Konfettiregen im Kopf - Leben mit Borderline - Jennifer Wrona - E-Book

Konfettiregen im Kopf - Leben mit Borderline E-Book

Jennifer Wrona

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: TRIAS
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

<p><strong>Gefühle im Konfettiregen</strong><br /><br />Borderliner*innen? Sind das nicht Menschen, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle haben und andere manipulieren?<br />Unter Vorurteilen wie diesen leiden viele Betroffene – und Angehörige wissen oft nicht, wie sie mit diesen Menschen umgehen sollen. Damit räumt Jennifer Wrona jetzt auf:<br /><br />-<strong> Einblick + Tabubruch:</strong> Die Autorin spricht über das Tabu-Thema der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung und gibt einen Einblick in die Welt zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit.<br /><strong>- Mut + Empathie</strong>: Offen und ehrlich berichtet sie von ihren psychischen Erkrankungen und zeigt Betroffenen und Angehörigen einfühlsam einen Weg durch diese schwere Zeit.<br /><strong>- Emotion + Information:</strong> Jennifer Wrona ergänzt ihre persönlichen Erfahrungen mit fundiertem Fachwissen rund um psychische Erkrankungen.<br /><br /><strong>Eine ernste Ode an das Leben – berührend & besonders!</strong></p> <p> </p> <p> </p>

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 184

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Konfettiregen im Kopf – Leben mit Borderline

Wie es sich anfühlt – Wie man damit umgeht – Was wirklich hilft

Jennifer Wrona

1. Auflage 2021

20 Abbildungen

Prolog

Für mich. Danke, dass du geblieben bist.

»The most beautiful people we have known are those who have known defeat, known suffering, known struggle, known loss, and have found their way out of the depths. These persons have an appreciation, a sensitivity, and an understanding of life that fills them with compassion, gentleness, and a deep loving concern. Beautiful people do not just happen.«

Elisabeth Kübler-Ross

Die Sache ist, dass die Unaussprechlichkeit der schlimmen Dinge mich fast mein Leben gekostet hätte. Und über die Unaussprechlichkeit möchte ich reden. Mit 13 Jahren dachte ich das erste Mal über die Existenzberechtigung meiner Person nach. Was sich als loser Gedanke durch die erste Zeit meiner Pubertät schlängelte, wurde im Alter von 15 Jahren dann wirklich beängstigend real. Mit 15 Jahren war ich mir sicher, dass ich meinen 20. Geburtstag nicht erleben würde. Aber es passierte doch. Ich wurde 20. Ich wurde sogar 21, 22, 23, 24 und 25. Wer hätte das gedacht? Ich am allerwenigsten.

Es ist ein Sonntag in Bremerhaven und an meinem Schreibtisch brennt das Licht. Merle, meine kleine Hündin aus Rumänien, liegt an meinen Füßen und schnarcht leise. Vielleicht ist es das Glück, von dem alle reden. Vielleicht aber sind es viel mehr die unendlichen Stränge an Ereignissen, die zu genau diesem Moment geführt haben, die das Glück eigentlich ausmachen. Ich weiß es nicht genau – aber kann man das überhaupt? Oder muss man das? Dieses Buch ist keine Anleitung zum Glück, kein Ratgeber und kein Rezept für Gesundheit und lebenslange Zufriedenheit. Vielmehr ist es die Einordnung der manchmal überwältigenden Begebenheiten des Lebens in seinen bunten Facetten. Die folgenden Seiten sollen aufklären, die Last ein wenig erleichtern und Ordnung in das Chaos bringen. Es ist ein Versuch, dem Leben die Lethargie zu nehmen und Leichtigkeit in die Sorgen zu legen. Diese Seiten sollen zeigen, dass der Platz für jede*n groß genug ist.

