Kommunikative Kompetenz - Jakob Lipp - E-Book

Kommunikative Kompetenz E-Book

Jakob Lipp

0,0

Beschreibung

Kommunikationskniffe für den Business-Erfolg Verbal oder nonverbal – Kommunikation ist der Schlüssel für erfolgreiche Führung. Und dabei geht es um weit mehr als nur darum, das Richtige zu sagen oder zu verstehen zu geben. Wer erfolgreich kommunizieren will, muss sich vor allem auf das Gegenüber einstellen können und dessen Sicht der Dinge begreifen. Wie das optimal funktioniert, weiß der Mentalist und Kommunikationsexperte Jakob Lipp: Die meisten Menschen senden genügend Signale, die dem aufmerksamen Gesprächspartner binnen Sekunden alle nötigen Informationen liefern. Wie Sie diese erkennen und optimal darauf reagieren, auch wenn die Situation einmal unangenehm ist, zeigt Jakob Lipp in 36 praxiserprobten Tipps.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 246

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

JAKOB LIPP

KOMMUNIKATIVE KOMPETENZ

36 Mentalistenkniffe für Führungskräfte

CAMPUS VERLAGFRANKFURT/NEW YORK

Über das Buch

Kommunikationskniffe für den Business-ErfolgVerbal oder nonverbal – Kommunikation ist der Schlüssel für erfolgreiche Führung. Und dabei geht es um weit mehr als nur darum, das Richtige zu sagen oder zu verstehen zu geben. Wer erfolgreich kommunizieren will, muss sich vor allem auf das Gegenüber einstellen können und dessen Sicht der Dinge begreifen. Wie das optimal funktioniert, weiß der Mentalist und Kommunikationsexperte Jakob Lipp: Die meisten Menschen senden genügend Signale, die dem aufmerksamen Gesprächspartner binnen Sekunden alle nötigen Informationen liefern. Wie Sie diese erkennen und optimal darauf reagieren, auch wenn die Situation einmal unangenehm ist, zeigt Jakob Lipp in 36 praxiserprobten Tipps.

Vita

Jakob Lipp ist vieles: Redner, Mutmacher, Impulsgeber, Autor; zu allererst aber ist er als Mentalist Experte für Kommunikation. Nachdem er mit erfolgreichen Shows halb Europa verblüfft hat, ist er heute vor allem als Keynote Speaker und Coach für Führungskräfte gefragt. Er lebt auf dem Land, wo er sich für Nachhaltigkeit und Artenvielfalt engagiert.

Mehr unter: www.jakoblipp.com

»ES GIBT MUSTER FÜR ALLES IM LEBEN.DU MUSST IHNEN NUR AUFMERKSAMKEIT SCHENKEN.«

JORDAN BELFORT ALIAS THE WOLF OF WALL STREET

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

INHALT

Impressum

INHALT

MITTELALTER KÄSE

AUFMERKSAMKEIT ODER WILDE ERDBEEREN

WAHRNEHMUNG ODER LESEN IM STAND-BY-BETRIEB

BEOBACHTUNG ODER HOLZAUGE, SEI WACHSAM

VERTRAUEN ODER VON FALSCHEN SCHLANGEN

PERSPEKTIVENWECHSEL ODER WANN HABEN SIE ZULETZT AUF EINEM TISCH GESTANDEN?

RESPEKT ODER DAS GRUNDGESETZ DER KOMMUNIKATION

EINSTELLUNG ODER DENKEN WIE COLUMBUS

OFFENHEIT ODER REDEN IST GOLD

EMOTIONEN ODER EINMAL HIRN MIT GEFÜHL, BITTE!

MUT ODER MISSVERSTEHEN SIE MICH BITTE RICHTIG

ÜBERBLICK ODER DIE SPITZE DES EISBERGS IST NICHT DER EISBERG

FÜHRUNG ODER TANZEN MIT WORTEN

KONGRUENZ ODER DIE SCHNITTMENGE ZWEIER BIERDECKEL

ENTSCHEIDUNGSFREUDE ODER KICK IT LIKE KLOPP

MIMIK UND GESTIK ODER KEINE ANTWORT IST AUCH EINE ANTWORT

BEGEISTERUNG ODER FLIEGEN OHNE FLÜGEL

NÄHE ODER BUONA SERA, DOTTORE!

GEDULD ODER DAMIT DER FADEN NICHT REISST

INTERESSE ODER MIT HALBEM ODER GANZEM OHR

SORGFALT ODER VON NACHLÄSSIGKEIT UND FAHRLÄSSIGKEIT

TOLERANZ ODER REDEN UND REDEN LASSEN

FREUNDLICHKEIT ODER DAS LÄCHELN DER MARKTFRAU

AUTHENTIZITÄT ODER DAS GLAUB‹ ICH JETZT NICHT!

HUMOR ODER WITZIG IST SEHR ERNST ZU NEHMEN

EMPATHIE ODER IMMER EINEN SCHRITT VORAUS

INSPIRATION ODER DER BARRIEREFREIE BLICK

VERSTÄNDLICHKEIT ODER REDEN MIT RILKE?

KLUGHEIT ODER BESSER WISSEN ALS BESSERWISSEN

NEUGIER ODER NICHTS WIE RAUS HIER!

