Komm runter - Michael Stuller - E-Book

Komm runter E-Book

Michael Stuller

0,0

Beschreibung

Dr. Michael Stuller, geboren 1967 in Kärnten, machte zunächst Karriere beim Radio. Bekannt wurde er vor allem als Reporter, Redakteur und Comedy-Autor der beliebten ORF-Morgensendung Ö3 Wecker. Parallel dazu studierte er Medizin. Jetzt lebt er als Facharzt für Psychiatrie und als Psychotherapeut in Wien, coacht Menschen und Gruppen und findet selbst Ruhe als Familienmitglied, beim Ausdauersport und bei seiner Liebe zur Philosophie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dr. Michael Stuller

Komm runter

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Bastian Welzer

Satz: Anna-Mariya Rakhmankina

In dem vorliegenden Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Übersichtlichkeit auf gegenderte Formulierungen verzichtet. Selbstverständlich sind immer die weibliche und männliche Form gemeint. Sämtliche Fallbeispiele wurden abgeändert.

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Europa

12345—26252423

ISBN: 978-3-99001-668-8

eISBN: 978-3-99001-669-5

DR. MICHAEL STULLER

KOMM RUNTER

Ruhe lernen

Aufgezeichnet vonAndrea Fehringer & Thomas Köpf

Inhalt

Vom Hitradio zur inneren Ruhe

Ein Prozess namens Ruhe

Die Zerstörung des Hier und Jetzt

Die mit der Unruhe tanzen

Post für Sie!

Das Versteck der inneren Ruhe

Es ist ein Kalender

Die Unerträglichkeit der Ruhe

Abwendung von der Zugewandtheit

Der Funke der Spontanität

Was werden denn die anderen sagen?

Danke, ich bin zufrieden

Kleiner Zwischenstand

So tun als ob

Eine wahre Geschichte

Kleiner Zwischenstand

Die Nicht-Existenz des Misslingens

Einmal zur Angst und wieder zurück

Ihr Auftritt, bitte

Es ist, was es ist

Auf den Spuren der Meditation

Psssst!

Wie stoisch ist die Ruhe?

Die Freiheit der Wahl

Ein Blick durch die Zinnen

Vom Hitradio zur inneren Ruhe

Wie ein Heißläufer aus Kärnten über einen Radiosender zur Ruhe kam.

»Michael Stuller. Bleiburg. Ich würde gern bei euch vorbeikommen.«

Man kann auch mit der Tür ins Telefon fallen, damals noch Festnetz. Selbst für ein »Hallo« war ich zu aufgeregt. Keine Spur von innerer Ruhe. Ich war siebzehn und hatte gerade bei Ö3 angerufen.

Fünf Minuten vorher war das noch nicht abzusehen gewesen. Ich stand in der Küche, machte mir einen Kaffee und hörte im Radio den Ö3-Wecker. Wie immer in der Früh. Und wie fast immer in der Früh moderierte Gotthard Rieger, mit ihm stand das Land damals auf. Ö3 hatte als Jugendschiene des österreichischen Rundfunks begonnen, in den 1980er Jahren war es längst Mainstream geworden, aber immer noch waren es für mich allesamt coole Typen, die dort arbeiteten, schräg, lustig, provokant. Leute, die sich nichts pfiffen und alles anders machten, als es sonst im Radio zu hören war. Doch für mich war’s der Gotthard Rieger, der mich faszinierte, für ihn stand ich extra Punkt halb fünf auf, um auch wirklich den ganzen Wecker hören zu können, und ich wusste, irgendwann plappere ich auch da heraus.

An diesem Tag in der Küche dachte ich, den ruf ich jetzt einfach an.

Zwei Minuten später sagte ich: »Michael Stuller. Bleiburg, ich würde gern bei euch vorbeikommen. Weil mir taugt das, was ihr da macht.«

Und Gotthard Rieger sagte: »Dann kommst halt nach Wien.«

Ich war noch siebzehn, als ich damals in den Zug stieg. Ich schwänzte die Schule, kam bei einer Tante unter und verbrachte ein paar Tage damit, Gotthard Rieger im Ö3-Studio über die Schulter zu schauen. Es war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte, und ich hatte recht gehabt, irgendwann, Jahre später, plapperte dann auch ich da heraus.

