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Die Ich-Erzählerin ist freiberufliche Journalistin und ist nach Kölle am Rhing umgezogen. Dort hilft ihr die Casting-Agentur Rhing-Gold zu ersten Kontakten in die Medienwelt, wie Radio- und Fernsehstationen, sowie zu Film und Theater, wo sie als Komparsin gebucht wird. Sie schreibt Vorschläge für Hörfunkbeiträge, beteiligt sich an der Themenfindung für neue Sendungen und übernimmt zeitweilig Assistenzen in den Redaktionen. In ihrer Tätigkeit lernt sie die Moderatoren und Macher der Sendungen näher kennen und sichtet in den Archiven interessantes historisches Material. Leider finden ihre Beiträge nur selten das Lob ihres wichtigsten Chefredakteurs, der sie häufiger zurecht weist und sie einmal sogar als einen Alt-Kommunisten tituliert. Ihre Beiträge werden häufig zusammen gestrichen, so dass der Erlös für ihre Tätigkeit zu wünschen übrig lässt. Sie ist fast wieder dabei, ihre Koffer zu packen, da erfährt die Leserschaft, dass sie schon in mehreren Medienstädten war und Kölle nur eine weitere Episode ist. Im Hintergrund aber bahnt sich eine Lösung für sie an.
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Anne Swalski
Suche Stelle als Talk-Gast
- Satiren bei Funk und TV -
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1 Suche Stelle als Talk-Gast
2 Zwischenspiel: Kölle
3 Die Schwarze Witwe
4 Ein Königreich für einen Zuschauer
5 Zwischenspiel: Frühe Bots
6 Der Kilometerzähler
7 Die Dame ohne Unterleib
8 Zwischenspiel: Die Wohnung
9 Karo von Reibach
10 Talk im Tal
11 Der Geschäftsmann
12 Zwischenspiel: Grillen
13 Feindliche Übernahme
14 Forschungsspitzen
15 Der Unsterbliche
16 Frau Knoblauch als Kulturpflanze
17 Weibliche Endungen
18 Polit-Buffet
19 Außenpolitik
20 Inländer-Feindlichkeit
21 Zwischenspiel: Herrenbesuch
22 Herr Online
23 Das karnevalistische Huhn
24 Medienfest
25 Zwischenspiel: Verstimmung
26 Kunst und Kacke
27 Nachts durch die Tundra
28 Zwischenspiel: Der Umzug
29 Nachwort: Offener Brief an den Anchorman der ‚Gentleman’s Late Night Show‘
Impressum neobooks
Anne Swalski
Suche Stelle als Talk-Gast
-Satiren bei Funk und TV-
Inhaltsverzeichnis:
1 Suche Stelle als Talk-Gast
2 Zwischenspiel: Kölle
3 Die schwarze Witwe
4 Ein Königreich für einen Zuschauer
5 Zwischenspiel: Frühe Bots
6 Der Kilometerzähler
7 Die Dame ohne Unterleib
8 Zwischenspiel: Die Wohnung
9 Karo von Reibach
10 Talk im Tal
11 Der Geschäftsmann
12 Zwischenspiel: Grillen
13 Feindliche Übernahme
14 Forschungsspitzen
15 Der Unsterbliche
16 Frau Knoblauch als Kulturpflanze
17 Zwischenspiel: Weibliche Endungen
18 Polit-Buffet
19 Außenpolitik
20 Inländer-Feindlichkeit
21 Zwischenspiel: Herrenbesuch
22 Herr Online
23 Das karnevalistische Huhn
24 Medienfest
25 Zwischenspiel: Verstimmung
26 Kunst und Kacke
27 Nachts durch die Tundra
28 Zwischenspiel: Der Umzug
29 Nachwort: Offener Brief an den Anchorman
Es gibt heute Prominente, die so häufig zu Talk-Shows eingeladen werden, dass sie ihren Beruf aufgegeben haben und ein zufriedenstellendes Einkommen über die Honorare als Talk-Gast verbuchen können. Sogar die Industrie- und Handelskammer war schon bei dem einen oder anderen Sender vorstellig geworden, um etwas über die Voraussetzungen für den neuen Beruf als Talk-Gast zu erfahren. Auch Personen in der zweiten Reihe des öffentlichen Lebens, wie beispielsweise Köche oder Herrenausstatter, haben erkannt, dass sie sich mit Reden vor einer Kamera ein erkleckliches Zubrot verdienen können.