In meinem Leben saß ich in vielen Zimmern, Praxen und Besprechungsräumen. Ich sprach mit Menschen, die mich mal besser und mal weniger gut kannten. Realitätschecks bei Ärzt*innen, die sich absichern mussten, dass ich mich nicht umbringen würde. Therapeut*innen, die mich beim ersten Treffen fragten, ob ich einem Abstinenztest standhalten könne. Therapeut*innen, die meinen Fall nach drei Sitzungen ablehnten. Ich habe Stunden im Auto gesessen und geweint. Ich habe geweint, als mich das Schulsystem im Stich ließ und abhängte. Ich habe geweint, als sich Sozialarbeiter*innen gegen mich als Kind gestellt haben, und ich habe geweint, wenn Menschen gegangen sind, ohne mir zu sagen, warum sie plötzlich weg sind. Ich habe mich im Stich gelassen gefühlt, nicht, weil ich kompliziert, sondern weil die Berührungsangst zu mir größer war. Weil es leichter war zu schweigen und die Verantwortung immer weiterzutreten, anstatt mir als Erkrankter die Hand zu reichen. Es war die Überforderung derer, die es eigentlich hätten besser wissen müssen. Ich habe so viele Tränen vergossen, vielleicht könnte ich Hallenbäder füllen.

Der tiefe Schmerz, den diese Ereignisse in mir hinterließen, wäre vermeidbar gewesen. Es ist so wichtig, dass wir anfangen, die Bedeutsamkeit der psychischen Gesundheit in den Fokus zu rücken. Rund jede*r fünfte Deutsche erkrankt in seinem Leben einmal an einer Depression ▶ [1]. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass ca. 4 Millionen Menschen in Deutschland depressiv sind ▶ [2]. Das ist ungefähr die Einwohnerzahl des Bundeslandes Sachsen. Wir diskutieren Tempolimits auf Autobahnen. Wir klären unsere Jugend über illegale Drogen auf. Aber wir klären sie nicht über die tödliche Gefahr einer Depression auf. Rund 10.000 Menschen in Deutschland nehmen sich jährlich das Leben ▶ [3]. Die meisten litten davor an Depressionen. Diese Zahl ist erschreckend hoch und bedeutet, dass wir kommentarlos dabei zusehen, wie Menschen den Freitod als einzigen Ausweg sehen. Dabei gibt es Behandlungsmöglichkeiten. Es gibt Lösungen und Hoffnung. Es gibt Menschen, die helfen können. Das Leben muss sich nämlich nicht immer so furchtbar schlimm anfühlen.

Als ich durch zufällige Ereignisse die Möglichkeit hatte, bei einem Format von »Puls« (Bayrischer Rundfunk) mitzuwirken, erkannte ich, wie wichtig und notwendig es ist, dass Menschen über psychische Gesundheit sprechen. Ich bekam E-Mails und Kommentare, Nachrichten und persönliche Worte von lauter Menschen, die ich zumeist gar nicht kannte. Darin erzählten sie mir Geschichten von sich und ihren Angehörigen. Es gab ein überwältigendes Feedback, welches mir den Mut gab, das zu tun, was ich jetzt tue. Rückblickend hätte ich mir auch eine Person gewünscht, mit der ich mich hätte identifizieren können. Und nun sitze ich hier an meinem Schreibtisch mit einem Gefühl, das ich nicht geglaubt hätte, jemals haben zu können: ein großes Selbstvertrauen in mich und das Leben.

Diese Erkenntnis kam nicht einfach so. Die letzten 10 Jahre, seit der Diagnose »emotional instabile Persönlichkeitsstörung Typ Borderline« (ICD-10 ▶ [4]: F60–31), habe ich hart, manchmal hoffnungslos, aber konsequent an dem gearbeitet, was mir als unheilbar erklärt wurde. Es war nicht einfach zu verstehen, was das Leben mit mir macht. Wie ich vereinen kann, was doch so krankhaft sein sollte, mit dem, was ich empfand. Dass meine Persönlichkeit eine Störung sei und dass ich das aber so gar nicht gut fand. Auch die damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse malten eher kein buntes Bild meiner Zukunft. Das war unfassbar beängstigend und einsam.