Ich hatte etwas visualisiert. Und damit meine ich nicht, dass es allein deswegen schon eingetreten wäre, wie man in vielen Coaching-Büchern liest, wenn von Manifestieren die Rede ist. Ich meine einfach, dass ich genau vor Augen hatte, wie das sein würde, wenn ich wie Gotthard Rieger im Ö3-Studio vor einem Mikrofon stehe. Dieses Bild hatte ich mit, wo immer ich hinging, und auf das Gefühl, das es auslöste, habe ich mich verlassen. Bis es tatsächlich so weit war und ich beim Radio arbeitete.

Sechzehn Jahre lang war ich Radioreporter, den Großteil davon bei Ö3, wo ich eine Zeit lang tatsächlich die erste Schicht des Weckers moderierte, die Primetime hatte der Gotthard über. Für alle, die sich vielleicht noch an die Comedy-Figur des Ö3-Bürgermeisters erinnern können: Auch das war ich. Für alle, die sich nicht erinnern können: Ö3 hat in den Neunzigern damit begonnen, eine ziemlich zugkräftige Comedy-Abteilung aufzubauen. Tom Walek, der Mikromann, oder Gernot Kulis, der Callboy, stammen aus dieser Riege, füllen heute Kabaretts und verkaufen eine Menge CDs. Der oberg’scheite Bürgermeister war ich.

Ich war also längst noch kein Psychiater, kein Psychotherapeut, kein Ruhe-Experte, als ich entdeckte, dass ich ein paar der wichtigsten Methoden für die innere Ruhe in mir trug, sie instinktiv anwandte und damit Erfolg hatte: das Visualisieren und das Vertrauen. Dabei war ich nicht einmal ein besonders ruhiger Mensch, im Gegenteil. In Kärnten, wo ich herkomme, nennt man so was Heißläufer. Ich war ein Heißläufer des oberen Quecksilber-Drittels, mich hat so gut wie alles auf die Palme gebracht, und das ausgesprochen schnell.

Interessant, könnten Sie jetzt sagen und sich fragen, warum Sie ausgerechnet von mir etwas über die innere Ruhe lesen sollten.

Darauf habe ich Antworten aus mehreren Perspektiven. Einer persönlichen, einer fachlichen und einer empirischen, die aus den ersten beiden Positionen gespeist wird. Persönlich, fachlich und empirisch weiß ich: Wer Ruhe verinnerlichen will, muss Unruhe in sich haben, denn nur dann fehlt sie ihm, und er kann sich auf die Suche nach ihr machen. Wer Ruhe verstehen und lernen will, muss sie wahrnehmen können, denn nur dann kann er ihr auf den Grund gehen. Wer also Ruhe vermitteln will, muss Erfahrung mit Unruhe haben. Und auf dem Gebiet findet sich kaum jemand, der versierter ist als ich. Weil ich selbst als der junge Heißläufer, der ich war, bei ein paar wenigen, aber entscheidenden Punkten trotzdem in mir ruhte. Und weil ich später als Psychiater herausfand, warum.

Sich einer Sache sicher sein, darauf vertrauen, dass es der richtige Weg ist, und danach handeln. Darum geht es. Und ich, der Unruhegeist, der sonst so gar kein Talent fürs Ruhige hatte, war in den wichtigen Entscheidungen meines Lebens die Ruhe selbst. Ich war meiner Sache ganz sicher, vertraute darauf und handelte danach.

Meiner Arbeit bei Ö3 war ich mir sicher, lange bevor ich sie antrat. Ich fühlte eine tiefe Ruhe in mir, dass ich dieses Ziel erreichen würde. Es war kein überlegtes und schon gar kein ausformuliertes Ziel. Es war ein Wollen. Stark, klar, unumgänglich. Ich will zum Radio. Dieses Wollen hatte ich visualisiert. Das dazugehörige Bild, wie ich im Studio stehe und den Hörerinnen und Hörern mitteile, was mir mitteilungswürdig erscheint, war in mir gespeichert, als hätte ich es schon erlebt. Das dazugehörige Gefühl, wie großartig es sein würde, mit meiner Stimme durch den Äther in die Ohren so vieler Menschen zu dringen, war so verankert, dass ich es jederzeit aufrufen konnte. Ich hatte Ö3 verinnerlicht. Ich werde im Radio arbeiten, das war sicherer als 99,9, die Frequenz von Ö3.

