Kompetenztraining für Eltern sozial auffälliger Jugendlicher (KES-J) - Gerhard W. Lauth - E-Book

Kompetenztraining für Eltern sozial auffälliger Jugendlicher (KES-J) E-Book

Gerhard W. Lauth

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Beschreibung

Die Pubertät: eine Zeit rascher und umfassender Veränderungen für die Eltern, die Jugendlichen und die Familie. Meistens stellt sich der Wandel nicht ohne Turbulenzen, große und kleine Krisen ein. Wenn aufmerksamkeitsgestörte oder sozial auffällige Kinder in die Pubertät kommen, sind diese Turbulenzen jedoch oft bedrohlich. Die ohnehin schon bestehenden Probleme verschärfen sich deutlich. Und die Eltern haben oft keine Basis, um mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Zudem fehlt es den Eltern meistens an erzieherischen Fähigkeiten, um die schwierige Situation zu gestalten. Das vorliegende Buch stellt ein Training für Eltern von sozial auffälligen Jugendlichen dar. Die Eltern lernen einzeln oder in Gruppen, wie sie ihren Sohn bzw. ihre Tochter angemessen anleiten können. Die Jugendlichen werden in das Elterntraining einbezogen. Das therapeutische Vorgehen und die vorausgehenden diagnostischen Maßnahmen werden anschaulich dargestellt. Alle im Manual beschriebenen Materialien können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden. Außerdem informiert das Buch fundiert über die Reifungskrisen, die in der Pubertät auftreten. Pubertät wird als Entwicklungsaufgabe für den Jugendlichen und seine Eltern sowie seine Familie behandelt. Das Manual hat sich umfangreich bewährt. Es ist sorgfältig erstellt und verfolgt entwicklungsorientierte Ziele. Es schließt eine eklatante Lücke in den bisherigen Behandlungsprogrammen und stellt die praktische Umsetzbarkeit in den Mittelpunkt.

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Gerhard W. Lauth

Morena Lauth-Lebens

Kompetenztraining für Eltern sozial auffälliger Jugendlicher (KES-J)

Prof. Dr. Gerhard W. Lauth, geb. 1947. 1974–1979 Studium der Psychologie an der Universität Mainz. 1979 Promotion, 1984 Habilitation. 1992 Professur für Rehabilitationspsychologie an der Universität Dortmund. 1997 Professur für Psychologie Universität Köln. 2014 Emeritierung; Arbeitsschwerpunkte: Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS); Elterntraining, Lernstörungen, Verhaltensstörungen und Verhaltenstherapie.

Prof. Dr. PD. Morena Lauth-Lebens, geb. 1982. 2003–2008 Studium der Psychologie und Promotion an der Universität Glamorgan, South Wales. 2019 Habilitation. 2008–2018 Lehr und Forschungstätigkeiten an den Universitäten Bochum und Köln. Seit 2018 Professur für Angewandte Psychologie am Studienzentrum Köln der IB Hochschule für Gesundheit und Soziales Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Diagnostik und Behandlung von Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen, Verhaltensmodifikation.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2114-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2114-9)

ISBN 978-3-8017-2114-5

https://doi.org/10.1026/02114-000

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1  Problematik

1.1  Schule/Leistungsbereich

1.2  Familie

1.3  Kleidung und Lebensführung

1.4  Freunde und Gleichaltrige

Kapitel 2  Soziale Auffälligkeiten bei Jugendlichen

2.1  Hyperkinetische Störung bzw. ADHS

2.1.1  Hyperkinetische Störung

2.1.2  Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS)

2.1.3  Verbreitung und Epidemiologie

2.2  Störung des Sozialverhaltens

2.2.1  Die Störung im ICD-10

2.2.2  Störung im DSM-5

2.2.3  Verbreitung und Epidemiologie

2.2.4  Komorbidität

2.3  Langzeitentwicklung und Prognose

Kapitel 3  Bedingungsmodell

3.1  Vulnerabilität beim Jugendlichen

3.1.1  Genetische Veranlagung

3.1.2  Verhaltensgenetische Grundlagen/schwieriges Temperament

3.1.3  Zentralnervöse Fehlfunktionen

3.1.4  Langjährige Vorgeschichte an Verhaltensschwierigkeiten

3.2  Belastende Lebenssituationen (Stress)

3.2.1  Pubertät als „anforderungsreiche“ Lebenssituation

3.2.2  Familiärer Stress

3.2.3  Abträgliche Eltern-Kind-Interaktionen

3.3  Reaktionen des Jugendlichen

3.3.1  Negatives, trotziges Verhalten

3.3.2  Meidung von misserfolgsbesetzten Situationen

3.3.3  Abwenden von der Familie

3.4  Zusammenfassung

Kapitel 4  Intervention

4.1  Behandlungsleitlinien

4.1.1  Behandlungsleitlinien für ADHS

4.1.2  Behandlungsleitlinien für Störungen des Sozialverhaltens

4.2  Elterntraining

4.3  Wirksamkeit von Elterntrainings

4.4  Trainingsmanuale für Eltern von Jugendlichen (seit 1990; Auswahl)

4.5  Medikamentöse Unterstützung

4.5.1  ADHS

4.5.2  Störungen des Sozialverhaltens

Kapitel 5  Diagnostik

5.1  Verhaltensanalyse über die Verhaltensschwierigkeiten in der Familie

5.2  Abklärung und Einordnung der Verhaltensschwierigkeiten

5.2.1  Symptomatik einer Hyperkinetische Störung

5.2.2  Symptomatik einer Störung des Sozialverhaltens

5.3  Inventar für Familien-Situationen

5.4  Familiäre Ressourcen/Belastungen

5.5  Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme

5.6  Interview zur Teilnahmebereitschaft der Eltern

5.7  Eingangsgespräch mit dem/der Jugendlichen

Kapitel 6  Das Elterntraining (KES-J)

6.1  Konflikttheoretische Grundlagen

6.2  Kommunikationstheoretische Begründung

6.3  Stresstheoretische Fundierung

6.4  Ziele im Elterntraining

6.5  Überblick und Steckbrief

Kapitel 7  Trainingsprogramm (Durchführung im Gruppensetting)

