Komplexe Traumafolgestörungen erfolgreich behandeln - Mary Jo Barrett - E-Book

Komplexe Traumafolgestörungen erfolgreich behandeln E-Book

Mary Jo Barrett

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Beschreibung

Traumatisierte Menschen gezielt unterstützen In diesem Buch stellen die Autorinnen das Collaborative Change Model (CCM) vor, eine wissenschaftlich fundierte und in der Praxis bewährte Methode, um das Zusammenwirken von komplex traumatisierten Menschen und ihren professionellen Betreuern zu unterstützen. Hilfreiche Techniken für den Umgang mit Traumafolgen sowie neueste Erkenntnisse aus der Forschung machen das Buch zu einem wertvollen Begleiter für die Behandlung in unterschiedlichsten Settings. Der Fokus des CCM richtet sich auf die Therapeut-Klient-Beziehung. Ziel ist, das Commitment des Klienten zu festigen und sein Selbstwirksamkeitserleben zu fördern. Retraumatisierungen gilt es ebenso vorzubeugen wie dem Ausbrennen der Traumahelfer. Eine Stärkung aller Beteiligten verspricht die besten Therapieergebnisse und hilft den Betroffenen, wieder hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.

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Mary Jo Barrett & Linda Stone FishKomplexe Traumafolgestörungen erfolgreich behandeln

Über dieses Buch

Traumatisierte Menschen gezielt unterstützen

 In diesem Buch stellen die Autorinnen das Collaborative Change Model (CCM) vor, eine wissenschaftlich fundierte und in der Praxis bewährte Methode, um das Zusammenwirken von komplex traumatisierten Menschen und ihren professionellen Betreuern zu unterstützen. Hilfreiche Techniken für den Umgang mit Traumafolgen sowie neueste Erkenntnisse aus der Forschung machen das Buch zu einem wertvollen Begleiter für die Behandlung in unterschiedlichsten Settings. 

Der Fokus des CCM richtet sich auf die Therapeut-Klient-Beziehung. Ziel ist, das Commitment des Klienten zu festigen und sein Selbstwirksamkeitserleben zu fördern. Retraumatisierungen gilt es ebenso vorzubeugen wie dem Ausbrennen der Traumahelfer. Eine Stärkung aller Beteiligten verspricht die besten Therapieergebnisse und hilft den Betroffenen, wieder hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.

Mary Jo Barrett ist Leiterin des Center for Contextual Change sowie Lehrbeauftragte an der Universität von Chicago und dem Chicago Center for Family Health.

Linda Stone Fish, PhD, ist David-B.-Falk-Stiftungsprofessorin an der Syracuse University in New York. Seit über 25 Jahren bildet sie Paar- und Familientherapeuten aus und betreut komplex traumatisierte Klienten.

Copyright © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2016

Copyright © der Originalausgabe: Taylor & Francis 2014. Published by arrangement with The March Agency Ltd and The Taylor and Francis Group LLC.

Originaltitel: Treating Complex Trauma. A Relational Blueprint for Collaboration and Change

Übersetzung: Guido Plata

Coverfoto: © .marqs, 2015 – www.photocase.com/1053573

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2016

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-565-6

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-599-1 (EPUB), 978-395571-601-1 (PDF), 978-3-95571-600-4 (MOBI).

Für unsere Klienten, unsere Kollegen, unsere Studenten, unsere Freunde, unsere Feinde und unsere Familien. Danke, dass Sie alle uns die Wichtigkeit von Kollaboration verdeutlicht haben.

Dieses Buch hätte nicht ohne die harte Arbeit, die Hingabe und die Kollaboration der Mitarbeiter am Center for Contextual Change und Dennis O’Keefe und Ronald C. Fish entstehen können.

Vorwort

Manchmal sind diejenigen, die traumatisierten Menschen helfen wollen – ob es sich bei ihnen nun um Familienangehörige oder Therapeuten handelt –, der Meinung, dass die traumatisierten Personen der Führung bedürfen; dass irgendwie alle Klienten ins Behandlungsprotokoll passen müssen und dass „der Arzt es am besten weiß“. Zuvor, von den 1950ern bis in die 1980er-Jahre, dominierte ein klientenzentrierter Ansatz sehr stark, bis die Therapeuten selbst mehr Strenge in der Einhaltung von Behandlungsprotokollen forderten.

Der Titel Systemic Treatment of Incest: A Therapeutic Handbook von Terry Trepper und Mary Jo Barrett erschien im Jahre 1989 als erster Band in der englischen Buchreihe. Trepper, Professorin für Familienpsychologie und Expertin für menschliche Sexualität, und Barrett, die als Therapeutin Pionierarbeit geleistet hatte, indem sie als Erste familiensystemische Strategien auf traumatisierte Familien anwandte, profitierten von jahrelanger Erfahrung in der Arbeit mit Inzestüberlebenden und ihren Familien. Gemeinsam verfassten sie ein Buch, das die psychotherapeutische Gemeinde aufrüttelte.

Das Buch war von Therapeuten für Therapeuten geschrieben worden, die ein in ihrer Fachterminologie verfasstes Werk darüber lesen wollten, wie Klienten unter sexuellen Traumatisierungen litten und welche Möglichkeiten es für Therapeuten gab, systemische Ansätze für eine umfassende Einbeziehung und Behandlung der geschädigten Familien zu nutzen. Systemic Treatment of Incest war eines der ersten Bücher, die in diese Richtung gingen, und es erschien zu einer Zeit, als Traumaspezialisten kaum Familien behandelten – und wenn sie es taten, dann keineswegs in einer Weise, die man heute als systemisch oder kontextuell bezeichnen würde.

In den späten 1980er-Jahren gab es Bestrebungen, die Psychotherapie einschließlich der Familientherapie zu professionalisieren; dies geschah über staatliche Lizenzierung, die Einführung von standardisierten Vorgehensweisen für Angehörige klinischer Institutionen und Bestrebungen, Behandlungsansätze zu manualisieren, um einer evidenzbasierten Vorgehensweise mehr Gewicht zu verleihen. Gleichzeitig kamen in der Psychotherapie viele neue Innovationen auf, die eine bessere Behandlung traumatisierter Personen ermöglichten. Heute stehen in den meisten Therapieausbildungen die Wichtigkeit des Kontextes, die therapeutische Beziehung, die Einbindung der Klienten als Kunden in den Veränderungsprozess und die Selbstsorge des mit traumatisierten Klienten arbeitenden Therapeuten im Vordergrund.

Mit anderen Worten, in unserem Eifer, die Effektivität im Hinblick auf eine Symptomreduzierung zu quantifizieren, neigten wir dazu, die Menschlichkeit unserer Klienten auszublenden und uns gegenüber ihrer eigenen Realität abzuschotten. Wir haben nun herausgefunden, dass das Vorgehen, sich die Geschichten von Klienten und ihre Lösungen anzuhören und erst dann einen Behandlungsplan zu entwickeln, zwar simpel klingt, aber klinisch effektiv ist.

Barrett und Stone Fish führen uns zurück zu unseren Wurzeln und vollenden dabei, was Trepper und Barrett in den 1980er-Jahren begonnen haben.

Die Reihe Psychosocial Stress und das Herausgebergremium begrüßen Komplexe Traumafolgestörungen erfolgreich behandeln von Mary Jo Barret und Linda Stone Fish, ein Nachfolgewerk zu dem Buch von Trepper und Barrett, das 25 Jahre zuvor erschien. Dieses Buch ist ein Juwel. Es erweitert das vorangegangene Werk, indem es all das einbezieht, was Barrett und Stone Fish sowohl aus ihren Forschungen als auch insbesondere aus ihrer Praxis sowie durch ihre Konzentration auf komplexe Traumafolgestörungen gelernt haben. Die meisten Experten auf diesem Gebiet betrachten die Begutachtung und Behandlung von Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen als das Herausforderndste, was einem in der Praxis begegnen kann. Was diese Forscher und Therapeuten in ihrer harten Arbeit in der klinischen Praxis entdeckt haben, liefert nicht nur eine Richtlinie für die Behandlung komplexer Traumafolgestörungen, sondern sagt auch sehr viel über die Behandlung aller Arten von Traumafolgestörungen innerhalb und außerhalb des familiären Kontextes.