So hatte auch ein Herr Möhre ebenfalls schon von dem neuen Berufsbild gehört, und nach einigem hin und her entschieden, sich als Talk-Gast zu verdingen. Es lag ihm daran, sich beruflich neu zu orientieren, denn er war Sex-Schriftsteller der mehr oder minder härteren Sorte und hatte bei sich einen Burn-Out diagnostiziert. Seit er um die fünfzig war, fiel es ihm zunehmend schwerer, sich etwas Schlüpfriges einfallen zu lassen. Immer häufiger musste er in seinen Erinnerungen nach Lampenschirmen und ähnlichem suchen, um einen neuen Story-Mix zu kreieren, den er, statt mit ‚Frühlingsrollen‘, mit ‚Augenrollen‘ nach oben begleitete. Während andere noch mit 55 eine neue Ehe eingingen, kam er sich wie leer geschossen vor.
Herr Möhre suchte also die Casting-Agentur Rhing-Gold in Kölle auf, ein Unternehmen, das u.a. Personen auf ihre Fernseh-Tauglichkeit untersuchte. Talkgäste sollten ihre Meinung zu biblischen Offenbarungen aufwerten können, flunkern erlaubt, und auch weitere Qualifikationen - wie Unterscheidungsvermögen zwischen Reden und Labern - entwickelt haben: Der Moderator darf labern, tut es aber nicht, der Gast darf auf keinen Fall labern, tut es aber manchmal doch. Nachdem Herr Möhre beim Telegen-Test ganz gut abgeschnitten hatte, er trug ein vorteilhaftes Toupet, ging es ans Eingemachte.
„Was können Sie denn?“ fragte der junge Angestellte. Auf seinem Schreibtisch standen mehrere beschriftete Boxen mit Datenträgern, und aus der ihm nächsten entnahm er eine Disc und lud sie in den Computer.
„Ich bin Schriftsteller“, antwortete Herr Möhre, glaubend, dass damit nun alles gesagt wäre. Doch der junge Mann runzelte die Stirn und suchte weiter auf dem Schirm, und als hätte er verstanden, was sein Gegenüber gedacht hatte, widersprach er:
„Das reicht heute nicht mehr.“
„Ach, was!“
„Wir müssten Sie auch in Spielshows unterbringen können, das würde dann gehen.“ Herrn Möhre wurde mulmig. Der Angestellte setzte seine Fragerei fort.
„Haben Sie irgendeine besondere Neigung oder Fertigkeit? Können Sie Sackhüpfen?“ Sein Gesprächspartner kannte das Wort in einem anderen Zusammenhang über gut.
„Sackhüpfen? Nein, kann ich nicht.“ Er schüttelte den Kopf.
„Wie ist es mit ‚auf dem Strich gehen‘? Das wird bei Spielshows häufig erwartet.“ Herr Möhre schüttelte wieder den Kopf. Nicht er. Das Thema hatte er satt.
„Schade, die Sendung ‚Kinderschreck‘ lädt auch Erwachsene ein, die für ein Spiel eine sportliche Qualifikation aufweisen können. Im Moment ist Sackhüpfen und Auf-dem-Strich-Gehen der Renner, die Leute lachen sich kaputt. Aber das ändert sich alle paar Monate. Im nächsten Quartal kann es ‚Blindekuh‘ sein.“
„Ah, ja“, sagte der Schriftsteller. Er verfiel eine Sekunde in Nachdenken, denn das Wort erinnerte ihn an etwas. Richtig, er hatte mal was geschrieben. Jahre her, aber er hatte das Stück ‚Die blinde Kuh‘ genannt.