7.1  Trainingseinheit 1: Was soll sich ändern? Was kann so bleiben?

7.1.1  Die Tagesordnung

7.1.2  Begrüßung, Kennenlernen und Gruppenregeln (10 Minuten)

7.1.3  Sich vorstellen und kennen lernen (15 Minuten)

7.1.4  Trainingsregeln vereinbaren (15 Minuten)

7.1.5  Die aktuellen Schwierigkeiten in der Familie (55 Minuten)

7.1.6  Rollenspiele zum Problemverhalten (40 Minuten)

7.1.7  Eigene Ziele für das Training festlegen (10 Minuten)

7.1.8  Wochenaufgabe (5 Minuten)

7.1.9  Eigene Stärken finden (15 Minuten)

7.2  Trainingseinheit 2: Beziehung braucht Gelegenheit

7.2.1  Bekanntgabe der Tagesordnung

7.2.2  Auswertung der Wochenaufgabe „Verhaltensbeobachtung in belastenden Situationen“ (30 Minuten)

7.2.3  Rollenspiel zum coersiven Verhalten (30 Minuten)

7.2.4  Wertvolle Zeit (30 Minuten)

7.2.5  Wochenaufgabe (15 Minuten)

7.2.6  Eigene Stärken finden (15 Minuten)

7.3  Trainingseinheit 3: Miteinander reden – Lösungsgespräche

7.3.1  Bekanntgabe der Tagesordnung

7.3.2  Auswertung der Wochenaufgabe „Beziehung braucht Gelegenheit“ (15 Minuten)

7.3.3  Lösungsgespräche (15 Minuten)

7.3.4  Lösungsgespräche am eigenen Beispiel (30 Minuten)

7.3.5  Weitere Gesprächsfertigkeiten (70 Minuten)

7.3.6  Wochenaufgabe (5 Minuten)

7.3.7  Eigene Stärken finden (15 Minuten)

7.4  Trainingseinheit 4: Unsere Eltern … (Sitzung mit den Jugendlichen)

7.4.1  Bekanntgabe der Tagesordnung

7.4.2  Begrüßung, sich vorstellen (15 Minuten)

7.4.3  Belastungsprofile erstellen (10 Minuten)

7.4.4  Das Belastungsprofil erläutern (30 Minuten)

7.4.5  Ziele statt Probleme (45 Minuten)

7.4.6  Reden und Kompromisse finden (40 Minuten)

7.4.7  Eigene Probleme im Gespräch durchspielen (20 Minuten)

7.4.8  Rückmeldung und Abschlussbesprechung (20 Minuten)

7.5  Trainingseinheit 5: Abläufe ändern

7.5.1  Bekanntgabe der Tagesordnung

7.5.2  Auswertung der Wochenaufgabe „Miteinander reden!“ (20 Minuten)

7.5.3  Abläufe bei familiären Standardsituationen ändern (insgesamt 65 Minuten)

7.5.4  Den Ablauf im Rollenspiel erproben (25 Minuten)

7.5.5  Wochenaufgabe (10 Minuten)

7.5.6  Eigene Stärken – Welche Abläufe haben sich bei uns bewährt? (10 Minuten)

7.6  Trainingseinheit 6: Durch Konsequenzen anleiten

7.6.1  Bekanntgabe der Tagesordnung

7.6.2  Auswertung der Wochenaufgabe „Abläufe ändern“ (15 Minuten)

7.6.3  Kleines Einmaleins des Verstärkens (30 Minuten)

7.6.4  Punkteplan erarbeiten (25 Minuten)

7.6.5  Zielkonflikt Schulleistung (30 Minuten)

7.6.6  Hemmende Konsequenzen (40 Minuten)

7.6.7  Wochenaufgabe (10 Minuten)

7.6.8  Eigene Stärken finden (15 Minuten)

7.7  Trainingseinheit 7: Wirksame Aufforderungen und verbindliche Absprachen

7.7.1  Bekanntgabe der Tagesordnung

7.7.2  Auswertung der Wochenaufgabe „Durch Konsequenzen anleiten“ (15 Minuten)

7.7.3  Die „wertvolle Zeit“ beenden oder fortführen? (10 Minuten)

7.7.4  Wirksame Anweisungen (insgesamt 60 Minuten)

7.7.5  Absprachen/Vereinbarungen treffen (35 Minuten)

7.7.6  Nein sagen – Grenzen setzen (20 Minuten)

7.7.7  Wochenaufgabe (5 Minuten)

7.7.8  Eigene Stärken finden (10 Minuten)

7.8  Trainingseinheit 8: Auffrischungssitzung: Ein Blick zurück – auf dem Weg nach vorn

7.8.1  Bekanntgabe der Tagesordnung

7.8.2  Auswertung der Wochenaufgabe „Wirksam Aufforderungen stellen“ (15 Minuten)

7.8.3  Ein Blick zurück …: Rückschau auf bisher Erreichtes (50 Minuten)

7.8.4  Auf dem Weg nach vorn … (40 Minuten)

7.8.5  Offene Fragen und Verabschiedung (30 Minuten)

7.8.6  (optional) Evaluation (10 Minuten)

Kapitel 8  Anwendung im Gruppen- und Einzelsetting

8.1  Gruppensetting

8.2  Einzelsetting

Kapitel 9  Kritische Therapiesituationen

9.1  Versäumen von Gruppensitzungen

9.2  Dominanz einzelner Gruppenmitglieder

9.3  Mangelnde Fortschritte im Alltag

9.4  Die Wochenaufgaben werden nicht gemacht

9.5  Mangelnde Mitarbeit

9.6  Zeitmangel

Kapitel 10  Überprüfung auf Wirksamkeit

10.1  Stichprobe und Methode

10.1.1  Versuchsplan

10.1.2  Durchführung

10.1.3  Abbrüche/Drop-outs

10.1.4  Stichprobe der Eltern

10.1.5  Stichprobe der Jugendlichen

10.1.6  Abhängige Variablen/Hauptkriterien

10.1.7  Datenanalyse

10.2  Ergebnisse

10.2.1  Eltern-Belastungs-Inventar (EBI)

10.2.2  Inventar Familien Situationen (Auffälligkeit des Kindes und Belastung der Eltern)

10.2.3  Zufriedenheit der Eltern mit dem Training

10.2.4  Allgemeine Schlussfolgerung

Literatur

Anhang

Hinweise zu den Online-Materialien

|9|Vorwort

Das vorliegende Manual setzt das Kompetenztraining für Eltern sozial auffälliger Kinder (KES) fort, das für 5- bis 12-Jährige verfasst wurde. Anlass dafür waren Kurse, an denen überwiegend die Eltern von Jugendlichen teilnahmen. Schnell stellte sich heraus, dass sie andere Probleme als die Eltern von jüngeren Kindern haben. Es geht gleich um „wichtigere“, vermeintlich sogar existentielle Dinge: Das Fortkommen in der Schule, die Bewerbung um einen Ausbildungsplatz, die Freunde, die so wenig zu passen scheinen, oder die Querelen um das nach Hause kommen, das Aufstehen, die Beteiligung an familiären Verpflichtungen. Selten auch, dass es eine Gelegenheit zum Gespräch oder zu einer wirklichen Begegnung gibt. Meistens beschränken sich die Gespräche auf Pflichten und Notwendigkeiten.

Eltern von Jugendlichen haben andere Bedürfnisse und benötigen andere Kompetenzen, um im Alltag zurecht zu kommen. Sie sehen sich vor eine Reihe von Aufgaben gestellt, die sich aus der schnellen Entwicklung des Jugendlichen ergeben: Die Jugendlichen entwickeln sich körperlich und seelisch, sie verändern ihre Sicht der Welt, fassen neue Ziele ins Auge und werden mit neuen Aufgaben und Anforderungen (in der Schule, im Umgang mit Gleichaltrigen) konfrontiert. Sie erproben neue und oftmals risikoreiche Verhaltensweisen, verlangen mehr Einfluss und größere Freiheit in der Familie. Gleichzeitig verlieren die Eltern einen Teil ihrer bisherigen Kontrolle. Ihre Deutungsmacht und ihre Weisungsmöglichkeiten verringern sich. Sie beeinflussen die Entwicklung des Jugendlichen nun eher indirekt durch Beratung, Begleitung und gemeinsame Planung und nicht mehr durch Anweisung und Lenkung. Aber auch die Familie insgesamt hat sich auf die neue Lebensphase des Jugendlichen einzustellen. Angefangen damit, dass die Tagesabläufe nun offener sind, Dinge ausgehandelt und gemeinsam geplant werden müssen, bis hin zu der Erkenntnis, dass sich nicht nur das Verhältnis der Eltern zu dem Jugendlichen, sondern auch das Verhältnis der Eltern untereinander ändert.

Somit ist das Jugendalter für alle Beteiligten eine Phase rascher und weitreichender Veränderungen. In manchen Fällen vollzieht sich dieser Wandel unter Streit und Konflikten. Es kommt zu Missverständnissen und Interaktionsschwierigkeiten zwischen Eltern und Jugendlichem. Demnach bietet sich ein spezielles Training für Eltern an, die Probleme mit ihren „schwierigen“ Söhnen und Töchtern haben.

Das vorliegende Training ist aus dem Kompetenztraining für Eltern sozial auffälliger Kinder (KES) entstanden. Es greift die Inhalte auf, die sich bewährt haben. Allerdings gibt es auch Änderungen: So ist das Training konsenstheoretisch fundiert. Es wird also davon ausgegangen, dass Eltern und Jugendliche einen Sachverhalt von unterschiedlichen Standpunkten und mit unterschiedlicher Zeitperspektive bewerten. Jeder hat auf seine Weise Recht. Und es geht vor allem um Einigung. Deshalb wird das Gespräch zwischen Eltern und Jugendlichen betont. Es sollen Lösungen erzielt, Vereinbarungen getroffen und Verbindlichkeiten erzeugt werden.

Außerdem stehen die Entwicklungsaufgaben des Jugendlichen und der Familie im Mittelpunkt. Solche werden nicht von heute auf morgen erledigt, sie erfordern Zeit. Deshalb geht es immer auch um Perspektiven über den Tag hinaus.

