Komm dahin, wo es still ist - Vanessa Vu - E-Book

Komm dahin, wo es still ist E-Book

Vanessa Vu

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Beschreibung

Die Lebenswege des Schriftstellers Ahmad Katlesh und der Journalistin Vanessa Vu sind durchtränkt, aber nicht bestimmt von Kriegen, Flucht und Migration. Doch was bedeuten diese Erfahrungen für ihre Gegenwart? Katlesh floh aus Syrien und lebte mehrere Jahre in Jordanien, bevor er 2016 nach Deutschland kam. Vu ist in Deutschland geboren und lebte die ersten Jahre in einem Asylbewerberheim in Niederbayern, ihre Eltern kamen aus Vietnam. Im Tanz lernten beide sich kennen, in den darauffolgenden E-Mails näherten sie sich einander an.  Was als persönlicher Austausch begann, öffnen sie angesichts der Diskursverschiebungen nach rechts nun einem breiteren Publikum. Sie erzählen einander in freier Assoziation Geschichten aus Syrien, Niederbayern, Vietnam und all den Orten, an die es sie verschlagen hat, suchen darin Parallelen und Unterschiede, verblasste und fehlende Erinnerungen, und arbeiten so ihre Migrationsbiografien auf. Ein Buch über Internetcafés, Geister und Grenzen, über Missverständnisse und davon, was es heißt, wenn Politisches immer wieder ins Private einbricht. 

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Seitenzahl: 295

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Vanessa Vu • Ahmad Katlesh

Komm dahin, wo es still ist

Eine Erkundung

 

 

 

Über dieses Buch

Die Lebenswege des Schriftstellers Ahmad Katlesh und der Journalistin Vanessa Vu sind geprägt, aber nicht bestimmt von Kriegen, Flucht und Migration. Katlesh floh aus Syrien und lebte mehrere Jahre in Jordanien, bevor er 2017 nach Deutschland kam. Vu ist in Deutschland geboren und lebte die ersten Jahre in einem Asylbewerberheim in Niederbayern, ihre Eltern kamen aus Vietnam. Im Tanz lernten beide sich kennen, in den darauffolgenden E-Mails näherten sie sich einander an. Sie entdecken trotz unterschiedlicher Migrationsbiografien parallele Erfahrungen, schlagen Brücken entlang verblasster und fehlender Erinnerungen, schreiben über Gefühle, Sehnsüchte und Absurditäten in unterschiedlichen Einwanderergenerationen. Mal poetisch, mal essayistisch erzählt ihr Austausch von einer Suche nach Trost und Liebe sowie von jahrelangen Kriegen mit sich selbst und in den sie umgebenden Gesellschaften.

Vita

Vanessa Vu ist Journalistin. Sie wurde 1991 in Eggenfelden geboren, ihre Kindheit verbrachte sie in einem Asylbewerberheim in Pfarrkirchen. Seit 2017 arbeitet sie als Redakteurin bei ZEIT ONLINE. In Reportagen, Essays und Analysen widmet sie sich vor allem Fragen rund um Migration, Rassismus und sozialer Gerechtigkeit. Zudem lädt sie jeden Monat ins «Klassenzimmer», eine Gesprächsreihe über Armut und Klassismus in der Schaubühne Berlin. 2018–2023 war sie Co-Host des vietdeutschen Podcasts «Rice and Shine». Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Helmut-Schmidt-Preis und dem Lessing-Preis für Kritik ausgezeichnet.

 

 

Ahmad Katlesh ist Schriftsteller. Er wurde 1988 in Damaskus geboren und studierte dort Mathematik. Nach der syrischen Revolution floh er 2013 nach Jordanien und arbeitete dort als Journalist. 2017 kam er mit einem Stipendium des Heinrich-Böll-Hauses nach Deutschland. Er veröffentlichte drei Bücher mit Kurzgeschichten und Gedichten auf Arabisch, 2020 erschien sein erstes deutschsprachiges Buch, der Lyrikband «Das Gedächtnis der Finger». Dafür verlieh die Bayerische Akademie der Schönen Künste ihm das Chamisso-Publikationsstipendium. Daneben liest er auf «Tiklam» literarische Texte für Millionen arabischsprachiger Hörer:innen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Marie Krutmann

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung FinePic®, München; Sonia R.Brandt Oppenheim

Illustration auf dem Cover von Hannah Brandt

ISBN 978-3-644-01617-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

An unsere Mütter يُسرى und Hằng und alle Menschen, die zuhören, auch wenn sie nicht sofort verstehen.

Dies ist die Geschichte einer Annäherung von zwei Menschen, die in Deutschland sind, obwohl sie nicht hier sein sollten, und die sich nicht verstehen können, es aber unbedingt wollen. Also wühlen sie sich durch verschüttete, wiederkehrende und nicht vorhandene Erinnerungen, packen sie in E-Mails – er auf Arabisch, sie auf Deutsch mit vietnamesischen Sprenkeln – und jagen sie durch Übersetzungsprogramme. Es ist eine Geschichte von Brüchen und Brücken. Von Aufstieg und Absturz. Von der Unmöglichkeit, über Gewalt zu sprechen. Von Ängsten, Computerspielen und Geistern. Und vielleicht, eigentlich, am Ende: auch eine Liebesgeschichte.