„Was gäbe es denn noch, womit Sie aufwarten könnten?“ Der junge Mann wandte sich vom Computer ab, holte einen weiteren Kasten mit Discs vom Regal und suchte darin.
„Ich bin gut im Assoziieren“, fiel Herrn Möhre ein, „gibt es nicht Spielshows, wo man etwas erraten muss?“
„Doch, schon, aber da nehmen wir zur Zeit verarmten Adel.“
„Politische Diskussionen?“
„Dafür kommen im Moment nur Behinderte in Frage - wegen der Teilhabe. Sie müssten schon irgendetwas Besonderes können. Etwas, was andere nicht können.“ Herr Möhre überlegte angestrengt. Ihm fiel ein, dass er als junger Mann Sprachen studiert hatte und warf diese Karte ins Spiel:
„Ich kann einige Brocken Rätoromanisch sprechen …“
„Ach“, winkte der Angestellte kopfschüttelnd ab, „so oft haben wir keine Schweizer Bergvölker zu Besuch!“
„Das kann aber nicht jeder!“ erwiderte Möhre trotzig. Ihm sank der Kopf; er hatte sich vorgestellt, dass es einfacher wäre. Aber einen Angebotspool von solchen Leuten wie er einer war, gab es offensichtlich en masse. Der junge Mann stellte den Kasten zurück und holte aus einer Schublade Listen hervor und sah sie durch. Herrn Möhre war nicht klar, ob die Listen irgendetwas mit diesem Interview zu tun hatten und sagte in das Blättern hinein:
„Ich bin schon Spezialist. Aber ich möchte auf diesem Gebiet nicht mehr arbeiten.“ Er machte eine Pause und fuhr fort:
„Sieht nicht gut aus, wie?“
„Ja, sieht schwierig aus. Sagen Sie mal, was schreiben Sie denn als Schriftsteller?“ Vor diesem Augenblick hatte Herr Möhre gezittert.
„Ja, ich, wie gesagt, ich wollte da eigentlich nicht mehr arbeiten auf dem Gebiet.“
„Ach, Gott, kommen Sie, sagen Sie schon, vielleicht lässt sich da etwas machen.“ Möhre war im Zwiespalt und wand sich innerlich.
„Ja, was denn nun?“ Der junge Mann von Rhing-Gold fixierte Möhre aufmerksam. In einem augenblicklichen Anfall von Schwachsinn antwortete dieser:
„Ich schreibe über Sex. Ich denke mir Geschichten aus, kurze, lange, manchmal wird es ein Roman, dann schreibe ich Drehbücher für Sexfilme und bediene die Werbebranche mit diesem oder jenem Slogan, der eindeutig zweideutig ist. Ich bin dafür bekannt.“ Nun war es heraus.
„Ja, Mann!“, rief der Angestellte aus, und eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn, „warum sagen Sie das denn nicht gleich? Lassen mich hier wulachen wie einen Verrückten, ganze Listen durchkämmen, und dann sagen Sie, dass Sie W-Vorlagen herstellen können. Mann!“ Der Schriftsteller war etwas irritiert. Er wusste, dass normale Bundesbürger erschreckt auf den Inhalt seiner Schreiberei reagierten, aber diesen freizügigen Ausbruch bei einem relativ so jungen Mann hielt er denn doch für übertrieben. Der Angestellte regte sich langsam ab und kam zur Sache zurück. Er legte den Stapel Papiere beiseite und wählte aus der zweiten Box auf seinem Schreibtisch eine CD, die er in den Computer lud.