Andere Inhalte wurden hingegen aus dem KES übernommen: Genau bestimmen, worin ein Problem besteht, wertvolle Zeit miteinander verbringen, klare „Ansagen“ machen und genaue Anweisungen geben, den Jugendlichen durch positive Anreize und Ziele lenken, die Erfolge durch eine Umstrukturierung in der Familie stabilisieren. Und auch die Arbeitsmethoden sind aus dem Ursprungstraining übernommen. Allerdings wurden alle Inhalte auf Jugendliche und deren Familien umgestellt.

|10|Wir haben den Eltern der bisherigen Kurse zu danken, die offen, zugewandt und konstruktiv an ihre Probleme herangingen und die Kurse zu einem überzeugenden Beispiel für Lebensbejahung gemacht haben. Ferner danken wir Frau Zadon und Frau Schulte, die mit Elterngruppen gearbeitet haben, Frau Eberhardt, die Einzeltrainings durchgeführt hat, sowie Frau Bijmholt, die mit Literaturrecherchen und redaktioneller Durchsicht zum Gelingen beitrugen.

Köln, im Frühjahr 2022

Gerhard W. Lauth und

Morena Lauth-Lebens

|11|Kapitel 1Problematik

Mirko war bisher ein umgänglicher Junge, keine Leuchte in der Realschule, aber immerhin waren seine Leistungen durchschnittlich und befriedigend. Im Fußballverein war er beliebt und galt als außergewöhnlich talentiert. Mit seiner jüngeren Schwester vertrug er sich gut. Und die familiäre Harmonie schien ungetrübt. Dann aber in seinem 14. Lebensjahr gab es die ersten Probleme, die sich rasch steigerten: Mirko engagierte sich immer weniger für die Schule, machte kaum mehr Hausaufgaben, trat der Klassenlehrerin patzig und herausfordernd entgegen; mit dem Fußballtrainer geriet er aneinander, weil er sich nicht mehr an dessen Anweisungen halten wollte. Er vernachlässigte das Fußballtraining, das ihm sonst immer sehr viel bedeutet hatte, und es ging das Gerücht um, dass er seinen Mitspielern mehrmals Geld gestohlen haben sollte. Zu Hause verbarrikadierte er sich in seinem Zimmer und war kaum mehr zugänglich, die Konflikte mit der jüngeren Schwester häuften sich, zunächst unbemerkt, dann aber offensichtlich, entnahm er Geld aus der Familienkasse. Die Mutter und später auch den Vater forderte er nun mehr oder weniger offen heraus; sein Freundeskreis änderte sich und schließlich schien sein Verhalten fast nur noch von den neuen Freunden bestimmt zu werden, die die Eltern als schwierig wahrnahmen.

Schließlich wurde ihm nahegelegt, sich einen anderen Fußballverein zu suchen, was er dann auch tat. Dort aber fasste er nicht mehr Fuß und wurde nur noch selten aufgestellt. Er schwänzte die Schule und trieb sich mit Freunden herum. Seine Versetzung in die 8. Klasse war nun kaum mehr möglich. Bald kam er sehr spät nach Hause, ohne dass die Eltern wussten, wo er sich aufhielt und was er tat. Er entwendete das Motorrad des Vaters und wurde von der Polizei aufgegriffen. Sein Verhältnis zu den Eltern war nun nachdrücklich gestört. Die Schule drohte beim nächsten Fehltritt mit Schulverweis, was de facto eine Überweisung in die Hauptschule bedeuten würde. Die Eltern sahen all ihre Erziehungsbemühungen in Frage gestellt. Nach ihrer Meinung gab es keinen Zugang mehr zu ihm, „weder im Guten noch im Bösen.“

Nicht alle Jugendlichen haben solche Schwierigkeiten. Und nicht bei allen Jugendlichen eskalieren die Anfangsschwierigkeiten so rasant und so weitreichend wie bei Mirko. Sein Beispiel macht aber deutlich, welche Tragweite und welche Dynamik die sozialen Auffälligkeiten von Jugendlichen haben können. Dazu tragen gleich mehrere Ursachen bei:

Die größere Unabhängigkeit des Jugendlichen von den Eltern, die oft kaum mehr wissen, was der Jugendliche tagsüber tut;

der vermehrte Einfluss der Gleichaltrigen, die bestimmen was wichtig ist und worauf es wirklich ankommt;

das „natürliche“ Freiheitsstreben von Jugendlichen, die sich von den Eltern und deren Lebensgewohnheiten absetzen;

die Zahl und Dringlichkeit der Entwicklungsaufgaben, die sich den Jugendlichen nahezu zeitgleich stellen und die parallel bewältigt werden müssen (Fortkommen in Schule oder Beruf, Erprobung eigener Verhaltensweisen, Erlangung von Selbstständigkeit, Bewährung in der Gleichaltrigengruppe, Hinwendung zum anderen Geschlecht).

Dennoch verläuft die Pubertät bei etwa 70 % der Jugendlichen ohne größere Konflikte oder gravierende Auseinandersetzungen mit den Bezugspersonen. Bei den übrigen jedoch treten mehr oder weniger vorübergehende Probleme auf, die sich vor allem in den nachstehenden Bereichen äußern:

|12|1.1  Schule/Leistungsbereich

Die Leistung bricht oft ein und die Leistungsbereitschaft sinkt ab. Schule gilt als ätzend, langweilig und „echt daneben“. Hausaufgaben werden kaum noch gemacht. Und die Vorbereitung auf Klassenarbeiten erfolgt nur noch nebenbei und schludrig, wenn überhaupt. Die Leistungen sind schlecht, die Noten im Keller, die Schule beschwert sich über die Lustlosigkeit und die mangelnde Disziplin, die Versetzung ist gefährdet. Und das gerade jetzt, wo gute Noten doch so wichtig wären, weil eine Lehrstelle gesichert werden muss, die Entscheidung zum Besuch einer weiterführenden Schule ansteht oder bei erneuter Nichtversetzung die Rücküberweisung an die Hauptschule droht. Aller Druck der Eltern hilft nichts, sondern bewirkt eher das Gegenteil, weil Schule und Noten zum Reizthema werden, die Hausaufgaben zum Dauerkonflikt eskalieren und die gesamte Lebensführung des Jugendlichen als schwierig erscheint.

1.2  Familie

Wann war der letzte harmonische Familienabend? Wann der letzte Familienausflug, den alle genossen haben? Und wie lange liegt die Zeit zurück, dass man sich mit Leon oder Emily wirklich mal vernünftig unterhalten konnte? Der Jugendliche ist unkommunikativ, zieht sich zurück, nörgelt an allem herum oder belustigt sich über das, was den anderen Familienmitgliedern wichtig ist. Die Kommunikation ist deutlich beeinträchtigt, ein Gespräch kaum mehr möglich – weder über die doch so drängenden Probleme (Schule, Freunde) noch über die alltäglichen Ärgernisse (überhöhte Handyrechnung, Badputzen, im Garten helfen, die Küche, die so verschmutzt zurückgelassen wurde, sich für das Geburtsgeschenk der Tante bedanken). Trotz gut gemeinter Ansprachen wird aneinander vorbeigeredet, meistens aber herrscht beredtes Schweigen, Muffeligkeit und kopfschüttelndes Unverständnis. Die Eltern sehen sich oft genug zu weitreichenden Belehrungen, überlangen Monologen, nörglerischen Kommentaren, unbedachten Aussagen („Wenn Du so weiter machst, wirst Du noch auf der Straße landen!“) und unangemessenen Strafdrohungen („Wenn das mit den Hausaufgaben nicht klappt, schmeiß ich Dir den PC weg!“) herausgefordert. In ihrer Verstrickung sehen sie oft keinen anderen Weg als „Druck zu machen“, „mal zu sagen, was Sache ist“, „an den Anstand zu appellieren“, und „den Jugendlichen bei seiner Ehre zu packen“. Es sind Problemlösungen, die Watzlawick et al. (1974) als „mehr desselben“ bezeichnet haben: Wenn die anfänglichen Appelle nichts fruchten, muss man eben massiver werden.

