würde. Zumindest hatte man sich schon teilweise mit den Polen arrangiert. Aber die vielen Kinderscharen, die in jedem Haus so nach und nach groß wurden, machten auch wegen der knappen Mittel wieder die Hoffnung auf bessere Zeiten fraglich.

Meine Mutter hatte schon als Vorerbe ein Stück Land zum Bebauen von ihrer Mutter überschrieben bekommen, die einige Hektar gutes Ackerland in die Ehe eingebracht hatte. Außerdem wurde nach den Ernten Heu und Stroh von Großmutters Feldern in unsere Scheune verfrachtet und standen für die Ställe bei uns zur Verfügung, worin meine Mutter eine Ziege, ein Schwein und Federvieh hielt. Der halbe Straßenzug in unserer Straße in F. gehörte meiner Großmutter Milli sowie der Hügel hinter den Häusern mit einem kleinen Wäldchen. Sie hatte den ortsansässigen Maler und Zeichner Karl Krüger geheiratet, meinen Großvater, der unter anderem für einen größeren Verlag in Breslau arbeitete. Die Familie gehörte daher im Dorf und auch ein Stück darüber hinaus wegen seines Berufes zu den etablierten Leuten, was auch Vorteile brachte. Da war schon etwas zu verlieren. Und von Verlusten wollten sie alle nichts hören, da war der Krieg dann doch noch sehr nah.

Nach Ansicht der Familie Krüger war das entscheidende Kriegsjahr nicht erst 1944 gewesen, sondern schon 1943, als sich an mehreren Fronten die Lage zu Gunsten der späteren Alliierten und der Befreiung von Hitler drehte. In Russland kippte damals die Situation zugunsten der Roten Armee, der Afrika-Feldzug war gescheitert, und die Erfolge der Marine hatten in dem Jahr ebenfalls ihren Zenit überschritten. 1944 gab es in der Familie Krüger die ersten toten Helden: Der erste Mann meiner Mutter und dann ihr Bruder Kilian. Es sollten noch vier Todesnachrichten folgen. Von den sechs Kindern der Krügers – vier Brüder und zwei Schwestern - blieben nach den Kriegsjahren nur drei übrig.

Als Ende 1944 die Russen nach Deutschland vorrückten und nacheinander in Ostpreußen, Pommern und Schlesien landeten mit Soldaten aus allen russischen Föderationen, beispielsweise mit Kirgisen und Tataren, entschied die Familie meiner Mutter, sich dem Treck nach Süden in die Tschechei anzuschließen. Meine Mutter, seit kurzem Witwe, hatte aber ein drei Monate altes Kind. Da sie des strengen Winters wegen um das Leben des Säuglings fürchtete, blieb sie zurück. Der Rest machte sich nachts am 22. Januar 1945 auf den Weg. Sie gingen in die Dunkelheit über den Schnee, auf dem schon Leichen lagen. Hinter sich erhellte Bombenfeuer die Nacht, und das Getöse der Einschläge trieb sie vorwärts: Karl Krüger mit Frau Milli und Schwiegermutter Marie sowie den zwei Kindern Klaus und Klara im Alter von fünfzehn und siebzehn Jahren. Zwei der drei älteren Söhne waren noch im Krieg und Kilian schon gefallen. Eine Weile blieb die Gruppe in Lagern der Tschechei, aber als es nach der Kapitulation hieß, dass dort die Russen kommen würden, flüchteten sie weiter nach Bayern, quer durch das fremde Land. Das Rote Kreuz war vielerorts tätig und kümmerte sich um die Flüchtlinge – diese Organisation wurde als große Stütze empfunden.

Nachdem die Amerikaner in Bayern die Verwaltung übernommen hatten, wurden die Flüchtlingsströme verteilt, und die Leute konnten sich nur dort aufhalten, wo es ihnen erlaubt worden war. Die Krügers wurden in ein Lager bei Bamberg eingewiesen. Doch dort brach Typhus aus, und die Krügers flohen entgegen der Direktive in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Gebäude. Sie fanden Unterkunft in einem kleinen Dorf südlich der Stadt, wo ihnen in einem größeren Wohnhaus zwei Zimmer zugewiesen wurden. Als die Familie am Abend von einem Orientierungsgang zurück kam, fand sie vor ihrer Tür einen Wäschekorb mit Lebensmitteln vor: Eine ortsansässige Familie hatte den Korb gespendet. Man nahm sofort Kontakt auf, um sich zu bedanken und stellte fest, dass diese Leute Bauern waren und Mühlenbesitzer, und es entwickelte sich eine lockere Freundschaft zwischen den Familien, die lange halten sollte.

Im Herbst 1945 wurde Karl Krügers Schwiegermutter Marie ernsthaft krank und musste in ein Krankenhaus, ebenso die 17-jährige Tochter Klara. Nicht lang darauf starb die Großmutter im November 1945; im April 1946 folgte ihr die Enkelin nach.

Noch vor Klaras Tod war entschieden worden, das Lagerleben baldmöglichst aufzugeben. Dazu wollte Vater Karl allein versuchen, sich zurück nach Oberschlesien durchzuschlagen, um zu sehen, ob das Haus noch stand und ein Leben unter den Polen möglich wäre. Was seinen Beruf als Maler und Zeichner anging, so machte er sich Hoffnungen, denn sein Verlag hatte keine politische Literatur verlegt, und zu illustrierende Bücher würde es wohl auch unter den Polen geben. Als die Winterkälte nachließ, machte sich Karl auf den Weg Richtung Oberschlesisches Zuhause.