KOMPETENZ ODER ÜBERZEUGEND RÜBERKOMMEN

ATMOSPHÄRE ODER DAS NICHT GREIFBARE ETWAS

AGGRESSION ODER YOU TALKIN‹ TO ME?!

IRONIE ODER GANZ DÜNNES EIS

ZEIT ODER ATEMLOS DURCH DEN SATZ

NETZ-KOMMUNIKATION ODER LOL UND LALL

DANKE SAGEN ODER ENDE OHNE PATHOS

ANMERKUNGEN

ÜBER DEN AUTOR

MITTELALTER KÄSE

Ich bin wirklich heilfroh, dass das Mittelalter schon einige Jährchen hinter mir liegt. Ich wäre ob meiner vermeintlich übersinnlichen Kräfte wohl auf dem Scheiterhaufen gelandet oder wie eine Katze in einem stinkenden Sack im nächsten Bach ersäuft worden. »Der hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen!«, so in der Art hätte die Anklage gegen mich lauten können. Weil ich eine Fähigkeit besitze, für die ein in Mentalismus nicht geschulter Mensch auch heutzutage keine Erklärungen hat, wäre ich vor 500 Jahren zuerst ins Visier der Kirche und dann in die Hände weltlicher Richter und deren Handlanger, der Inquisitoren, geraten.

Der Begriff des Mentalisten existierte in den dunklen Tagen des Mittelalters noch nicht. Und natürlich gab es in dieser unaufgeklärten Zeit auch keine Bereitschaft, etwas, das sich beobachten, aber nicht rational erklären oder begründen lässt, anzunehmen. Phänomene, die sich einer wissenschaftlichen Erkenntnis entzogen, waren Teufelszeug. Schlimmer noch: Wissenschaft an sich war Teufelszeug. Menschen wie mich hätte man wahrscheinlich Hexer genannt. Vor allem im Spätmittelalter waren es Frauen, die verbrannt, gerädert, gevierteilt oder ersäuft wurden. Ob Mann oder Frau: Aus heutiger Weltsicht ist das, was damals gängige Praxis war, absoluter Käse – mittelalter Käse sozusagen.

Um es ganz deutlich zu sagen: Nein, ich habe kein Bündnis mit dem Teufel geschlossen, habe meine menschliche Seele nicht für Macht, Reichtum, magische Kräfte oder ähnliche Gaben feilgeboten. Es ist viel unspektakulärer: In meinen späten Zwanzigern habe ich meine Leidenschaft für die Bühne und mein Talent für die Magie entdeckt. Und dann habe ich dieses Talent professionell geschult und konsequent weiterentwickelt. Rund 20 Jahre habe ich als Mentalist auf der Bühne gestanden – über 2 500 Veranstaltungen, Tagungen, Kongresse absolviert, über 1 Millionen Menschen bezaubert. Das Ganze funktionierte deshalb so erfolgreich, weil sich Menschen einfach gerne verblüffen lassen. Im Umkehrschluss heißt das: Als Mentalist benötigte ich die Bereitschaft des Publikums, an Phänomene zu glauben, die sich offensichtlicher Erklärungen entziehen. Und ich, der Mentalist, musste die Erwartungen des Publikums, das überrascht, erstaunt, verblüfft, unterhalten und illusioniert werden wollte, erfüllen. Darin bestand der Pakt.

Die Arbeit des Mentalisten beruht auch heute noch auf einem Vertrag mit dem Publikum, nicht mit dem Leibhaftigen. Es ist ein stiller Pakt, bei dem Vertrauen das verbindende Element ist. Und das haben Mentalmagie und Alltagskommunikation gemeinsam. Beide bauen auf Vertrauen auf. Ohne Vertrauen geht nichts.

Heute trete ich als Keynote Speaker und Gastredner vor ein Publikum, das nur manchmal von meiner »magischen« Vorgeschichte weiß, das ich aber immer an meinem Expertenwissen in puncto »mentale« Kommunikation teilhaben lassen möchte. Das ist im wahrsten Wortsinn meine Gabe, die ich in den Pakt mit dem Publikum einbringe. Und natürlich lasse ich auch manchmal noch etwas Mentalmagie aufblitzen. Es ist wie das Salz in der Suppe meiner Auftritte. Für die einen bin ich dann der Speaker mit außergewöhnlicher Vorgeschichte. Für die anderen der Menschenkenner mit außergewöhnlicher Kommunikationsexpertise.