Deshalb grübelte ich auch nicht herum, wie ich es denn anstellen würde, an mein Ziel zu kommen. War auch nicht nötig, weil ja kein Zweifel daran bestand. Ich sah es vor mir. Ich vertraute darauf. Das Ob war keine Frage. Das Wie würde sich schon ergeben. Ich musste mich nur auf den Weg machen. Und so war es.

Genauso beim Studium. Auch das war kein Ziel, das ich rational penibel verfolgte. Auch das war ein Wollen. Stark, eindeutig, unverhandelbar. Ich will Menschen helfen. Ich will Arzt werden. Nach all den Jahren bei Ö3 entschloss ich mich, Medizin zu studieren. Ich war Journalist und Comedy-Autor in einer der größten Radioshows Europas, war mit der Formel 1 unterwegs, bin mit einem Kampfflieger über Österreich geflogen und habe mir die Welt angesehen. Und jetzt war es Zeit für den nächsten Schritt.

Warum, fragten mich alle entgeistert, warum willst du dich jetzt in den Hörsaal eines überfüllten Studienganges setzen? Mit 28 willst du mit einem der schwierigsten und langwierigsten Studien beginnen? Aus der Sicherheit dieses Jobs, den dir alle neidig sind, willst du aussteigen? Als Comedy-Bürgermeister hast du es lustig, als Reporter spannend, du wirst weder gemobbt noch übersehen, weder unterschätzt noch überfordert, und du verdienst gutes Geld. Das alles willst du aufgeben und dir dafür allen Ernstes auch noch einen Kredit aufnehmen?

Ja, das wollte ich. Und dann noch einmal als Arzt. Wieder so ein gewolltes Ziel. Stark, sicher, unzweifelhaft. Wieder ein Schritt in eine neue Richtung. Ich will Menschen helfen. Ich will Psychotherapeut werden. Warum, fragten mich wieder alle, warum willst du schon wieder etwas anderes? Zieh einmal eine Sache durch und sei endlich zufrieden damit.

Diese Sätze kenne ich, seit ich in die Schule kam, Hunderte Male habe ich sie gehört. Du bist so unruhig; bleib bei einer Sache; bring etwas zu Ende. Wobei das ungerecht ist, denn zu Ende gebracht habe ich alles. Ich bin Doktor der Medizin, ich bin Facharzt der Psychiatrie, ich bin ausgebildeter Psychotherapeut. Nur kaum, dass ich etwas fertig gemacht hatte, hat mich etwas Neues interessiert. Wie ich schon sagte, nach innerer Ruhe klingt das nicht. Aber es war eine verdammt gute Zusatzausbildung auf dem Gebiet. Die größten und wichtigsten Erfahrungen, die ich auf dem Weg zum Ruhe-Experten gemacht habe, war meine eigene Unruhe. Und die Ruhe in der Sicherheit, mit der ich mich entschied und den Weg dann verfolgte.

Nur bei einem Ziel habe ich mehr abgewogen als gewollt. Ich habe versucht, doch einmal etwas für längere Zeit durchzuziehen und es auszusitzen, gegen mein Gefühl. Mit 35 war ich so weit, darüber nachzudenken, ob sie nicht doch alle recht gehabt haben könnten mit ihren guten Ratschlägen, ihrer vernünftigen Sicht der Zukunft und ihren Zweifeln an meinem Verstand. Es war nach der Facharztausbildung zum Psychiater, als ich auf Nummer sicher ging und dabeiblieb. Ich arbeitete in einer Klinik, erstickte die Neugierde auf alles, was mich lockte, in jedem Keim, den ich finden konnte, und orientierte mich an den Kollegen, die Zeit ihres Berufslebens Ärzte und damit auch glücklich waren.

Es waren durchwachsene Jahre, ich werde noch einmal darauf eingehen. Bis ich dann irgendwann einmal bei einer Supervision diesen alten, erfahrenen Psychotherapeuten in einem Raum sitzen sah. Still, absolut stressresistent, völlig gelassen, in Frieden mit sich selbst. In dem Moment wusste ich, das hätte ich auch gern. Einen Parkettboden, einen Teppich, zwei Sessel. Mehr brauchte er nicht. Wie erfüllend muss das sein, vorher einen Kaffee zu trinken und dann hinzugehen und in aller Ruhe zu arbeiten. Und da war es wieder. Ein neues Ziel. Die innere Ruhe.