Andere Schwierigkeiten in der Familie gibt es bei der Übernahme von Verpflichtungen: Pascal soll zweimal in der Woche die Spülmaschine ausräumen, Gordon sein Badezimmer säubern, Luca die Sprudelkisten ins Haus tragen, Kira sich an der Vorbereitung des Abendessens beteiligen, Mirko sich bei der Tante für das Geburtstagsgeschenk bedanken, Tom den Schuppen aufräumen, Susan den Vorgarten jäten. Selten, dass es nach den Wünschen der Eltern geschieht. Meistens müssen sie hinterher sein, gute Worte geben, ermahnen und dann noch einmal kontrollieren. Bis dahin hätten sie es schneller und bequemer allein gemacht. Warum ist es so schwierig? Warum sind die Jugendlichen so wenig bereit, das Ihre zu tun? Neulich hat Pascal der Nachbarin ungefragt und lächelnd doch auch die Einkaufskiste ins Haus getragen!

Die Eltern sehen in den Verpflichtungen eine „erzieherische Maßnahme“ („soll auch was zum Familienleben beitragen“, „ist alt genug, Verantwortung zu übernehmen“). In ihren Augen geht es um den Beweis von Verantwortungsbereitschaft und Reife. Es ist gleichsam eine Nagelprobe darauf. Dementsprechend groß sind Enttäuschung und Entrüstung der Eltern, wenn die Aufgabe nicht erwartungsgemäß ausgeführt wird. Der Jugendliche sieht eher eine überflüssige Bedrängung darin. Wer lässt sich schon gerne „pädagogisieren“? Deshalb eignen sich die häuslichen Pflichten hervorragend als Zankapfel. Es geht gar nicht so sehr um das Ausräumen der Spülmaschine als vielmehr darum, wer, was und mit welchem Recht zu sagen hat. Es geht um die Klärung von Ansprüchen und implizit um eine Klärung bzw. Neugestaltung der Beziehung.

1.3  Kleidung und Lebensführung

Diese Themen führen schon bei an sich unauffälligen Jugendlichen zu Konflikten zwischen Eltern und Jugendlichen. Müssen die Schlabberhosen sein? Braucht Mirko schon wieder ein neues Handy? Ist es in Ordnung, dass Selina mit diesen wilden Jungs herumhängt? Darf Gesa mit 14 Jahren bei dem Freund übernachten? Ist es in Ordnung, dass Julia (14 Jahre) mit ihrer Freundin bis 1 Uhr nachts unterwegs war? Warum schläft Alexander samstags und sonntags bis 14 Uhr, wo er doch so viel für die Schule tun sollte? Darüber kommt es zu Auseinandersetzungen, die meistens ausgetragen werden über

Geldforderungen („Mama, ich brauche neue Skates, solche wie ich sie habe, hat kein Mensch mehr.“),

Ausgehzeiten („Du bist aber um 23 Uhr zurück!“),

|13|die Einforderung von Freiheiten („Alle dürfen das, bloß ich nicht!“),

Alltagskonflikte („Das Bad ist nicht für Dich allein, deine Geschwister wollen sich auch mal fertig machen können!“).

Darüber kommt es zu Auseinandersetzungen. Sie belasten den Alltag und lösen oft hitzige Diskussionen aus, sowohl zwischen Eltern und Jugendlichen als auch unter den Eltern selbst: Die Eltern versuchen ihre Haltung gegenüber dem Jugendlichen „durchzusetzen“. Außerdem müssen sie sich untereinander auf eine Linie verständigen, was schwer genug ist („Dann greif doch mal durch, Du hast dem Jungen noch nie mal Paroli geboten!“). Und schließlich nutzen die Geschwister die Diskussion, um ihre eigenen Rechte ins Spiel zu bringen („Die darf immer alles, ist ja auch die Zuckerpuppe!“) und die Jugendlichen beklagen, wie hinterwäldlerisch die eigenen Eltern so sind („Ihr lebt ja echt hinter dem Mond!“). Wohl der Familie, die dann Zeit, Kraft und Geschick für solche Klärungen hat.

Bei schwierigen Jugendlichen haben die Eltern aber zudem das Gefühl, dass sie „den Anfängen wehren“ und rasch klare Grenze ziehen müssten. Wie verhindert man, dass Selina (15 Jahre) ihre Freunde im Wochenrhythmus wechselt? Wer bezahlt die jetzt schon zum dritten Mal überzogene Handyrechnung von Alexander? Ist das Tattoo von Tim in Ordnung? Was tun, wenn Maike schon wieder Geld aus der Haushaltskasse genommen hat? Gerade bei schwierigen Jugendlichen beginnen die großen Probleme eher still und leise. Sie eskalieren jedoch rasch, wenn der Jugendliche ebenfalls schwierige Freunde hat, wenn die Beziehung zu den Eltern schon belastet ist, wenn die Eltern so stark mit eigenen Problemen beschäftigt sind, dass sie kaum Zeit und Kraft für den Jugendlichen erübrigen können, wenn die ersten Regelverstöße (z. B. in die Haushaltskasse greifen) für den Jugendlichen so erfolgreich sind, dass sie immer öfter stattfinden.

1.4  Freunde und Gleichaltrige

Auch dieses Thema ist ein häufiges Streitthema. Den Eltern passen die Freunde oft nicht, denen sich ihr Sohn/ihre Tochter angeschlossen hat. Sie fürchten deren negativen Einfluss. Und sie fragen sich, ob sie den Jugendlichen nicht ganz systematisch auf dumme Gedanken und die „schiefe Bahn“ bringen. Luca (15 Jahre) schwänzte in den letzten Wochen mehrmals die Schule und streifte mit seinen neuen Freunden durch die Kaufhäuser der Stadt. Frederick hat sich mit drei Jungs aus dem Boxclub zusammengetan. Miriam (14 Jahre) und ihre gleichaltrige Freundin haben sich einer Gruppe mit viel älteren Freunden angeschlossen, die ausgedehnte Feste feiern. Tammo (16 Jahre) wurde mit seinen Kumpels in Wettbüros gesehen. Pirka (16 Jahre) besucht begeistert die Veranstaltungen einer Sekte („Universelles Leben“). Instinktiv vermuten die Eltern, dass das nicht in Ordnung ist. Was können sie aber dagegen tun? Einerseits fehlt es ihnen oft an genauen Informationen, sie waren ja nicht dabei, und oft genug sind sie auf das Hörensagen anderer angewiesen. Und ein Gespräch mit dem Jugendlichen über ihre Sorgen und Befürchtungen ist meistens kaum möglich („Was ihr immer nur habt! Die Jungs sind schwer in Ordnung.“). Sie fürchten, dass das ihren Sohn/ihre Tochter auf „die schiefe Bahn“ bringt. Sie versuchen dagegen zu arbeiten und den Jugendlichen langfristig davon abzubringen, indem sie beispielsweise die Freunde madig machen oder ihm andere Möglichkeiten nahebringen wollen. Kurzfristige Erfolge sind dabei meistens aber kaum erreichbar.

|14|Kapitel 2Soziale Auffälligkeiten bei Jugendlichen

Der Begriff „Soziale Auffälligkeit“ bezeichnet keine spezielle Störung, sondern eine Bandbreite von expansiven, erwartungswidrigen und Norm verletzenden Verhaltensweisen, die vorwiegend in sozialen Standardsituationen (z. B. bei den Mahlzeiten, bei Besuchen, beim äußeren Erscheinungsbild, beim Lernen oder Engagement für den Beruf) auftreten. Diese Situationen zeichnen sich durch ihre klare Struktur und Überschaubarkeit aus. Es gibt ein Skript dafür und der Vollzug ist ansatzweise genormt, also: Klare Verhaltenserwartungen, und ein Abweichen davon tritt deutlich zu Tage. Diese Auffälligkeiten treten in prägnanten Situationen auf, die gleichsam zum Brennpunkt werden (z. B. Hausaufgaben, Auftritt in der Öffentlichkeit, Ausführung von Anweisungen, Umgang mit Geld, Kleidung). Sie rechtfertigen aber keine Diagnose, sondern geben eine Reihe von Alltags- und Umgangsschwierigkeiten wieder.

Das volle Störungsbild wird hingegen am besten durch die ICD-10-Diagnose einer (einfachen) Hyperkinetischen Störung (F90) bzw. einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1) bzw. durch oppositionelles Trotzverhalten als Sonderform der Störung des Sozialverhaltens (F91) sowie durch deren subklinischen Erscheinungsformen beschrieben. Viele Jugendliche, die von ihren Eltern und Lehrern als schwierig und auffällig bezeichnet werden, haben entweder in ihrer Kindheit eine solche Diagnose erhalten oder erfüllen auch noch als Jugendlicher die dazugehörigen Diagnosekriterien.