Dieses Buch basiert auf dem erprobten und bewährten Ansatz zur Behandlung der Folgen sexueller Traumatisierungen und erweitert ihn auf traumatisierte Familien im Allgemeinen, auch wenn der Fokus hier auf komplexen Traumafolgestörungen liegt. Es ist ein sehr wichtiges und multisystemisches Unterfangen.

Komplexe Traumafolgestörungen – die Folgen wiederholter Missbrauchserfahrungen durch das relationale Umfeld über einen längeren Zeitraum – sind die am schwierigsten korrekt zu diagnostizierenden und zu behandelnden, und dieses Buch liefert hierfür eine standardisierte Vorgehensweise. Das zentrale Konzept im Ansatz zur Behandlung komplexer Traumafolgestörungen nach Barrett und Stone Fish ist Kollaboration. Die Therapeuten werden darin angeleitet, wie sie am besten kollaborativ mit ihren Klienten zusammenarbeiten können, und eine klare, aber flexible klinische Richtlinie liefert einen zugänglichen und evidenzbasierten Behandlungsplan; einen, der zu dem für den Rest ihres Lebens andauernden Wachstums- und Selbstsorgeplan aufseiten der Klienten führt.

Das vorliegende Buch über die Behandlung komplexer Traumafolgestörungen hätte auch „Das Collaborative Change Model (CCM)“ genannt werden können, denn Barrett und Stone Fish haben zwar ein bemerkenswertes Buch für Therapeuten verfasst, die mit Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen arbeiten, aber kollaborative Veränderung ist die entscheidende Variable in ihrem Modell, und diese hat auch weitreichende Implikationen für alle Therapeuten, die mit einem traumatisierten Klienten arbeiten, der nach einem traumatisierenden Ereignis wieder nach vorne blicken möchte.

Die komplexe Traumafolgestörung beinhaltet eine Vielzahl von Aspekten, die in der Behandlung berücksichtigt werden müssen. Die Autorinnen dieses Buches haben entdeckt, dass dies in einer bestimmten Reihenfolge geschehen sollte. Zu den vielfältigen Aspekten zählen unter anderem Gewalt und Misshandlung auf vielen Ebenen: interpersonell, psychologisch, sexuell, spirituell und emotional. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass diese Art von Trauma komplexer Natur ist und tiefe Wunden hinterlässt, die eine vorsichtige Behandlung und eine enge und positive Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Klient erfordern.

Das dynamische, phasenbasierte Modell der Autorinnen ist ein Leitfaden für Therapeuten. Es beinhaltet drei Phasen oder Stufen der Arbeit mit Klienten, die an komplexen Traumafolgestörungen leiden: Kontext für Veränderungen herstellen (sechs Aktivitäten, einschließlich „Feststellen von Vulnerabilitäten“ und „Setzen von Zielen“); Entwicklung eines kollaborativen Behandlungsplanes (sieben Aktivitäten, darunter „Erkunden von Behandlungsoptionen“, „Hinterfragen von Vulnerabilitäten und der Funktion von Symptomen“) sowie letztlich die Stufe „Veränderungen konsolidieren und voranschreiten“ (sechs Aktivitäten einschließlich „Akzeptieren von Vulnerabilitäten“ und „Aktives Anerkennen“).

Therapeuten, die sich gegenüber traumatisierten Familien optimal verhalten wollen, können dieses Buch als Richtlinie für das umfassende Verstehen von Individuen, Paaren und Familien verwenden und mit den Betroffenen gemeinsam kollaborativ darüber beraten, welche Behandlung zu welcher Zeit, unter welchen Bedingungen, für wie lange und mit welcher Art von Ergebnis für alle Beteiligten am besten ist.

Charles R. Figley

Herausgeber der englischen Psychosocial-Stress-Buchreihe, in der dieser Titel erschienen ist.

Einführung

„In der langen Geschichte der Menschheit setzten sich diejenigen durch, die gelernt hatten, möglichst effektiv zusammenzuarbeiten und zu improvisieren.“

(Charles Darwin)

Dieses Buch liefert ein praktisches und klinisch evaluiertes Modell für die Behandlung von Klienten, die komplexe Traumata erlitten haben und an den Folgen (einer komplexen Traumafolgestörung) leiden. Das hier vorgestellte Material und das beschriebene Modell sind als Vorlage oder als Metarahmen gedacht, der von Therapeuten aus zahlreichen Disziplinen in vielen unterschiedlichen Bereichen einsetzbar ist. Das Modell hilft bei der Organisation der Behandlung aller Arten von Klienten mit einer Vorgeschichte interpersoneller Traumata. Es diente bereits für Therapeuten, die über eine Ausbildung und Expertise in bestimmten therapeutischen Ansätzen verfügen, als Leitfaden für die Arbeit mit traumatisierten Klienten, und es wurde ebenso schon von Personen ohne formelle Ausbildung in der Traumaarbeit verwendet. Das Modell kam bei Therapeuten in den USA, Lateinamerika, dem Mittleren Osten, Asien und Teilen Europas zum Einsatz und auch bei Fachkräften, die mit Menschen aus Mehrheits- und Minderheitenkulturen auf der ganzen Welt arbeiteten. Es ist ein kollaboratives Konstrukt, was bedeutet, dass es Therapeuten in der praktischen Arbeit mit dem Modell dazu ermuntert, andere Fachkräfte in der Gemeinde, die Klienten selbst und deren Unterstützungssysteme einzubeziehen, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Es ist ein Modell, das Teams erschafft, um Veränderung und Wachstum herbeizuführen. Wie Helen Keller1 sagte: „Allein können wir so wenig erreichen, gemeinsam aber so viel.“

Viele Personen, die komplexe Traumata erlitten haben, stecken fest und benötigen Hilfe. Vielleicht leben sie allein oder auch in Familien, in Betreuungseinrichtungen, im Gefängnis oder in therapeutischen Wohngemeinschaften. Ein großer Teil von ihnen vegetiert nur von Tag zu Tag und wartet dabei auf die nächste verstörende Krise. Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen beginnen die Reise ihrer Therapie oft mit zusätzlichem emotionalem Ballast aufgrund von Traumatisierungen in Kinderheimen, Betreuungseinrichtungen, Gefängnissen und anderen therapeutischen Beziehungen – wie derjenigen, in die sie sich nun auf der Suche nach Hilfe begeben. Therapeuten hingegen treten mit der expliziten Auffassung, dass sie nun hilfreich sein müssten, in die Beziehung ein. Möglicherweise kennen sie sich mit einer Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten sehr gut aus und haben eine aufgeschlossene Haltung, aber es mangelt ihnen an einem effektiven Behandlungsplan für die Optimierung ihrer Interventionen und an den relationalen Fertigkeiten für Klienten mit komplexen Traumafolgestörungen. Wenn Therapeuten keinen Behandlungsplan haben und sich in komplizierten therapeutischen Beziehungen mit ihren Klienten befinden, kann es dazu kommen, dass sie diejenigen Klienten unabsichtlich retraumatisieren, die zuvor von anderen Menschen in Machtpositionen traumatisiert wurden, indem diese ihnen furchtbare Dinge antaten. Sind Therapeuten jedoch mit einem Behandlungsplan ausgestattet und erklären diesen den Klienten Schritt für Schritt, kollaborieren Therapeuten und Klienten so, dass es sich mit den Worten vieler unserer Klienten zusammenfassen lässt: „Wir machen das hier zusammen.“ Ein vorhersagbares, strukturiertes, zielgeleitetes Stufenmodell, das in Zusammenarbeit mit den Klienten erstellt wird, erzeugt einen nichttraumatisierenden heilenden Kontext. Genau solch ein Behandlungsmodell beschreiben wir in diesem Buch.

Wir empfehlen, dass Sie dieses Buch mit Bedacht lesen, sich also genügend Zeit nehmen und dabei an den Kontext Ihrer Tätigkeit und an Ihre Klienten denken; die hier vorgestellten Konzepte und Interventionen auf Ihre Arbeit und Ihren eigenen Stil anwenden und die Ideen so integrieren, dass Sie sie vollständig verinnerlichen. Mit anderen Worten, wir möchten, dass Sie als Leser schon üben, in dem Modell zu Hause zu sein, während Sie darüber lesen.