„So“, sagte er, „dann wollen wir mal. Ich kann Ihnen eine ganze Reihe von Shows nennen, die in Frage kommen. Nicht alle deutschlandweit, auch regionale, aber die sind ja über Satellit mindestens europaweit zu empfangen. Es geht nicht immer so simpel um Sex, etwas schlauer schon. Einmal steht der eine Aspekt im Vordergrund, dann ein anderer. Sie müssen sich ganz klar daran halten. Abweichungen werden nicht geduldet. Wenn Sie das nicht können, ist es aus.“ Der Schriftsteller lehnte sich in seinem Sessel zurück, er wusste nicht, wie ihm geschah. War er etwa engagiert?
„Ja, aber das ist noch nicht alles“, hörte Möhre wie von fern, „ich kann Ihnen noch Beraterverträge anbieten. Und natürlich Verträge als Autor bei der Themenfindung. Herr Möhre“, der junge Mann redete ihn zum ersten Mal an diesem Nachmittag mit Namen an, „Herr Möhre, Sie sind eine Goldgrube.“ Der junge Mann lachte ihn an, und ein Virus von ihm sprang zu seinem Besucher hinüber.
„Übrigens heiße ich Wolf Müller. Für Sie Wolf.“ Er reichte Möhre die Hand. Wie im Reflex reichte auch dieser ihm die Hand, ein kurzes Schütteln und Kopfnicken.
„Das gibt Provisionen für uns, wissen Sie, richtig Schotter. Wenn Sie bei uns unterschreiben, Herr Möhre, mach ich Ihnen die Frühlingsrolle!“ Der junge Mann beugte sich vor, klopfte seinem unerwartet interessanten Gast freundschaftlich auf die Schulter und sagte:
„Nehmen Sie es nicht so schwer.“
„Ich wollte doch nicht mehr.“
„Ach, kommen Sie. Sie müssen nichts Neues machen. Sie schöpfen ausschließlich aus Ihrem Fundus. Wissen Sie, die Leute sind eigentlich bescheiden. Ein Teil unserer Klientel will nichts mehr als immer nur dasselbe. Und zwar immer wieder. Jeden Tag tun sie so, als müssten sie es neu erfinden.“
„Das ödet mich ja so an!“
„Ach, Herr Möhre, wenn Sie es verstehen, ziehen Sie doch Kapital daraus. Es kommt nur auf Ihre Haltung an. Es ist doch für Sie Routine. Alles wird mal zur Routine, glauben Sie mir. Nun?“ Möhre war überrascht, was dieser Wolf da so von sich gab. Klug war er. Und er hatte offenbar mehr Realitätssinn als er, der wohl doppelt so alt war.
„Vielleicht haben Sie angefangen über Sex zu schreiben, als Sex noch nicht gesellschaftsfähig war.“ Möhre musste husten. Offenbar las der junge Mann in ihm wie in einem Buch.
„Machen Sie sich frei davon. Heute wird Gangbang-Sex den Grundschülern beigebracht und ist nicht nur gesellschaftsfähig, für die Medienschaffenden ist er sogar eine Quelle des Wohlstands geworden.“
‚Wie für die Zuhälter‘, dachte Möhre. Wolf Müller lud eine andere Disc in den Computer und tippte Möhres Namen ein.
„Herr Möhre, ich habe mir hier ein Vertragsformular auf den Schirm geholt. Wir können es danach gleich ausdrucken.“
„Vielleicht doch nicht so schnell“, stoppte er den jungen Mann.
„Kein Problem, Sie können es sich ja immer noch überlegen. Sie müssen nicht unbedingt heute unterschreiben. Erst sage ich Ihnen noch, was es dafür gibt.“ Der junge Mann machte eine Pause.
„Also“, fuhr er fort, während er die Tastatur des Computers näher zu sich schob, „Sie kriegen natürlich nur ein Honorar, wenn Sie für eine Sendung arbeiten.“ Tippen.