2.1  Hyperkinetische Störung bzw. ADHS

2.1.1  Hyperkinetische Störung

Die Störung ist definiert als ein ungewöhnliches Ausmaß an Unaufmerksamkeit, Überaktivität (Hyperaktivität) und Impulsivität. Diese Merkmale treten als Muster sowie situationsübergreifend und andauernd (mindestens 6 Monate lang) auf. Sie sollen in zwei verschiedenen Lebensbereichen gleichzeitig (z. B. Schule, Elternhaus, Umgang mit Gleichaltrigen) beobachtet werden und nicht durch andere Störungen wie Autismus oder eine affektive Störung (z. B. manische Episode – F30, depressive Episode – F32, Angststörung – F41) verursacht sein.

In dieser Begriffsbestimmung werden Unaufmerksamkeit, Überaktivität oder Impulsivität jedoch nicht als „feste Größen“ gesehen, sondern in Beziehung zum Alter und Entwicklungsstand der Jugendlichen gesetzt. Deshalb gelten die unten aufgeführten Verhaltensweisen nur dann als auffällig, wenn sie in ihrem Ausmaß unangemessen sind und deutlich vom Entwicklungsalter des Jugendlichen abweichen. Im Einzelnen bestimmt sich die Störungen über die folgenden Kriterien (World Health Organization [WHO], 2004; S. 185 ff.):

Symptome zur Unaufmerksamkeit. Mindestens sechs Monate lang bestanden mindestens sechs der folgenden Symptome in einem mit dem Entwicklungsstand des Jugendlichen nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Der/die Jugendliche

a)

Beachtet häufig Details nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten (z. B. übersieht Einzelheiten oder lässt sie aus; arbeitet ungenau).

b)

Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten (z. B. kann im Unterricht, bei Vorträgen, bei Unterhaltungen oder längerem Lesen nicht über längere Zeit konzentriert bleiben).

c)

Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen (z. B. scheint mit den Gedanken anderswo zu sein, auch ohne ersichtliche Ablenkungen).|15|

d)

Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch, bringt Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten nicht zu Ende (z. B. beginnt mit Aufgaben, verliert jedoch schnell den Fokus und ist leicht abgelenkt).

e)

Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren (z. B. Probleme bei aufeinanderfolgenden Aufgaben; Schwierigkeiten, Materialien und Sachen in Ordnung zu halten; unordentliches, planlos-desorganisiertes Arbeiten; schlechtes Zeitmanagement).

f)

Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich nur widerwillig mit Aufgaben, die länger anhaltende geistige Anstrengungen erfordern (z. B. Mitarbeit im Unterricht oder bei Hausaufgaben; Ausarbeiten von Berichten; längere Texte bearbeiten).

g)

Verliert häufig Gegenstände, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z. B. Schulmaterialien, Stifte, Bücher, Schlüssel).

h)

Lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken.

i)

Ist bei Alltagstätigkeiten oft vergesslich (z. B. bei Erledigung häuslicher Pflichten; Telefonrückrufe; Verabredungen einhalten).

Symptome zu Überaktivität bezeichnen eine exzessive Ruhelosigkeit, besonders in Situationen, die relative Ruhe verlangen. Mindestens sechs Monate lang bestanden mindestens drei der folgenden Symptome in einem mit dem Entwicklungsstand des Jugendlichen nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Der/die Jugendliche

a)

Zappelt häufig mit Händen und Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum.

b)

Verlässt den (Arbeits-)platz oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird.

c)

Läuft häufig umher oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen entspricht dem nur ein subjektives Unruhegefühl).

d)

Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich ruhig mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen.

e)

Ist häufig „auf dem Sprung“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie „getrieben“ (z. B. kann nicht über längere Zeit ruhig an einem Platz bleiben z. B. im Restaurant, bei Besprechungen).

f)

Redet übermäßig viel, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren.

Symptome zu Impulsivität meinen ein voreiliges, vorschnelles, unerwartetes und teilweise risikoreiches Verhalten. Mindestens sechs Monate lang bestand mindestens eines der folgenden Symptome in einem mit dem Entwicklungsstand des Jugendlichen nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Der/die Jugendliche

a)

Platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage beendet ist (z. B. beendet Sätze anderer; kann in Unterhaltungen nicht abwarten bis er/sie an der Reihe ist).

b)

Kann häufig nicht in einer Reihe warten oder warten, bis er/sie an die Reihe kommt (z. B. beim Warten in der Schlange).

c)

Unterbricht oder stört andere häufig (z. B. platzt in Gespräche, Spiele oder andere Aktivitäten; benutzt die Dinge anderer ohne Erlaubnis; unterbricht Aktivitäten anderer).

Diese Verhaltenssymptome zeigen sich besonders dann, wenn ein hohes Maß an eigener Verhaltenskontrolle gefordert wird (WHO, 2004). Das ist beispielsweise im Unterricht, im Beruf, bei Besuchen oder im Mannschaftssport der Fall.

Beginn der Störung

Von einer hyperkinetischen Störung wird nur dann gesprochen, wenn die Störung vor dem 7. Lebensjahr begonnen hat.

Symptomausprägung

Die Symptome sollen in mehr als einem Lebensbereich auftreten, z. B. sowohl zu Hause als auch in der Schule bzw. in der Schule und an einem anderen Ort, wo die Jugendlichen beobachtet werden können, (z. B. in der Klinik). Der Nachweis einer solchen situationsübergreifenden Symptomatik erfordert also Informationen aus mehreren Quellen (Elternhaus, Schule, evtl. Sportverein, klinische Beobachtung bei der Diagnostik mit dem Jugendlichen).

Die Symptome verursachen deutliches Leiden oder Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit.

Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84), eine manische Episode (F30), eine depressive Episode (F32) oder eine Angststörung (F41).

Bei den Hyperkinetischen Störungen werden drei untergeordnete Störungsformen unterschieden:

Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0): Wenn die allgemeinen Kriterien für eine hyperkinetische Störung (F90) erfüllt sind, die Kri|16|terien für eine Störung des Sozialverhaltens F91 jedoch nicht (WHO, 2004, S. 187).

Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1): Wenn die Kriterien für eine hyperkinetische Störung (F90) und die Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens (F91) gleichzeitig erfüllt sind (WHO, 2004, S. 187)

Nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störung (F90.9): Hier handelt es sich um eine nur in Ausnahmefällen verwendete Restkategorie, die vergeben werden soll, wenn die Unterscheidung zwischen F90.0 und F90.1 nicht möglich ist, aber die allgemeinen Kriterien für eine Hyperkinetische Störung (F90) erfüllt sind.

Sonstige hyperkinetische Störung (F90.8): Hier müssen nicht alle Kriterien der Störung erfüllt sein.

Die geschilderten Verhaltensmerkmale von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität treten nicht bei allen Gelegenheiten in gleicher Häufigkeit und Stärke auf, sondern fallen meistens schwächer aus, wenn der Heranwachsende sich in einer neuen Umgebung befindet, sich jemand direkt und allein mit ihm beschäftigt (z. B. anleitet, zusammenarbeitet) und er einer selbst gewählten Tätigkeit oder sogar seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann. Hingegen tritt das Hyperkinetische Verhalten stärker auf, wenn sich der Heranwachsende selbst stärker steuern muss (z. B. bei Gruppenarbeit, unbeliebten Tätigkeiten, in der Schulklasse, bei längerer Beanspruchung).

2.1.2  Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS)

Während die Diagnosen in aller Regel anhand der soeben dargestellten ICD-10-Kriterien gestellt werden, greifen die wissenschaftlichen Untersuchungen meistens auf die DSM-5 Kriterien zurück. In diesem Klassifikationssystem wird die Störung als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bezeichnet. Außer in der Benennung der Störung unterscheidet sich das DSM-5 auch in Einzelpunkten vom Klassifikationssystem nach ICD-10. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass im DSM-5 eine Störung auch dann festgestellt werden kann, wenn keine hyperaktive und keine impulsive Symptomatik vorliegt. Denn die drei Kernsymptome (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität) werden als Störungsbereiche gesehen, die unabhängig voneinander auftreten können. Demnach gibt es auch drei Untergruppen der Störung (Subtypen):

Gemischtes Erscheinungsbild (F90.2): Hier werden sowohl die Symptome von Unaufmerksamkeit als auch die von Hyperaktivität/Impulsivität während der letzten 6 Monate bestätigt (dieser Subtyp entspricht F90.0 in der ICD-10).