Parallele Erinnerungen

Dezember 2021

Lieber Ahmad,

ich schreibe dir aus meinem früheren Kinderzimmer, seit über zehn Jahren steht hier die Zeit still. Bei jedem Besuch wollte ich aufräumen: unnützes Zeug wegwerfen, peinliche Relikte meines früheren Ichs beseitigen, nur noch einige wenige Erinnerungen inszenieren. Irgendwie war ich aber immer zu faul und heute freue ich mich insgeheim, an diesem abgeschiedenen Ort eine unverrückbare Logik des Lebens ausgetrickst zu haben: dass alles immer irgendwie weitergehen muss. Doch hier ging nichts weiter. Mit jedem Jahr staune ich mehr über das Leben, das ich hinter mir gelassen habe. Über Details, die ich längst vergessen habe.

Gerade vermisse ich dich aber einfach nur. Obwohl wir erst wenige Tage zusammen verbracht haben, hat es was Unnatürliches, Kaltes, so weit weg von dir zu sein. Meine Eltern haben alle Heizungen im Haus aufgedreht, es ist wahrscheinlich ihre Art, uns erwachsene Kinder in die Arme zu nehmen. Normalerweise sitzen wir die meiste Zeit im Wohnzimmer mit einigen Zentimetern Abstand nebeneinander, jeder an einem Bildschirm, jeder mit einer Tasse Husten- oder Kamillentee. Dieses Jahr servierte meine Mutter Chrysanthementee und damit ein neues Gesprächsthema.

Jetzt haben sich aber alle in ihre Zimmer zurückgezogen und zur allgemeinen Einsamkeit gesellte sich eine Leere, an der auch eine glühende Heizung nichts ändern kann. Es ist fast wie früher, als ich oft allein am Schreibtisch saß und mich durchs Schreiben in andere Welten rettete. Irgendwann kam das Internet und ich fand Unbekannte, die mir antworteten. Weißt du, wo ich mich am meisten rumtrieb? Mein liebster Ort war die Kommentarspalte großer Nachrichtenseiten, dort stritt ich hinter Nicknamen versteckt über Tages- und Weltpolitik und testete aus reiner Freude am Schlagabtausch abstruse Argumente. Ich füllte auch Blogs und chattete mit Fremden, bis sie nach einem Treffen oder einem Telefonat fragten. Das wiederum wollte ich nie.

Es war nicht so, dass ich etwas zu verbergen hatte. Ich erfand keine neuen Charaktere oder Biografien, ich war eher eine körperlose, stimmlose Variante meiner selbst und beharrte darauf. Ich wollte nur aus getippten Worten bestehen, aus Ideen, Meinungen, Erkenntnissen und damit anderen Ideen, Meinungen und Erkenntnissen begegnen. Die materielle Welt, in der ich mich gefangen sah – und dazu zählte, seit ich denken kann, mein Körper –, war mir zuwider. Als Kind wäre ich zum Beispiel viel lieber ein Junge gewesen. Die anderen Jungs kicherten über meine Erklärung, dass ich sei wie sie, dennoch nahmen sie mich in ihre Räuberbanden auf und ich durfte mit Stöcken fuchteln und mit ihnen durch den Wald ziehen. Ich konnte nicht brüllen wie sie und war die Kleinste, aber zum Geheimversteck-Hüten oder zum Botschaften-Überbringen taugte ich allemal! Die restliche Zeit musste ich leider ein Mädchen sein und war betrübt, dass ich nicht wenigstens hellhäutig oder blond oder pausbäckig oder sonst wie entzückend war. Auf dem Dachboden, zwischen alten Schulheften und Notizblöcken, sind noch alte Zeichnungen, ich malte mich schneeweiß mit Ringellocken und großen, runden, blau strahlenden Augen. Es war vermutlich das erste andere Ich, das ich erschuf, die nächsten entwickelte ich Wort für Wort mit meiner Tastatur.

Einer der Unbekannten, mit denen ich chattete, war ein Pfarrerssohn. Seine Eltern waren auf Mission in Papua-Neuguinea. Ich ließ mir wochenlang vom Inselleben am anderen Ende der Welt erzählen und was Missionare heutzutage so machen – bis er schrieb, er habe Gefühle für mich. Aus Angst, ihn zu verletzen, antwortete ich zweideutig und ließ mich darauf ein, Fotos zu schicken, unbeholfene Digicam-Selfies von schräg oben. Doch ich ekelte mich zunehmend vor mir und seinem «Hey, Süße», also schrieb ich, dass ich ihn nicht liebte. Er war überrascht und ich beschämt.

Ein anderer Chatfreund war ein Punk aus dem Nachbarort. Er spielte Gitarre und es gefiel mir, dass er mir Musik empfahl, Sum 41, Death Cab for Cutie, Kettcar, sowas. Er schimpfte aber immer häufiger über Neonazis und fragte, ob sie mich belästigen würden – er würde sie sofort verprügeln. Ich musste ihn immer wieder enttäuschen. Natürlich kannte ich Neonazis (dort, wo ich aufgewachsen bin, musste man sie nicht suchen), aber ich hielt sie wie alle Menschen auf Abstand, und selbst wenn mir dies nicht gelungen wäre: Das Allerletzte, was ich wollte, war ein Typ, der meinetwegen in den Zug stieg und eine Schlägerei anzettelte.

Mein bester digitaler Freund war ein Junge aus dem Jahrgang über mir, wir sind bis heute eng befreundet. Er war der einzige andere Ausländer am Gymnasium, seine Familie war erst vor wenigen Jahren aus Bulgarien gekommen. Ich wollte unbedingt mit ihm zu tun haben, aber wusste nicht, wie ich das anstellen sollte, denn er gehörte zu den Coolen, die besser aussahen als der Rest, sie trugen Markenklamotten, hatten bessere Noten, organisierten Partys und waren überall engagiert. Mich schüchterte das ein, also schrieb ich ihm unter Pseudonym und erstaunlicherweise wurden wir füreinander so etwas wie antwortende Tagebücher. Vielleicht, weil ich im Chat seinen starken Akzent nicht hörte und er mich nicht sah? In dieser Sicherheit schrieben wir einander jedenfalls jeden Abend, bis wir müde wurden.