„Neben dem Honorar gibt es im dritten Stock hier ein größeres Büro mit einigen Arbeitsplätzen für freie Mitarbeiter, das von einer Sekretärin betreut wird.“ Er wandte sich kurz zu Möhre:
„Dort können Sie ungestört arbeiten.“ Tippen.
„Mit diesem Arbeitsplatz ist auch eine Pauschale für private Telefongespräche verbunden.“ Tippen.
„Dann gibt es eine Pauschale für Besuche von Lokalen. Wissen Sie, Sie müssen sich ja auf dem Laufenden halten und daher gehört es zur Ausstattung dieses Arbeitsplatzes, dass Sie einschlägige Lokale besuchen, um sich neue Ideen zu holen.“ Tippen.
„Ebenso können Sie Dienstreisen abrechnen, wenn Sie Recherchen in Hamburg auf der Reeperbahn machen oder in Berlin.“ Tippen.
„Dann können Sie unseren Fuhrpark benutzen. Wenn Sie ein Auto brauchen, dann melden Sie das an.“ Tippen.
„Sie kriegen ebenso Freikarten für alle Veranstaltungen der Sender bzw. für Veranstaltungen, an denen die Sender beteiligt sind, wie Medien-Preisverleihungen und so weiter.“ Tippen.
„Sie erhalten einen Ausweis, der Sie berechtigt, Studios und Produktionsräume der Sender zu betreten, selbstverständlich auch die Kantinen.“ Tippen.
„Über die Inanspruchnahme von Sonderurlaub und anderen freien Tagen sowie Überstundenvergütung erhalten Sie auf einer dem Vertrag beiliegenden Anlage Auskunft.“ Tippen.
„Wenn Sie Wert darauf legen, können wir Sie in die ‚Liste zum Frühstück mit dem Geschäftsführer‘ aufnehmen. Sollte sonst noch etwas sein, können wir über alles reden“. Der junge Mann hatte offenbar den Befehl zum Drucken gegeben, denn der Drucker ratterte nun leise und gab ein paar Blätter aus.
Herr Möhre hatte in den letzten Minuten, wo jener Wolf Müller den Computer bedient und gesprochen hatte, die Gelegenheit genutzt, durch eine Metamorphose zu gehen. Erst hatte sich sein zusammen gesunkener Körper aufgerichtet, dann hatten sich seine Muskeln gestrafft, er würde nun schlanker und größer wirken, dann hatte er seine Vergangenheit abgestreift: Nie mehr billige Hotels und nie mehr noch billigere Studios, und als Wolf Müller beim Ausweis angelangt war, war Herr Möhre nur noch dynamische Gegenwart mit noch dynamischerer Zukunft. Selbstverständlich würde er den Vertrag unterschreiben. Aber nur, wenn die Zahlen stimmten. Er würde das kurz überschlagen und mit seinem Rechtsanwalt bereden, ob er sich nicht noch – im Falle, er würde doch aussteigen wollen – eine Summe als Abfindung ausbedingen sollte, vielleicht ein Jahresgehalt oder ähnlich. Man hatte ihm ja das Reden angeboten, und er würde das zu nutzen verstehen. Er dachte nun nicht mehr daran, dass es Schwachsinn gewesen war, sich zu öffnen. Nein, er hatte sehr viel eher Realitätssinn bewiesen.
Als ihn Wolf Müller zum Schluss fragte, was ihn am meisten überzeugt hätte, nun doch weiter zu machen, da sagte er, dass es das Angebot gewesen wäre, mit dem Geschäftsführer zu frühstücken. Da lachte Wolf Müller und sagte:
„Ja, das überzeugt die meisten.“
Ich war - wie Herr Möhre – nach meinem Umzug von Mainz nach Kölle auch auf der Suche nach einem Job bzw. nach Jobs als freie Mitarbeiterin mit Beiträgen für den Hörfunk, Vorschlägen für TV-Sendungen oder Assistenz und andererseits für Leerzeiten als Komparse und Statist bei Film und Theater. Da war ich in Kölle am Rhing durchaus richtig mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, dem R-Sender, mehreren Privatsendern im Funk- und TV-Bereich sowie großen Hallen für Talk- und Spielshows im Umland, und Filmproduktionsstätten vor allem in Hirtentornister, einem südlichen Vorort. Diese Konstellation versprach beruflich eine längere Verweildauer für mich zu werden und sollte mir privat auch Chancen bieten können.