Viele Therapiestunden und Klinikaufenthalte später kann ich mit Abstand und warmherzig auf diese Erfahrungen zurückblicken. Sicherlich haben sie mich zu der Person gemacht, die ich bin, und, so pathetisch es klingt, das würde ich nicht ändern wollen. Ich habe gelernt, was Diagnosen bedeuten, und ich habe gelernt, welchen Wert ein System von verschiedenen Ärzt*innen hat. Ich lernte meine Privilegien kennen und erfuhr Diskriminierung. Ich versuchte, mich zu informieren und mit Neugier zu erörtern, wie ich aus den tiefsten Krisen kommen konnte. All diese Erkenntnisse habe ich über die Jahre zusammengetragen und niedergeschrieben. Einiges werde ich hier erzählen und den Versuch machen, die komplizierte menschliche Psyche ein wenig zu entwirren. Ich möchte Stigmata brechen und helfen, dass es ein wenig leichter wird, über psychische Erkrankungen zu sprechen. Ich versuche, Klarheit in die Relevanz psychischer Erkrankungen zu bringen, und erzähle Geschichten, die sich vielleicht so ereignet haben. Aus Gründen des persönlichen Schutzes haben diese Geschichten geänderte Details. Trotzdem bedeutet das nicht, dass diese Geschichten unrealistisch sind. Sie sollen der Veranschaulichung dienen und große Fragezeichen auflösen. Denn psychische Erkrankungen verstehen, Diagnosen lesen und Symptome deuten ist bis jetzt zumeist Fachpersonen überlassen. Aber wir alle haben einen Körper, der erkranken kann, und eine Psyche, die erkranken kann. Zu verstehen, wie das geschieht, hilft uns, uns selbst besser zu verstehen.

Im Zuge meiner Recherchen habe ich alte Tagebücher von mir durchforstet, um meine Gefühlszustände nachzuempfinden, und einige Originaleinträge in die verschiedenen Kapitel eingefügt. Damals schrieb ich viele dieser Einträge auf Englisch, manche aber auch auf Deutsch. Ich habe sie wortgetreu, unverändert, jedoch gekürzt, übernommen.

Und warum das Leben zwar kompliziert und auch traurig ist, aber gleichzeitig aufregend, mutig und einzigartig sein kann. Konfettiregen im Kopf ist eine ernste Ode an das Leben und eine leichte Geschichte über das Erwachsenwerden und Verstehen.

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Prolog

Von der Gesundheit der Psyche

Psychisch gesund und krank

Was bedeutet »psychisch krank?«

Was ist eine Borderline-Störung eigentlich?

Was ist ein psychisches Trauma?

Vom tiefen Tief

Die unendliche Schwere der Existenz

Wie ich aus der Tiefe zurück an die Oberfläche kam

Mit dem Gefühl rausgehen, Depression ist auch nur eine Grippe

Aber was hat denn nun eigentlich geholfen?

The Magical Glory of Boringness

Drei Dinge, die ich in meinem Leben gelernt habe

Von Symptomen und Realitätsflucht

Alkohol und andere Wege, sich selbst zu schaden

Vom Essen und vom Schlafen

Warum Schaumbäder nicht ausreichen und was Basic Selfcare bedeutet

Von Fachleuten, Therapeut*innen und anderen Menschen

Warum fast jede Begegnung die Chance hat, etwas Wunderschönes zu sein

Von Kliniken und stationären Therapien

Warum in einer Klinik die Türen nicht abgeschlossen sind

Vom Normalsein und Einsamsein

Warum meine Heilung als weiße deutsche Frau ein Privileg ist

Vom Geholfen-Werden und Hilfe-Annehmen

Warum jeder Mensch Hilfe verdient und warum auch du Hilfe annehmen darfst

Vom Helfen und Dasein

Wie man Betroffene wirklich unterstützen kann

Epilog

Danksagung

Service

Endnoten

Autorenvorstellung

Sachverzeichnis

Impressum

Von der Gesundheit der Psyche

Psychisch gesund und krank

Das etwas irgendwie nicht ganz stimmte, merkte ich das erste Mal mit 13 Jahren. Ich war tief unglücklich, konnte das aber nicht in Worte fassen. Mit 14 Jahren erlebte ich das erste Mal eine schmerzhafte räumliche Trennung von Menschen, die mir nahestanden. Und das brachte den Stein ins Rollen. Welchen Stein, wusste ich zwar noch nicht, aber irgendein Stein war es. Ich war todunglücklich. Ich konnte nur noch weinen und im Großen und Ganzen reagierte ich viel heftiger auf diesen Abschied als die anderen in meinem Alter. Bis dahin, und auch danach hatte mir niemand erklärt, was es bedeutet, eine überwältigende Traurigkeit zu empfinden. Ich war konfrontiert mit meinen eigenen Emotionen, die heftig waren, und ich fand keinen Anhaltspunkt dafür, sie einzuordnen.

