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Wir alle sind Reisende. Reisende durch das Leben mit all seinen Stationen. Reisende durch die Welten – vom Diesseits zum Jenseits. Um grenzüberschreitend reisen zu können, braucht es einen Pass. Den Pass für diese Reise tragen wir alle von Geburt an in uns. Eine Einladung unseres Schöpfers, zurück nach Hause zu kommen. Eine Stimme, die uns den Weg weist: unseren ganz persönlichen Kom(m)pass! Dieses Buch ist die Frucht eines inzwischen immerhin neunundvierzigjährigen Lebens an der Hand meines Herrn und der Erfahrungen, die ich auf diesem Wege sammeln durfte – darunter ein insgesamt sechseinhalbjähriges Studium der arabischen Sprache, der Islamwissenschaften und des islamischen Rechts, eine intensive Beschäftigung mit dem Koran, mit diversen Korankommentaren/-exegesen und anderen islamischen Werken sowie meine Übersetzertätigkeit auf dem Gebiet islamischer Literatur. Möge Allah (ﷻ) die unweigerlich dennoch enthaltenen Fehler vergeben und jeden Leser vor ihrem potenziellen Schaden bewahren! Amin!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
KOMMPASS
Sandra Göbel
Impressum:
Titel: Kommpass
1. Auflage 2023,
Herausgeber: Astrloab Verlag, Ersin Süngü, Kölner Str.371,40227 Düsseldorf
Die Urheberrechte sind bei der Autorin: Sandra Göbel
Lektorin: Sylvia Samira Mittendorfer
ISBN: 978-3-948139-90-2
Buchumschlag: Mohamed Mesbahi
Buchsatz: bookindesign.com
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Herausgeber: Astrolab Verlag Düsseldorf
Es war der Tag, an dem ich starb, oder doch fast, vor inzwischen neunundvierzig Jahren, an dem mein eigentliches Abenteuer erst losging. Zwar war der erste Schock groß – immerhin fand ich mich in einer völlig fremden Welt, an Bord eines Schiffes mit recht rauen Gesellen wieder –, aber verhältnismäßig schnell gewöhnte ich mich an diese neue Umgebung. So wie an die Reise, die nun für mich so unerwartet begann.
Es dauerte nicht lange, da stellte ich sogar fest, dass mein neues Dasein durchaus seine schönen Seiten hatte. Das Schiff ließ sich lustig mit der Strömung treiben, die es sachte, aber doch merklich, in Richtung Heimathafen zog. Einem Ziel, dem noch dazu mein ganzes Sein – ich spürte es deutlich – sehnsüchtig entgegenstrebte. Das Wetter war günstig. Angenehme Brisen strichen über Deck, die Luft roch salzig, und die Sonne sandte ohne Unterlass ihre wärmenden Strahlen. Die leise an die Bordwand plätschernden Wellen schaukelten uns sanft voran, die Besatzung sorgte mit ihrem Gesang für gute Stimmung und mit gekonnten Handgriffen für eine reibungslose Fahrt, und ich war der Ehrengast. Ab und zu schaute der Kapitän vorbei, beriet sich mit mir über den Kurs und hielt einen freundlichen Plausch mit mir. Alles war so herrlich im Einklang. Ich gab mich hin.
Die ersten kleineren Turbulenzen traten zunächst noch kaum merklich auf. Eine einzelne Welle, die mit stärkerem Nachdruck gegen die Bordwand klatschte als alle anderen. Vereinzelt mal eine heftigere Brise, die die Segel unerwartet in eine andere Position ausschlagen ließ. Kleinere Strudel bildeten sich und verlangten dem Steuermann einiges Geschick ab. Mit der Zeit jedoch konnte man die Augen nicht länger davor verschließen, dass das Klima sich änderte. Und mit ihm die Stimmung an Bord. Es kam – innerlich wie äußerlich – zu regelrechten Unwettern, und es dauerte nicht lange, bis das Schiff deutlich von seinem Kurs abgekommen war.
Ich empfand einen tiefen Schmerz. Als ob das unsichtbare Band, das mich unserem Ziel förmlich entgegenzuziehen schien, plötzlich so stark gespannt wurde, dass es zu zerreißen drohte. Ich musste etwas unternehmen, und das tat ich. Energisch nahm ich mir den Kapitän vor. Eindringlich erinnerte ich ihn daran, unseren Zielhafen auf keinen Fall aus den Augen verlieren zu dürfen, und erklärte ihm mit Nachdruck, warum es für mich schier unerträglich und darüber hinaus genauso wenig in seinem Interesse war, dass wir uns von ihm entfernten und in eine falsche Richtung abdrifteten. Zum Glück ließ er sich schließlich davon überzeugen, den Kurs zu korrigieren. Und eigentlich erst ab da nahmen wir so richtig Fahrt auf, der Wind blies kräftig in die Segel, und es schien, als könnte kein Wölkchen den Himmel mehr trüben. Alles war wieder im Einklang. Und ich gab mich hin.
Nun, diese Wende ist siebenundzwanzig Jahre her. Die heutige Lage stellt sich so dar, dass wir gestrandet sind. Aufgelaufen auf einer Sandbank. Es geht nicht vor und nicht zurück. Zu viel Ladung wurde unterwegs aufgenommen, darunter zu viel nutzloser Ballast, der für immer mehr Tiefgang sorgte. Mir hat man zwischen all der Fracht kaum noch Bewegungsraum gelassen, und schon lange hat der Kapitän nicht mehr nach mir geschaut. Ich fühle mich wie ein Gefangener, bin schwach und matt. Wenn ich es nicht bald schaffe, ein zweites ernstes Wörtchen mit ihm zu reden, weiß ich beim besten Willen nicht, wie das noch enden soll!
— Käpt’n? Haaallooo! Käääpt’n!
— Ruft da nicht jemand? Mir ist, als hätte ich eine Stimme gehört. Aber, ach … Ya Rabb! Was ist bloß passiert, was ist los mit mir? Ich verstehe die Welt, verstehe mich selbst nicht mehr. Schon lange bin ich nicht mehr die Alte, habe ich mich in jemanden verwandelt, der mir völlig fremd ist. Du siehst ja selbst, etwas hält mich so fest umschlungen, dass es mir nahezu den Atem raubt. Wie eine dunkle Wolke, die auf mir lastet. Ich sehe die Welt und das Leben nur noch wie durch einen trüben Schleier und frage mich, wo all meine Unbeschwertheit, meine Fröhlichkeit hin verschwunden sind?