Ob Speaker oder Menschenkenner – ich bin ein Beobachter, eine Person mit einer nach außen gerichteten Aufmerksamkeit. Ich nehme die Menschen in meiner Umgebung und mein Umfeld schlicht und ergreifend bewusst wahr. Eine Eigenschaft, die heute vielen von uns verloren gegangen ist. Indem ich wahrnehme, was andere nicht oder nicht mehr wahrnehmen, unterscheide ich mich bereits von vielen meiner Zeitgenossen, die eine übersteigerte Selbstaufmerksamkeit zelebrieren. Es ist kein Novum, wenn ich feststelle, dass sie diese überhöhte Selbstaufmerksamkeit pausenlos in Selbstdarstellung umwandeln: Selfies, Facebook, Instagram und Co. sind die Ich-Medien übersteigerter Selbstaufmerksamkeit. Wer aber nur sich selbst sieht, lebt in einer Blase. Er lebt in einer Ego-Gesellschaft, in der sich die Mitglieder dieser Gesellschaft auch gegenseitig gar nicht mehr wahrnehmen. Total paradox. Aber wenn es an Beobachtung und Aufmerksamkeit mangelt, fehlt es an zwei wichtigen Voraussetzungen für Kommunikation und Interaktion. Und diese Voraussetzungen sind nicht nur für den Mentalisten wichtig, sondern sie sind überhaupt von Bedeutung für ein soziales Miteinander; in der Privatheit wie im öffentlichen Leben. Einfach überall, wo Menschen Beziehungen knüpfen oder pflegen, braucht es Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit bestimmt unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein. Aufmerksamkeit ist die wichtigste Voraussetzung, um die Qualität von Kommunikation auf ein höheres Level zu heben.

»Herr Lipp, wie tickt ein Mensch? Ticken wir alle gleich? Und wie schaffen Sie es, so unglaublich viele unterschiedliche Charaktertypen in Ihren Gedankenexperimenten zu knacken? Gibt es einen Generalschlüssel für alle Menschen?« Diese Fragen habe ich in meiner Zeit als Mentalist oft gehört. Vorab nur so viel: Einen Generalschlüssel, um Menschen zu knacken, gibt es nicht. Aber es gibt Verhaltens- und Reaktionsmuster, die eine Generalisierung zulassen. Dazu müssen wir aufmerksam hinsehen. Das wichtigste Tool ist naturgemäß die Beobachtung. Das heißt, wir müssen Menschen wahrnehmen und ihre Mimik und ihre Gesten deuten lernen. Anders gesagt: Es geht darum, das Verhalten eines Menschen zu lesen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Wer das »Menschenlesen« selbst erlernen oder anwenden möchte, für den habe ich vor allem einen Tipp: Weg mit dem Handy! Wer das banal findet, sollte wissen, dass wir im Schnitt fast einhundert Mal am Tag auf unser Mobiltelefon glotzen. Dazu kommen die Aufmerksamkeitsfresser Soziale Medien wie Facebook, WhatsApp, Instagram oder Snapchat: Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 9 und 17 Jahren sind durchschnittlich 2,4 Stunden täglich online. Das geht aus einer Befragung des Hamburger Leibniz-Instituts für Medienforschung1 aus dem Jahre 2019 hervor. Wie soll man da eine Aufmerksamkeit für seine Umwelt entwickeln? Aber nur durch Beobachtung entwickelt man Menschenkenntnis.

Aus Sicht der Gesellschaft ist ein Mentalist eine ungewöhnliche Person mit ungewöhnlichen Fähigkeiten, der sich der Aufmerksamkeit des Publikums dadurch schon fast per se sicher sein darf. Aus der Sicht des Publikums ist er – häufig vereinfacht – ein Mindreader, ein Gedankenleser, der auf der Bühne zu unterhalten und zu verblüffen weiß.

Und wenn ich mich selbst frage: Was bin ich? Dann lautet die Antwort wohl schlicht: Ich bin ein Menschenkenner. Nicht mehr und nicht weniger. Fragen wir uns also: Welchen Nutzen können mein Expertenwissen und meine Erfahrung als Mentalist in der zwischenmenschlichen Beziehung abseits der Bühne für Sie haben?

In diesem Buch geht es nicht vordergründig um Mentalismus. Es geht vielmehr um Kommunikation und Menschenkenntnis sowie um die Frage, wie Sie die Techniken und Mechanismen der Mentalmagie in diesem Kontext für sich positiv nutzen können. Vereinfacht gefragt: Welchen Nutzen kann es für Sie haben, Menschen »lesen« zu können? Dazu gibt es mehrere mögliche Antworten: Wer sich in andere Personen hineindenken kann, wird immer einen Schritt weiter sein. Wer die Gedanken des Gegenübers »lesen« kann, kann Menschen führen, anleiten und in einem positiven Sinne beeinflussen. Er kann Menschen für sich gewinnen. Er kann aber auch Entscheidungen schneller treffen oder in Gesprächen und Diskussionen oder Verhandlungen jeder Art die Führungsrolle übernehmen.

Wenn Sie meinem Buch Aufmerksamkeit schenken und es lesen – wofür ich mich schon jetzt herzlich bedanke –, werden Sie Ihre Mitmenschen zukünftig deutlich besser kennen und verstehen lernen. Und zwar in jeder Lebenslage. Sie gewinnen Kommunikations- und Sozialkompetenz. Sie lernen Ihr Gegenüber einzuschätzen. Sie vermeiden Fehlschlüsse. Sie werden zum »Menschenleser«.