Stufe 1: Kontext für Veränderungen herstellen

Stufe 2: Muster hinterfragen und Realitäten erweitern

Stufe 3: Veränderungen konsolidieren und voranschreiten

Aufbauen einer Zuflucht

Kollaboratives Erkunden differenzieller traumabezogener Interventionen

Nährende Umgebungen

Feststellen von Vulnerabilitäten und der Funktion von Symptomen

Erweitern der Zuflucht und des Kontextes für Veränderungen

Akzeptieren von Vulnerabilitäten

Beurteilen der Ressourcen

Hinterfragen von Vulnerabilitäten und der Funktion von Symptomen

Integrieren von Ressourcen

Erkunden positiver und negativer Konsequenzen von Veränderungen

Erweitern von Ressourcen

Entscheiden für eine aktive Geisteshaltung

Verstehen und Validieren der Verleugnung, Verfügbarkeit und Bindung des Klienten

Prüfen und Erweitern von Verfügbarkeit

Aktives Anerkennen

Setzen von Zielen

Erreichen von Zielen

Einbeziehen von Erfolg

Einführen des Anerkennens

Fortwährendes Anerkennen

Das Modell

Das Collaborative Change Model (CCM) ist ein rekursives sequenzielles Modell, das einen natürlichen Veränderungszyklus widerspiegelt. Die rekursive Abfolge ist dabei in drei Stufen unterteilt. In der ersten Stufe der Sequenz (Kontext für Veränderungen herstellen) liegt der Schwerpunkt darauf, den therapeutischen Kontakt mit Klienten zu stabilisieren, indem man sich auf Sicherheit und Zuflucht konzentriert. In Stufe 1 sammeln Therapeuten Informationen darüber, in welcher Form die Symptome und Verhaltensweisen des Klienten eine Anpassung an komplexe Traumata darstellen; sie entwickeln eine gemeinsame Sprache im Hinblick auf den Überlebenszyklus bei Traumata und darüber, wie Veränderungen stattfinden, und sie erstellen gemeinsam einen Behandlungsplan vor dem Hintergrund des individuellen Ablaufs von Veränderungen beim Klienten. Muster hinterfragen und Realitäten erweitern (Stufe 2) ist die Stufe, in der Fertigkeiten aufgebaut werden, mit denen die Klienten in neue Arten des Denkens und Verhaltens eintauchen und ihre Weltsicht erweitern können, um alternative Lebensmuster in Betracht zu ziehen. Konsolidierung (Stufe 3) bezieht sich auf das Herausstellen der adaptiven Veränderungen, die der Klient bereits einbezieht; den Ausblick in die Zukunft (sei diese nun der nächste Tag, die nächste Woche oder das ganze Leben nach der Therapie) und die Planung dessen, wie man sich auch in stressigen Zeiten weiter auf einen konstruktiven Umgang mit der Situation konzentrieren kann. Auch wenn das Modell einer sehr klaren Abfolge von Stufen und Schritten folgt, ist es gleichzeitig flexibel und an den individuellen Stil des Therapeuten, das theoretische Modell und die klinische Umgebung genauso anpassbar wie an die Symptomatik des Klienten. Die Therapeuten können kreativ dabei sein, Interventionen zu entwickeln, die zu ihren individuellen Talenten passen. Anderen bei Wachstum und Veränderung zu helfen ist ein kreativer und ehrwürdiger Prozess. Das CCM gestattet jedem Klienten und Therapeuten, gemeinsam den kreativen Veränderungsprozess zu gestalten, der zu ihren Stärken und Stilen passt. Gleichzeitig betont das CCM, dass der natürliche Veränderungszyklus in jeder guten Therapie für Klienten mit einer Vorgeschichte komplexer Traumata stattfindet. Das Schöne an diesem Modell liegt darin, dass es – ähnlich, wie ein Bauplan eine Konstruktion organisiert – eine Reise zur Heilung für alle organisiert, die in eine einfache rekursive Schleife einbezogen sind, welche kreativ, respektvoll, praktisch, klientenzentriert und effektiv ist.

Eine kurze Geschichte des Modells

Barrett and Trepper (1986; Trepper & Barrett, 1989) schrieben zuerst über das Modell, das sie seinerzeit noch als „Multiple Systems Approach“ („multisystemischen Ansatz“) bezeichneten. Die einzelnen Stufen wurden dabei anfänglich zu dem Zweck erstellt, die Behandlung zu systematisieren und Therapeuten zu helfen, die Angst zu überwinden, die mit der Arbeit an Fällen innerfamiliärer Gewalt einhergeht. Wir, Mary Jo Barrett und Linda Stone Fish, arbeiten seit den Anfängen des Modells damit, wobei wir einander mit Erkenntnissen aus unseren gemeinsamen und eigenständigen wissenschaftlichen Arbeiten beeinflussten (z. B. Barrett, Stone Fish & Trepper, 1990; Stone Fish, 2000; Stone Fish & Harvey, 2005). Während wir unser Verständnis erweiterten und neue Informationen in unser Modell einbezogen, entwickelte es sich zu dem weiter, was wir mittlerweile als Collaborative Change Model bezeichnen.

Wir haben das Modell für die Unterrichtung von Studenten ebenso benutzt wie für die Ausbildung von Therapeuten, die in ambulanter psychotherapeutischer Versorgung, Schulen, Kinderschutzdiensten, Gefängnissen, klinikbasierten Programmen und stationären Behandlungseinrichtungen tätig sind. Anhand von Rückmeldungen aus über 500 Prozessevaluations-Interviews mit CCM-Klienten, die uns über hilfreiche Aspekte der Behandlung informierten, wurde das Modell erweitert. Im Laufe der letzten 30 Jahre nutzten wir Informationen von auf Traumata spezialisierten Forschern, Theoretikern und Wissenschaftlern (z. B. Briere, 1995; Herman, 1992; Ford & Courtois, 2009; Siegel, 2010; Porges, 2001; Van der Kolk, 1987; Van der Kolk, McFarlane & Weisaeth, 2006), von den Klinikern am Center for Contextual Change und von Tausenden von Klienten, um ein enormes Maß an Wissen darüber anzuhäufen, wie komplexe Traumata sich auf Individuen und Familien auswirken.

Am Center for Contextual Change in Chicago, Illinois, haben Mary Jo und ihre Kollegen das CCM als ihren therapeutischen Ansatz für die Behandlung von Klienten mit komplexen Traumata sowie von Opfern und Tätern in Fällen interpersoneller Misshandlungen eingesetzt. Die Klienten durchlaufen eine Aufnahmeuntersuchung, zu der oft auch das Trauma Symptom Inventory-2 (TSI-2) (Briere, 1995; Briere & Elliott, 2003) hinzugezogen wird, welches ebenfalls am Beginn der Therapie, in der Mitte und am Ende der Therapie eingesetzt wird. Viele Klienten werden nach der Beendigung der Behandlung noch interviewt. In Abständen werden auch Klienten, die die Therapie vor mehr als fünf Jahren beendet haben, noch kontaktiert und befragt, was an der Therapie hilfreich war und wie sie die eingetretenen Veränderungen konsolidiert haben. Das CCM, das wir in diesem Buch sehr detailliert erkunden werden, hat die Rückmeldung von Klienten integriert, welche dann wiederum bei der Ausgestaltung des Modells half. Im ganzen Buch finden sich Aussagen von therapeutischen Teams und Klienten dazu, wie das CCM der Komplexität jeder einzigartigen Situation Herr werden kann.

Terminologie

Komplexes Trauma

Wir definieren komplexes Trauma als tief greifende Geisteshaltung, die sich aus früheren und oft noch andauernden Beziehungen entwickelt, welche durch Grenzverletzungen, Misshandlungen und Vernachlässigung gekennzeichnet sind. Nach Briere und Lanktree (2012) beinhaltet komplexes Trauma „normalerweise eine Kombination früh und spät beginnender, manchmal hochgradig invasiver traumatischer Ereignisse, darunter häufig die Exposition an wiederholte sexuelle, körperliche und / oder psychologische Misshandlungen in der Kindheit“ (S. 1). Körperliche, sexuelle, psychologische und emotionale Grenzverletzungen, die von Bezugspersonen und / oder sozialen Umfeldern begangen und nicht unterstützend gehandhabt wurden, führen zu Traumatisierungen. Eine tief greifende traumatisierte Geisteshaltung entsteht, wenn eine vulnerable Person viktimisiert wird, keine Kontrolle hat und nicht zur Bewältigung in der Lage ist.