Die Begrifflichkeit »psychisch krank« war für mich eine Bezeichnung, die nur anderen Menschen vorbehalten war. Von Depressionen hatte ich nur am Rande gehört und als wir in der Schule über Essstörungen sprachen, verstand ich nicht, wieso Menschen einfach aufhörten zu essen (über andere Essstörungen sprachen wir erst gar nicht), und überhaupt erklärte mir niemand, dass Betroffene nicht nur »einfach aufhören zu essen«. In meiner Schulzeit gab es keine aufklärenden Gespräche darüber, dass die Psyche, eben wie der Körper, auch schwer erkranken kann. Die Komplexität der Psyche war kein Thema des Lehrplans.

75 % der psychischen Erkrankungen brechen vor dem 25. Lebensjahr aus ▶ [5]. Das bedeutet, dass viele Betroffene schon in ihrer Schulzeit unter psychischen Belastungen leiden. Das bedeutet aber auch, dass wir gerade in dieser Zeit viel mehr darüber sprechen müssen. Prävention ist immer besser als Nachsorge. Kinder sollten dabei unterstützt werden, ihre Gefühle zu spüren und zu verbalisieren. Es ermöglicht eine frühere Intervention und kann einen schweren Verlauf einer psychischen Erkrankung verhindern.

Was bedeutet »psychisch krank?«

Die Psyche ist komplex und so ganz verstehen wir sie noch nicht. Wir sprechen von mentaler Gesundheit, aber niemand kann das präzise definieren. Wir sollen Sport treiben, uns gesund ernähren, Freunde treffen, einen erfüllenden Beruf ausüben, Familie planen, Ziele im Leben haben, ein Hobby, das uns Spaß macht. Das sind verdammt viele Ansprüche an Menschen, die von unterschiedlichsten Schicksalen getroffen werden können, keine finanzielle Sicherheit haben oder physisch erkranken. Wie schaffen wir es also, eine Gesellschaft zu gestalten, die jeden Menschen in seiner Individualität aufnehmen kann? Wie fördern wir verschiedene Persönlichkeiten und bieten Sicherheit in den Möglichkeiten des Lebens? Es steht außer Frage, dass unsere Situation in diesem Land, in dem wir leben, wahnsinnig privilegiert ist. Wir haben ein solidarisches Gesundheitssystem und demokratische Rechte. Gleichzeitig zeigen uns aber die Zahlen, dass Depressionen und andere psychische Erkrankungen ein wachsendes Problem sind. Ob wir krank werden oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Es gibt Umwelteinflüsse, biologische, familiäre und soziale Faktoren, die nicht nur unsere Persönlichkeit formen, sondern eben auch beeinflussen, wie anfällig wir für psychische Erkrankungen sind. Unsere Kindheit, die Erziehung, die Bezugspersonen und äußerliche Faktoren (finanzielle Sicherheit, Traumata, schulische Laufbahn) prägen unsere Persönlichkeit und unser Leben.

Das Menschsein ist eine wilde Kombination von Gefühlen, Denkprozessen, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Diese verschiedenen Bereiche können erkranken, allerdings ist nicht jede Abweichung gleich eine Erkrankung. Denn Traurigkeit ist nicht gleich eine Depression und Stimmungsschwankungen sind menschliche und natürliche Erfahrungen. Da das persönliche Empfinden eine große Rolle spielt, gibt es keine klaren Eingrenzungen, sondern Anhaltspunkte und empirische Kriterien. Zwei Klassifikationssysteme spielen dabei die bedeutendste Rolle bei der Einordnung psychischer Störungen:

Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen ist Teil der ICD-10 (»International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« oder im Deutschen »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« genannt) der WHO (Weltgesundheitsorganisation) und ist ein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) findet vor allem in der Forschung und in den USA Verwendung. Beide Kataloge sind keine endgültig festgelegten Einordnungen, sondern werden als vorläufig verstanden und sind kompatibel. So wurden früher psychische Erkrankungen in neurotische und psychotische Störungen unterteilt. Das ist heute nicht mehr üblich. Seit der sechsten Ausgabe im Jahr 1949 wird die ICD von der WHO herausgegeben. Das erste Mal waren dort psychische Störungen aufgelistet. Die Bundesrepublik Deutschland setzte 1986 das erste Mal die ICD-9 verpflichtend in Krankenhäusern ein. Die ICD-10 wurde 1983–1992erarbeitet und ist heute in der Version von 2020 der verbindliche Standard in Deutschland.