Ich suche Zuflucht in den fünf Zeiten unserer täglichen Begegnung, doch ehrlich gesagt bieten sie mir selten nur noch Erfrischung. Viel zu oft stehe ich aus dem Gebet auf und fühle mich genauso leer wie zuvor. Trostlos. Mein Flehen scheint nicht höher als bis zur Zimmerdecke aufzusteigen – wenn überhaupt. Vergib mir, aber so fühlt es sich nun einmal an! Meditiere ich über Deine schönsten Namen, ist es nur meine Zunge, die sich bewegt, doch mein Innerstes scheint davon seltsam unberührt zu bleiben. Nicht einmal Deine Worte kommen noch bei mir an. Sie durchdringen einfach nicht den Panzer, den ich innerlich angelegt zu haben scheine. Sehnsüchtig warte ich darauf, Dich wieder zu mir sprechen zu hören, doch viel zu oft bleiben es – wie Du am besten weißt – einfach nur Worte, die an mir vorüberplätschern.
Ich blicke um mich, und nahezu jeder Mensch, den ich sehe, scheint mir genauso bedrückt, überschattet von seiner eigenen Wolke. Die einen mehr, die anderen weniger gebeugt, schleppen sie sich durch die Tage. Ein Gefühl von Einsamkeit, Isoliertheit greift um sich und saugt wie ein Vakuum alles um sich her auf. Und so lassen wir uns treiben, kraft- und mutlos.
Dabei war es mal so anders. Ich weiß noch, wie ich als Kind und Jugendliche ganz selbstverständlich mit Dir als meinem besten Freund an der Seite gelebt habe. Wie ich mit Dir gelacht, geweint und – ja, manchmal auch gestritten habe, verzeih. Würdest Du mir nicht bestätigen können, dass die einzige Frage, die mich immer bewegte, die Frage war: „Bist Du zufrieden mit mir? Ist es so, wie ich es mache, recht?“
Rabbi, Du weißt, wie schmerzhaft der Weg war. Es gab jenen Zeitpunkt, ab dem das Fundament meines gesamten Glaubens zunächst anfing zu bröckeln, nur um schließlich ganz unter mir wegzubrechen. Doch mutig und im festen Vertrauen darauf, dass Du mich schon auffangen wirst, bin ich gesprungen. Ins Leere, wie es zunächst schien, doch letztlich nur in Deine Arme! Du schenktest mir „La ilaha illAllah“. Dankbar nahm ich es an … und startete durch. Alles ergab endlich einen Sinn, alles war so klar, so unzweifelhaft, so …
Warum aber dann jetzt bloß dieser förmliche Zusammenbruch? Wieso bin ich innerlich plötzlich so verhärtet? Obwohl – kommt das wirklich so plötzlich? Ist dies nicht vielmehr das Ergebnis einer schleichenden Entwicklung – doch wann, wo und warum hat sie eingesetzt? Und wieso bieten mir ausgerechnet jene Momente, in denen jeder Gläubige doch eigentlich auftanken, seinen ganzen Kummer abladen sollte, keine Kraft, keinen Trost mehr? …
„Sie kennen einen äußeren Anschein dieses Lebens hier auf Erden, doch vom Jenseits haben sie nicht die geringste Ahnung. Ja, sind sie denn nie einmal tief in sich gegangen und hätten nachgedacht? Allah hat die Himmel und die Erde und alles, was zwischen ihnen ist, nur zu einem Zweck erschaffen, der mit Recht und Wahrheit zu tun hat, sowie auf eine festgelegte Frist hin. Doch leider wollen viele Menschen nichts von der Begegnung mit ihrem Herrn wissen.“
Sure 30:7-8
— Gut, dass du dir endlich diese Fragen stellst! Es wird aber auch allerhöchste Zeit!
— Huch, hast du mich erschreckt! As-salamu alaikum, Ruh.
— Wa alaikumus-salam wa rahmatullahi wa barakatuh, Käpt’n.
— Wie schön, dass du dich mal wieder meldest! Hättest dir keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Ist recht lange her, unsere letzte Begegnung. Aber sag: Warum klingt deine Stimme so fern, so dumpf?
— Na, wenigstens erkennst du mich noch, deinen Lebensatem, jenen Hauch, den dein Schöpfer dir eingehaucht hat1 – und dem du zurzeit allerdings ganz schön die Luft abschnürst. Dass ich mich so fern und dumpf anhöre, hat genau mit den Fragen zu tun, die du dir soeben gestellt hast. Du hast uns ganz schön auflaufen lassen, meine Liebe, mich viel zu tief vergraben. Aber nun, wo du mich endlich überhaupt wieder wahrnimmst, lass uns die Gelegenheit nutzen. Schenk mir für eine Weile deine Aufmerksamkeit, und ich werde dich in einige Geheimnisse deines Innenlebens einweihen, die dir erlauben werden, wieder neue Fahrt aufzunehmen. Mit Allahs Erlaubnis natürlich nur, ohne die nichts geschieht.
— Klingt vielversprechend. Was muss ich dazu tun?
— Komm durch die Tür deines Herzens zu mir. Anders wird es nicht funktionieren. Zu lange hast du dich nach außen orientiert, bist anderen Schiffen hinterhergefahren, hast Ballast aus Vorträgen und Büchern angehäuft, der manches Mal viel zu schwer für dich war. Dein ganzes Weltbild, ja, selbst deinen Glauben hast du auf Fundamenten aufgebaut, die von außen an dich herangetragen wurden – und bist letztlich nun hier auf der Sandbank gestrandet. Nun ist es an der Zeit, dich wieder nach innen zu orientieren. Denn hier bin ich, deine innere Stimme mit einer persönlichen Einladung deines Schöpfers an dich. Jener Bestandteil von dir, der untrüglich auf den Ziel-, nämlich unseren Heimathafen ausgerichtet ist. Ich kann dir helfen, uns aus dem Schlamassel herauszumanövrieren. Komm nur, ich habe dir so einiges zu sagen.