Leider erriet er nach wenigen Wochen, wer ich war, und versuchte daraufhin, mich in sein echtes Leben einzubinden, mich zum Beispiel auf Partys einzuladen. Mir fiel das schwer, also beließen wir es bei den Chats. Natürlich bekamen andere mit, dass wir außerhalb der Schule irgendwas miteinander zu tun hatten. Sie witterten eine heimliche Liebesbeziehung, oder noch schlimmer: dass wir es einfach nicht hinkriegten, uns anzunähern. Die Jungs verspotteten ihn als feige und unmännlich, und mir war das alles einfach nur furchtbar unangenehm. Sie hatten keine Ahnung, was das zwischen uns war, und wir wahrscheinlich auch nicht.

Heute würde ich sagen, die Anonymität war die Voraussetzung, unter der wir uns begegnen konnten – unter der ich anderen Menschen überhaupt erst begegnen konnte. Was uns schließlich verband, war das Gefühl von Enge in dieser kleinstädtischen Gesellschaft. Wir wussten nur, dass wir nicht sein wollten, was alle anderen von uns dachten oder von uns erwarteten, aber wir wussten nicht, wer wir stattdessen sein wollten. Wir arbeiteten zwar auf Berufe hin – ich wollte schon immer Journalistin werden und er Psychotherapeut –, aber es fehlte der Raum, darüber nachzudenken, was für Menschen wir werden wollten. Wir waren wie zwei Aliens, die versehentlich in Niederbayern gelandet waren, und es brauchte viele amerikanische Serien und Bücher über Rassismus, Migration, Diskriminierung und menschliche Psyche, um halbwegs zu verstehen, woher unsere Entrücktheit kam.

Wie hätte ich damals auch einordnen und bewerten können, was es bedeutet, wenn ein Mädchen mir abfällig zurief, ich solle zurück in den Dschungel? Oder, noch schlimmer, dass ich vergast gehöre? Wenn alle anderen Mädchen sagten, sie seien neidisch auf meinen gebräunten Teint? Wenn Lehrerinnen erstaunt waren, dass ich sehr gute Deutschnoten hatte, und wenn eine Mitschülerin schnippisch anmerkte, das liege nur daran, dass ich als Ausländerkind in der Grundschule eine Deutschförderung bekam (ich hätte mir die Nachmittagsstunden ja lieber gespart)? Wo endete Anerkennung, wo begann Beleidigung? Was war bloßer Ausdruck von Frust, was war Ideologie? Ich spürte, dass sehr viel sehr falsch war, aber was hätte ich tun sollen? Was hätte ich tun können?

Der einzige Weg, den ich damals kannte, war die Flucht nach innen, weit weg von allen anderen, weit weg von meiner eigenen Haut. Auf Klassenfotos überklebte ich mein Gesicht, nach außen hin zeigte ich mich unabhängig und rebellisch. Mein icq-Profilbild war eine Notizbuch-Grafik mit den Worten: «I hate everyone».

Ich weiß nicht, ob ich damals an diesem Ort, in diesem Körper irgendwas hätte richtig machen können. Heute würde ich sagen: nein. Ich musste raus. Ich musste mir virtuelle Identitäten zulegen. Und auch wenn ich heute in diesem Zimmer Nostalgie empfinden kann, überwiegt eine große Beklemmung. Ich trauere um das Mädchen, das lieber aus Pixeln bestand als aus Fleisch und Blut.

Aber ich will gar nicht so weinerlich enden. Irgendwie habe ich es ja rausgeschafft und unten steht ein Weihnachtsbaum. Auch wenn hier jeder auf seine Weise verschroben ist, bin ich immer sehr gerne bei meiner Familie. So eine routinierte Distanz hat auch etwas Beruhigendes. Vielleicht kann ich dich eines Tages hierher mitbringen? Aber erst möchte ich von dir hören:

Warst du eigentlich ein verschlossener Teenager? Wie war eine Jugend im Damaskus der Nullerjahre? Bist du auch mit Chatforen und Messengern groß geworden? Wenn ja, mit welchen?

Deine Vanessa

***

عزيزتي فانيسا،

Liebe Vanessa,

gibt es gute Gedichte voller Glück? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur an traurige, aber ich möchte eines schreiben.

هل هناك قصائد فرحة جيدة؟ لا أعرف ولكني أريد أن أكتب واحدة.

Nachdem ich von dir las, wollte ich dich gleich zurückrufen, doch wir hätten wahrscheinlich nur ein schnelles Gedanken-Pingpong gespielt. Mir ist es aber ein Bedürfnis, dir ausführlicher zu antworten, und das kann ich nur in meiner Sprache, auf Arabisch, auch auf die Gefahr hin, dass manches Detail verloren geht, wenn du den Google-Übersetzer nutzt, um meine Worte zu verstehen. Ich möchte in meiner Sprache schreiben, die mir hier in dieser Stadt entschwindet. Mit Leuten, die meine Muttersprache teilen, kann ich mich über vieles nur begrenzt austauschen, denn mit dem Ausbruch der Revolution 2011 und dem seitdem herrschenden Bürgerkrieg in Syrien ist jede Kommunikation von Angst und Misstrauen begleitet. Man weiß nie, wo die andere Person politisch steht, wem sie loyal ist und wie sie die Dinge sieht. Deshalb zieht man sich voreinander zurück. Zugleich vermeide ich es, persönliche Reflexionen mit der deutschen Gesellschaft zu teilen, weil sie mich schnell in eine Opferrolle drängt.