Gemeinsam werden wir eine ganze Reihe von Fähigkeiten beleuchten, von denen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung nur zwei sind. Und wir werden Kommunikations- und Interaktionssituationen im Geschäftsleben betrachten; interne zwischen Mitarbeitern beziehungsweise zwischen Mitarbeitern und Führungskräften. Aber auch externe, die in die Kundenbeziehung, insbesondere in den Vertrieb und Verkauf, hineinzielen. Denn in diesem Umfeld ist gute Kommunikation heute wichtiger denn je. War sie immer schon das Mittel erster Wahl, um Interessen wahrzunehmen, Ziele zu erreichen und produktiv zu sein, ist Kommunikation heute das zentrale Instrument der Personalentwicklung und das tragende Element der Unternehmenskultur. Im Japanischen steht übrigens für die Begriffe Kommunikation und Vertrauen ein und dasselbe Schriftzeichen. Enger lässt sich die Bedeutung für Kommunikation wohl nicht definieren.

Teufel auch! Ich bin mir sicher, dass ein Großteil der Kommunikationstools, derer sich der Mentalist auf der Show-Bühne bedient, Ihnen auch auf der Bühne des Lebens und des Business hilft, zwischenmenschliche Beziehungen und Beziehungsstrukturen qualitativ zu verändern, zu entwickeln und zu verbessern.

Ich danke Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser.1 Sie haben bis hier gelesen. Zugegeben, ich habe Sie dabei ein bisschen beobachtet und sehe es Ihnen schon an: Sie wollen mehr wissen. Na, dann folgen Sie mir doch einfach. Lesen Sie los …

»DIE WICHTIGSTEN MENSCHLICHEN ERRUNGENSCHAFTEN SIND, KRITISCH ZU DENKEN UND WAHRHAFT ZUZUHÖREN.«

AUFMERKSAMKEIT ODER WILDE ERDBEEREN

Meine Damen und Herren! Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Wir schreiben den 17. Juni 1844. In Concord, einer Kleinstadt der USA im Bundesstaat Massachusetts, wird an diesem Tag die neu gebaute Eisenbahnstrecke in Betrieb genommen. Die Bahntrasse führt unmittelbar an einem See namens Walden vorbei. Es ist jener See, an dem sich im darauffolgenden Jahr ein gewisser Henry David Thoreau eigenhändig eine Hütte im Wald bauen wird. Es ist der Henry David Thoreau, der später mit seinem Buch Walden – or, Life in the woods weltweite Berühmtheit erlangen wird. Wenn er vor seiner Hütte steht, kann Thoreau beobachten, wie die Moderne Einzug hält und auch in seine beschauliche Welt eindringt. Jeden Tag donnern Dampflokomotiven an seinem See vorbei und stören seine Ruhe. In seinem Essay Leben ohne Prinzipien wettert er: »Die Welt ist ein Ort des Geschäfts; was für ein endloses Hasten! […] Wie herrlich wäre es, die Menschen einmal in Muße zu sehen. Nichts als Arbeit, Arbeit.«1

Thoreaus Fähigkeit, zu schauen, ist sehr gut ausgebildet. Er ist ein genauer Beobachter, der beschlossen hat, dem Fortschritt nicht blind hinterherzulaufen, sondern den umgekehrten Weg zu beschreiten. In seinen Augen ist es kein Zeichen von Einzigartigkeit, wenn jemand die Richtung der gesamten Menschheit einschlägt. Als genauer Bobachter gelingt es ihm noch problemlos, einzelne Reize aus der Umwelt herauszulösen. Wenn er am Bahndamm entlang spaziert, entdeckt er, was die Zugreisenden niemals zu entdecken in der Lage sein würden: wilde Erdbeeren. »Manchmal finde ich eine halb versteckt in einer Eisenbahnböschung …«2, schreibt Thoreau in seinen Notizen Lob der Wildnis.

Wenn wir den Beobachter Thoreau aufmerksam gefolgt sind, haben wir an diesem einfachen Beispiel erkannt, was durch Hast, Rastlosigkeit und Beschleunigung auf der Strecke bleibt: Aufmerksamkeit.

Rund 175 Jahre später hat diese Entwicklung vorläufig ihren dramatischen Höhepunkt erreicht: Im Zeitalter des Smartphones sind Menschen einer Flut von digitalen Reizen ausgesetzt, auf die viele augenblicklich reagieren. Dabei ist ständiges Online-Sein extrem schlecht für die Aufmerksamkeit. Pausenlos Mails und Posts checken hat Folgen: Ein Goldfisch ist aufmerksamer als der Mensch! Ja, tatsächlich. Laut einer Microsoft-Studie3 bringt es der goldige Fisch auf eine Aufmerksamkeitsspanne von 9 Sekunden. Auf gerade mal 8 Sekunden kommen wir. Wir hinken hinterher. Oh, Gott! Dachten wir nicht immer, der Mensch sei das hochentwickeltste und wichtigste Wesen im Universum? Und jetzt das: ernsthafte Konkurrenz von einem Haustier, das ohne jeglichen wirtschaftlichen Nutzen sein ganzes Leben in einem Wasserglas herumschwimmt. Krass!

Schauen wir genauer hin: Laut besagter Studie hat sich unsere Aufmerksamkeitsspanne von 12 Sekunden im Jahr 2000 auf 8 Sekunden im Jahr 2015 verkürzt. Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie es heute um unsere Aufmerksamkeit bestellt ist. Vielleicht hat der Silberfisch inzwischen auch schon ein höheres Aufmerksamkeitslevel im Vergleich zu uns Menschen erreicht.