— Ich möchte ja gern, aber wie komme ich durch die Tür meines Herzens?
— Indem du zur Ruhe kommst, einfach mal alles ab- und ausschaltest, was stören könnte – Fernseher, Handy … Such dir ein ruhiges Fleckchen, vielleicht sogar draußen, in der Natur, oder wo immer du dich sonst wohlfühlst. Mach’s dir bequem, werde still, ganz still, und horche tief in dich hinein. Das wenigste von dem, was ich dir verraten werde, ist völlig neu für dich. Das Wissen hierüber ist alles bereits in dir, als Samenkörner im Nährboden deines Herzens, die unser Schöpfer durch Seine Worte aufgehen lassen will. Du liest sie jeden Tag, vielleicht ist dir schon einmal aufgefallen, wie oft Er Seine Diener fragt: „Erinnert ihr euch denn nicht?“2 Nun erlaube mir, die Saat zu bewässern, und mit Allahs Erlaubnis wirst du sehen, wie sie anfängt zu sprießen.
— Muss ich dazu das Handy wirklich ganz ausschalten?
— Ja, am besten schaltest du es ganz aus. Solltest du viel öfter mal tun, denn es ist eine wahre Plage, dass du zu beinahe jeder Tages- und Nachtzeit mit irgendwelchen, noch dazu meist völlig belanglosen Mitteilungen bombardiert wirst. Dir ist gar nicht klar, wie viel deiner Kraft und Aufmerksamkeit allein dieser Informationsbeschuss in Anspruch nimmt. Aber das nur am Rande, wir werden, so Allah will, später noch eingehender darauf zurückkommen. Bist du für’s Erste nun so weit?
— Ich denke schon, ja. Bin gespannt, was du mir alles zu sagen hast. Und vor allem, wie mir das dann aus meinem Loch heraushelfen soll.
— Warte nur ab, und lass dich ein. Du wirst es sicher nicht bereuen. Lass uns gemeinsam zurückgehen bis ganz an den Anfang der Reise dieses Lebens und dann nach und nach einige seiner Zweige erkunden. Denn das Leben und somit auch das, was ich dir zu sagen habe, ist keineswegs geradlinig, sondern verzweigt und verästelt sich immer wieder. Wollen wir mal schauen, wo uns unser Gespräch hinführen wird:
Lange vor deiner Geburt und bevor ich deinem lehmhaltigen Körper eingehaucht wurde, existierte ich in der unmittelbaren Gegenwart Allahs (ﷻ). Und zwar in einer Sphäre oder Dimension, zu der Menschen mit ihren fünf Sinnen, mit denen sie die physische Welt wahrnehmen, keinen Zugang haben und die sich daher per se jeglicher Beschreibung durch menschliche Worte entzieht. Allah (ﷻ) nennt sie al-Ghayb, und so will ich sie daher auch nennen. Es ist eine Sphäre, die raum- und zeitlos ist und die das gesamte Universum sowie alle Universen, die es neben diesem noch geben mag – Allah (ﷻ) nennt sie allesamt ad-Dunia, das Niedere –, in sich einschließt, sie förmlich durchdringt.
— Halt mal eben, stopp! Du hast tatsächlich bei Allah (ﷻ) gelebt? Du kannst das nicht einfach so sagen und dann weiterreden, als ob das das Normalste der Welt wäre! Mein Leben lang arbeite ich an meiner Beziehung zu Ihm, versuche ich, Ihm nahe zu sein – und jetzt sagst du mir, dass du Ihn sozusagen persönlich kennst?! Das ist … das ist so groß!
— Groß? Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist. Andererseits – welches Wort wäre schon passender? In jedem Fall ist es unter anderem ein Grundstein jener Geheimnisse, die ich dir hier nach und nach aufdecken möchte. Und ich kann dir verraten, dass die Trennung von Ihm der schlimmste Schmerz meiner Existenz war und immer noch ist! Es fühlte sich an wie Sterben.3
— Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Es ist diese nagende Sehnsucht, die ich in manchen stillen Momenten verspüre, oder? Die mir manchmal, mir nichts, dir nichts, die Tränen in die Augen treibt. Das bist dann wohl du, der in mir weint, was? Wie hältst du das nur aus? Für dich transzendentes Geschöpf muss dieser Schmerz in meinem lehmig-zähen Körper ja nahezu unerträglich sein, wenn er für mich, durch die dicke Lehmschicht hindurch, schon immerhin noch ab und zu wahrnehmbar ist!
— Ich kann es nur dadurch aushalten, dass Er mich jede Nacht für einen winzigen Bruchteil einer Sekunde zu Sich holt. Und es hilft natürlich auch enorm, je mehr ich mit Seinen Worten gefüttert werde, je inniger du mich in Gebet und Meditation Ihm entgegenfliegen lässt und je öfter du – wie im Ramadan oder auch mit jedem freiwilligen Fastentag – die Bedürfnisse der restlichen Besatzung mal hintanstellst. Grundsätzlich bin ich ausschließlich darauf programmiert, zu Ihm zurückzuwollen! Deshalb musste ich damals, als wir völlig vom Kurs abgekommen waren, so energisch auf die Pauke hauen, du erinnerst dich.
— Und ob ich mich erinnere! Ganz schön rebellisch bist du damals geworden. Aber letzten Endes ja in unser beider Interesse, Allah sei Dank! Doch was hat es nun wieder mit deinen allnächtlichen Ausflügen auf sich? Moment mal! Hieße das nicht eigentlich sogar, dass ich jede Nacht sterbe?
— Ja, das tust du.4 Für einen kaum messbaren Bruchteil einer Sekunde lang.
— Jetzt mach aber mal halblang! Das ist ganz schön erschreckend! Der Tod ist so ein, nun ja, so ein unangenehmes Thema irgendwie.
— Unangenehm? Das muss es nicht sein. Unausweichlich, das trifft es wohl eher. Schließlich steuern wir seit deiner Geburt dem Tod unaufhaltsam entgegen. Letzten Endes jedoch ist der Tod wiederum nur mein, nein, unser Heimkommen zu dem, den allein wir über alles lieben. Was du mit „La ilaha illAllah“ übrigens faktisch zum Ausdruck bringst – wenn auch oft nur noch recht routinemäßig.