Ich schreibe dir auf Arabisch, weil diese Sprache die einzige Brücke ist, die mich über all das unruhige Wasser trägt. Lass uns das Schreiben als Brücke nutzen, auch wenn die Metapher ein wenig abgegriffen ist.

Du hast mich nach meiner Jugend in Damaskus gefragt. Wie du habe ich meine ersten Freundschaften übers Internet geschlossen. Nicht, weil meine Gesellschaft zu rassistisch war oder ich Ablehnung von Lehrkräften oder Mitschüler:innen erfuhr. Ich erlebte sie aus meiner eigenen Familie. Ich will es nicht überdramatisieren, aber ich war von sechs Geschwistern das ungeliebte Kind, das Außenseiterkind. Tatsächlich habe ich meinen Vater einmal sagen hören, dass er mich nicht liebe und es ihm lieber wäre, meine Mutter hätte mich nicht geboren. Ich erklärte mir das damit, dass ich hässlich war. Ich war das klischeehaft nette, höfliche Kind, für meinen Vater war ich damit langweilig und nicht vorzeigbar. Auch außerhalb meiner Familie verhielt ich mich entsprechend, ich war immer sehr zurückgezogen. Nur zu meinem Großvater hatte ich ein gutes Verhältnis, aber davon später mehr.

Als das Internet bei uns aufkam und man sich online mit Gleichgesinnten austauschen konnte, war das für mich nicht nur eine Erlösung, sondern auch der Beginn meiner Laufbahn als Autor. Zugleich begann ich zu studieren und im Laden meines Vaters für Stoffe und Vorhänge zu arbeiten, denn ich lebe nicht gern auf anderer Leute Kosten. Ich hatte meinen Vater auch nie gebeten, mir einen Computer zu kaufen, stattdessen stahl ich mich nachts in ein Internetcafé, das eine halbe Stunde zu Fuß von uns entfernt lag. Statt zu lernen, debattierte ich in verschiedenen Foren über Fragen der Kultur, Religion, Politik oder auch der Lebensführung. Es gab auch Chaträume, in denen sich die meisten jungen Leute unterhielten oder Liebschaften anbahnten, aber ich passte da nicht so recht rein. Ich war wahrscheinlich auch nervig, weil ich immer alles analysieren oder infrage stellen wollte. Also verbrachte ich Stunden in Kulturforen und postete dort meine ersten Texte. Es war genau der richtige Ort für mich, um Aufmerksamkeit und Anerkennung anderer zu erlangen. Rückblickend waren aber auch die Kulturforen Räume, in denen insbesondere Männer unter dem Vorwand des intellektuellen Austausches Frauen ausfindig machten und belästigten. Für viele Frauen, die mitreden wollten, waren Foren eine ständige Kampfzone, in denen sie die patriarchalen Offlinekämpfe weiterführen mussten, die sie überhaupt erst ins Internet getrieben haben. So läuft das bis heute, nur wenige wollen wirklich lesen und etwas dazulernen. So gesehen waren reine Chaträume zumindest ehrlicher.

In Syrien wird es nicht gerne gesehen, wenn man ins Theater geht oder an kulturellen Veranstaltungen teilnimmt. Intellektuelle und Künstler:innen beschuldigen dafür die konservative, religiös geprägte Gesellschaft, doch im Grunde bilden auch viele Intellektuelle und Künstler:innen exklusive Kreise, in denen bestimmte Ideologien vorherrschen, eigene Interessen verfolgt werden und keine Kritik geduldet wird.

Ich wollte nie einer solchen Gruppierung angehören, suchte dennoch den Austausch und fand ihn in Foren. Sie waren für mich bessere Orte, um neue Menschen außerhalb meines unmittelbaren Umfelds kennenzulernen. Die meisten nutzten dort Nicknamen. Bei den Frauen konnte ich das verstehen, weil es vielen gar nicht erst erlaubt war, sich online mit Fremden zu unterhalten, und sie unter neutralen Namen außerhalb ihrer Rollenklischees wahrgenommen werden konnten. Aber warum sich auch Männer hinter Nicknamen versteckten, mich eingeschlossen, verstehe ich bis heute nicht. Vielleicht war es eine Chance, sich neu zu erfinden.

Ich hatte mehrere Decknamen, ich nenne dir hier mal die am wenigsten peinlichen: «Quasimodo» zum Beispiel, in Anspielung auf den Glöckner von Notre-Dame, weil ich mich für sehr hässlich hielt, aber auch «Der mit dem langen Schatten» oder «Akakij Akakijewitsch» wie der Protagonist in Nikolai Gogols «Der Mantel». Ich habe bis heute eine E-Mail-Adresse mit dem Namen Akakijewitsch, die ich benutze, wenn ich meinen Klarnamen nicht preisgeben will.

In den Kulturforen schloss ich genau wie du als Teenager Freundschaften, von denen manche bis heute bestehen. Ich lernte, meine Schreibtechnik zu verbessern, und das ganz ohne einem bestimmten Kreis von Kulturschaffenden oder einer «Autorenmafia» anzugehören, deren Mitglieder sich zwar gegenseitig unterstützen, alle anderen aber anfeinden. Bis heute gehöre ich keiner Gruppierung an, ich bin frei und unterstehe keiner Bewegung und keiner Person. Stolz bin ich darauf nicht, denn ein Leben als Einzelkämpfer bringt auch Nachteile mit sich. Immerhin habe ich mittlerweile herausgefunden, was ich tun kann, um weniger verschroben zu wirken.