Herzlichen Glückwunsch! Wenn Sie bis hier gelesen haben, darf ich Ihnen gratulieren. Sie haben mir fast fünf Minuten Aufmerksamkeit geschenkt. Ich bedanke mich dafür, aber ich gratuliere Ihnen auch. Denn Sie haben gerade selbst erlebt, was Sie durch Aufmerksamkeit gewinnen können: Erkenntnis.

Kommen wir noch mal auf den Mann vom Waldensee zurück: Thoreau war gleichermaßen Dichter wie Naturkundler, Sozialkritiker wie Philosoph, Landvermesser wie Sammler von Indianer-Artefakten und eine Art früher Aussteiger, der zum zivilen Ungehorsam aufrief. Aber sicherlich war er eines ganz besonders: einer der eigenwilligsten Menschen auf unserem Planeten. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie wären ein Typ wie Thoreau. Keine Sorge, Sie müssen nicht gleich umschulen und Landvermesser werden. Sie müssen ihm auch nicht als Dichter oder Philosoph nacheifern. Ebensowenig verlangt jemand von Ihnen, dass Sie mit Hammer und Säge in den Wald ziehen und eine Hütte bauen – obwohl das vielleicht die Gelegenheit wäre, das Smartphone wegzulegen, um sich für ein paar Aufmerksamkeitsspannen mehr einer Tätigkeit hinzugeben, die Sie nicht online erledigen können. Aber sei’s drum. Fragen Sie sich, was Sie gewinnen würden, könnten Sie so sein wie Thoreau. Denken Sie kurz nach. Keine Angst. Sie haben nichts zu verlieren, sondern etwas zu gewinnen. Richtig! Es ist die Eigenwilligkeit. Es ist die Eigenwilligkeit, die Thoreau genau hinschauen lässt. Täte er das, was alle tun, würde er in den Zug steigen und verpassen, was um ihn herum passiert. Es ist die Eigenwilligkeit, die es ihm möglich macht, einen anderen Weg einzuschlagen und so unscheinbare Details aus dem Gesamtbild herauszulösen; die Eigenwilligkeit, anders zu schauen. Er hat eine eigenwillige Wahrnehmung entwickelt, wenn man so will, dank deren er mehr zu sehen in der Lage ist. Apropos sehen. Haben Sie schon einmal Bilder von Gerhard Richter gesehen? Die bekanntesten, die ich kenne, spielen mit der Unschärfe. Wenn ich diese Bilder sehe, denke ich immer: Genauso schauen wir heute auf die Welt, auf unsere Umgebung, auf die Menschen. Wir sehen etwas und sehen doch nichts oder fast nichts. Das Richter-Bild, das auf unsere Netzhaut trifft, ist unscharf, verwischt oder verpixelt. Und auch unser Gehirn schafft es nur mit Mühe, zu fokussieren und zu erkennen. Mit seinen verwischten Gemälden nach Fotovorlagen schuf Gerhard Richter Ikonen der Gegenwart. Es sind Werke, die mir zeigen: Wir leben in einer Zeit der Unschärfe. Wir sind nicht mehr fokussiert. Wir sehen ein Panorama des Indifferenten. Und so wie wir sehen, denken wir auch: unfokussiert und unpräzise. Wir sind nicht mehr klar im Denken. Unser Denken ist verwischt, verpixelt, ungenau. Wie sollen wir da, frage ich Sie, kluge und klare Entscheidungen treffen? Ob im Privaten oder im Unternehmen. Wir haben die Illusion, dass wir uns ein Bild von der Welt machen können. Wir haben sogar schon angefangen, das Denken anderen zu überlassen. »Wir haben das Internet, wir haben die Suchmaschine Google, wir haben die Illusion, uns stehe das gesamte Wissen der Menschheit zur Verfügung. Es ist die Arbeit der Interpretation im Kopf, die aus den Zeichen, die Computer anzeigen, eine Information macht. Die wichtigsten menschlichen Errungenschaften sind, kritisch zu denken und wahrhaft zuzuhören.«4 Und genau hinzuschauen! Um diesen Halbsatz will ich das Statement des US-Computerexperten und Philosoph Joseph Weizenbaum hier noch ergänzen.