An der Casting-Agentur Rhing-Gold kam man vor allem im Anfangsstadium eigentlich nicht vorbei. Ich war dort schon im Vorfeld aktiv geworden, wo mich eine Kollegin von dem eben vorgestellten Herrn Wolf, eine Frau Kratzfuß, übernommen hatte. Leider war ihr Name Programm für mich, denn Leute wie ich müssen ständig antichambrieren. Sie schien aber durchaus für mich ein positiver Faktor zu werden, denn sie hatte mir gleich die ersten Anlaufstellen diktiert und Tipps mit Hintergrundinformationen gegeben, so z.B. zu dem privaten ‚Radio Kardinal‘, der mein bevorzugter Arbeitgeber werden sollte. Der ‚Kardinal‘ war der größte Radiosender am Ort und von einem Chefredakteur geleitet, der ständig durch die Flure schlich und sich überall einmischte.
Frau Kratzfuß, auch mit Kontakten zur Wohnungswirtschaft, hatte mir sogar die Adresse einer Wohnungsgesellschaft genannt, über die ich – allen Unkenrufen wegen Wohnungsmangel zum Trotz - relativ unproblematisch eine Souterrain-Wohnung in einer Wohnanlage auf der sogenannten ‚Schäl Sick‘ der Stadt mieten konnte. Dort angekommen, war ich überrascht, die Häuserblocks auf grünen Rasenflächen mit altem Baumbestand vorzufinden. In dem Haus, wo sich meine Mietwohnung befand, lagen ungewöhnlicherweise vor jeder Wohnungstür in den langen Gängen mindestens zehn Paar Schuhe. Na, dachte ich, das Reinigungspersonal freut sich sicher, oder es putzt einfach rund. Ich aber war fürs erste zufrieden, denn es kam in dieser neuen Stadt viel Kennenlernarbeit auf mich zu, auf die ich mich fokussieren musste.
Meinen ersten Einsatz hatte ich beim ‚Kardinal‘. Gleich nach meiner telefonischen Vorstellung als freie Mitarbeiterin wurde ich mit einem mysteriösen Fall betraut; es ging dabei um die Fertigstellung eines Beitrag über den Umzug einer Schwarzen Witwe – ich musste lächeln, genau diesen hatte ich ja auch gerade hinter mir.
Der Chefredakteur übergab mir einen Datenträger mit einem Interview, das ein Reporter des ‚Kardinal‘ ein paar Tage zuvor geführt hatte. Jener Mitarbeiter hat Wind davon bekommen, dass sich am Dom eine ‚Schwarze Witwe‘ nieder gelassen hatte. Wie sich später mit Hilfe der Sekretärin rekonstruieren ließ, hat er Kontakt mit dem Neuzugang wegen eines Interviews aufgenommen und gleich Zeitpunkt und Ort festlegen können: Selber Tag in der Abenddämmerung hinter einem Mauervorsprung auf der Nord-Ost-Seite des Doms, da, wo sich ein kleiner Friedhof befindet. Er hat sich wohl dort zur verabredeten Zeit mit seinem Recorder eingefunden und das Interview durchgeführt. Ich hörte dann im Studio die Aufnahme ab:
Rep.: Frau Spinne, ich habe gehört, dass Sie eine sogenannte ‚Schwarze Witwe‘ sind. Immerhin tragen Sie Schwarz, oder trauern Sie derzeit?