Wie dem auch sei. Auch ich hatte eine Onlinebeziehung, von der ich dir erzählen möchte. Denn sie hat meinen Blick aufs Leben verändert und mich dazu gebracht, unverblümt auszusprechen, was ich zu sagen habe.

Ich war 16 Jahre alt. Ein Mädchen – sie bat mich, sie Leila zu nennen – schrieb mir, sie fände die Texte, die ich damals veröffentlichte, gekünstelt-dramatisch und unnötig finster. Ich stritt mich mit ihr darüber, aber wie du weißt, erwächst aus solchem Streit mitunter eine persönliche Beziehung, und so redeten wir über Gott und die Welt, und ich entwickelte Gefühle für sie. Stunden über Stunden verbrachte ich im Chat mit ihr und ließ dabei Schule und Arbeit schleifen. Zu dieser Zeit wurden die Gegensätze zwischen meinem Vater und mir immer offensichtlicher: Ich begann, mich seinen Anweisungen zu widersetzen, ging gegen seinen Willen ins Internetcafé und kam zu spät oder manchmal auch erst am nächsten Tag nach Hause, woraufhin er mir gegenüber so feindselig wurde, dass er begann, mich zu schlagen. Die größte Sorge meines Vaters war, eines seiner Kinder nicht unter Kontrolle zu haben. Also erfand ich Lügengeschichten, die ihn zufriedenstellten und die es mir erlaubten, mein Leben so zu führen, wie ich es wollte. Eigentlich war mein ganzes Leben unter meinem Vater eine große Lügengeschichte.

Nachdem ich jedenfalls monatelang mit Leila geschrieben hatte, ohne sie je gesehen oder auch nur ihre Stimme gehört zu haben, bat ich sie um einen Videoanruf. Sie lehnte ab, woraufhin ich misstrauisch wurde und sie verdächtigte, ihre Identität erfunden zu haben. Aber der Grund war ein anderer. Sie schrieb mir, dass sie aufgrund eines Kindheitstraumas nicht mehr sprechen könne. «Aha», schrieb ich ihr unterkühlt. «Ich wollte schon immer ergründen, warum du das Leben so schwernimmst.» Ich fühlte kein Mitleid oder Trauer. Im Rückblick denke ich, dass das sehr hart von mir war, auch wenn sie nicht empört über meine Empathielosigkeit schien. Ich hielt sie für reif und intelligent genug, um auch mit einem Trauma umgehen zu können. Wenn ich allerdings darüber nachdenke, was mir inzwischen alles widerfahren ist, begreife ich, dass ein Trauma lebensverändernd sein kann. Selbst wenn man es vergessen kann, kehrt es immer zurück – jedes Mal ein bisschen stärker, je älter man wird. Zwar können Krisen einen auch stärken, aber manche Schicksalsschläge machen einen nur deshalb hart, weil man weiterleben muss, und ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht lieber ein Leben gehabt hätte, in dem mir das Schlimmste erspart geblieben wäre.

Wir schrieben uns weiter, ohne unserer Beziehung ein Label zu geben. Eines Tages erzählte sie mir von einem Mann, in den sie verliebt sei, der ihr aber unerreichbar war, während ich mich immer mehr in sie verliebte. Kurz vor Beginn meines Studiums schrieb ich ihr (ich war damals noch auf eine spirituelle Weise religiös):

 

«Hallo Leila, ich liebe dich! Mein Herz besteht aus Umlaufbahnen, in deren Mittelpunkt Gott steht. Er ist die Quelle aller Liebe und er hilft mir dabei, jeder Liebe ihr entsprechendes Maß zu geben. Wenn ich aber eine unvollständige Liebe zu einem menschlichen Wesen an die Stelle der endlosen Liebe zu Gott setze, geraten die Umlaufbahnen meines Herzens aus dem Takt und die Liebe erstirbt. Ich fühle, dass du für mich jetzt im Zentrum stehst. Das wird alles zerstören und mich auf körperliche Begierden reduzieren. Deshalb muss ich dich verlassen.»

 

Das Ende dieser diffusen Beziehung war das Schlimmste, was ich bis dahin seelisch durchgemacht hatte. Doch die Trennung half mir, mich selbst zu finden. Zuvor hatte ich immer versucht, es anderen recht zu machen oder ihr Interesse zu wecken. Von da an war es mir wichtiger, ehrlich zu sein, selbst wenn es anderen unhöflich oder grob erscheint.

Willst du wissen, wie ich damals als Sechzehnjähriger geschrieben habe?

 

«Die Frauen, die zu mir übersetzen wollen, ängstigen sich vor dem Wolfsrudel, das seit langem in meiner Brust herangewachsen ist. Leila geht langsam vorbei und streicht den Wölfen, die sie anlächeln, über die Köpfe.»

 

Ich habe leider kein altes Kinderzimmer, in das ich nochmal gehen könnte. Nach der Revolution musste ich mehrmals umziehen, sowohl in Syrien als auch danach. Aber ich bin neugierig zu erfahren, was du alles in deinem Zimmer vergessen hattest und jetzt wieder entdeckst.

Ach ja, wo wir gerade dabei sind: Als ich dir meine Liebe gestand, wusste ich, dass du im Zentrum der Dinge stehen würdest, und lächelte selig in mich hinein.

Ahmad

***

Quasimodo! Oder soll ich besser sagen: Herr Akakijewitsch?

Ich danke Ihnen für diese parallele Erinnerung.