Zu den entscheidenden Aspekten komplexer Traumata zählt, dass sie oft in Beziehungen, größere Systeme und soziale Umgebungen eingebunden sind, die eigentlich protektiv wirken sollten. Vulnerable Menschen sind Grenzverletzungen ausgesetzt, werden durch diese geschädigt und dann auch noch retraumatisiert, wenn Bezugspersonen und soziale Umgebungen die Vorgänge verleugnen oder die betroffenen Personen beschuldigen oder ignorieren. Dieses Betrugstrauma (DePrince & Freyd, 2007) tritt bei viktimisierten Personen auf, wenn Bezugspersonen sie durch weitere Misshandlungen oder Vernachlässigung reviktimisieren, was das traumatische Ereignis und / oder die fortdauernde traumatische Beziehung verschlimmert.

Überlebensorientierte Geisteshaltung

Menschen mit komplexen Traumata entwickeln oft eine überlebensorientierte Geisteshaltung. „Wenn Kinder unerträglichem Stress ausgesetzt sind und die Bezugsperson die Funktion, die Erregung des Kindes zu modulieren, nicht übernimmt (wie es der Fall ist, wenn Kinder familiärer Dysfunktion oder Gewalt ausgesetzt sind), können die Kinder diese Erfahrung nicht in einer kohärenten Weise organisieren“ (Van der Kolk, 2005, S. 375). Wenn wir unsere Erfahrungen nicht organisieren und ihnen eine Bedeutung zuschreiben können, die in Bezug auf Vorhersage zukünftiger Dinge Sinn ergibt, so wirkt sich dies auf unsere Entwicklung, unser Wachstum und unser Lernen aus. Eine Vorgeschichte komplexer Traumata beeinflusst Affektregulation, die adaptiven Fähigkeiten des Ichs, die Impulskontrolle und die Bindungsmuster (Ford & Courtois, 2009). Wenn Menschen ihre Emotionen, Kognitionen, Verhaltensweisen und Beziehungen nicht kontrollieren können, vermuten wir, dass sie aus einer überlebensorientierten Geisteshaltung heraus handeln könnten. Sie erleben sich selbst als machtlos, außerhalb jeglicher Kontrolle, herabgewürdigt und losgelöst. Und sie reagieren auf Stress mit Kampf, Flucht und / oder Erstarren; allesamt Reaktionen, die für das Überleben im Menschen hartverdrahtet sind.

Aktive Geisteshaltung

Das Ziel der Behandlung ist, den Klienten dabei zu helfen, von einer überlebensorientierten Geisteshaltung zu einer aktiven Geisteshaltung überzugehen. Bei einer aktiven Geisteshaltung haben Individuen Zugang zu Werkzeugen, die ihren Affekt, ihre Kognitionen, ihr Verhalten und ihre Beziehungen regulieren, und nutzen diese Werkzeuge auch. Sie erleben sich selbst als machtvoll, in Kontrolle, wertgeschätzt und mit sich selbst, anderen Menschen und der Welt um sie herum verbunden. Sie sind sich ihrer Stärken, ihrer Ressourcen und ihrer Vulnerabilitäten bewusst, und sie haben eine Reihe von Fertigkeiten aufgebaut, um mit Stress umzugehen. Wenn Menschen aus einer aktiven Geisteshaltung heraus handeln, verfügen sie über Eigen- und Fremdbewusstheit, üben sich in Mindsight (Siegel, 2010), pflegen unterstützende Beziehungen und haben eine bedeutungsvolle Vision der Zukunft.

Übersicht über das Buch

Ein Plan für Bewusstheit und Veränderung

Wir erläutern hier den Plan, den das CCM darstellt, in einer praxisnahen Weise, sodass Therapeuten mit allen notwendigen Dingen ausgestattet werden, die sie benötigen, um Klienten mit einer Vorgeschichte komplexer Traumata zu helfen. Das Buch ist in zwei Teile unterteilt. Da wir der Ansicht sind, dass Wachstum und Veränderung in einem sich wiederholenden zyklischen Prozess optimal verlaufen, haben wir das Buch so organisiert, dass sich der Veränderungszyklus darin widerspiegelt und die Behandlung mittels des CCM demonstriert wird. Wir wiederholen die zentralen Konzepte dabei ganz bewusst in jedem Kapitel erneut, ebenso wie wir Therapeuten zu Wiederholung in der Anwendung des Modells raten, um Veränderung und Wachstum zu ermöglichen. Unserer Ansicht nach ist Wiederholung die beste Intervention, die ein Therapeut vornehmen kann.

Im ersten Teil des Buches, „Kontext für Veränderungen herstellen“, stellen wir die Konzepte vor, die die Grundlage unseres Denkens über komplexe Traumata und den Prozess der Veränderung von einer überlebensorientierten Geisteshaltung zu einer aktiven Geisteshaltung darstellen. Das erste Kapitel beinhaltet eine Literaturübersicht und erkundet unser Verständnis, wie Individuen auf wiederholte traumatische Erfahrungen reagieren und sich an diese anpassen, während sie wachsen und sich entwickeln. Darüber hinaus deckt das erste Kapitel die bindungsbezogenen Aspekte ab und widmet sich der Frage, wie sich das Verhalten von Bezugspersonen auf die Reaktion eines Individuums auf traumatische Ereignisse auswirkt. Kapitel 2 beginnt mit den Zielen einer traumabezogenen Behandlungspraxis und dem, was wir von unseren Klienten über die entscheidenden Zutaten einer effektiven Behandlung gelernt haben. Das dritte Kapitel stellt die fünf grundlegenden Behandlungselemente vor, die Therapeuten anwenden müssen, damit die Behandlung effektiv ist. Das letzte Kapitel im ersten Teil des Buches beschreibt die spezifischen Variablen aufseiten des Therapeuten, die essenziell für eine effektive Traumabehandlung sind.

Im zweiten Teil des Buches, „Realitäten erweitern“, stellen wir das dreistufige Modell vor. Stufe 1, „Kontext für Veränderungen herstellen“, wird in Kapitel 5 beschrieben. In diesem Kapitel führen wir aus, wie wir Sicherheit aufbauen und individuelle, familiäre und kontextuelle Variablen erfassen, die sich auf die Klienten auswirken. In Kapitel 6 widmen wir uns Stufe 2: „Muster hinterfragen und Realitäten erweitern“. Dieses Kapitel befasst sich mit der detaillierten Beschreibung von Interventionen, die sich für uns als hilfreich dabei erwiesen haben, Klienten den Übergang von einer überlebensorientierten Geisteshaltung zu einer aktiven Geisteshaltung zu ermöglichen. Im letzten Kapitel erläutern wir dann Stufe 3: „Konsolidierung“. Konsolidierung ist die Stufe, auf der wir die Behandlungsprozesse in jeder einzelnen Therapiesitzung und in der Therapie insgesamt zusammenführen.

Das CCM wurde schon in fast jedem Zusammenhang eingesetzt, in dem es Traumata und das Bedürfnis nach Veränderung gibt. Insbesondere kam es in Schulen, Kliniken, ambulanten und stationären Behandlungseinrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Gefängnissen, häuslichen Umfeldern und geschäftlichen Umgebungen zum Einsatz. Das Behandlungsmodell eignet sich für Opfer, Täter und Familienangehörige. Es ist unsere Überzeugung, dass gewalttätiges Verhalten und andere Misshandlungen im Kontext einer Beziehung oft das Ergebnis komplexer Traumata sind. Daher kann das Modell neben der Psychotherapie auch im Fallmanagement, in der Erziehung, in der Pflege, bei der Polizei und sogar im betrieblichen Kontext von erfahrenen Fachleuten angewendet werden. Das Modell ist sequenzieller Natur, daher ist die Zeit kein entscheidender Faktor. Veränderungen können in einem einzigen Augenblick oder über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg stattfinden. In der Folge kann das CCM dazu verwendet werden, eine dreistündige Untersuchung bei einer für den Kinderschutz zuständigen Behörde, eine Aufnahmebefragung in einer Institution, eine Vorbereitung einer Person für eine Zeugenaussage vor Gericht, eine Intervention in einer Krisensituation in einer Betreuungseinrichtung und ein Telefongespräch mit einem Klienten zu organisieren. Es eignet sich für Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Paare, Familien und Gruppen. Auch wird das CCM mit Opfern, Tätern und Zeugen von Gewalt und Traumata angewendet. Da es ein organisatorisches Modell ist, das den natürlichen Veränderungszyklus fördert, kann es in jedem Setting und in jeder Interaktion angewendet werden, wobei es den Prozess der Genesung von einem Trauma fördert.