Diesmal sollte es schwieriger werden, weil ich mich höchstens noch einmal motivieren wollte und auch konnte. Wirtschaftlich musste ich dafür einmal mehr sehr zurückstecken und gleichzeitig viel einsetzen. Ich war mir sicher, dass ich hier ein letztes Mal alles auf eine Karte setzte. Aber diese innere Ruhe, der ich entgegenging, war allen Aufwand wert: Sie ist mein ultimatives Ziel geblieben. Diese Ruhe in mir und in anderen, dieser schlichte Zustand des inneren Nichts-Wollens begeistert mich nach wie vor, ebenso wie die einfachen Mittel, diesen Zustand zu erlangen. Das Urvertrauen zu finden, um in sich selbst ruhig zu werden. Das wollte ich für mich, ich wollte es an die Menschen weitergeben, und ich will es immer noch. Denn ich weiß, es ist da, dieses Urvertrauen, in jeder und jedem von uns, und man kann es freischaufeln, auch wenn es noch so lange verschüttet war.

Keine Frage, ich hätte meine Unruhe mit wesentlich weniger Aufwand in eine gelungene Lebensgestaltung verwandeln können. Aber dann hätte ich mich nie so ausgiebig mit der Einfachheit beschäftigt, mit der man zu dieser inneren Ruhe gelangt. Diese Einfachheit fasziniert mich bis heute am meisten.

Sie lautet: Für die innere Ruhe muss man sich entscheiden und sich dann auf den Weg zu ihr machen.

Lassen wir den Satz einmal wirken:

Innere Ruhe ist eine Entscheidung.

Ein Prozess namens Ruhe

Ruhe ist kein Zustand. Sie beginnt mit einer Entscheidung und endet nie.

Was für eine Nachricht. Die innere Ruhe ist etwas Überlegtes; etwas, das bedacht werden kann. Wie Goethe es meinte, als er es in Wilhelm Meisters Lehrjahre schrieb: »Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste.«

Weitergedacht bedeutet das auch: Innere Ruhe kann man nicht üben, man kann sie sich nicht antrainieren, man kann sie weder herbeibeten noch inhalieren.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, nichts gegen Meditation und Atemtechniken. Sie sind, um es ganz unwissenschaftlich auszudrücken, gute Methoden, um die Affenhorde im Zaum zu halten, die sich in unseren Gehirnen von Synapse zu Synapse schwingt. Aber diese tiefe Ruhe, von der ich spreche, kann man nicht ersitzen und nicht eratmen.

Kurzfristig schon, durch oftmaliges Wiederholen lässt sie sich auch verankern. Aber für eine nachhaltige Veränderung der eigenen Lebenseinstellung braucht es die Entscheidung zur Ruhe. Ohne sie als eigentliches Ziel ist Meditation ein super Gimmick, aber nicht mehr. Denn die innere Ruhe ist keine kurzfristige Pause, sie ist ein langfristiger Prozess.

Es besteht ein Unterschied zwischen dem Bemühen, sich zu beruhigen, und der inneren Ruhe. Sie ist ein scheues Gut. Je mehr man ihr nachläuft, desto weiter entfernt man sich von ihr. Sich um sie zu bemühen, hat genau den umgekehrten Effekt, weil das Bemühen an sich schon wieder Unruhe ist. »Glücklich leben, mein Bruder Gallio, wollen alle«, schrieb schon Seneca, ein Vertreter des Stoizismus, dem wir noch öfter begegnen werden, in seiner Schrift De vita beata, Vom glücklichen Leben, »aber wenn es darum geht, zu durchschauen, was es ist, das ein glückliches Leben bewirkt, dann ist ihr Blick getrübt; und so schwer ist es, ein glückliches Leben zu erreichen, dass jeder sich umso weiter von ihm entfernt, je hastiger er zu ihm hineilt – wenn er sich im Weg geirrt hat.«

Bemühen Sie sich nicht um die Ruhe, entscheiden Sie sich dafür. Und halten Sie diese Entscheidung dann am Leben. Jeden Tag aufs Neue.