Ob und wie aufmerksam wir sind, ob wir anders hinschauen, ob wir überhaupt etwas wahrnehmen, das über den Rand unseres Smartphones hinausgeht, hängt nicht nur von der Eigenwilligkeit, sondern von ganz verschiedenen Faktoren ab. Andere werde ich in diesem Buch noch vorstellen. Unter anderem hängt unsere Wahrnehmung vom Tempo ab, das wir leben. Auch das macht uns Thoreau mit seinen vor 175 Jahren verfassten Texten klar. Unser Problem heute ist: Wir haben uns diesem Tempo unterworfen. Tempo bestimmt unser Dasein. Unser Wille, einen anderen, eigenen Weg zu gehen, ist uns dabei abhandengekommen, er ist auf der Strecke geblieben. Die Eigenwilligkeit haben wir uns abtrainiert oder sie wurde uns abtrainiert. Eigenwilligkeit kommt nämlich von einem eigenen Willen und der kommt meist nicht gut an. Das beginnt schon im Schnulleralter. Ein Baby, das den Schnuller nicht annehmen will, wird gerne als eigenwillig bezeichnet. Du willst den Schnuller nicht? Nicht gut! Ein Schüler, der sich keiner Gruppe anschließt, gilt ebenso als eigenwillig. Und wenn er Pech hat, wird er deshalb vielleicht sogar auch noch gemobbt. Ein Mitarbeiter, der nicht daran interessiert ist, nach Feierabend mit seinen Kollegen noch auf einen After-Work-Drink zu gehen, ist ganz klar ein eigenwilliger Typ. Ein komischer Kerl, dem man am besten gleich ganz aus dem Weg geht. Schließlich macht der es, so seine Kollegen, ja auch. Dabei folgt jeder dieser hier genannten Eigenwilligen nur seinem eigenen Willen. Dass er nicht die Erwartungen der Gruppe erfüllt, die ihn dafür schräg anguckt, nimmt er mehr oder weniger in Kauf. Lieber bestimmt er selbst, statt sich fremdbestimmen zu lassen. So wie Thoreau, der beschlossen hatte, dem Fortschritt nicht blind hinterherzulaufen, sondern den umgekehrten Weg zu beschreiten. Aber das war, das ist nicht leicht: Eigenwilligkeit setzt einen starken eigenen Willen voraus. Es braucht einen eigenen Willen, um sich vom Mainstream-Verhalten abzuwenden. Aber es lohnt sich, sich dagegenzustemmen. Man sieht zum Beispiel die wilde Erdbeere, welche die anderen nicht sehen. Die wilde Erdbeere? Was geht mich diese verfluchte Erdbeere an, werden Sie sich vielleicht vorhin schon gefragt haben. Ich sage Ihnen: Diese verfluchte kleine Erdbeere steht für den verflucht großen Verlust Ihrer Aufmerksamkeit. Sie ist nur ein kleines Beispiel für ein sehr großes Problem: nichts mehr zu sehen.

LEARNING: WIE SIE IHRE AUFMERKSAMKEIT TRAINIEREN KÖNNEN

Sie werden sich vielleicht schon gefragt haben, wie Sie Ihre Aufmerksamkeit verbessern können. Meine Kurzversion wäre diese: Machen Sie Ihren Kopf frei! Dann werden Sie aufmerksamer. Sie könnten sich auch selbst Folgendes sagen: Heute hat mein Kopf mal frei.

»Der beste Weg, etwas zu erschaffen, ist, den Kopf zu leeren, was ich versuche, indem ich Ski fahre oder schwimme oder im Wald spazieren gehe.«5 Das sagt Antto Melasniemi, finnischer Gastronom, Food-Visionär und Konzeptplaner. »Antto verbindet seine Interessen an Design, Musik, Kunst und zeitgenössischem finnischem Essen mit einer allseitigen Neugier für gesellschaftliche Zusammenkünfte, was zu Pop-up-Restaurants und anderen experimentellen Veranstaltungen mit Raum für Überraschungen führt.«6 So heißt es auf seiner Website.

Natürlich muss man kein Food-Visionär sein oder ähnlich außergewöhnlichen Dingen nachgehen, um für das Schulen der Aufmerksamkeit empfänglich zu sein. Jeder von uns kann leicht im Alltäglichen seine Aufmerksamkeit trainieren. Egal, welchen Job er macht. Wenn ich nicht vor Publikum stehe, mache ich zum Beispiel oft sinnlose Dinge. Also Dinge, die scheinbar ohne Nutzen sind. Je gewöhnlicher diese Dinge sind, umso besser. Ich zähle meine Schritte beim Joggen oder beim Einkaufen. Ich zähle die Pedaldrehungen beim Radfahren bergauf. Ich sitze auf der Bank an meiner Feuchtwiese und schaue mir die Wolkenbilder an. Indem ich mich nur auf eine Sache konzentriere und nicht auf die tausend Dinge des Alltags, leert sich mein Kopf. Ich gehe auch gerne in den Wald wie Antto Melasniemi. Warum in den Wald? Stellen Sie sich vor, Ihr Kopf ist ein Rucksack. Vollgepackt mit Dingen, die im Alltag unsere Aufmerksamkeit fordern. Beruf, Partner, Straßenverkehr, Handy, Rechnungen, Ärger, Haushalt, Sorgen, Krankheit – was weiß ich. Sobald Sie den Wald erreichen, werfen Sie ein Stück nach dem anderen fort. Zack! Zack! Zack! Weg damit! Ihr Rucksack wird leichter und leichter. Ihr Kopf leert sich. Schließlich sind nur noch Sie da und der Wald. In Ihrem Rucksack waren so viele Dinge, die um Ihre Aufmerksamkeit gebuhlt haben, dass nichts von dem Ballast wirklich Ihre volle Aufmerksamkeit erlangt hat. Jetzt bleiben Sie stehen, halten inne und schließen die Augen, wenn Sie wollen. Nichts lenkt Sie mehr ab. Sie können dem Hier und Jetzt Ihre ganze Aufmerksamkeit schenken. Dem Wind in den Bäumen und dem Zwitschern der Vögel. Dem Licht, das durch das Blätterdach blinzelt.