Wir haben als „Denkpausen“ bezeichnete Abschnitte (persönliche Kommunikation mit Anita Mandley, 2011) eingefügt und hoffen, dass Sie diese nutzen werden, um über das kurz zuvor gelesene Material nachzudenken und dieses zu integrieren. Die Pause wird im Veränderungsprozess aktiv genutzt, daher haben wir sie auch in dieses Buch integriert. Dies ist für Sie eine Übung, die dazu dient, dass Sie die drei Stufen des Modells beim Lesen des Buches erfahren können. Die Denkpausen für Stufe 1 werden Sie auffordern, über die folgenden Fragen nachzudenken: Wie fühlen Sie sich? Was denken Sie gerade? Möchten Sie etwas aufschreiben? Möchten Sie etwas noch mal lesen? Wie fühlt es sich für Sie an, das Material als Ressource zu integrieren? Wie erschaffen Sie beim Lesen Interventionen? Die Denkpausen für Stufe 2 hingegen sollen Sie dazu bringen, sich Fragen wie die folgenden zu stellen: Ergeben die Ideen, die Sie gerade gelesen haben, für Sie Sinn? Erkennen Sie, wie Sie diese Konzepte in Ihrem Tätigkeitsbereich anwenden können? Wie werden Sie Ihr Wissen in der Arbeit mit traumatisierten Klienten anwenden? Wie erweitert es Ihr Denken und bereitet Sie auf Ihre weitere Tätigkeit vor? Und die Denkpausen für Stufe 3 werden Ihnen Fragen wie die Folgenden stellen: Sind Sie bereit, voranzuschreiten? Möchten Sie eine Pause machen, sich ausruhen oder das Buch weglegen? Möchten Sie sich Notizen machen? Oder Spazieren gehen? Vielleicht auch Ideen mit anderen teilen? Freuen Sie sich auf die nächsten Seiten? Sind Sie motiviert, ermutigt und hoffnungsvoll, dass der Text auf den nächsten Seiten dazu beiträgt, dass Sie sich ermächtigt, wertgeschätzt und mit sich selbst und Ihrer Arbeit verbunden fühlen? Wenn Sie auf einen Denkpausen-Abschnitt stoßen, nutzen Sie diesen bitte als Gelegenheit, das CCM für sich zu erleben und mit Ihrem eigenen Veränderungsprozess vertraut zu werden. Im Ernst, machen Sie eine Pause, bevor Sie mit dem nächsten Schritt in Ihrem Lernprozess fortfahren.

Unsere Absicht ist, Ihnen eine Ressource zur Verfügung zu stellen, die Ihre Fähigkeiten und Ihr Vermögen dazu verbessern, mit Individuen, Familien, Paaren und Gruppenmitgliedern zusammenzuarbeiten, die komplexe Traumata erlitten haben, und mit all den Symptomen umzugehen, die damit einhergehen, wenn Menschen in einer Beziehung traumatisiert werden. Hieraus ergibt sich ein Plan, der für die Anwendung in Ihrem Arbeitsumfeld geeignet ist. Im ganzen Buch finden sich Beispiele von allen möglichen Therapeuten, Klienten und Umfeldern (die Namen wurden geändert, um Vertraulichkeit zu gewährleisten), die Sie als Anregung für Ihre eigene kreative Arbeit mit dem CCM nutzen können. Das CCM ist ein Plan, mit dem Sie eine Behandlung so organisieren und aufbauen können, dass für alle Beteiligten die bestmöglichen Ergebnisse erzielt werden.

Audiodateien (in englischer Sprache), die die Einführung zu diesem Buch und weitere der im Buch behandelten Aspekte erläutern, finden Sie unter http://www.routledge.com.

Literatur

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Barrett, M. J. & Trepper, T. (Hrsg.) (1986). Treating incest: A multiple systems perspective. Binghamton, NY: Haworth Press.

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Briere, J. & Elliott, D. M. (2003). „Prevalence and psychological sequelae of self-reported childhood physical and sexual abuse in a general population sample of men and women“. Child Abuse & Neglect, 27, 1205–1222.

Briere, J. N. & Lanktree, C. B. (2012). Treating complex trauma in adolescents and young adults. Los Angeles, CA: Sage.

DePrince, A. P. & Freyd, J. J. (2007). „Trauma-induced dissociation“. In M. J. Friedman, T. M. Keane & P. A. Resick (Hrsg.). Handbook of PTSD: Science and practice (S. 135–150). New York: Guilford Press.

Ford, J. D. & Courtois, C. A. (2009). „Defining and understanding complex trauma and complex traumatic stress disorders“. In C. A. Courtois & J. D. Ford (Hrsg.), Treating complex traumatic stress disorders: An evidence based guide. New York: Guilford Press.

Herman, J. L. (1992). Trauma and recovery: The aftermath of violence – from domestic abuse to political terror. New York: Basic Books.

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Stone Fish, L. (2000). „Hierarchical relationship development: Parents and children“. Journal of Marital and Family Therapy, 4, 501–510.

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Van der Kolk, B. (2005). „Editorial introduction: Child abuse and victimization“. Psychiatric Annals, 35, 374–378.

Van der Kolk, B., McFarlane, A. C. & Weisaeth, L. (Hrsg.) (2006). Traumatic stress: The effects of overwhelming experience on mind, body, and society. New York: Guilford Press.

1 Helen Adams Keller (27.6.1880 – 1.6.1968) war eine taubblinde amerikanische Schriftstellerin.

TEIL I: KONTEXT FÜR VERÄNDERUNGEN HERSTELLEN

1. Komplexes Trauma

1.1 Das Individuum

Menschen sind neuronal so veranlagt, dass sie alle möglicherweise bedrohlichen Dinge in der Umwelt antizipieren und auf diese reagieren. Dies ist ein Überlebensinstinkt und in dem Teil des Gehirns abgespeichert, den wir mit allen Tieren gemeinsam haben. Unser Gehirn besteht aus vier Teilen, dem Stammhirn (einschließlich des Hirnstammes), dem Mittelhirn, dem Kleinhirn und dem Großhirn (einschließlich des Kortex). Der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Gehirns, über den auch Reptilien verfügen, ist das Stammhirn; dieses reguliert unsere Impulse und kontrolliert unsere Erregungszustände. Für uns ist hier besonders eine über das Gehirn verteilte Ansammlung von Strukturen relevant, die an der Verarbeitung emotionaler Zustände beteiligt ist und zusammengefasst als das limbische System bezeichnet wird. „In seiner Zusammenarbeit mit sowohl limbischen als auch höheren kortikalen Regionen fungiert das Stammhirn als Schiedsrichter in unseren Entscheidungen darüber, ob wir auf Bedrohungen reagieren, indem wir unsere Energie für Kampf oder Flucht mobilisieren, oder ob wir hilflos erstarren und angesichts einer überwältigenden Situation zusammenbrechen“ (übersetzt nach Siegel, 2010a, S. 16–17). Wenn wir Bedrohung oder Gefahr erleben, wird ein bestimmtes Kerngebiet in unserem Gehirn (die Amygdala, ein funktionaler Bestandteil des limbischen Systems) aktiviert, und wir bereiten uns unseren biologischen Anlagen entsprechend darauf vor, die Bedrohung zu bekämpfen, ihr zu entfliehen oder in schützender Weise zu erstarren. Dieses physiologisch motivierte Verhalten ist protektiv; wenn unser Stammhirn bestimmte Reaktionen auf Bedrohungen hervorruft, so erfolgen diese automatisch und haben überlebenssichernde Funktionen.