Das ist mein Rat, den ich jedem, der ihn annehmen will, in diesem Buch geben will. Zweihundert Seiten, um eine Entscheidung zu treffen, denken Sie jetzt vielleicht, dann kann sie nicht ganz so einfach sein, wie er tut. Und auf eine Art haben Sie damit auch recht.

Es klingt so einfach: Entscheide dich. Und wenn man es geschafft hat, war es das auch. Es war einfach, wie alles, was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wenn man sie in sich fühlt, die innere Ruhe, sie als Teil von sich selbst wahrnimmt, fragt man sich, warum man so lange dafür gebraucht hat, sie sich anzueignen. Und wo man auf dem Weg zur Entscheidung so viel Zeit verplempert hat.

Entscheidung. Das klingt nach einem Moment. Okay, gut, beschlossen, bitte sehr, mach ich. Wie schwierig diese einfache, aber immer wiederkehrende Entscheidung ist, füllt tatsächlich die Seiten dieses Buches. Es ist ja nicht so, dass ich vor alle anderen Heißläufer dieser Erde hintreten und ihnen sagen kann: Wisst ihr was, liebe Rastlosen und Choleriker, seids einfach ab jetzt innerlich ein bisserl ruhiger.

Sich wirklich, tief im Inneren für etwas zu entscheiden, ist eine der schwierigsten Aufgaben im Leben. Und ich meine jetzt nicht so große Lebensentscheidungen, wie ich sie getroffen habe. Auf die Größe kommt es auch bei Entscheidungen oft gar nicht an. Manchmal gelingt es uns schon nicht, in der Früh den roten statt den blauen Pullover anzuziehen oder beim Italiener lieber Pasta als Fisch zu bestellen. Oder vielleicht doch umgekehrt? Naja, mit dieser Wahl werde ich Sie auch weiterhin allein lassen.

Die Entscheidung für die innere Ruhe, von der ich rede, trifft man eine Etage drüber, im Innenflügel des eigenen Ichs. Und es wohnt ihr eine ernsthafte Endgültigkeit inne. Nicht bloß ein Will-haben, sondern ein starkes Wollen. Ein Sehnen. Bloß ein feiner Unterschied, denkt man vielleicht. Aber von fein kann keine Rede sein. Der Unterschied ist immens.

Etwas haben zu wollen ist etwas Schnelles, Flüchtiges. Dutzende Male am Tag dahingesagt, gleich darauf auch wieder vergessen. Ich will einen Burger, eine ehrliche Antwort, den Weltfrieden. Eine schöne Vorstellung, einen Euro in die Wunschbox, danke. Aber selbst wenn wir bekommen, was wir da gerade wollen, sind wir innerlich nicht ruhiger. Im Gegenteil. Meistens wollen wir umgehend das Nächste. In meiner Biografie war das Wollen immer ein Sehnen. Etwas, das man ersehnt, hat eine andere Halbwertszeit. Es ist was fürs Leben.

Deshalb ist innere Ruhe auch kein Zustand, sondern eben ein Prozess. Ein exklusiver Wunsch. Etwas, das anhält, wenn man es nährt und pflegt. Lebensruhe. Und genau das macht sie für uns so widerspenstig. Seltsam, nicht? Dass sich akkurat das Ruhigste, was wir als Menschen erreichen können, so wendig unserem Zugriff entzieht. Ausgerechnet in unserer Zeit des schnellen Vorlaufs, in der wir sie am meisten brauchen, ist sie am wenigsten greifbar. Die Geschwindigkeit, in und mit der wir leben, erscheint wie der größte Fressfeind der inneren Ruhe. Kaum versuchen wir, sie dem Tempo in den Weg zu schieben, schnapp, schon wird sie zurückgebissen. So kommt es uns zumindest vor.

Ich kann Sie beruhigen. Die innere Ruhe lässt sich gar nicht wegbeißen. Sie lässt sich nicht verschieben, nicht verdrängen, nicht verwandeln. Sie ist da und wartet, bis wir für sie bereit sind. Dort, wo sie wohnt, bleibt sie auch. Und dort kommt das Tempo gar nicht hin. Es rauscht draußen vorbei, während sie gelassen in der inneren Burg sitzt, dem Reich, in dem sie herrscht.