Es ist schon faszinierend, wie viele weitere Leben das frühe Internet ermöglicht hat und wie viele weitere es heute ermöglicht, wenn man sogar über sprachliche Grenzen hinweg kommunizieren kann. Ich bin auch erstaunt, wie viel besser Übersetzungssoftwares geworden sind – zumindest hoffe ich, dass durch eine schlechte automatische Übersetzung weniger verloren geht, als wenn wir uns in unbeholfenem Englisch schreiben würden.

Beim Lesen dachte ich jedenfalls, dass du einer der Fremden in meinem Leben hättest sein können, zum Glück sind wir uns aber erst mit über dreißig begegnet, wo Männer keine Wölfe mehr sind und Frauen keine Wolfsflüsterinnen. Einen Schriftsteller hätte ich aber auch damals schon sehr spannend gefunden! Leider kannte ich lange Zeit keine einzige Person, die Lyrik oder Prosa schrieb, ich stellte mir Schriftsteller deshalb vor wie im «Club der toten Dichter»: männlich, inbrünstig, auf Tische springend. Irgendwie beeindruckend, irgendwie aber auch nicht meine Welt.

Ich muss mich gerade ein wenig beeilen, wir wollen gleich essen, hier also in aller Kürze drei Dinge, die mir außer dem «Club der toten Dichter»-Büchlein aus meinem Kinderzimmer ins Auge fallen:

Mohnblumen auf billigen Kunstdrucken und Postkarten. Ich war fasziniert von diesen Blüten, die inmitten trostloser Landschaften rot leuchten, und habe mich – um dir ebenso einen Nicknamen zu verraten – online in verschiedenen Variationen danach benannt und mir später sogar eine Mohnblume ans Bein tätowieren lassen.

Eine Kanada-Flagge. In der zehnten Klasse habe ich an einem Schüleraustausch teilgenommen und war zum ersten Mal unter asiatischstämmigen Gleichaltrigen. Eine kanadische Lehrerin sagte mir, ich sei talentiert und hätte viel geschafft. So ein Kompliment hatte ich noch nie von einer deutschen Lehrerin gehört.

Ein Digicam-Foto von mir und einer Schulfreundin in Paris. Ich hatte phasenweise Freundinnen, zu denen ich heute leider keinen Kontakt mehr habe, sie war eine davon. Wir waren im Französisch-Leistungskurs (eine Art Hauptfach in der Oberstufe), machten den Gilmore Girls alles nach und entfremdeten uns letztlich wegen ihrer damaligen Beziehung, die man heute als toxisch bezeichnen würde.

Das letzte Foto und die Geschichte dazu hatte ich wirklich völlig vergessen, aber ich dachte, ich erwähne es, weil du jeden Tag ein Brücken-Foto postest. Was hat es damit eigentlich auf sich? Sind Brücken deine Mohnblumen? Bitte verurteile mich nicht für meinen Ramsch!

Deine coquelicot

***

عزيزتي فانيسا،

ich habe mich gefragt, ob ich dich darum beneide, dass du Weihnachten bei deiner Familie verbringst, während ich hier allein sitze. Aber eigentlich schätze ich mich glücklich, allein zu sein. Ich weiß, dass Familientreffen an Weihnachten herzerwärmend sein können, aber sie sind weltweit auch ein Anlass, um Familienprobleme auf den Tisch zu legen.

Was die Brücken angeht: Schon in Damaskus hatte ich ein besonderes Verhältnis zu Brücken. Ich studierte Mathematik, und die Universität lag in unmittelbarer Nähe zu einer der größten Brücken der Stadt, und weil alles Große und Berühmte in Syrien nach dem Diktator benannt sein muss, heißt sie الرئيس, «Präsidentenbrücke». Sie spannt sich über eine belebte Hauptstraße und über den daneben fließenden Barada-Fluss. Letzterer ist nur noch ein fast vertrocknetes Rinnsal. Zugleich befindet sich unter der Brücke eine Busstation, von der man in alle Vororte von Damaskus fahren kann. Dort, vor einer alten Mauer, verkauften Straßenhändler billige Elektrogeräte, Kleidung und Schmuggelware aus dem Libanon. Mich zog es immer zu dem Stand mit antiquarischen Büchern. Aber bleiben wir erstmal auf der Brücke.

Ich stand so oft auf dieser Brücke, die zwar vom größten Lärm der Stadt umgeben war, auf mich aber ruhig wirkte, da der Wind alle Geräusche verschluckte. Während meines Studiums traf ich mich dort mit Kommilitonen, um über Politik, Religion und Gesellschaft zu diskutieren, manchmal stand ich auch allein dort, um meine Gedanken zu ordnen, und dann wieder traf ich dort meine damalige Freundin. Die «Präsiden-tenbrücke» war der Ort, an dem ich meinem Alltag entkam und nach Neuem suchte.

Nach Beginn der syrischen Revolution und all den Verlusten, die sie mit sich zog, und nach meiner Freilassung vom Geheimdienst ging ich eines Abends auf die Brücke und blickte hinunter. Unten fuhren zwei Schwärme von Autos vorbei. Die von der Brücke wegfahrenden leuchteten rot und die sich nähernden weiß. Sie kamen mir vor wie zwei Armeen, eine siegreiche (die mit den weißen Lichtern) und eine besiegte (die roten Lichter). Es war ein bedrückender Gedanke, dem ich lange nachhing. Dann rempelte mich ein Passant versehentlich an und ich drehte mich in die andere Richtung. Dort hatten die Autos mit den roten Lichtern jetzt weiße Lichter und umgekehrt.