Unser vegetatives Nervensystem hat drei Hauptabteilungen, das sympathische Nervensystem, das parasympathische Nervensystem und das enterische Nervensystem. Das sympathische Nervensystem wird in Situationen aktiviert, in denen Bedrohungen oder Stress gegenwärtig sind. Es hilft uns dabei, uns vor potenziellen Gefahren zu schützen, indem es uns auf Kampf oder Weglaufen vorbereitet. Die Amygdala ist am Abspeichern von Erinnerungen an Bedrohungen beteiligt und löst unter anderem vegetative Reaktionen darauf aus. Der menschliche Körper ist ein beeindruckendes Instrument, das darauf programmiert ist, überlebenswichtige Funktionen sehr nachdrücklich auszuführen. Beispielsweise steigt unser Puls, und Blut fließt in unsere Muskeln, um eine schützende Reaktion oder das Rennen um unser Leben vorzubereiten. Unser Mund fühlt sich trocken an, denn der Speichelfluss lässt nach – unser Körper weiß, dass wir vermutlich in näherer Zukunft keine Nahrung zu uns nehmen werden. Unsere Hauttemperatur sinkt, da wir nun Ressourcen verbrauchen, mit denen wir normalerweise unseren Körper warm halten, und unsere Pupillen weiten sich, damit wir potenzielle Bedrohungen deutlicher sehen können. Mit anderen Worten, wir sind aufgeputscht. Wir sind nicht nachdenklich, wir sind nicht ruhig, und wir sind auch nicht entspannt. Wir sind bereit, auf die Gefahr zu reagieren. Diese überlebenswichtige physiologische Reaktion hat unsere Art seit sehr langer Zeit am Leben erhalten. Das genaue Erscheinungsbild von Gefahr hat sich im Laufe der Zeit verändert und ist auch für jede Person individuell unterschiedlich. Was für die eine bedrohlich ist, muss für eine andere keineswegs ebenfalls bedrohlich sein. Dementsprechend haben sich all unsere Modi von Kampf, Flucht und Erstarren im Laufe der Zeit in Abhängigkeit von den Kontexten entwickelt, in denen wir leben.

Porges (2001) prägte den Begriff „Neurozeption“, um zu erklären, wie das Nervensystem Bedrohungen und Gefahren entdeckt, ohne dass uns dies bewusst ist. Seine Polyvagal-Theorie (2001, 2003) besagt, dass drei grundlegende entwicklungsgeschichtliche Stufen für die Reaktion auf Gefahr zur Verfügung stehen, die phylogenetisch und unbewusst aktiviert werden und jeweils mit unterschiedlichen Verhaltensstrategien assoziiert sind. Bei allen drei Stufen spielt der Vagusnerv eine zentrale Rolle. Die erste Stufe basiert auf einem älteren, unmyelinisierten2 Zweig des Vagusnervs, dessen Aktivierung mit Erstarren assoziiert ist. Die zweite Stufe basiert auf dem vegetativen Nervensystem und hemmt diesen älteren Zweig des Vagusnervs, um Ressourcen für Kampf oder Flucht zu mobilisieren. Die dritte Stufe basiert auf einem entwicklungsgeschichtlich jüngeren, myelinisierten Zweig des Vagusnervs, der nur bei Säugetieren vorkommt und sowohl unter anderem den Herzschlag und die Atmung reguliert als auch mit neuronalen Strukturen für Mimik und Sprache verbunden ist, wodurch wir in dieser dritten Stufe ruhig sind und soziale Beziehungen pflegen oder aufbauen können (Porges, 2001).

Wie Levine (2010) es formuliert: „Wenn wir mit akuten Bedrohungen konfrontiert sind, mobilisieren wir reichlich Energie, um uns zu schützen und zu verteidigen. Wir ducken uns, weichen aus, winden uns, versteifen uns und ziehen uns zusammen. Unsere Muskeln spannen sich an, um zu kämpfen oder zu fliehen. Wenn unsere Handlungen jedoch ineffektiv sind, erstarren wir oder brechen zusammen.“ Dies ist sehr wichtig für unser Verständnis von Trauma und der Schlüssel zum Traumazyklus. Was Levine in diesem einfachen, aber brillanten Satz sagt, ist nichts anderes als unsere phylogenetische Reaktion auf komplexe Traumata. Die sympathische Reaktion veranlasst den Körper zum Handeln. Wenn wir mit einer traumatischen Situation konfrontiert werden, die wir nicht bekämpfen und der wir nicht entfliehen können, schaltet unser Körper sich ab. Um diese primitive Reaktion in Aktion zu sehen, betrachten Sie einmal eine Herde von Tieren, die von einem Raubtier gejagt wird. Das Raubtier wählt sich ein verletzlich wirkendes Tier aus, pirscht sich heran und attackiert es. Wenn der Tod unvermeidlich scheint, bricht das Beutetier zusammen. Dieser Zusammenbruch wurde von Ethologen als tonische Immobilität oder animalische Hypnose bezeichnet (siehe z. B. Burghardt, 1990), und man hat begonnen, dieses Phänomen auch beim Menschen zu untersuchen.

Die primitive und schützende Reaktion des Erstarrens, Zusammenbrechens oder Totstellens (diese unterschiedlichen Begriffe bezeichnen jeweils dieselbe Aktivität) soll für Tiere, die zeitnah gefressen werden könnten, möglicherweise den erlebten Schmerz des Todes reduzieren oder vielleicht auch das Raubtier dazu veranlassen, den Ort des Geschehens ohne einen Angriff wieder zu verlassen. Wenn wir mit Klienten sprechen, die mit Bedrohungen konfrontiert wurden und diesen nicht entfliehen konnten, beschreiben viele genau diese Erfahrung. Man bezeichnet die schützende Funktion, das Ausblenden der unangenehmen Erfahrung, beim Menschen als Dissoziation. Auch wenn der dissoziative Prozess eine evolutionär adaptive Reaktion auf unbeherrschbaren Stress sein könnte, wird er maladaptiv, wenn er in der Folge der wiederholten Angriffe (und des psychischen Entfliehens) bei komplexer Traumatisierung zu einem Bestandteil der allgemeinen Funktionalität einer Person wird. Das Verständnis der maladaptiven Funktion dieses Prozesses ermöglicht uns, Klienten beim Übergang von einer überlebensorientierten Geisteshaltung zu einer aktiven Geisteshaltung, die bewusster, weiser, präsenter und besser auf sich selbst und andere Menschen abgestimmt ist, zu helfen.

Verstörende, gewaltsame, stressbehaftete und grenzverletzende Ereignisse, die Körper und Geist nicht verarbeiten können, werden traumatisch. Wenn der Körper sich abschaltet, wird die natürliche Reaktion des sympathischen Nervensystems, die den Körper auf das Handeln vorbereitet, unterdrückt, und die aktivierende Handlungsvorbereitung wird im Körper gespeichert (Levine, 2010). Der Körper hat ein eigenes Gedächtnis, und wenn er dann durch andere verstörende, gewaltsame, stressbehaftete und grenzverletzende Ereignisse bedroht wird, so neigt er dazu, sich erneut auf eine Weise zu verhalten, die zuvor protektiv gewirkt hat. Diese wurde unter Beteiligung der Amygdala gespeichert. Wir sprechen von dem Ergebnis dieses phylogenetischen Musters des Sichabschaltens als „Handeln aus einer überlebensorientierten Geisteshaltung heraus“, die mit einer Vorgeschichte komplexer Traumata assoziiert ist. Die überlebensorientierte Geisteshaltung ist das Ergebnis einer Vielzahl von Abschaltungsreaktionen angesichts überwältigender andauernder Traumatisierungen. Van der Kolk, Van der Hart und Marmar (1996) zeigen, dass persistierende Traumatisierung und der Einsatz von Dissoziationsstrategien das funktionelle Zusammenspiel zwischen der Amygdala und dem Hippocampus verändern, was das Abspeichern von Erinnerungen und die Bewältigungsfähigkeit des Individuums stört.

Komplexe Traumata entstehen in Umgebungen, in denen unbeherrschbarer Stress gegenwärtig ist. Eine Vorgeschichte komplexer Traumata beinhaltet zwangsläufig den Umgang mit Bezugspersonen, die nicht in der Lage waren, konstruktive adaptive Reaktionen auf stressbehaftete Situationen zu modellieren, zu lehren, zu unterstützen oder zu fördern. Unbeherrschbarer Stress ist Stress, mit dem das sich entwickelnde Individuum (und wir entwickeln uns unser ganzes Leben hindurch) nicht umgehen kann. Ein stressbehaftetes Ereignis, mit dem wir umgehen können, wird durch das sympathische Nervensystem oder den entwicklungsgeschichtlich jüngeren Teil des Vagusnervs mediiert. Dann wird unser Körper zu Kampf oder Flucht mobilisiert, oder wir nutzen unseren Neokortex, um über die beste Reaktion in der gegebenen Situation nachzudenken. Ist ein stressbehaftetes Ereignis nicht beherrschbar, wird der unmyelinisierte Zweig des Vagusnervs aktiviert (Porges, 2001), unser Körper schaltet sich ab, wir sind unbeweglich, und wir überleben. Auf diese Weise wurden diese unbeweglich machenden Bewältigungsmechanismen im Lauf der Zeit zu unseren typischen Überlebensfertigkeiten.