Innen und außen, das sind aus der Perspektive der Ruhe gesehen zwei Welten. Zwei Welten mit komplett unterschiedlicher Wetterlage. In der einen ist es gemütlich warm, in der anderen empfindlich kalt. Innen das wärmende Gefühl der Sicherheit, das Vertrauen, die Geborgenheit. Außen die frostigen Stimmen des Zweifels, die Macht der Überforderung, die Möglichkeit der Scham.

Wenn innen alles stimmig ist, zweifelt man nicht, man ist nicht überfordert und man schämt sich nicht für sich. Ich weiß das, ich bin in meiner inneren Burg gesessen, als mich alle vom Medizinstudium und von der Ausbildung zum Psychotherapeuten abhalten wollten, und hab mir die Hände an den offenen Burgfeuern gewärmt. Hätte ich auf die Stimmen im Außen gehört, hätte mich die Unentschlossenheit gelähmt und ich hätte keinen Fuß in eine Uni gesetzt. Es klang ja nicht unplausibel, was mir die anderen sagten, und die Stimmen hallten in mir nach: Du hast dir etwas erarbeitet, das wirst du doch nicht aufgeben. Du bist Ende zwanzig, da wirst du doch nicht von vorn anfangen. Du kriegst jeden Monat dein Geld, das wirst du doch nicht gegen einen Kredit eintauschen, bei dem du jeden Monat zahlst für eine Zukunft, die sich vielleicht nicht auszahlt. In Wahrheit sagten sie es etwas simpler: Sei uns nicht bös, Michi, aber bist du eigentlich komplett deppert, wenn du von Ö3 weggehen willst?

Die Ansicht leuchtet einem ein, wenn man gerade nichts anderes hat als Schulden und sonst nur das Vertrauen in einen Traum. Und trotzdem war ich mir meiner Sache so sicher. Wann immer die Stimmen aus dem Außen in meine Burg drangen, lief derselbe Film vor mir ab. Wie großartig wird das sein, wenn ich den letzten Schein dieser endlosen Prüfungsorgien in der Hand habe. Ich konnte spüren, wie sich das anfühlt, wie dieses Papier in meinen Fingern knisterte und mir zuflüsterte, dass die Zukunft mir gehörte.

Und dieses Gefühl konnte ich selbst in den schwierigsten Zeiten abrufen. Wenn mir das Geld vorne und hinten ausging. Wenn ein Freund, der zweimal im Jahr nach Ibiza flog, mich fragte, ob ich mitkommen wollte. Natürlich wollte ich.

Ich habe die Schirmchen-Cocktails auf den Partys der Insel praktisch schon geschmeckt, aber noch deutlicher habe ich den letzten Prüfungsschein in der Hand gespürt und sein Flüstern gehört. Sobald die Entscheidung getroffen war, war ich sicher, ihrer und meiner. Die Wege, die ich wählte, ging ich ruhig, weil ich sie nicht infrage stellte.

Nicht fürchten, wie es weitergeht. Nicht grübeln, wo man in fünf Jahren sein wird. Ja, ich weiß, das widerspricht so manchen Seminaren für aussichtsreiche Lebenspläne. Trotzdem bleibe ich dabei. Nicht fürchten, nicht grübeln. Wenn man am Ziel angelangt ist, kann man immer noch überprüfen, ob das, was man erreicht hat, ausreichend ist, und sich gegebenenfalls auf einen neuen Weg machen. Beliebig oft geht das nicht, weil es energetisch sehr aufwendig ist, aber beliebig oft ist es auch nicht nötig. Denn innere Ruhe heißt auch, zu sich zu stehen.

Sie zweifeln?Dann haben Sie sich noch nicht entschieden.