Schw.W.: Oh, das schwarze Gewand täuscht – erstens war ich nicht immer Schwarze Witwe und zweitens als solche ist mir jede Trauer fremd.
Rep.: Ja? Warum?
Schw.W.: Du lieber Himmel! Die Jungs sind verrückt auf Schwarz. Was soll ich da trauern?
Rep.: Ja, äh, Sie sind noch nicht lange hier am Dom. Wieso haben Sie sich gerade hier nieder gelassen?
Schw.W.: Die Bedingungen hier sind nicht schlecht. Ich musste zwar meinen Beruf wechseln, aber ich gehöre zu jener Gattung Spinne, die sich gut anpassen kann. Wenn ich im Juni in einer Gegend bin, wo es nur Mai-Käfer gibt, dann gehe ich halt einen Monat zurück.
Rep.: Aha. Und wo waren Sie vorher, und was haben Sie gemacht?
Schw.W.: Ich komme aus dem Rheingau und war dort Säuferspinne.
Rep.: Haha, am Dom zu Kölle hat sich eine Säuferspinne aus dem Rheingau nieder gelassen! Frau Spinne, das müssen Sie mir näher erläutern.
Schw.W.: Ja, ich habe mich mit weiteren Säuferspinnen von Sekt ernährt – im fünften Untergeschoss einer nicht unbekannten Sektkellerei. Spinnen sind in Sektkellereien allgemein gut gelitten.
Rep.: Ach, wieso?
Schw.W.: Platzt eine Sektflasche, muss der Kellermeister keine Putzfrau mit Eimer und Feudel schicken. Nein, wir erledigen das. Wir Säuferspinnen ‚putzen‘ das Zeug weg, sozusagen.
Rep.: Das habe ich noch nie gehört!
Schw.W.: Nun ja, zugegeben. Das mit den geplatzten Sektflaschen eben war geflunkert ...
Rep.: Wie?
Schw.W.: Tatsache ist, dass wir Säuferspinnen die Flaschen killen, während die Sekthersteller denken, dass die Gärung in den Flaschen dafür verantwortlich ist.
Rep.: Ach, Frau Spinne, ich habe schon Jägerlatein gehört, aber es gibt offenbar auch ein Spinnenlatein.
Schw.W.: Haha, Sie glauben mir nicht. Haha. Wissen Sie, die Sekthersteller und Kellermeister würden es auch nicht glauben. Aber die haben Gründe dafür. Immerhin müssten sie sich den Prozess der Gärung neu überlegen …
Rep.: Richtig.
Schw.W.: … und zweitens müssten sie zugeben, seit Jahrhunderten von Säuferspinnen gelinkt worden zu sein. Und das wird nicht geschehen.
Rep.: Ja. Vielleicht, äh, peinlich. Darüber müssten wir uns noch einmal gesondert unterhalten. Ja, weiter im Text, wieso haben Sie dann die Sektkellerei verlassen?
Schw.W.: Die Leber. Der Arzt sagte, ich hätte die Chance, mich entweder tot zu saufen oder mir einen anderen Arbeitsplatz zu suchen. Dass ich auf die Milz weiter trinken könnte, wie ich eingewandt hatte, hat er für den größten Blödsinn des Jahrhunderts gehalten.
Rep.: Diese Einschätzung könnte Ihnen auch hier begegnen. Aber, Sie sind dann umgezogen?
Schw.W.: Ja, dann habe ich hier am Köller Dom eine Stelle als Schwarze Witwe angetreten. Hier bestand ein gewisser Freiraum oder eine Marktlücke für mich, wie Sie wollen.
Rep.: Wie? Was machen Sie denn so den ganzen Tag?
Schw.W.: Ich liege bei gutem Wetter in der Sonne und bei schlechtem suche ich mir einen Unterstand, und ab und zu reduziere ich die Anzahl von Touristen. Vor allem männliche. Was tun Schwarze Witwen sonst?