— Ach ja? Das ist mir aber neu. Bisher habe ich, ehrlich gesagt, durch „La ilaha illAllah“ lediglich meinen Glauben an Ihn bekannt, das ja! Aber meine Liebe?
— Nun, faktisch ist „La ilaha illAllah“ seiner sprachlichen Urbedeutung nach aber eben nicht nur ein Glaubensbekenntnis, sondern darüber hinaus eine wahrhaftige Liebeserklärung! Denn „ilah“ leitet sich von dem Verb „aliha“ ab, und das bezeichnet ursprünglich die klagenden Töne, die ein frisch entwöhntes Kamelfohlen ausstößt, wenn es sich nach seiner Mutter sehnt. Dementsprechend ist der „ilah“ also Gegenstand dieser herzzerreißenden Sehnsucht, und du bezeugst in Wahrheit: „Es gibt niemanden, auf den sich meine tiefste Sehnsucht, mein instinktivstes Streben richtet, außer Allah!“5
— Oh wow! Das wusste ich nicht. Wie schön! Und auch, dass du sagst, der Tod sei doch eigentlich nur unser Heimkommen zu dem, den allein wir über alles lieben ... Also du, der du Ihn kennst, du sagst auch, dass man gar nicht anders kann, als Ihn zu lieben?
— Ich wüsste zumindest nicht, wie man Ihn nicht lieben könnte! Er ist die vollkommene Schönheit, Er ist reines Licht, reine Liebe, reine Güte und Barmherzigkeit. Er ist … ach, wie könnten Worte Ihn schon beschreiben. Ich vermisse Ihn so unendlich!
— Bitte weine doch nicht, Ruh. Du weißt, auch wenn ich manchmal natürlich trotzdem Mist baue, gebe ich aber dennoch grundsätzlich mein Bestes, um dich Ihm unbeschadet „zurückzuerstatten“, sozusagen.
— Ja, das weiß ich in der Tat. Entschuldige, manchmal überwältigt’s mich halt. Aber lass uns den Faden meiner Erzählung nicht verlieren. Wir waren bei meiner Existenz im Ghayb. Dort gab es einen Moment … wobei Moment wiederum ein irdischer Begriff ist, der auf al-Ghayb genau genommen keine Anwendung hat. Was übrigens auch dafür gilt, als ich von „lange vor deiner Geburt“ sprach. Nur, irgendwie muss ich mich ja annähern. Es gab also diesen „Moment“, in dem Allah (ﷻ) sämtlichen Menschen, also auch dir, ein Bekenntnis abgenommen hat. Nämlich das Bekenntnis, dass Er ihr Herr ist. Ihr einziger Herr, versteht sich! Und jeder einzelne Mensch, auch du, hat dies bestätigt und ist damit einen Bund mit Ihm eingegangen.6
— Ach, echt? Wieso kann ich mich dann nicht daran erinnern?
— Erinnern kannst du dich nicht daran, weil dein Gedächtnis nun einmal an Organe gebunden ist, die nur innerhalb dieser Welt funktionieren. Deswegen ist es unter anderem meine Aufgabe, der ich ja nicht von dieser Welt bin, dich deinen Schöpfer nicht „vergessen“ zu lassen. Dich im wahrsten Sinne des Wortes „auf Kurs zu bringen“ – nämlich auf den Kurs, den Er all Seinen Propheten aufgetragen hat, die Menschen zu leiten, um im Einklang zu bleiben – mit allem. Denn genauso harmonisch, wie die Planeten ihre Bahnen ziehen, wie Tag und Nacht und die Jahreszeiten sich ununterbrochen abwechseln und jede Zelle im Körper eines jeden Lebewesens ihre Arbeit tut, genauso hilft jene Lebensweise, die Er offenbart hat, dem Menschen, sich harmonisch in dieses Konstrukt einzufügen.
Und um dich also auf eben diesen Kurs zu bringen, hat Er mir etwas für dich mitgegeben. Etwas, das Sein letzter Gesandter Muhammad (ﷺ) als Fitrah bezeichnet hat.7 Die Fitrah, das ist sozusagen unser beider Programmierung oder auch Werkseinstellung, dein instinktivstes Wissen, deine vage „Erinnerung“ an jenen Moment deines Bekenntnisses. Etwas, das für dich immer dann ansatzweise spürbar wird, wenn du deinen Alltag mal außen vorlässt, wenn du tief in dich hineinhorchst. Eine innere Unruhe, ein inneres Streben nach Mehr, nach Höherem – in letzter Instanz natürlich nach Ihm (ﷻ). Für dich fungiert die Fitrah im Prinzip als eine Art innerer Kompass. Und der ist von Allah Höchstpersönlich dahingehend kalibriert, wieder zu Ihm zurückzufinden, als gleichzeitig Einladung – wie in „Kom(m)“ steckt – und Passierschein – wie der „Pass“.
— Schönes Wortspiel, haha.
— Danke, danke. Jedenfalls kannst du dich auf diesen deinen inneren Kompass unbedingt verlassen, wenn es darum geht, zwischen all den Untiefen, Riffs und Strömungen unterschiedlicher Meinungen über Seinen Weg nicht die Orientierung zu verlieren.8 Nur leider tust du das nicht. Viel zu oft habe ich den Eindruck, dass du dein Segel schlicht und einfach nach dem Wind richtest. Aber weißt du, nur weil andere um dich her ihren Kurs in eine bestimmte Richtung gesetzt haben, heißt das nicht, dass das auch der Kurs ist, der dich an dein Ziel bringt. Wie kommst du überhaupt darauf, wo du doch deinen eigenen Kompass an Bord hast?!
— Wahrscheinlich ist es, wenn ich ehrlich bin, einfach bequemer so. Noch dazu hat man mich gleich von Beginn an recht eindringlich davor gewarnt, munter meine eigenen Segel zu setzen. Weil ich den Kurs ja schließlich gar nicht kennen könne und mich daher unbedingt auf solche verlassen müsse, die sich besser auskennen. Das klang, damals zumindest, recht plausibel.