Sie können diese Situation auch imaginieren, wenn Sie nicht im Wald sind. Schließen Sie die Augen, stellen Sie sich einfach vor, Sie wären im Wald. Bauen Sie dazu in Ihren Alltag kurze Pausen ein. Zum Beispiel vor Ihrem PC am Schreibtisch oder als Zuhörer in einem Vortrag. Manchmal ist es das Beste, eine Pause von den aktuellen Aufgaben zu machen, um wieder aufmerksam zu werden. Sie werden sehen: Das gelingt.

Bliebe noch die Frage, warum wir aufmerksamer werden, wenn der Kopf frei hat und geleert ist. Einfach gesagt: Auch unser Gehirn braucht Pausen, Leerlauf, Muße, um so seine Aufmerksamkeitsleistung wiederaufzufrischen. Das ist der ganze Trick.

»WAS WIR NICHT WAHRNEHMEN, ERKENNEN WIR NICHT. WAS WIR NICHT ERKENNEN, KÖNNEN WIR NICHT DENKEND VERARBEITEN.«

WAHRNEHMUNG ODER LESEN IM STAND-BY-BETRIEB

»Es war kurz vor Mitternacht und der Premierminister saß allein in seinem Büro und las ein langes Memo, das ihm durch den Kopf lief, ohne die geringste Spur einer Bedeutung zu hinterlassen.«1 Warum das Memo keine Spur in seinem Kopf hinterlassen hat, dazu muss man kein Harry-Potter-Fan sein.

Jeder kennt das: Es ist spät, vielleicht sehr spät, wir sind müde, unkonzentriert. Wir liegen im Bett oder auf dem Sofa und haben ein Buch vor der Nase. Wir wollen vor dem Einschlafen noch ein paar Seiten lesen. Doch dazu kommt es nicht mehr. Wir lesen eine halbe Seite oder eine ganze und am Ende der ersten Seite angekommen, in einem letzten lichten Moment, stellen wir fest, dass in unserem Kopf nichts von dem, was wir gerade gelesen haben, hängen geblieben ist. Vor einer Minute waren wir noch in einer Art Wachzustand, in dem wir noch wahrgenommen haben, dass wir auf dem Sofa liegen und ein Buch in der Hand halten. Und schon mit den ersten Zeilen schaltete unsere Wahrnehmung auf Stand-by-Betrieb um. Körperlich waren wir noch anwesend, aber geistig schon abwesend. Es ging uns ähnlich wie dem Premierminister kurz vor Mitternacht, der lesend in seinem Office saß, den Inhalt des Memos aber nicht mehr wahrnahm. Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung blieben bei dem guten Mann auf der Strecke. In unserem Falle war die Strecke eine Buchseite lang.

Die Qualität der Wahrnehmung kann natürlich durch gezielte Steuerung der Aufmerksamkeit verändert werden. Wir können unsere Aufmerksamkeit zum Beispiel mittels Kaffeekonsum, lauter Musik oder Frischluftzufuhr steuern. Wir können auch einfach den Kopf heben, uns umschauen und wahrnehmen, was sonst noch um uns herum so passiert. Wie auch immer: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit spielen zusammen. Bei Aristoteles galt darüber hinaus das Wahrnehmungsvermögen neben dem Denkvermögen als die ausschließliche Ursache menschlicher Erkenntnis. Wir sehen: Alles hängt mit allem zusammen. Was wir nicht wahrnehmen, erkennen wir nicht. Was wir nicht erkennen, können wir nicht denkend verarbeiten. Klingelt’s bei Ihnen? Wenn jemand seine Umwelt nicht oder kaum mehr wahrnimmt, weil jeder nur mit sich beschäftigt ist, jeder von uns zum Beispiel nur noch mit seinem Smartphone oder Tablet interagiert, verringert sich gleichzeitig unser aller Denkvermögen. Eine Entwicklung, die uns wohl zu denken geben sollte. Zu diesem Schluss kommt zum Beispiel auch der Psychiater Thomas Fuchs, der erforscht, was wir Menschen zum Denken brauchen. »Wir können zwar bestimmte Gehirnfunktionen in bestimmten Gehirnarealen verorten; bestimmte Handlungen oder kognitive Leistungen sind an bestimmte Gehirnzentren gebunden. Aber keine dieser Leistungen läuft isoliert ab. Sie ist eingebunden in vitale, affektive Funktionen im gesamten Organismus, aber auch in die Interaktion mit der Umwelt und anderen Menschen. Allein die körperliche Anwesenheit eines Gesprächspartners mit all den nonverbalen Signalen beeinflusst ein Gespräch. Wenn ich mit Ihnen spreche, kommunizieren nicht zwei Gehirne miteinander, sondern zwei Menschen. Das Gehirn denkt nicht. […] Denken findet auch nicht in einer isolierten Innenwelt statt. Sie denken anders, wenn Sie sich anders fühlen, das heißt, wenn Ihr ganzer Körper in einem anderen Zustand ist. Und Sie denken immer im Kontakt mit anderen Menschen.«2

Die meisten Menschen denken wohl nicht darüber nach, ob und wie sie denken. Sie lassen ihr Gehirn in einer Art Stand-by-Betrieb laufen. Was ein Stand-by-Betrieb ist, wissen wir alle, seitdem es TV-Geräte gibt, die man abschaltet, aber nicht vom Strom nimmt. In diesem Zustand ist die eigentliche Nutzfunktion des Fernsehers temporär deaktiviert. Ein rotes Lämpchen zeigt an, dass die eigentliche Funktion jederzeit wieder aktiviert werden könnte. Menschen, die ihren Denkapparat im Stand-by-Betrieb laufen lassen, schenken ihrem Gehirn – und damit ihrem Denken – keine Aufmerksamkeit. Es ist wie Denken unter Ausschluss einer bewussten Wahrnehmung. Es leuchtet zwar ein rotes Lämpchen, aber es kommt zu keinem erhellenden Gedanken, weil Stand-by viel bequemer ist. Es ist ein Zustand, der einen nicht fordert.