Wer waren nun die Besiegten und wer die Sieger? Ganz ähnlich stand es um die Revolution, die in einen Bürgerkrieg abgeglitten war. Die vermeintlichen Sieger waren plötzlich unterlegen und die Verlierer gewannen, und im nächsten Moment konnte wieder alles anders sein … So unentschieden ist es bis heute.

Anfang 2013 gelang mir die Flucht aus Syrien nach Jordanien. Meine ersten beiden Versuche waren gescheitert, da eine neue Verordnung jungen syrischen Männern keine weiteren Grenzübertritte gestattete. Für meinen dritten Versuch bezahlte ich eine Schmugglerin, um sich als meine Ehefrau auszugeben – Paare durften nämlich noch ausreisen. Kurz vor der Grenze fand ich jedoch ein syrisches Familienbuch, das offenbar jemand verloren hatte. Ein Familienbuch ist so etwas wie ein Reisepass oder ein Ausweis, aber für eine ganze Familie. Die Leute der Freien Syrischen Armee, die die Grenzfahrten organisierten, erzählten mir von einer Frau mit drei Kindern, die nicht nach Jordanien durfte, weil sie palästinensisch waren. Sie stecke seit Monaten an der Grenze fest und habe in Syrien alles verloren. Es war mein letzter Versuch, nach Jordanien zu gelangen, denn die Jordanier registrierten jetzt alle Einreisenden mit einem Iris-Scanner, und wäre ich abgelehnt worden, hätte ich es kein weiteres Mal probieren dürfen. Dennoch zögerte ich nicht, anstelle der bereits bezahlten Schmugglerin die palästinensische Mutter mit ihren Kindern mitzunehmen.

Denn es war auch meine Mutter, die mich aus Damaskus durch Checkpoints der Armee an einen Ort gebracht hatte, von dem aus ich in das Dorf unserer Familie in Daraa im Süden Syriens gelangen konnte.

Und es war ihre Mutter, also meine Großmutter, die mich von dort durch Checkpoints des Regimes und von islamistischen Milizen nach Mzeirib an der jordanischen Grenze gebracht hat.

Mütter waren für mich also immer Brücken, und diesmal wollte ich eine Brücke für diese Mutter sein. Tatsächlich ließen sie uns durch und lehnten die andere Frau ab, weil sie schon mehrere andere Männer über die Grenze geschmuggelt hatte. Ich überließ der Palästinenserin das Familienbuch, das uns zugewiesene Zelt im Flüchtlingscamp und die UN-Gutscheine für Hilfsgüter, und wir gingen getrennte Wege.

Ich schlug mich ohne Papiere in die nächstgelegene Stadt durch und fuhr wenige Monate weiter nach Amman. Als ich dort vier Jahre später meine Identität richtigstellen wollte, fragte mich der Beamte nach dem Namen, unter dem ich eingereist war. Ich wusste ihn nicht mehr. Ich erinnerte mich nur noch an den Namen jener Mutter: Fatima.

Dort in Amman gab es keinen Fluss, kannst du dir das vorstellen? Wie kann man eine Stadt ohne Wasser bauen? Was für eine schlechte Idee. Man witzelt sogar, dass die Jordanier:innen so wenig lächeln, weil ihnen das Wasser fehlt. Wasser bringt Freude. Doch selbst in dieser Zementstadt fand ich Brücken, und ich freundete mich mit dem Gedanken an, dass es auch Brücken ohne Flüsse gibt. Die eigentlich schönste Brücke in Amman war zugleich die schlimmste, denn von ihr stürzten sich immer wieder Menschen in den Tod und landeten zwischen Autos auf dem Asphalt.

Ich habe so viele Brücken in verschiedenen Städten gesehen, und mit einigen verbinde ich eine persönliche Geschichte. Als ich nach Deutschland kam, lebte ich zunächst an einem Waldrand. Ich hatte eine Schreibresidenz im Heinrich-Böll-Haus in der Nähe von Düren. Dort lernte ich eine Brücke kennen, die ich besonders gernhatte. Als ich zum ersten Mal von Düren nach Berlin reiste, erschrak ich: Mir war, als söge der Lärm der Menschen meinen massigen Körper auf. So schnell wie möglich wollte ich wieder weg, doch ich musste immer wieder für Lesungen und Veranstaltungen nach Berlin, und so suchte ich mir Orte in der Stadt, an denen ich mich konzentrieren und zur Ruhe kommen konnte.

Berlin ist mehr als nur eine Stadt. Berlin ist wie ein Granatapfel voller Kerne, und jeder Kern ist eine Stadt für sich. Und wie es der Zufall so will, fand ich auch hier eine Brücke, die sogar zu einem meiner liebsten Orte wurde. Auf der Eisenbahnbrücke an der Friedrichstraße komme ich zur Ruhe und finde meinen Rhythmus. Ich gehe dorthin, wenn ich mich vom Lärm der Stadt und vom Strom der allgemeinen und besonderen Gedanken erholen will. Von dort kann ich die Stadt umgedreht sehen. Meine Vorstellung einer Brücke war bislang ein Betongebilde im Zentrum einer Stadt, und darunter fließt ein Fluss. Diese Brücke ist aus Eisen und Stahl gebaut, über der Fußgängerpassage verlaufen die S-Bahn-Schienen und darunter fließt die Spree. Und da das Wasser ein Kind des Himmels ist, brachte mich diese Brücke zu der Vorstellung, dass über mir der Weg verläuft und unter mir der Himmel strahlt. Verkehrte Welt.

Jetzt habe ich so lange über Brücken gesprochen, dass du wahrscheinlich in deinem Zimmer sitzt und denkst: «Die nächsten zehn Jahre lang möchte ich das Wort Brücke nicht mehr hören.» Aber du hast ja danach gefragt!