— Oder vielleicht ist es auch mit ein Grund dafür, dass wir derzeit so festgefahren sind. Wenn auch sicher nicht der einzige. Weil du soviel Fracht von außen aufgenommen hast, dass unser Kahn immer mehr Tiefgang bekam. Könnte doch sein? Ich meine, natürlich musst du dein Schiff beladen, ganz ohne geht es nun auch wieder nicht. Aber wenn, dann sollte es wenigstens eine Ladung sein, die uns auch weiterbringt – Treibstoff, Nahrung o. Ä. Keine, die nur Ballast ohne jeden Nutzen ist.
— Aber andererseits … Ich meine, außer dir als Träger meiner Fitrah ist da schließlich auch noch eine andere Stimme in mir. Eine Stimme, die eher zur Bequemlichkeit rät. Kann ich wirklich immer so sicher sein, dass es die richtige Stimme ist, auf die ich mich verließe?
— Nun, genau hierfür hat Allah (ﷻ) den Menschen ja schließlich Seinen Koran an die Hand gegeben. Dort erklärt Er recht genau, was Er von Seinen Dienern will und was sie lieber vermeiden sollten. Wenn ich als Träger deiner Fitrah dein Kompass bin, dann dienen der Koran und Seine Vorgaben sozusagen als Landkarte, auf der die Grenzen, innerhalb derer sich ein Gläubiger bewegen sollte, sehr genau abgesteckt sind.
Darüber hinaus hast du aber auch schon selbst ein Schlüsselwort genannt: Bequemlichkeit. Natürlich ist dein Ego faul und will am liebsten alles so weitermachen wie bisher. Und vor allem will es sich nicht über Gebühr anstrengen müssen. Aber in der Regel weißt du vorher, unter anderem eben mit Blick auf die besagte Landkarte, welche Entscheidungen du im Nachhinein bedauern wirst und welche nicht. Oder? Und dieses Wissen sowie eine sichere Kenntnis um Allahs Ge- und Verbote – beides zusammengenommen ist ein ziemlich sicheres Unterscheidungskriterium.
— Hm, verstehe. Aber, au Backe, das bedeutet ja auch, ganz schön viel Verantwortung zu übernehmen.
— Wer hat denn aber gesagt, dass du die Verantwortung für dein Leben und erst recht für deinen Glauben einfach jemand anderem aufhalsen dürftest?
— Gute Frage!
— Na, dann denk mal drüber nach, und lass mich inzwischen weitererzählen von den Anfängen.
— Ja, bitte.
— Angefangen hat die Reise des Menschen außerdem – wenn man in jenen Sphären und Dimensionen also überhaupt von so etwas wie Anfang und Ende sprechen kann – in einem Zustand, der sich ebenfalls per se jeglicher Beschreibung durch menschliche Worte entzieht. Dies bitte ich dich, im Kopf zu behalten, wenn ich ihn hier nun als eine wie auch immer geartete Einheit bezeichnen möchte – eine Einheit, die sich irgendwo zwischen den beiden arabischen Buchstaben Kaf und Nun, nämlich dem göttlichen Schöpfungsbefehl: „Kun!“ – „Sei!“ ansiedelt.
Es handelt sich um eine Einheit der gesamten Schöpfung, die zunächst eine winzige, konzentrierte Masse war, die kraft dieser beiden Buchstaben zur Existenz kam, dann durch sie getrennt und in den hierdurch gerade entstehenden Raum hinein verstreut wurde,9 sich seitdem weiter ausbreitet10 und somit immer weiter voneinander entfernt. Um eine Einheit sämtlicher Menschen, die je waren, sind und sein werden, schließlich teilt Allah (ﷻ) uns mit, dass Er den Menschen aus einem einzigen Wesen, einem einzigen Bewusstsein – Er spricht von Nafs – erschaffen, hieraus ein Gegenstück gemacht und aus beiden dann viele Männer und Frauen entstehen lassen hat.11 Und dass Er den Menschen genauso als eine einzige Nafs wieder erstehen lassen wird, dann, wenn der Zeitpunkt, den Er dafür festgelegt hat, gekommen ist.12
— Mir wird gerade ganz schwindelig. Das habe ich noch nie so gesehen. Dass die gesamte Schöpfung eine Einheit bildet. Obwohl es im Prinzip lediglich konsequent weitergedacht ist, wenn man ja von einem Urknall ausgeht. Dass wir Menschen allesamt von Adam abstammen und daher alle Geschwister sind, ja, das kennt man, das haben wir uns als Kinder schon gesagt. Letztlich lehren alle Offenbarungsreligionen, dass alle Menschen gleich sind und sich allenfalls durch die Innigkeit ihrer Beziehung zu Allah (ﷻ) voreinander hervortun. Aber dass wir auch eins mit der gesamten Schöpfung sind … Wie kann ich mir das vorstellen?
— Nun, natürlich lieber nicht, indem du dich einem Stein oder Fluss gleichsetzt, das mal direkt vorweg. Obwohl – du würdest wohl eher einen Baum wählen … eine Trauerweide vielleicht?
— Hey, du nimmst mich gerade doch nicht etwa auf den Arm?!