Vor Ausbruch des ersten Weltkriegs hatte mein Großvater Karl sein Kunststudium noch nicht beendet. Während des Krieges als Soldat im Frankreichfeldzug allerdings verlor er ein Bein. Der Stumpf des Beines war ziemlich hoch im Oberschenkel. In dem Lazarett, in dem er lag, besuchten während seiner Rekonvaleszenz wohltätige Damen des Adels die Kranken. Es ergab sich, dass eine vornehme Mutter mit Tochter vor Karls Lager traten und die Ältere ausrief: “Was für ein schöner Soldat!“ Nach einem Augenblick der innegehaltenen Verwunderung, was für eine Schönheit für das Vaterland gekämpft hatte, gingen die beiden weiter. Die Bemerkung im doppelten Sinn – als Aussage der Damen und als Verpflichtung für ihn - hatte Karl nie vergessen.

Als er aus dem Krieg nach Hause kam, hatte er eine Beinprothese im Gepäck. Er nahm sein Studium an der Akademie in Breslau wieder auf und flocht zarte Bande mit Milli, meiner späteren Großmutter. Sie hat ihn wohl ab und zu in Breslau besucht, wo er sich in einem Zimmer eingemietet hatte. Bei einem der Besuche, so erzählte er mir, hätte ihn der Teufel beinahe verführt. Während der Fast-Verführung habe er Millis Hand ergriffen, die sie zu einer Faust geballt hatte. Er öffnete diese und fand einen kleinen Rosenkranz darin vor. Das hätte ihn ehrfürchtig vor ihr gemacht, und es hätte fest gestanden, dass sie beide heiraten würden.

Noch vor Beendigung des Studiums heiratete er Milli, die mit ihrem in die Ehe eingebrachten Landbesitz das Überleben der Familie sichern konnte. Sie bauten auf ihrem Grund ein Haus, das mit dem Verkauf von einem Teil ihrer Grundstücke finanziert wurde. Im Erdgeschoss wurde ein Atelier für ihn eingerichtet, wo er einige Aufträge für den Verlag zu Hause erledigen konnte. Ansonsten pendelte er häufig nach Breslau und zurück. Als seine älteste Tochter Käthe, meine spätere Mutter, groß genug war, allein mit dem Zug nach Breslau zu fahren, schickte er sie manchmal mit einer Mappe von Zeichnungen auf den Weg. In den späten 1930er Jahren wurde Karl Mitglied in der Reichskammer der Bildenden Künste.

Dieser Großvater, Sohn eines Bauern, hat in die Ehe nur seinen Beruf eingebracht. Mit Millis Besitz aber standen ihm weitere Möglichkeiten offen, seinen Aktionsradius zu vergrößern. Dies hat er zum Vorteil seiner selbst und der Familie getan:

Beim Verlag hatte er für Fachliteratur auch technisches Gerät zu zeichnen; so kam es, dass ihn über seinen Beruf auch der technische Fortschritt bewegt hat, und als die Gemeinde an Elektrizität angeschlossen worden war, war er einer der ersten im Dorf, die ihr Haus elektrifizieren ließen. Kurz danach schaffte er ein Radio an. Als Motorräder zur erschwinglichen Preisen angeboten wurden, hat er sich eines für seine Arbeit besorgt. Mit diesem Gefährt war es viel bequemer für ihn, nach Breslau zu kommen, und besonders im Sommer genoss er die Fahrten.

Da er einen guten Teil seines Geldes sparen konnte, war er frei, auf günstige Angebote zu reagieren. Als der Baron des Dorfes, Herr von Valste, Land zum Kauf anbot, war Großvater Karl sofort dabei, und als wenig später eine Wiese mit zwei Teichen zum Kauf angeboten worden war, schlug er ebenso sofort zu und vermehrte weiter den Landbesitz der Familie.

Er hatte auch gemeinsam mit seiner Frau den Ehrgeiz, alle Kinder etwas lernen, bzw. studieren zu lassen, um ihnen die Chance auf einen guten Lebensunterhalt zu ermöglichen. Der älteste Sohn Kurt hat nach dem Abitur an der Universität in Breslau Jura studiert und war Beamter geworden. Er hatte dann übrigens nach dem Muster seines Vaters ein wohlhabendes Mädchen von der anderen Seite der Oder geheiratet. Die nächsten beiden Söhne Kuno und Kilian haben technische Berufe erlernt. Mit meiner Mutter gab es eine Ausnahme; in einem Gespräch dieser halb mit ihrem Vater hat er ihr erklärt, dass sie leider keine Ausbildung machen könnte, da ihre Leistung für den Haushalt als Unterstützung für ihre Mutter unverzichtbar wäre. Er versprach ihr dafür, ein Haus zu bauen. Meine Mutter hatte sich mit der Regelung einverstanden erklärt.

Ähnlich wie die Berufsausbildung war für mein Großelternpaar die musische Erziehung der sechs Kinder von Bedeutung. Man schaffte mehrere, sogar sehr teure, Musikinstrumente an: In dem Musikzimmer mit Fenster zum Vorgarten stand ein schwarz lackierter Flügel, den meine Mutter spielen konnte. Es gab weiter ein Schifferklavier, Geigen, die er und sein ältester Sohn spielten, eine Trompete und natürlich Mundharmonikas.

Großvater Karl hat in seinem Leben für seine Familie mehrere Häuser gebaut. Einmal sein und seiner Frau Haus, ein Haupthaus mit angeschlossenen Ställen für drei Kühe, Schweine und Geflügelzucht sowie eine separate Scheune auf dem angrenzenden Feld. Dann folgte der meiner Mutter versprochene Bau, der bis zu ihrer ersten Heirat im Rohbau fertig war. Ein drittes doppelstöckiges Haus in der Häuserzeile baute er nach dem Krieg für seinen vierten Sohn Klaus. So reihte er diese Häuser dem Haus in der Straße an, das meine Urgroßmutter Marie hinterlassen hatte.