Vorwiegend unaufmerksames Erscheinungsbild (F90.0): Hier werden nur die Symptome der Unaufmerksamkeit während der letzten 6 Monate in der kritischen Häufigkeit erfüllt, nicht aber hyperaktiv-impulsives Verhalten.

Vorwiegend hyperaktiv-impulsives Erscheinungsbild (F90.1): Es werden hyperaktiv-impulsive Verhaltenssymptome festgestellt; die Hinweise auf eine klinisch bedeutsame Unaufmerksamkeit bleiben jedoch während der letzten 6 Monate unter der kritischen Grenze.

Teilremittierte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung: Diese Einordnung wird dann vorgenommen, wenn die Diagnosekriterien zwar früher vollständig erfüllt wurden, in den letzten 6 Monaten aber nicht mehr in vollem Umfang, wobei die bestehenden Symptome aber immer noch das soziale, schulische oder berufliche Funktionsniveau beeinträchtigen.

Nicht näher bezeichnete Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (F90.9): Diese Kategorie gilt für Erscheinungsbilder, bei denen zwar charakteristische Symptome der ADHS vorherrschen, die in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen verursachen, aber ohne dass die Kriterien für eine ADHS oder eine andere Störung der neuronalen oder mentalen Entwicklung vollständig erfüllt sind (vgl. DSM-5, 2015, Seite 87).

Differenzierung nach Schweregrade. Im DSM-5 wird die Störung nach dem Grad der Schwere differenziert (DSM-5, S. 79):

Leichte ADHS: Wenige oder keine Symptome zusätzlich zu denjenigen, die zur Diagnosestellung erforderlich sind, nur geringfügige Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen.

Mittelgradige ADHS: Die Ausprägung der Symptome und der funktionellen Beeinträchtigung liegt zwischen „leicht“ und „schwer“.

Schwere ADHS: Die Anzahl der Symptome übersteigt deutlich die zur Diagnosestellung erforderliche Zahl oder mehrere Symptome sind besonders stark ausgeprägt oder die Symptome beeinträchtigen die soziale, schulische oder berufliche Funktionsfähigkeit erheblich.

Dadurch kann eine verfeinerte Diagnose vorgenommen werden, die sich für die Forschung oft als günstig erweist.

|17|2.1.3  Verbreitung und Epidemiologie

Hyperkinetische Störungen bzw. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen gehören zu den häufigsten Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter. Nach Angaben im DSM-5 sind etwa 5 % der Kinder davon betroffen. Aktuelle Informationen über die Verbreitung der Störung in der BRD sind dem Gesundheitssurvey für Kinder und Jugendliche (Kurth, 2012) und den nachfolgenden Bella Studien zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu entnehmen (Schlack, Kurth & Hölling, 2008; Ravens-Sieberer, Klasen & Petermann, 2016). Beim Kinder- und Jugendgesundheitssurvey wurde eine repräsentative Stichprobe von 17.641 Kindern und Jugendlichen auf ihre körperliche und seelische Gesundheit untersucht. Die nachfolgenden Bella Studien prüften auf der Basis von 3.256 Teilnehmern die weitere Entwicklung der Gesundheit und die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten sowie in einer Teilstichprobe die Häufigkeit von Neuerkrankungen im Zeitraum von 2014 – 2016 (Altersspanne 7 – 19 Jahre.). Im Ergebnis

werden 3,9 % als aufmerksamkeitsgestört im klinischen Sinne erkannt (Schlack et al., 2007),

weisen 5,7 % der 3.256 Kinder und Jugendlichen aus der Bella Studie (Altersspanne 7 – 19 Jahre) gemäß Elternbericht und 2 % nach Selbstbericht der Kinder/Jugendlichen klinisch bedeutsame Merkmale für ADHS auf (Klasen et al, 2016).

Internationale Studien ermitteln im Trend ähnliche Häufigkeiten. Nach den Ergebnissen einer meta-analytischen Forschungssynthese von internationalen Surveys beläuft sich die Prävalenz (Häufigkeit) auf 3,4 % (Polanczyk et al., 2015). Gemessen daran entspricht die in Deutschland erhobene Häufigkeit von ADHS also weitgehend der internationalen Befundlage. Zu einer höheren Einschätzung der internationalen Prävalenz gelangt eine epidemiologische Metaanalyse aus dem gleichen Jahr, die sich auf 175 Einzelstudien mit insgesamt mehr als einer Million untersuchten Kindern und Jugendlichen stützt (Thomas, Sanders, Doust, Beller & Glasziou, 2015). Danach erfüllen 7,2 % die Diagnosekriterien von ADHS. Ähnlich hohe ADHS-Prävalenzen im Kindes- und Jugendalter gehen aus einer Metaanalyse mit 102 internationalen Einzelstudien hervor (Polanczyk et al., 2007). Sie umfasst eine Gesamtstichprobe von 171.756 bis zu 18 Jahre alten Kindern und Jugendlichen. Daraus ergibt sich eine Häufigkeit von 5,3 % klinische Diagnosen über alle untersuchten Länder hinweg. Die vorliegenden Häufigkeitsdaten schwanken demgemäß zwischen 3 % und 7 %.

Neben der Prävalenz wird auch das als Inzidenz bezeichnete Auftreten einer Störung epidemiologisch beforscht. Ein Beispiel dafür ist die prospektive Längsschnittstudie von Barbaresi et al. (2013) mit 5.718 Neugeborenen aus Rochester (USA), die bis zum 19. Lebensjahr begleitet wurden. Dabei wurden fortlaufend medizinische und schulbezogene Daten erhoben sowie die DSM-IV-Kriterien zur Definition der ADHS herangezogen. Im Ergebnis wird eine kumulative Inzidenz von 7,5 % festgestellt. Das heißt, dass 429 Personen während des Studienverlaufes eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung zeigten.

Für Jugendliche werden folgende Angaben zur Prävalenz gemacht:

13,6 % in der Altersgruppe 12 – 17 Jahre nach Urteil der Eltern (healty care providers). Hierbei waren 355.000 Kinder und Jugendliche in einer Versorgungsstudie zwischen 2 und 17 Jahren in den USA untersucht worden (Danielson, Bitsko, Ghandour, Holbrook, Kogan & Blumberg, 2018).

8 % in der Altersgruppe 13 bis 18 Jahre. Hierbei handelt es sich um eine Metaanalyse mit mehr als 1 Million Jugendlicher (Willcutt, 2012).

rund 4 % in der Altersgruppe ab 13 Jahren. Hierbei handelt es um einen systematischen Überblick mit 171.756 Kindern und Jugendlichen (Polanczyk et al., 2007).

Im Allgemeinen wird ein Absinken der ADHS Symptomatik zwischen Kindheit und Jugendalter sowie ein gleichzeitiger Anstieg von internalen Problemen (Ängste, Depression) beobachtet (Ravens-Sieberer, Klasen & Petermann, 2016, Polanczyk et al., 2007).

Bei den diagnostizierten Störungen überwiegt der unaufmerksame Typus deutlich (Willcutt, 2012). Nolan et al. (2001) ermitteln 9,9 % der 12- bis 18-jährigen Schulkinder (Stichprobengröße: 1 073) nach DSM-IV Kriterien als „vorherrschend unaufmerksam“, die kombinierte ADHS tritt hingegen mit 2,4 % deutlich seltener auf.

Jungen sind deutlich häufiger betroffen als Mädchen (Willcutt, 2012). Etwa 10 % der Jungen erfüllen die Kriterien einer ADHS, wohingegen dies bei nur rund 4,5 % der Mädchen der Fall ist wie Polanczyk et al. (2007) in einer weltweiten Bestandsaufnahme feststellen.