In der ICD-10 befinden sich psychische Störungen in Kapitel V. Die Diagnosen werden mit einem F deklariert und die Folgeziffern lassen genauere Angaben zur Erkrankung zu. Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung findet sich unter den sogenannten »Spezifischen Persönlichkeitsstörungen« (F60). Dort wird die emotional instabile Persönlichkeitsstörung in zwei Typen eingeteilt: Der impulsive Typ wird mit dem Diagnoseschlüssel F60.30 gekennzeichnet, der Borderline-Typ mit dem Diagnoseschlüssel F60.31. Das DSM unterscheidet diese Typen nicht.

Wir definieren eine psychische Störung durch krankheitswertige Veränderungen der Wahrnehmung und des Verhaltens. Das geht immer auch mit einem hohen Leidensdruck bei den Betroffenen einher. Es kann zu Problemen in vielen Lebensbereichen führen. Außerdem können das Denken, die Selbstwahrnehmung und das Fühlen beeinträchtigt sein. Zwar kann es biologische Gründe für eine auftretende Depression geben (Schilddrüse, Vitaminmangel), allerdings wird und sollte dies in einer umfassenden Behandlung einer Ärzt*in ausgeschlossen und/oder behandelt werden. In der Medizin wird davon ausgegangen, dass der Körper und die Psyche nicht wesentlich voneinander unabhängig sind, sondern sich gegenseitig beeinflussen (auch Psychosomatik genannt).

Abstrakte Erklärungen erschweren es, nachzuvollziehen, was eine Veränderung der Wahrnehmung eigentlich bedeutet. Wir nehmen uns als selbstbestimmte Menschen wahr, die eigentlich die volle Kontrolle über ihr Verhalten haben (müssen). Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm sind beängstigend und aufgrund der fehlenden Häufigkeit nicht in unserem kollektiven Bewusstsein. Aggressivität ist einschüchternd, ein antisoziales Verhalten seltsam und plötzlicher Rückzug aus dem sozialen Umfeld überraschend. Oft verstehen wir nicht die Zusammenhänge, die zwischen dem Verhalten und der psychischen Erkrankung existieren. Außerdem neigen wir dazu, das Verhalten anderer auf uns selbst zu übertragen. Wir suchen den Auslöser für das Verhalten des Gegenübers bei uns selbst und nehmen uns dabei in der Interaktion oft wichtiger, als wir es eigentlich sind. Das bedeutet, dass wir die Verhaltensweisen unseres Gegenübers als klare Reaktion auf unser Verhalten wahrnehmen, obwohl das Verhalten mehr mit den Personen selbst zu tun hat. Genauso ist unser eigenes Verhalten hauptsächlich eine Reaktion aus uns selbst als eine Reaktion auf unser Gegenüber.

Psychische Erkrankungen werden meist im Zusammenhang mit popkulturellen Filmen, Straftaten oder Suiziden von bekannten Persönlichkeiten in unseren Fokus gesetzt. Der Pressekodex rät Journalist*innen zu einer umsichtigen Berichterstattung in Bezug auf Suizid ▶ [6]. In der Medienforschung wird vom Werther-Effekt (nach Goethes »Die Leiden des jungen Werther«) gesprochen. Dieser bezeichnet die Annahme, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen ausführlicher medialer Berichterstattung über Suizid und einem erhöhten Anstieg der Zahl der Suizide in der Bevölkerung besteht ▶ [7]. Gar nicht über Suizid zu berichten ist keine Lösung. Medien spielen eine wichtige Rolle für das öffentliche Bewusstsein. Deswegen hilft es, wenn über Suizid nicht als katastrophales Ende einer ausweglosen Krise berichtet wird, sondern als endliche Phase tiefer Verzweiflung, die mit Hilfsangeboten aufgefangen werden kann. Wie drastisch die Suizidproblematik in Deutschland ist, wird klar, wenn wir einen Blick auf die Zahlen werfen. Jährlich nehmen sich rund 10.000 Menschen das Leben ▶ [8]. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch (mindestens) 10 engere Kontakte in seinem Umfeld hat, sind das 100.000 Menschen jährlich, die direkt oder indirekt von Suizid betroffen sind. Es sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord, HIV und (illegale) Drogen zusammen. Auf Autobahnen sehen wir Plakate, die vor zu hoher Geschwindigkeit warnen, aber wir sehen keine Plakate, die darüber aufklären, dass Depressionen tödlich enden können. Die häufigste Ursache für Suizid sind Depressionen.