Der Antrieb, etwas anders zu machen, als die Herde und nur nach den eigenen Maßstäben und dem eigenen Gefühl zu entscheiden, hat stark nachgelassen. Abgenommen hat gleichzeitig der Wille, sich selbst dazu zu bringen, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Für ein drängendes Problem keine Lösung finden zu müssen ist ja auch weitaus angenehmer, als darüber nachdenken zu müssen, wie man zu einem Ergebnis kommen könnte. Man könnte das Verdrängung nennen und es gutheißen. Denn Verdrängung ist nicht grundsätzlich schlecht. Es ist eine Art Abwehrmechanismus gegen bedrohliche Sachverhalte, der dem Menschen das seelische Überleben ermöglicht. Der Mensch möchte nicht weiter daran denken und es am liebsten vergessen. Leider verdrängen wir oft genug auch Unangenehmes, das unsere Seele nicht wirklich bedroht. Es sind Aufgaben, die keinen Aufschub zulassen und erst zu Problemen werden, wenn man sie in den Stand-by-Modus verschiebt. Aber so ticken die meisten Menschen nun einmal. Sie verdrängen auch Alltägliches. Es reicht schon, wenn ihnen etwas negative Gefühle bereitet. Etwa die Zahlung einer offenen Rechnung oder das Zähneputzen. Dann verschwinden Zahlungsaufforderungen im Müll und das Zähneputzen fällt aus. Lieber denken wir nicht über die Folgen nach und lassen unser Gehirn weiter im Stand-by-Betrieb laufen. Ob und wie wir denken, ist aber eine Frage der Wahrnehmung. Doch die muss man erst einmal entwickelt haben. Am Ende geht es darum, das Gehirn in seinem Nutzungsmodus laufen zu lassen, es aufmerksam zu steuern, zu beeinflussen und schlussendlich zu formen.

LEARNING: WIE SIE IHRE WAHRNEHMUNG TRAINIEREN KÖNNEN

Wahrnehmen heißt, etwas zu erkennen. Dazu benutzen wir unsere Sinne. Mit den Augen erkennen wir eine Form. Mit den Ohren ein Geräusch. Mit der Nase einen Duft. Menschen erkennen unterschiedlich gut. Ich bin kein Wissenschaftler, aber ich denke mir, das hat vielleicht etwas mit den Genen zu tun oder mit dem Alter; sicher aber auch mit dem Training der Sinne, sprich der Wahrnehmung. Denn Sinne kann man schärfen. Die Erkennungsfähigkeit unserer Augen zum Beispiel. Was erkennen Sie, wenn Sie das Verb »wahrnehmen« betrachten? Sie erkennen ein Wort und erfassen einen Sinn. Das passiert in Bruchteilen von Sekunden. Sie nehmen das Wort ganz selbstverständlich wahr, denn Wahrnehmung ist für Sie etwas ganz Selbstverständliches wie Ein- und Ausatmen.

Wenn Sie mehr erkennen wollen, müssen Sie schon genauer hinsehen und Ihre Wahrnehmung verändern. Betrachten wir also das Verb »wahrnehmen« mit geschärftem Blick. Wenn wir uns den Begriff genauer ansehen, erkennen wir vielleicht zwei Teile: »wahr« und »nehmen«. Wenn wir nicht genau hinsehen, sehen wir nur, was wir sehen wollen, und nehmen es für wahr. Anders gesagt: Wir nehmen das, was wir auf die Schnelle zu sehen glauben, als die Wahrheit an. »Wir denken zu viel und sehen zu wenig«3, schrieb Rudolf Arnheim. Er meinte: Statt unseren Sinnen zu trauen, verlassen wir uns lieber auf abstrakte Begriffe. Wahrnehmung – schnell drübergelesen und vermeintlich erkannt. Was aber an Wertung (nämlich vordergründig die Wahrheit des Gesehenen) in diesem einen Wort steckt, haben wir nicht erkannt. Eine geschärfte Wahrnehmung ist aber zum Beispiel unabdingbar, um Sachverhalte richtig einschätzen zu können oder um Entscheidungen zu treffen. Hätte die Reederei der Titanic nicht nur die Unsinkbarkeit ihres Schiffes gesehen, sondern ihre Wahrnehmung auch auf mögliche Gefahren wie die des Eises gerichtet, hätte sie wahrscheinlich eine ausreichende Anzahl an Rettungsbooten an Bord gehabt. Dem war aber nicht so. Die Verantwortlichen hatten schlicht einen Teil der möglichen Wahrheit nicht sehen wollen.