— Ein bisschen vielleicht. Ich meine, neunundvierzig Jahre lang in einem Schlingel zu stecken, musste früher oder später mal abfärben. Aber Spaß beiseite. Nur hätte ich nicht gedacht, dass dir das so schwerfällt zu verstehen. Ich meine, immerhin weißt du, dass ein nicht unwesentlicher Teil deiner Beschaffenheit aus dem Material dieser Erde besteht, oder etwa nicht?! Allah (ﷻ) sagt, dass Er den Menschen aus der Erde erschaffen hat, dass Er ihn zur Erde zurückkehren und dann wieder aus ihr erstehen lassen wird;13 dass Er den Menschen aus Lehm14 bzw. aus Ton15 oder sogar fauligem Schlamm16 sowie generell alles Lebendige aus Wasser17 erschaffen hat …
Darüber hinaus ist es aber doch auch einfach so, dass es einen gewissen Draht zwischen dir und Allahs Schöpfung gibt. Bist du nicht schließlich ergriffen von so manchem Schauspiel, so manchem Wunder, das die Natur zu bieten hat? Wenn du die unzähligen Sterne am Nachthimmel betrachtest, den würzigen Duft von Tannennadeln auf einem sonnenbeschienenen Waldboden einatmest, dem fröhlichen Plätschern eines Bächleins oder auch dem tosenden Rauschen der Wellen am Strand zuhörst? Wenn du vom Gipfel eines Berges aus ein atemberaubendes Panorama vor Augen hast? Spürst du nicht eine tiefe Innigkeit, wenn sich dein Kätzchen schnurrend auf deinem Schoß räkelt und dir mit halbgeöffneten Augen lange und intensiv in die Augen blickt? Hast du nicht in solchen Momenten das Gefühl, dein Herz würde dir übergehen, möchtest du nicht die ganze Welt umarmen? Und bringt dich das nicht dazu, Allah (ﷻ) umso ehrfürchtiger anzubeten, Ihm umso inniger zu danken, Ihn umso jubelnder zu lobpreisen? Und wenn du dir dann vor Augen führst, also vor die Augen deines Herzens, dass die gesamte Schöpfung – jeder Berg, jeder Baum, alle Tiere auf Erden, jeder Vogel im Himmel, jeder Fisch im Meer – Allah (ﷻ) unaufhörlich preisen und verherrlichen,18 na, dann reihst du dich mit deiner Anbetung und deinem Jubel lediglich in einen kosmischen Chor ein, bist nichts als ein winziger Teil eines unermesslich großen, nie endenden Gottesdienstes.
Wie intensiv du diese Einheit wahrnimmst, das hat übrigens wiederum mit mir zu tun. Denn je besser du mich nährst, desto stärker werde ich und vermag es nach und nach, deine grob-materielle, lehmhaltige Beschaffenheit zu durchdringen und in gewisser Weise transparenter zu machen. Und dann lösen sich so manche Schranken, die auf materieller Ebene nun einmal zwischen Allahs Geschöpfen bestehen, mehr und mehr auf. Als ob die Schleier einer nach dem anderen fielen. So jedenfalls beschreibt es jemand, dem Allah (ﷻ) bereits sein Zeugnis unterzeichnet hat, ganz schön, wie ich finde. Da, als Er darüber spricht, wie Berge und Vögel gemeinsam mit dem Propheten Dawud (Friede sei mit ihm) ihren Schöpfer lobpriesen. Magst du nicht noch einmal die Stelle suchen, die du letztens darüber gelesen hast? Es war in einem Korankommentar …
— Ja, ich weiß, welche Stelle du meinst. Warte, ich suche sie mal eben heraus … Derweil kannst du mir vielleicht erklären, was du meinst, wenn du sagst, Allah (ﷻ) hätte ihm sein Zeugnis unterzeichnet.
— Nun, das Glaubensbekenntnis am Anfang und der Märtyrertod am Ende des Wegs werden im Arabischen, wie du weißt, mit demselben Wort bezeichnet: Schahada. Da fand ich es einfach einen schönen Gedanken, dass die letzte Schahada sozusagen Allahs Bekräftigung der ersten ist – als ob Er den Vertrag nun Seinerseits gegenzeichne. Zumal Er ja sagt, dass Er es ist, der Sich Seine Märtyrer Selbst aussucht.19
— Hast recht. Ist wirklich ein schöner Gedanke!
Und hier habe ich nun auch die besagte Stelle gefunden:
„So sehr konnte er sich darein vertiefen, seines Herrn zu gedenken und seine Psalmen zu singen, dass sich die Schranken zwischen seinem eigenen materiellen Sein und dem des Kosmos auflösten und sich seine Essenz mit der von Bergen und Vögeln in ihrer aller Verbundenheit mit ihrem Schöpfer, in der Tatsache, Ihn zu rühmen und anzubeten, vereinigte. Und so lobpriesen die Berge mit ihm zusammen, so versammelten sich die Vögel um ihn her, um mit ihm gemeinsam ihren und seinen Herrn zu preisen:
‚Wir machten ja die Berge dienstbar, dass sie mit ihm zusammen abends und bei Sonnenaufgang (Allah) preisen, und auch die (in Scharen) versammelten Vögel. Alle waren immer wieder zu Ihm umkehrbereit‘ ...
Angesichts dessen hält man überwältigt inne. Die leblosen Berge lobpreisen gemeinsam mit Dawud am Abend und bei Sonnenaufgang, wann immer er stille Einkehr zu seinem Herrn hält und seine Psalmen singt, um Ihn zu rühmen und Seiner zu gedenken? Die Vögel versammeln sich zu seinen Melodien, um ihm zuzuhören und in seine Lieder mit einzustimmen? Angesichts dieser Nachricht hält man überwältigt inne, denn das sprengt den Rahmen des Vertrauten, sämtliche Grenzen, die man zwischen der Gattung Mensch, der Gattung Vogel und der Gattung Berg zu kennen glaubte!
Doch warum eigentlich so überrascht? Faktisch sind all diese Geschöpfe in ihrer Wahrhaftigkeit eins. Über all ihre unterschiedlichen Gattungen, Formen und charakteristischen Merkmale hinaus steckt eine gemeinsame Wahrheit, in der sie alle – Belebtes wie Unbelebtes – mit dem Schöpfer des gesamten Daseins zusammenfinden. Wenn das Band zwischen einem Menschen und seinem Herrn erst die Stufe absoluter Reinheit und absoluten Strahlens erreicht hat, lösen jene Schranken sich nach und nach auf. Dann kristallisiert sich die wahre Essenz eines jeden von ihnen klar heraus, und über alle Schranken von Gattung, Form und charakteristischen Merkmalen hinaus, die sie gewöhnlich voneinander unterscheiden, gehen sie eine Verbindung ein!“20
— Genau die Stelle meinte ich. Schön, nicht?
— Absolut! Und tatsächlich kann ich das sogar in gewisser Weise nachvollziehen. Nicht, weil ich dich etwa so gut genährt hätte, dass auf mich dasselbe wie auf den Propheten Dawud zuträfe. Das natürlich nicht! Aber zumindest ansatzweise kann ich erahnen, was deine Worte zu bedeuten haben. Jedenfalls habe ich mich zum Beispiel auch schon mal von einem Regentropfen, den draußen am Fenster ein Sonnenstrahl traf, angezwinkert gefühlt. Oder es gibt Menschen mit einem sogenannten „grünen Daumen“, die einfach ein Händchen für Pflanzen haben und jedes noch so welke Gewächs wieder aufzupäppeln verstehen. Oder Menschen mit einem besonderen Draht zu Tieren. Nicht zuletzt wissen wir ja auch über Muhammad (ﷺ), dass Bäume und Steine ihn gegrüßt haben und dass sogar ein Baumstumpf weinte, als er sich während seiner Freitagsansprache nicht mehr an ihn lehnte, sondern fortan auf seinem Treppchen stand.21 Fahr’ doch bitte fort!