Die teilweise stark schwankenden Häufigkeitsangaben liegen an den unterschiedlichen Untersuchungsmethoden und Diagnosekriterien. Höhere Zahlen werden vor allem dann festgestellt, wenn

nur eine Beurteilerquelle (z. B. Eltern) herangezogen wird,

|18|hauptsächlich Informationen aus der Schule zugrunde gelegt werden, weil dies ein besonders symptomkritischer Bereich ist,

Jugendliche aus Sondereinrichtungen untersucht werden,

nur Verhaltenssymptome der ADHS als Kriterium herangezogen werden, ohne auch die weiteren Diagnosekriterien abzuklären (vgl. Essau, Groen, Conradt, Turbanisch & Petermann, 1999).

Es kommt also sehr darauf an, wer die Beurteilung vornimmt und welche Befragungsmethoden verwendet werden.

2.2  Störung des Sozialverhaltens

2.2.1  Die Störung im ICD-10

Eine Störung des Sozialverhaltens zeichnet sich durch ein wiederholtes und beständiges Verhaltensmuster aus, bei dem entweder die Grundrechte anderer oder die wichtigsten altersentsprechenden sozialen Normen oder Gesetze verletzt werden, mindestens 6 Monaten anhaltend, mit einigen der unten angeführten Symptome. Einige davon (Nr. 11, 13, 15, 16, 20, 21, 23) sind so schwerwiegend, dass das Kriterium für eine Störung des Sozialverhaltens schon erfüllt ist, wenn nur eines davon zutrifft (ICD-10; F91):

für das Entwicklungsalter des Kindes ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche,

häufiges Streiten mit Erwachsenen,

häufige aktive Verweigerung von Forderungen Erwachsener und Hinwegsetzen über Regeln,

häufiges, offensichtlich wohl überlegtes Handeln, das andere ärgert,

häufiges verantwortlich machen anderer für die eigenen Fehler oder für eigenes Fehlverhalten,

häufige Empfindlichkeit oder Sichbelästigtfühlen durch andere,

häufiger Ärger oder Groll,

häufige Gehässigkeit oder Rachsucht,

häufiges Lügen oder Brechen von Versprechen, um materielle Vorteile und Begünstigungen zu erhalten oder um Verpflichtungen zu vermeiden,

häufiges Beginnen von körperlichen Auseinandersetzungen (außer Geschwisterauseinandersetzungen),

Gebrauch von möglicherweise gefährlichen Waffen (z. B. Schlagholz, Ziegelstein, zerbrochene Flasche, Messer, Gewehr),

häufiges Draußenbleiben in der Dunkelheit, entgegen dem Verbot der Eltern (beginnend vor dem 13. Lebensjahr),

körperliche Grausamkeit gegenüber anderen Menschen (z. B. Fesseln, ein Opfer mit einem Messer oder mit Feuer verletzen),

Tierquälerei,

absichtliche Zerstörung des Eigentums anderer (außer Brandstiftung),

absichtliches Feuerlegen mit dem Risiko oder der Absicht, ernsthaften Schaden anzurichten,

Stehlen von Wertgegenständen ohne Konfrontation mit dem Opfer, entweder Zuhause oder außerhalb (z. B. Ladendiebstahl, Einbruch, Unterschriftenfälschung),

häufiges Schuleschwänzen, beginnend vor dem 13. Lebensjahr,

Weglaufen von den Eltern oder elterlichen Ersatzpersonen, mindestens zweimal oder einmal länger als eine Nacht (außer dies geschieht zur Vermeidung körperlicher oder sexueller Misshandlung),

eine kriminelle Handlung, bei der das Opfer direkt angegriffen wird (einschließlich Handtaschenraub, Erpressung, Straßenraub),

Zwingen einer anderen Person zu sexuellen Aktivitäten,

häufiges Tyrannisieren anderer (z. B. absichtliches Zufügen von Schmerzen oder Verletzungen – einschließlich andauernder Einschüchterung, Quälen oder Belästigung),

Einbruch in Häuser, Gebäude oder Autos.

Weitere Zuweisungskriterien

Die Symptomatik muss mindestens seit 6 Monaten bestehen. Ferner sind verschiedene andere psychische Beeinträchtigungen wie beispielsweise eine dissoziale Persönlichkeitsstörung (F 60.2), eine manische Episode (F30), eine depressive Episode (F32) oder eine tiefgreifende Entwicklungsstörung (F93) auszuschließen.

Subtypen

Es werden mehrere Untergruppen unterschieden, je nachdem, wo das gestörte Verhalten auftritt und welche der obenstehenden Symptome erfüllt sind:

Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (F91.0). Hier treten die sozialen Störungen ausschließlich im familiären Bereich (Kernfamilie, unmittelbare Lebensgemeinschaft) auf. Für das Vorliegen dieser Störung müssen mindestens drei der oben aufgeführten Symptome seit mindestens sechs Monaten vorliegen, darunter mindestens drei Symptome von Nr. 9 bis 23. Entschei|19|dend ist aber, dass sich das gestörte Verhalten (drei Symptome von 1 bis 23) auf den familiären Rahmen beschränkt.

Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1). Das Hauptmerkmal dieser Untergruppe ist das Fehlen einer wirksamen Einbindung in eine gleichaltrige Gruppe. Die Jugendlichen haben also nur wenige Beziehungen zu Gleichaltrigen, sind tendenziell isoliert und leiden unter Zurückweisung oder Unbeliebtheit. Es fehlen länger andauernde enge gegenseitige Freundschaften. Damit diese Störung diagnostiziert werden kann, müssen wiederum mindestens drei der unter Nr. 9 bis 23 genannten Symptome für mindestens 6 Monate vorgelegen haben.

Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2). Der Jugendliche ist in die Gleichaltrigengruppe eingebunden. Entweder wird das gestörte soziale Verhalten mit der Gruppe zusammen verübt oder innerhalb der Familie gezeigt. Das Verhalten tritt auch außerhalb des familiären Rahmens auf. Die Beziehung zu Gleichaltrigen ist allerdings angemessen. An Verhaltenssymptomen müssen mindestens drei der oben genannten Merkmale von 9 – 23, darüber hinaus ein Symptom von 9 – 23, seit mindestens sechs Monaten vorliegen.

Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3). Für diese Störungskategorie müssen vier der aufgeführten Symptome seit mindestens 6 Monaten vorliegen, aber nicht mehr als zwei Symptome von 9 – 23. Diese Symptome müssen für das Entwicklungsalter des Kindes unpassend und unangemessen sein. Im Gegensatz zu den anderen, von Aggression, Dissozialität und delinquentem Handeln geprägten Kennziffern, ist dieses Störungsbild vor allem von provokativen, trotzigen und oppositionellen Verhaltensweisen geprägt. Darüber hinaus haben die meist noch recht jungen Betroffenen große Probleme, sich an Regeln zu halten, sie reagieren mit häufigen und massiven Wutausbrüchen, werden sehr schnell zornig, sind nachtragend und oftmals nicht in der Lage, sich in die sozialen Zusammenhänge einzufügen.

Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92). Hier sind die Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens (F91) sowie zusätzlich die Kriterien für eine affektive Störung (F30 – 39; depressive Episode) erfüllt.

2.2.2  Störung im DSM-5

In der Forschung wird oft das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-5; American Psychiatric Association [APA], 2013) verwandt. Es stimmt weitgehend mit den schon oben genannten Störungsdefinitionen des ICD-10 überein, allerdings ergeben sich auch vier Abweichungen: Eine Störung des Sozialverhaltens wird anhand von insgesamt 15 symptomatischen Verhaltensweisen festgestellt, die sich auf das aggressive Verhalten gegenüber Menschen und Tieren, die Zerstörung von Eigentum, Betrug und Diebstahl sowie schwere Regelverstöße beziehen. Drei der symptomatischen Verhaltensweisen müssen in den letzten 12 Monaten und mindestens eine davon in den letzten 6 Monaten beobachtet worden sein.

Die Subtypen werden nach dem Beginn der Störung bestimmt (DSM-5; S. 646)

Typ mit Beginn in der Kindheit (F91.1): „Die Person zeigt mindestens ein charakteristisches Symptom … vor dem Alter von 10 Jahre.“

Typ mit Beginn in der Adoleszenz (F91.2): „Die Person zeigt kein charakteristisches Symptom der Störung des Sozialverhaltens vor dem Alter von 10 Jahren.“

Typ mit Nicht Näher Bezeichnetem Beginn (F91.9): Die Kriterien für die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens sind erfüllt, wegen unzureichender Informationen kann deren Beginn aber nicht fixiert werden.