Sie sehen schon, dass das kein wissenschaftliches Buch wird. Es wimmelt hier nicht von Studien in Fachchinesisch, was das betrifft, sehe ich mich eher als Ihr Übersetzer ins allgemein Verständliche. Überhaupt möchte ich mein Wissen nicht glänzen lassen. Ich möchte nicht beeindrucken, ich möchte, dass Sie das Wesen der inneren Ruhe besser verstehen und sich auf den Weg zu ihr machen können. Natürlich habe ich meine wissenschaftliche Expertise, mich des Themas anzunehmen. Ich habe meine fachärztliche Kompetenz und bin aus Erfahrung firm in der Sache. Ich habe auch Mittel zum Zweck, Techniken und Tools, die Ihnen helfen können. Aber ich habe kein fertiges Training, um zu dem vorzudringen, was jeder von uns in sich hat. Ich habe keine Standardübungen, mit denen man sich die höchste Form der Kontemplation erarbeitet. Ich habe schon gar keine Tipps, wie Sie schneller zur Ruhe kommen, sich stärker entspannen und sich effizienter erholen. Mit Power-Gelassenheit habe ich nichts am Hut.

Wir leben in einer Zeit, die alles und jeden optimiert. Man will uns besser machen, und zwar jetzt. Man will uns schneller machen, und zwar rasch. Man will uns ruhiger machen, und zwar sofort. Mitunter sind wir durchaus schnell zufrieden mit den flotten Lösungen, wenn auch nur kurzfristig. Der Markt ist überschwemmt von Apps mit Achtsamkeitsübungen und zum Runterkommen, wir gehen unter in Calm-Angeboten und Einschlaf-Hilfen. Um die innere Ruhe anzulocken, ist da wenig dabei. Denn solange wir dafür ein Smartphone in der Hand haben müssen, zeigt sie sich gar nicht. Das Smartphone hat keinen Bezug zum analogen Hier und Jetzt. Die digitale Welt mit ihrer ganzen Echtzeit-Attitüde zerstört das Hier und Jetzt. Man kann es nicht digital nachbilden, man kann es nur spüren.

Anders gesagt: Einmal hinsetzen und durchschnaufen ist etwas existenziell anderes als innere Ruhe, die einen über den gesamten Lebensweg hinweg begleitet. Für so einen Prozess fehlt uns meistens schlicht die Geduld. Geduld ist keine gefragte Fähigkeit in einer Welt, in der man selbst in der Nachhaltigkeit nach schnellen Erfolgen sucht.

Egal was, wir können’s nicht erwarten.

Erwartung ist ein Wort, an dem man sich ganz leicht die Zunge verbrennt, insbesondere, wenn es um die innere Ruhe geht. Erwartungen sind per se etwas Unruhiges. Auch sie galoppieren über das Hier und Jetzt hinweg ihrem Ziel entgegen, das immer in der Zukunft liegt. Kaum treten sie ein, sind sie Geschichte, von der Realität überholt. Treten sie nicht ein, verwandeln sie sich in Enttäuschungen.

Wir haben jede Menge dieser Erwartungen, auch wenn wir die wenigsten davon brauchen können. Wir haben Erwartungen, die wir selbst an uns stellen, und Erwartungen, die an uns gestellt werden. Folgen wir dem Druck, sind wir überfordert. Folgen wir ihm nicht, auch.

Dem Druck auszuweichen, ist erst recht irreführend. Denn es führt uns immer weiter von uns selbst weg. Wir sollen sein, wie andere uns wollen. Etwas Unruhigeres kann sich unser Inneres gar nicht vorstellen. Irgendwann schämen wir uns dann auch noch dafür, nicht so sein zu können, wie wir sein sollten. Mir hat da immer die Sicht der Philosophie gefallen, die den Menschen im Zweifelsfall wünscht, sich lieber vor sich selbst zu schämen, als die Angst zu haben, sich vor anderen schämen zu müssen.

Zu sich zu stehen, ist eine Kunst, die beruhigt.

Ich habe in den Jahrzehnten meiner Arbeit noch keinen Menschen kennengelernt, der in sich ruht und gleichzeitig damit beschäftigt ist, einer, noch dazu immer schneller vergänglichen, Öffentlichkeit etwas vorzuspielen. Philosophisch betrachtet, besteht das Heilmittel gegen die Überforderung darin, dass wir dem leidvollen Überdruck die Geborgenheit der inneren Burg entgegensetzen.

Wenn Sie zur Ruhe kommen, wird die Ruhe zu Ihnen kommen.

Moment, denken Sie jetzt vielleicht, da stimmt etwas nicht mit der Reihenfolge? Muss nicht die Ruhe zuerst zu mir kommen, damit ich zur Ruhe kommen kann?