— Nun, auch die Tatsache, dass die Menschen aus einer einzigen Nafs erschaffen wurden, macht in Wirklichkeit noch eine so viel größere Aussage als die, die du genannt hast! Denn wenn die Nafs ja ebenfalls – wie ich – von immaterieller Beschaffenheit und damit genauso wie ich Teil des Ghayb ist, dann bedeutet das letzten Endes doch, dass ein Großteil, wenn nicht womöglich der Hauptteil sämtlicher menschlichen Aktionen und Interaktionen auf einer ganz anderen als der irdischen Ebene stattfindet. Ja, dann sind Menschen sowohl mit dem Sein als auch mit ihren Mitmenschen viel tiefer und inniger verbunden als lediglich durch ihre irdischen Beziehungen, die allein naturgemäß geographischen und vor allem auch zeitlichen Schranken unterworfen sind.
— Willst du damit sagen, dass du und meine Nafs, also zwei Bestandteile von mir sowie von jedem Menschen, dass wir auf metaphysischer Ebene ein einziges großes Netzwerk sind?
— Ganz genau. Ein Netzwerk, das sich von bestimmten Energien speist – nämlich von Emotionen, positiven wie negativen – und dementsprechend auch Energie abgibt. Ich werde später noch ausführlicher darauf eingehen, so Allah will. An dieser Stelle lass uns jedoch nun kurz zusammenfassen, was wir bisher gesagt haben, denn dies bildet sozusagen die Grundlage, von der sämtliche Geheimnisse, die wir miteinander entdecken wollen, sich ableiten:
Wir haben also festgestellt, dass jeder Mensch zwei überirdische Elemente in sich trägt, seinen Ruh und seine Nafs, und hierdurch kontinuierlich mit dem Ghayb in Verbindung steht. Das heißt, selbst wenn er mit seinen fünf physischen Sinnen keinerlei Wahrnehmung vom Ghayb hat und auch nicht haben kann, so ist dennoch sein Ruh der unmittelbare Draht in jene Wirklichkeit. Bei manchen Menschen ist dieser Draht ausgeprägter als bei anderen, je nachdem, wie dick ihre jeweilige Lehmschicht halt ist. Jedenfalls findet dadurch ein Teil der menschlichen Existenz sowie wohl der Hauptteil menschlicher Aktionen und Interaktionen auf einer Ebene statt, die zwar sinnlich nicht erfassbar, aber dennoch sehr real ist und womöglich einen weit größeren Einfluss auf das Leben hier nimmt, als der Mensch das bisher wahrgenommen hat. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: der Mensch der heutigen Zeit, nämlich des materialistischen Zeitalters. Es mag andere Zeiten gegeben haben, in denen der Mensch ein noch etwas ausgeprägteres Gespür hierfür gehabt haben mag.
Außerdem haben wir erfahren, dass Allah (ﷻ) den Menschen zu allen Zeiten ihrer Geschichte den perfekten Weg zu Ihm zurück hat vermitteln lassen. Einen Weg, der die gesamte Welt im Einklang hielte – so sie ihn denn einschlüge. Und dass der Mensch eigentlich alles Wissen, das er braucht, um diesen Weg zu finden und sich nicht auf ihm zu verirren, in Gestalt seiner Fitrah sozusagen eingepflanzt bekommen hat. Weiter sagten wir, dass jeder Ruh durch diese seine Programmierung untrüglich auf das Ziel, nämlich die Rückkehr zum Schöpfer, ausgerichtet ist und dass somit also im Prinzip das gesamte Potenzial des Menschen in ihm selbst steckt und er allenfalls lernen muss, viel häufiger einfach mal in sich hineinzuhorchen, um es zu entfalten.
Und wenn sich dies so verhält, dann eröffnet sich hier ein erster, sehr klarer Ausblick – wie ich finde – darauf, dass die irdische Perspektive, aus der heraus Menschen in der Regel über das Leben nachdenken, eine extrem begrenzte ist. Okay, das an sich würdest du natürlich kaum bestreiten oder auch nur als wahnsinnig neue Erkenntnis betrachten. Allerdings resultiert daraus notwendigerweise, dass das Potenzial, das Menschen mitgegeben wurde, um in diesem Leben zu agieren, weit größer ist, ja, sein muss, als dass es sich lediglich auf das beschränkte, was sie mit ihren Händen aufbauen oder sich auch kraft ihrer Entdeckung und Erforschung der in diesem Universum herrschenden Gesetzmäßigkeiten erschlossen haben! – Was ja bereits ganz schön beachtlich ist, schließlich haben sie es dadurch geschafft, kilometerlange Abgründe zu überbrücken, Wolkenkratzer zu bauen, tonnenschwere Flugzeuge durch die Luft zu bewegen, ja, bis in den Weltraum vorzudringen, die gesamte Computer-/Internettechnologie hervorzubringen, lasergesteuerte Gehirnoperationen durchzuführen etc. etc.! – Aber, nein, dann sind Menschen darüber hinaus mit ganz anderen, nämlich mentalen, Kräften und Fähigkeiten ausgestattet, die ebensolchen klaren und geordneten Gesetzmäßigkeiten unterliegen wie die physikalischen Kräfte. Nur dass der Mensch offenbar genauso vergessen hat, sich ihrer zu bedienen, wie er seine Herkunft selbst vergessen hat. Weshalb sie womöglich völlig verkümmert sind, genauso wie Muskeln atrophieren, wenn sie lange Zeit nicht genutzt werden.
— Ich glaube, so langsam beginne ich zu erahnen, wie groß das ist, was du mir hier aufdecken willst. Und spannend obendrein!