Stan beispielsweise wurde als Kind wiederholt von seinem älteren Bruder sexuell missbraucht. Dies verletzte ihn auch körperlich. Wenn er sich jedoch darüber beklagte, drohte sein Bruder: Sollte Stan vor Schmerzen schreien, würde er der Mutter erzählen, dass Stan ihn zu den Taten gebracht habe. Stan bewältigte Jahre von körperlichem und psychischem Leid, indem er dieses betäubte, sich von seinem Körper abschottete und überhaupt keine physischen Empfindungen mehr verspürte. Bis zur Adoleszenz hatte er diesen Bewältigungsstil perfektioniert und fühlte sich innerlich vollkommen tot. In stressbehafteten Momenten – wenn er beispielsweise mit seinen Eltern stritt und das Gefühl hatte, diese seien vollkommen unnachgiebig und er habe keinerlei Kontrolle – hatte er das Bedürfnis, sich Verbrennungen zuzufügen, um durch den Schmerz der körperlichen Verletzung das stressbehaftete Ereignis in der Gegenwart zu bewältigen. Stan konnte das Leid nicht bewältigen und wusste, wenn er physische Schmerzen bei sich hervorrief, konnte er es betäuben, wie er es sein ganzes bisheriges Leben hindurch getan hatte. Der Bewältigungsstil seines Kindheitstraumas wurde zu seinem Überlebensmechanismus in Zeiten von Stress.

Überlebensfertigkeiten basieren auf dem limbischen System unseres Gehirns. Das limbische System reguliert das vegetative Nervensystem. Wenn wir gestresst und zu Kampf oder Flucht bereit sind, setzen die Nebennieren Cortisol frei, das unseren Körper in einen Alarmzustand versetzt. Leider kann es in Situationen von überwältigendem Stress dazu kommen, dass dieser hohe Cortisolspiegel toxisch wird. „Die hohen Cortisolspiegel können sich auch auf das wachsende Gehirn toxisch auswirken und normales Wachstum und Funktion des Nervengewebes beeinträchtigen“ (übersetzt nach Siegel, 2010a, S. 18). Das limbische System hilft uns, in gefährlichen Situationen zu überleben, aber wir können außerhalb von Gefahrensituationen auch übererregt sein und die hohen Cortisolspiegel in unseren Körpern nicht herunterregeln können. Wie Porges (2003) und Badenoch (2011) dazu ausführen: Wenn der Zweig des Vagusnervs, der uns ruhige und aktive Geisteshaltungen oder auch Kampf oder Flucht ermöglicht, aufgrund dieser Übererregung nicht funktioniert, kommt es zu einer überlebensorientierten (auch: traumatisierten) Geisteshaltung, und wir überleben.

LeDoux (1998) bezeichnet dies als das Furchtreaktionssystem. Infolge interpersoneller Traumata sieht unser Gehirn Bedrohungen, wo keine sind. Das Trauma erzeugt eine Hyperaktivität der Amygdala und beeinträchtigt Teile des Gehirns, die an emotionalen Hemmungsprozessen und der Fähigkeit zur Integration komplexer Informationen beteiligt sind. Mit anderen Worten, in der Folge komplexer Traumata hat das Gehirn Schwierigkeiten, mit sich selbst zu kommunizieren und komplexe Informationen zu verarbeiten. Die Amygdala signalisiert ständig, dass Bedrohungen vorliegen würden. LeDoux (1998) schlägt dazu vor, dass eine traumatische Reaktion eine sei, in der ein Stock immer wie eine Schlange aussähe. Natürlich ist es adaptiv, wenn das Gehirn Gefahr in einer tatsächlich gefährlichen Situation erkennt, aber komplexe Traumata machen es schwierig zu erkennen, wo genau die Gefahr lauert. Komplexe Traumata lösen einen hypererregten, hyperaktiven Zustand aus, in dem Bedrohungen übersteigert wahrgenommen werden und die präzise Integration von Informationen beeinträchtigt ist. Ohne die Fähigkeit, bedrohliche Reize effektiv wahrzunehmen und zu verarbeiten, sind hypererregte und hyperaktive Reaktionen nicht hilfreich. Sie neigen vielmehr dazu, allzu stark vereinfacht, unflexibel und isolierend zu sein, während sie im Gegensatz dazu besser integrativ und komplex sein sollten. Weiterhin kann diese überlebensorientierte Geisteshaltung Verhaltensweisen fördern, die die Entwicklung konstruktiver Reaktionen sabotieren; einschließlich insbesondere der Fähigkeit zur Nutzung sozialer Unterstützung.

Wenn Menschen beispielsweise andere Menschen körperlich, sexuell, emotional oder verbal angreifen, so kann dieses Verhalten als Handeln aus einer überlebensorientierten Geisteshaltung heraus angesehen werden. Eine hypererregte und hyperaktive Reaktion auf Leid führt in der Regel dazu, dass Menschen sich auf Kampf, Flucht oder Erstarren vorbereiten. Die Angreifer reagieren auf stressbehaftete Ereignisse, als ob sie sich in Gefahr befinden würden. Sie haben das Empfinden, dass ihre Macht, ihr Kontrollgefühl und / oder ihr Selbstwertgefühl bedroht seien. Nun sind sie also machtlos, haben keine Kontrolle und sind in Gefahr. Ihre Furcht setzt ein, und ihre traumatische Vorgeschichte hat sie nicht gelehrt, aus einer aktiven Geisteshaltung heraus auf stressbehaftete Ereignisse zu reagieren. Stattdessen wird der Stress zu Gefahr übergeneralisiert, und dies führt zu einem fehlgeleiteten Versuch, die wahrgenommene Bedrohung durch aggressive Verhaltensweisen zu überleben, welche die Bedürfnisse nach Kontrolle und Selbstwertgefühl befriedigen sollen.

Ein weiteres Beispiel: Ein kleines Mädchen, das von seinem Onkel sexuell missbraucht wird, reagiert mit Erstarren und tonischer Immobilität, da es so klein und verletzlich ist, dass es nicht kämpfen oder fliehen kann. Die tonische Immobilität reduziert seinen physischen und emotionalen Schmerz, da es sich psychisch loslöst und nicht mehr bewusst präsent ist. Vielleicht erinnert es sich später an das Ereignis oder vielleicht auch nicht, aber sein Körper erinnert sich definitiv an diesen Zustand. Da ihm niemand bei der Bewältigung der Erfahrungen hilft, die es nicht allein bewältigen kann, entwickelt es zur Bewältigung eine traumatisierte Geisteshaltung. Sein Cortisolspiegel steigt immer weiter und wird toxisch. Diese Überlebensfertigkeit, die im Kindesalter bei der Bewältigung hilft, wird jedoch in stressbehafteten Situationen im späteren Leben maladaptiv. Wann immer sich das Kind später in einer stressbehafteten Situation befindet, nimmt es diese so wahr, als ob die Situation lebensbedrohlich wäre – obwohl es längst nicht mehr so verletzlich und hilflos ist wie früher –, und reagiert immer noch so, als ob es zu Kampf oder Flucht nicht in der Lage wäre.