Im DSM-5 werden verschiedene Schweregrade der Sozialstörung bestimmt (DSM-5, S. 647).

Leicht: zusätzlich zu den für die Diagnose erforderlichen Symptome sind wenige oder keine weiteren Probleme des Sozialverhaltens vorhanden, und die Probleme des Sozialverhaltens fügen anderen nur geringen Schaden zu (z. B. Lügen, Schule schwänzen, ohne Erlaubnis nachts außer Haus bleiben, andere Regelverletzungen).

Mittel: Die Anzahl der Probleme des Sozialverhaltens und die Auswirkung auf andere liegen zwischen denen, die leichtgradig, und jenen, die als schwergradig beschrieben werden (z. B. Stehlen ohne direkten Kontakt mit dem Opfer, Vandalismus).

Schwer: Zusätzlich zu den für die Diagnose erforderlichen Symptomen sind viele weitere Probleme des Sozialverhaltens vorhanden oder die Probleme des Sozialverhaltens fügen anderen beträchtlichen Schaden zu (z. B. erzwungene sexuelle Handlungen, körperliche Grausamkeit, Benutzen einer Waffe, Stehlen in Kontakt mit dem Opfer, Einbruchsdelikte).

Das Ausmaß der prosozialen Emotionalität wird zudem über die Kategorien bestimmt: Mangel an Reue oder Schuldbewusstsein; Gefühlskälte. Mangel an Empathie; Gleichgültigkeit gegenüber eigener Leistung |20|und schließlich oberflächlicher oder mangelnder Affekt.

Störung mit oppositionellem Trotzverhalten bildet eine eigene Kategorie (F91.3). Das dazugehörige Verhalten wird als anhaltendes Muster von ärgerlicher/gereizter Stimmung, streitsüchtigem/trotzigen Verhalten oder Rachsucht definiert, das sich in mindestens vier Symptomen sowie in der Interaktion mit mindestens einer anderen Person zeigt, die kein Geschwister ist. Gefordert wird, dass diese Verhaltensweise seit mindestens 6 Monaten besteht.

Der aktuelle Schweregrad dieser Störung wird eingeteilt in:

Leicht: die Symptome begrenzen sich auf einen Bereich (z. B. auf die Schule, auf zu Hause, mit Gleichaltrigen auf der Arbeit),

Mittel: die Symptome zeigen sich in zwei Situationen bzw. Bereichen,

Schwer: die Symptome zeigen sich in drei oder mehr Situationen bzw. Bereichen.

2.2.3  Verbreitung und Epidemiologie

In unausgelesenen Stichproben treten Störungen des Sozialverhaltens (F91.0; ICD-10) mit einer Auftretenswahrscheinlichkeit von etwa 2 bis 8 % mit dem mittleren Wert von 4 % auf (DSM 5, S. 650). Ihle und Esser (2002) ermitteln in einer Zusammenfassung von insgesamt 19 Untersuchungen eine mittlere Auftretenshäufigkeit von 7,5 % (Schwankungsbreite 2,9 bis 13,9 %). Eine Metaanalyse von Polanczyk, Salum, Sugaya, Caye und Rohde (2015) mit 41 Studien aus 27 Ländern (Gesamtstichprobe rund 530.000) ermittelt eine Prävalenz von 5,7 % für disruptive Störungen (einschließlich der Störungen des Sozialverhaltens), 3,6 % für oppositionelles Trotzverhalten und 2,1 % für Störungen des Sozialverhalten allein (gemäß DSM Kategorien). Zu ähnlichen Häufigkeiten gelangen auch Turner, Hu, Villa und Nock (2018) in einer Metaanalyse; sie ermitteln für Störung des Sozialverhaltens 2,3 % und für oppositionelles Trotzverhalten 3,1 %. Auch Costello und andere (2003) stellen in einer prospektiven Längsschnittstudie, die bis zum 16. Lebensjahr reicht, eher niedrige Prävalenzen fest: 4,1 % für oppositionelles Trotzverhalten und 2,7 % für Störung des Sozialverhaltens. Ein Höhepunkt erreicht diese Störungen jeweils im 15. Lebensjahr (Häufigkeit 3,1 bzw. 4,1 %).

Unter den behandelten Fällen (Behandlungsprävalenz) stellen die Sozialstörungen mit 2 % die häufigste Diagnose dar, ergänzt noch um 11 % Kinder und Jugendliche mit oppositionellem Trotzverhalten. Diese Angaben stammen aus einer Metaanalyse mit 12 Studien und rund 3.000 Kindern und Jugendlichen, die in psychosozialen Berufsfelder diagnostiziert und behandelt worden waren (Bronsard, Alessandrini, Fond, Loundou, Auquier, Tordjman & Boyer, 2016).

Von der Störung sind Jungen häufiger betroffen: Moore, Silberg, Roberson-Nay & Mezuk (2017) ermitteln für Störungen des Sozialverhaltens, die auf das Jugendalter beschränkt sind, eine Häufigkeit von 5,1 % für Jungen und 4,6 % für Mädchen. Rowe, Maughan, Pickles, Costello & Angold, 2002) stellen in ihrer Great Smoky Mountains Studie mit 4.500 unausgelesenen Kindern und Jugendlichen für Jungen eine Rate von 3,1 % und für Mädchen 1,1 % fest (ODD 2,0).

2.2.4  Komorbidität

Wenn zwei oder mehr klinische Störungen gleichzeitig auftreten, bezeichnet man dies als Komorbidität. Dies ist bei den hier behandelten Störungen besonders oft der Fall, wobei die nachstehenden Verflechtungen besonders typisch sind:

Das gemeinsame Auftreten von hyperkinetischen Störungen, Störungen des Sozialverhaltens bzw. oppositionellem Trotzverhalten. Die drei Störungen überlappen sich beträchtlich: Angold und seine beiden Kollegen (1999) kamen auf eine durchschnittliche Schnittmenge zwischen Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen und CD/ODD von 32 %. In der National Comorbidity Studie wurde unter anderem das Zusammentreffen von ODD und Störungen des Sozialverhaltens bzw. von ODD und ADHS geprüft (3 199 Personen im Alter von 18 bis 44 Jahren). Dabei werden folgenden Verknüpfungen festgestellt: 35 % zu ODD/ADHD und etwa 42 % zu ODD/Störungen des Sozialverhaltens (Nock, Kazdin, Hiripi & Kessler, 2007). Diese Komorbiditäten fallen in einem Überblicksartikel von Turner, Hu, Villa und Nock (2018) noch umfangreicher aus und belaufen sich bei Odd und CD zu Impulskontrollstörungen auf etwa 56 %; bei ODD zu Störungen des Sozialverhaltens ebenfalls auf etwa 56 %. Dieser enge Zusammenhang ist einerseits auf gemeinsame Merkmale (z. B. gestörte Selbststeuerung, geringe Inhibitionskontrolle) zurückzuführen, die in allen drei Störungen vorkommen. Andererseits stehen die Hyperkinetischen Störungen oft am Anfang einer negativen Entwicklung und bringen mit der Zeit oppositionelles Trotzverhalten bzw. eine Störung des Sozialverhaltens hervor (siehe unten Verlauf und Prognose). Und schließlich werden die Störungen in der Familie tradiert (Waschbusch, 2002).

|21|Bisweilen wird ADHS geradezu als Vorläufer für Störungen des Sozialverhaltens ausgewiesen und festgestellt, dass sie sich bei einer schweren ADHS-Symptomatik, ungeeigneter familiärer Unterstützung und mangelnder sozialer bzw. schulischer Anpassung Störungen des Sozialverhaltens einstellen, wobei insbesondere das oppositionelle Verhalten als „Bindeglied“ hervorsticht. Dieser Verlauf wird besonders in Längsschnittstudien deutlich (siehe unten van Lieshout, Luman, Twisk, et al., 2016; Greene, Biederman, Faraone, Sienna & Garcia-Jetton, 1997; Mannuzza et al., 1988).

Im Einzelnen werden folgende Komorbiditäten beobachtet;