Rep.: Ist das nicht unmoralisch?
Schw.W.: Unmoralisch? Wieso? Es gibt genug Männer, und es kommen jeden Tag neue hinzu.
Rep.: Nun, ich meine, selbst wenn es viele Männer gibt, so haben sie doch ein Lebensrecht.
Schw.W.: Lebensrecht? Ja aber selbstverständlich, keine Frage. Aber ich habe auch eines. Übrigens gut, dass Sie mich daran erinnern. Ich muss jetzt unbedingt meine Pheromone versprühen. Moment. Fffffffft.
Rep.: Frau Schwarze, äh, Frau Witwe, ich, äh, es ist irgendwie alles so verändert. Ich, weshalb bin ich hier?
Schw.W.: Sie interviewen mich.
Rep.: Ja? Ich finde Sie einfach toll, wissen Sie, Sie sind zauberhaft, wundervoll!
Schw.W.: Ja? Was noch?
Rep.: Sie haben unglaublich schöne Beine. Und Sie haben acht Stück davon. Oh mein Gott! Phantastisch. Einfach hinreißend!
Schw.W.: Du kannst mir noch mehr sagen. Du hast noch etwas Zeit.
Rep.: Was du willst. Die ganze Welt ist weg, es gibt nur noch dich. Und du bist so schön! Ach, niemals vorher habe ich solch eine schöne Frau gesehen. Und das Schwarz! Es steht dir so gut wie keiner. Du bist mein Himmel.
Schw.W.: Jaja, so ist das. Erst lieb‘ ich dich, dann fress‘ ich dich.
Rep.: Ah, ah, ja, ja, nein, nein, Hilfe, Hilfe, …
Schw.W.: Zu spät.
Tage später nach dem Interview haben Passanten hinter jenem Mauervorsprung am Dom Knochen gefunden und daneben ein digitales Aufnahmegerät, auf dessen Rückseite das Logo der Radiostation klebte. Man hatte diese dann benachrichtigt, und auf dem Gott sei Dank unversehrten Gerät befand sich vorstehende Aufnahme. Schnell war dann im Sender vermutet worden, dass es sich bei den Knochen um die sterblichen Überreste des inzwischen als vermisst gemeldeten Hubert K. handeln könnte. Für einen DNA-Abgleich wurde ein Haar des Reporters verwandt, das seine Frau von ihm in der Suppe gefunden hatte. Die Laboruntersuchungen haben dann eine Übereinstimmung ergeben. Keiner der Kollegen beim ‚Kardinal‘ wollte aus Pietätsgründen die Sprachaufnahme bearbeiten, so dass ich als unbeteiligte Fremde zur rechten Zeit am Platze war.
Beim ‚Kardinal‘ habe ich bei dieser Gelegenheit Sirius Kusch kennen gelernt, den Leiter der beiden Nachmittagsserien ‚Forschungsspitzen‘ und die regionale Sendung ‚Aktuelles aus der Stadt‘, wobei der Beitrag in letzterer laufen sollte. Herr Kusch war mit meinem Vortext einverstanden, und ich konnte das Interview noch am selben Tag im Studio schneiden und den Text aufsprechen. Als der Beitrag über den Sender ging, war des Reporters Witwe – dann auch in Schwarz – persönlich in der Redaktion dabei. Es kamen danach per E-Mail und telefonisch einige süffisante Kritiken von Hörerinnen herein, die Herrn Kusch nachhaltig irritierten, und wie er seinen Kollegen mitteilte, mied er fortan den Dom.
Das Thema übrigens, dass die Säuferspinnen angeblich seit Jahrhunderten die Kellermeister berumpsten, habe ich förmlich als Vorschlag bei Herrn Kusch für die Serie ‚Forschungsspitzen‘ eingereicht. In Absprache mit dem Chefredakteur, so sagte er, wollte er ihn allerdings nicht aufgreifen. Zu heiß, so seine Absage.