Stellen Sie sich dasselbe Kind als junge erwachsene Frau vor, die mit einem jähzornigen Mann verheiratet ist. Eines Abends trinkt dieser zu viel und will Sex mit ihr. Sie ist müde und weiß genau, dass sie zu diesem Zeitpunkt keinen sexuellen Verkehr möchte. Er zwingt sich ihr auf, und ihr Körper schaltet sich ab, sie bricht hilflos zusammen. Sie kann sich nicht bewegen, sie kann ihm nicht sagen, dass er aufhören soll, oder ihre Wünsche durchsetzen, da ihre Überlebensfertigkeit aktiviert wurde und sie vollkommen unbeweglich ist. Ihre frühere Reaktion auf drohende Gefahr, die für sie im Kindesalter hilfreich war, ist nun nicht mehr hilfreich und hält nur noch ihre überlebensorientierte Geisteshaltung aufrecht. Würde sie sich nicht in dieser Geisteshaltung befinden, würde ihr sympathisches Nervensystem aktiviert werden, und sie könnte kämpfen oder fliehen. Sie würde Gefahr wahrnehmen; es erkennen, wenn sie sich in einer gefährlichen Situation befände; gelernt haben, wie sie ihre Erregung moduliert, und daher in der Lage sein, mit Bedacht zu reagieren und / oder sich aus der Situation zu entfernen. Sie könnte ihrem Ehemann klar und nachdrücklich sagen, dass sie keinen Sex mit ihm haben würde. Wenn er dann darauf beharren und aggressiv werden würde, so würde sie erkennen, dass sie sich in einer gefährlichen Beziehung befindet, und über die kognitiven und emotionalen Ressourcen verfügen, um konstruktive Alternativen zu finden.

Komplexe Traumata verändern die Art der Organisation unseres Gehirns (Perry, 1994, 2001). Das Gehirn reagiert auf fortwährende traumatische Erfahrungen in der Kindheit, aufgrund derer sich die Kinder in ständigen Zuständen von Hypererregung und / oder Dissoziation befinden, und die individuelle Gehirnchemie verändert sich in der Folge. Einige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Jungen eher auf Hypererregung und Mädchen eher auf Dissoziation als Strategie zurückgreifen (Perry, Pollard, Blakely, Baker, & Vigilante, 1995), und dass diese im Erwachsenenalter jeweils zu externalisierenden und internalisierenden Verhaltensweisen führen. In beiden Fällen wird die Reaktion auf das komplexe Trauma, die zuvor das Überleben unterstützte, im Erwachsenenalter zu einem maladaptiven Lebensstil. Dies ist die überlebensorientierte Geisteshaltung.

Menschen mit einer überlebensorientierten Geisteshaltung neigen dazu, auf Anzeichen von Stress oder Leid so zu reagieren, als ob jede entsprechende Erfahrung traumatisch wäre; ihre Bewältigungsreaktion entspringt daher einem reaktiven Zustand anstelle einer ruhigen und aktiven Perspektive. Mit anderen Worten, es werden nur die beiden der oben beschriebenen Teile des Gehirns benutzt, die entwicklungsgeschichtlich älter sind, das Stammhirn und das limbische System. Der Kortex kommt nicht zum Einsatz, obwohl er den Teil des Gehirns darstellt, der für höhere Entscheidungsprozesse unerlässlich ist. Unser Verständnis interpersoneller Neurobiologie (Cozolino, 2006, 2010; Schore, 2003; Siegel, 2007, 2010a) ist an dieser Stelle hilfreich. Um intelligente Entscheidungen treffen zu können, benötigen wir starke neuronale Verbindungen zwischen der präfrontalen Region unseres Kortex und dem Rest des Gehirns. Befinden wir uns in einer überlebensorientierten / traumatisierten Geisteshaltung, so feuern die mit dieser Region verbundenen Neuronen nicht. Der präfrontale Kortex ist für höher entwickelte, komplizierte Funktionen wie die Ausrichtung von Aufmerksamkeit und die Steuerung unserer Beziehungen zu uns selbst und anderen Menschen verantwortlich. Er ermöglicht uns Mindsight (Siegel, 2010a). Wenn wir uns in einer traumatisierten Geisteshaltung befinden, nutzen wir unseren Kortex nicht, der uns eine genaue Einschätzung der Welt, die aktive Auseinandersetzung mit ihr und kontrollierte Reaktionen ermöglichen würde.

Das von einer traumatisierten Geisteshaltung dominierte Überleben verhindert optimale Funktionalität im Alltag. In solchen Fällen haben wir gelernt, impulsiv anstatt mit Bedacht zu reagieren. Dieses Konzept ist ein zentraler Aspekt der Ziele einer Traumatherapie. Wir möchten Klienten helfen, ihre eigenen internen Hinweisreize ebenso zu verstehen wie die von anderen Menschen. Rasende Reaktivität leistet uns in den meisten Situationen keine guten Dienste. Reaktivität bringt uns dazu, uns selbst und andere zu misshandeln, sie hält den Zyklus komplexer Traumata aufrecht und retraumatisiert uns selbst und / oder andere. Reagieren wir hingegen unter Verwendung der beeindruckenden Ressourcen eines integrierten, wechselseitig verbundenen Systems aus Gehirn und Körper, so leistet uns dies viel bessere Dienste. Wenn wir impulsiv reagieren, nutzen wir nicht unser gesamtes Gehirn, sondern nur den Teil, der die Bedrohung wahrnimmt. Der Begriff Mindsight (Siegel, 2010a) beschreibt den Teil unserer Gehirnfunktion, den wir nicht nutzen, wenn wir uns in einer überlebensorientierten Geisteshaltung befinden. Wie oben ausgeführt, sind für uns hier das Stammhirn, das limbische System und der Kortex relevant. Der Kortex ist der Teil des Gehirns, den außer uns im Tierreich nur noch die Primaten besitzen, und er ist bei Menschen am stärksten entwickelt; dies gilt auch für den präfrontalen Kortex. Mindsight ist eine konzentrierte Aufmerksamkeit, die uns den Zugang zum abstrakten Erkennen unserer eigenen geistigen Prozesse eröffnet; dies ist uns nicht möglich, wenn wir nur auf bedrohliche Situationen reagieren und uns auf unsere Überlebensfertigkeiten verlassen (siehe das vereinfachte Diagramm des Gehirns in Anhang 1).

 DENKPAUSE

Ergibt diese Zusammenfassung der neurobiologischen Aspekte für Sie Sinn? Ist Ihnen klar, weshalb unsere Klienten sich homöostatisch in einer traumatisierten / überlebensorientierten Geisteshaltung befinden? Scheint Ihnen das Konzept der „Geisteshaltung“ auf sich selbst und andere Menschen anwendbar? Damit Veränderungen entstehen können, ist es wichtig, dass wir daran glauben, dass alle Menschen mit der Fähigkeit zu Wachstum und Veränderung geboren werden. Es ist wichtig, dass wir unabhängig von Alter und Lernfähigkeit unserer Klienten Wege finden, um diese Konzepte zu kommunizieren. Nehmen Sie sich ein wenig Zeit, um Ideen dafür zu finden und zu entwickeln, wie wir diese Konzepte in unserem therapeutischen Alltag nutzen und den Klienten nahebringen können.

1.2 Bindung und komplexe Traumata

Kinder, die Traumata erleiden, sind unter Umständen in dramatischerer Weise von chronischer Hypererregung betroffen als Erwachsene. Kommt es in der Kindheit zu Traumatisierungen, so geschieht dies zu einem Zeitpunkt, zu dem das Gehirn noch keine normale Erregungsmodulation entwickelt hat. Eine der wesentlichsten Funktionen der Erziehung besteht darin, Kindern eine externe Modulation ihrer internen Zustände zur Verfügung zu stellen. Damit Kinder sich optimal entwickeln können, benötigen sie ein hinreichendes Maß an Stress in der Umwelt, um sich Bewältigungsfertigkeiten anzueignen und Kontrolle zu erleben, gepaart mit hinreichender Abpufferung, um vor Überwältigung geschützt zu sein. Nur ganz allmählich und mit der aufmerksamen Versorgung durch Erwachsene entwickeln Kinder die Fähigkeit, ihr eigenes Niveau emotionaler Reaktion auf Ereignisse von außerhalb wie auch von innerhalb ihres Körpers zu modulieren. Kinder können sich nicht immer selbst beruhigen, daher ist die Fähigkeit von Erwachsenen, verängstigte, wütende oder beschämte Kinder zu beruhigen, unerlässlich für eine normale Entwicklung. Ohne entsprechende Hilfe kann es passieren, dass Kinder chronisch hypererregt werden und eine Vielzahl destruktiver Symptome und Verhaltensweisen entwickeln, um diesen unerträglichen Zustand zu lindern (Bloom, 1997, S. 20–21).

Seit Bowlbys (1969, 1973, 1980, 1988) bahnbrechender Bindungstheorie und der Arbeit von Ainsworth, Blehar, Waters und Wall (1978) am Fremde-Situation-Test (FST; engl. Strange Situation Classification, SSC