Wo du hier nämlich gerade von mentalen Kräften und Fähigkeiten sprichst, muss ich an Sulaiman (Friede sei mit ihm) und die Königin von Saba denken. Als Sulaiman sein Gefolge fragte, wer von ihnen in der Lage wäre, ihren Thron zu ihm zu bringen.22 Es war, zumindest laut der Meinung der meisten Koranexegeten, ein Mensch, der ihn innerhalb eines Augenaufschlags herbeiteleportiert hat. So würden wir es heute bezeichnen. Das fasziniert mich schon lange, und ich habe mich gefragt, wie er das wohl angestellt hat – allein dadurch, Kenntnis von dem Buch zu haben, wie es im Koran ausgedrückt ist. Aber nach dem, was du hier andeutest, könnte ja eventuell die Kenntnis über solche mentalen Gesetzmäßigkeiten gemeint sein. Womöglich wäre das sogar die Erklärung für die Entstehung all der erstaunlichen Bauten, die Menschen vor tausenden von Jahren, ganz ohne all die technologische Hilfe, die wir heutzutage zur Verfügung haben, errichtet haben?
— Wer weiß, vielleicht bist du da bereits auf einer richtigen Spur. Erlaube mir jedoch, dich an dieser Stelle vorerst zu bremsen, du greifst viel zu weit vor. Lass uns in einem ersten Schritt lieber versuchen, aus dem bisher Gesagten die Gründe dafür zu ermitteln, warum wir zur Zeit so festgefahren sind. Schließlich kann es nicht schaden, die Ursachen zu kennen, und ein Großteil der Erklärung steckt im Prinzip bereits da drin. Auf die mentalen Kräfte und ihre Gesetzmäßigkeiten werden wir dann später zu sprechen kommen. Denn die brauchen wir natürlich, um uns aus dem dunklen Loch wieder heraus ans Licht zu arbeiten, mit Allahs Erlaubnis.
— Ach, schade, ich wollte gerade so richtig in Fahrt geraten! Aber ich sehe ein, dass es Sinn macht, zunächst eine Ursachenforschung zu betreiben. Auch wenn mir – noch – so gar nicht einleuchten will, wie das, was du bisher erklärt hast, dabei helfen könnte.
— Nicht? Nun, eine erste wichtige Ursache liegt vor diesem Hintergrund doch im Prinzip klar auf der Hand: Zwar hat jeder einzelne Mensch seine Fitrah und hat der Schöpfer allen Seins ihm zu allen Zeiten eine Lebensweise vermitteln lassen, die ihn im völligen Einklang mit der gesamten Schöpfung schwingen ließe, aber die heutige Welt spiegelt dies schlicht nicht wider. Die heutige Welt wird vom Kufr regiert. Schlimmer noch, es herrscht ein Wirtschaftssystem vor, das zu einem großen Teil auf Zinsen aufbaut – was letztlich zum Ergebnis hat, dass sich eine ganze Welt im Kriegszustand mit ihrem Schöpfer befindet.23 Umso mehr natürlich aber die, die wissen und daran glauben, dass Er (ﷻ) Zins für tabu erklärt hat, die aber zu schwach sind, dafür zu sorgen, dass dieses System durch eines Seiner Machart ersetzt wird.
Im Gegensatz zu dem, was Allah (ﷻ) dem Menschen als Aufgabe mitgegeben hat, und zu dem, was unser aller Programmierung ist, sind Sein Wort und Sein Dīn eben nicht das Maß aller Dinge, sondern so vermeintlich „fortschrittliche“, nämlich demokratische Werte wie Freiheit und Gleichheit. Jegliche Lösungsansätze für Probleme und Herausforderungen, denen man sich als Individuum oder auch innerhalb einer Gesellschaft gegenübersieht, werden stets daran gemessen, inwiefern sie mit den demokratischen Werten vereinbar sind. Selbst ein großer Teil der Muslime legt inzwischen diesen Maßstab an. Das ist schlicht eine Frage der Prägung – und in nichtislamischen Gesellschaften kann man nun einmal nicht islamisch geprägt werden. Logisch, nicht? Selbst wenn muslimische Eltern sich noch so eine Mühe geben, ist dennoch das gesamte Bildungssystem, die Werbung – alles, womit ihre Kinder außerhalb der Familie konfrontiert werden, eben nicht islamisch.
Eine wahrhaft islamische Gesellschaft hingegen, nämlich eine solche, in der islamische Konzepte, Werte und Prinzipien selbstverständlich das Denken, Fühlen und Handeln der in ihnen lebenden Menschen prägen, gibt es nicht mehr. Nirgendwo auf der Welt. Und dementsprechend leitet sich nichts von dem, was man in den Medien – in Internet, Fernsehen, Radio, Kino, Zeitungen –, in den Schulen und Universitäten oder sonst wo sieht und hört, aus jenen Prinzipien und Werten ab, die jedem Menschen aber doch faktisch zutiefst innewohnen, oder baute auf ihnen auf. Ganz im Gegenteil werden massiv Ideen und Lebensweisen propagiert und vorangetrieben, die ihnen diametral entgegenstehen!
Und das alles nimmst du auf – ob du willst oder nicht. Du hast kaum eine Möglichkeit, dem zu entgehen, wenn du ja nun mal auf irgendeine Weise in das gesellschaftliche Leben eingebunden bist – über deinen Beruf, über die Schule, die deine Kinder besuchen, über Sportvereine oder andere Freizeitaktivitäten etc. Und so fließen über deine Augen und Ohren lauter Bilder und Parolen hier hinein zu mir, die mir und deiner Fitrah völlig fremd, ja, völlig inkompatibel mit uns sind und die noch dazu sämtliche Kanäle, durch die Allahs Balsam fließen sollte, komplett verstopfen. Und die Tatsache, mich zartes Flämmchen, das nur zurück zu seinem Schöpfer strebt, unter solch einem Berg an Sinnlosem, Belanglosem, Erlogenem und mir zutiefst Zuwiderlaufendem schlicht zu ersticken, ist nichts anderes als eine Vergewaltigung! Kufr ist eine wahre Vergewaltigung des Ruh! Ein ziemlich ungesunder Zustand, den du auf diese Weise unweigerlich am eigenen Leib zu spüren bekommst.
— Autsch!