Ahmad

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Lieber Ahmad,

ich bleibe noch an deiner Metapher von Mütter als Brücken hängen. Im Studium habe ich mich mit Kulturen weltweit befasst, die Mütter als Werteträgerinnen ansehen, als Bindeglieder zwischen Generationen und Familienmitgliedern. Sie sollen vermitteln und zusammenhalten, auch über die eigenen Familiengrenzen hinaus. Mit dem Erstarken des Nationalismus im 19. Jahrhundert wurde dieses Rollenbild instrumentalisiert – die Mutter als Nation, die Nation als Mutter. Frauen wurde im patriarchalen Konstrukt der Nation die Aufgabe der biologischen und ideologischen Reproduktion ebenjener Nation zugeschrieben. Man denke nur an die Marianne auf Eugène Delacroix’ Gemälde «Die Freiheit führt das Volk an» (1830), an die engelsgleiche Gestalt auf John Gasts Tafelbild «American Progress» (1872) oder Statuen der Britannia, Germania und von Mütterchen Russland. In Indien entstanden im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung im späten 19. Jahrhundert Bilder einer Bharat Mata («Mother India»), und auch in Südamerika verkörperten Malereien von aufopferungsvollen Müttern im Krieg den antikolonialen Widerstand, beispielsweise «El repase» (1888) von Ramón Muñiz. Echten Frauen nutzten diese Allegorien wenig, ihre Rolle blieb eine untergeordnete im Haus und am Herd.

Deswegen schaudert es mich jedes Mal, wenn Mütter stilisiert werden, auch bei dir klingt eine gewisse Stilisierung an, wenngleich ich weiß, dass du von persönlichen Erfahrungen geschrieben hast und deiner Mutter, deiner Großmutter und der Palästinenserin gegenüber eine große Wertschätzung empfindest. Ich mag auch die Idee, dass diese Mutterfiguren nicht wie im Kontext des Nationalismus Grenzen markieren, sondern sie für dich geöffnet haben. Am liebsten wäre mir aber, wir könnten Mütter entpolitisieren und von Müttern als Allegorien wegkommen, sie damit vermenschlichen und individualisieren.

Wenn ich zum Beispiel an meine eigene Mutter denke, dann denke ich an eine kleine, aber aufrechte Frau, deren Blicke ich als Kind fürchtete, denn sie verhießen selten Gutes. Sie musste nichts sagen, um uns Kinder zu verurteilen – und wehe, man fand nicht rechtzeitig eine Ausflucht. Die Details lasse ich besser aus, weil sie ihrer heutigen, erstaunlich gelassen-fröhlichen Art Unrecht tun würden.

Doch wer kann es ihr verübeln? Sie hatte schon mit 18 ihre Familie und ihr Land verlassen und sich ohne Ersparnisse, ohne Fremdsprachenkenntnisse und ohne Netzwerk ein neues Leben in Europa aufgebaut. An manchen Tagen schob sie drei Schichten und brachte damit ihren zeitweise kranken Mann und drei Kinder über die Runden. Beschwerden hörte ich nie, im Gegenteil mahnte sie uns Kinder ständig an, mehr zu leisten und mehr auszuhalten. Ich sah sie in meiner Kindheit aber auch nie weinen. Sie saß abends auch nicht bei uns, um nach unseren Sorgen zu fragen. Um uns zuzuhören, ihre Hände auf unsere Brust zu legen oder auf die Stirn. Um ein Lied zu singen. Ich habe sie nie singen gehört. Nie flüstern. Nie erzählen. Sie machte nichts von dem, was Mütter in Bilderbüchern tun. Wie auch, wenn man frühmorgens in der Bäckerei, tagsüber in der Gurkenfabrik und abends im Restaurant jobbt? Ich werfe ihr das nicht vor, ich heroisiere ihre Härte aber auch nicht.

Du schreibst von Müttern als Brücken; wenn meine Mutter eine Brücke war, dann eine, die nur in eine Richtung führte: in eine Zukunft, die sich keiner von uns vorstellen konnte. Ist es das, was Migration mit Menschen macht? Brücken verstümmeln? Ich weiß, was ich ihrer Meinung nach alles für ein besseres Leben tun sollte, aber nicht, woher wir kommen, wer wir sind. Ich sammle, seit ich mich erinnern kann, mühsam Erzählungen, historische Eckdaten, Bilder und Wörter und versuche, daraus eine Geschichte zu konstruieren.

Bislang geht sie so:

Meine Mutter ist die älteste von fünf Geschwistern, alle ihre Vornamen beginnen mit H: Hằng, Hiền, Hải, Hương, Hùng. Ihre Eltern führten eine kleine Obstfabrik in Hưng Yên, nicht weit von der Hauptstadt Hanoi, so kommt es, dass sie sehr gut Ananas schneiden kann, und weil die Fabrik gute Verbindungen zur Partei hatte, erhielt meine Mutter das besondere Privileg, 1983 als Vertragsarbeiterin nach Bulgarien entsendet zu werden. Dort arbeitete sie in verschiedenen Fabriken, lernte meinen Vater kennen, heiratete ihn und floh mit dem Zerfall des Ostblocks 1990 mit ihm nach Deutschland. Hier wurde sie Mutter, ich war ihr erstes Kind, und wenige Jahre später besuchte uns erstmals ihre Mutter. Für einige Tage hatte ich also auch mal eine Großmutter, bà ngoại. Erinnerungen an diesen Besuch habe ich keine. Ich weiß nur, dass sie mir ein Silberkettchen schenkte, auf dem mein früherer Vorname eingraviert war: Hồng Vần.