Die Bezeichnung »mutmaßlicher Täter soll psychisch krank sein« malt ein Bild von Extremen. Die Berichterstattungen sind häufig undifferenziert, denn sie setzen eine psychische Erkrankung mit einer Straftat gleich. Es muss klar unterschieden werden, dass die allermeisten psychisch Erkrankten keine Straftäter*innen sind und werden. Nur 5 % der gewalttätigen Straftaten werden von psychisch Erkrankten verübt ▶ [9]. Menschen, die in Deutschland zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden und dann in ein Gefängnis kommen, müssen verantwortlich für ihr Handeln sein: Das bedeutet eben auch: psychisch gesund. Ob Urteile immer gerecht und richtig sind, ist eine andere Diskussion. Wir können eben nicht pauschalisieren.

Wir erschaffen ein Bild, welches psychische Erkrankungen zu einem Problem der »anderen« macht. Eine Minderheit, die ganz weit weg vom Alltag ist. Wir versuchen uns abzugrenzen, weil wir nicht »die« sein können. Krank sind immer die anderen und uns kann es nicht treffen. Und wenn es dann doch passiert, sind wir gelähmt von der Unwissenheit und sehen plötzlich den Vorurteilen ins Auge, die wir selbst einmal hatten. Aber wir sind eben nicht automatisch davor geschützt. Psychische Erkrankungen existieren auch in unserem direkten Umfeld, auch wenn das nicht immer klar erkennbar ist. Aktuelle Zahlen zeigen, dass in Deutschland 27 % der 18- bis 79-Jährigen an einer psychischen Erkrankung leiden. Das ist fast jeder vierte männliche Erwachsene und jede dritte weibliche. Am häufigsten sind Angststörungen, gefolgt von depressiven Störungen ▶ [10].

Was ist eine Borderline-Störung eigentlich?

In der ICD-10 werden Persönlichkeitsstörungen als tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster beschrieben, die eine starre Reaktion auf unterschiedliche Lebenssituationen sind. Sie weichen deutlich von der Wahrnehmung, den Gefühlen und dem Denken der Mehrheit der Bevölkerung ab. Das persönliche Leiden und die sozialen Probleme unterscheiden sich unter den Betroffenen. Allerdings wirken sie sich auf viele Bereiche des Verhaltens und psychologischen Funktionen aus. Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung entwickelt sich meist in der frühen Kindheit und hält ein ganzes Leben an. Erste Anzeichen können schon in der Jugend erkennbar sein. Manchmal treten Symptome verspätet auf oder äußern sich erst im Erwachsenenalter. Auslöser für die Erkrankung sind meist Traumata, wie zum Beispiel sexueller Missbrauch, Gewalterfahrung, unsichere Familienverhältnisse, körperliche und psychische Vernachlässigung, sowie psychische Belastungen (z. B. Tod einer nahestehenden Person). Diese Traumata können auch wiederkehrende Ereignisse sein, also sich über einen Zeitraum wiederholen. Die Störung kann auch bei Menschen auftreten, die in intakten Familienverhältnissen aufgewachsen sind. Eine Persönlichkeitsstörung ist, wie der Name vermuten lässt, eine schwere Störung der Persönlichkeit und des Verhaltens. Dieser liegt keine Hirnerkrankung oder -schädigung zu Grunde. Es sind verschiedene Bereiche der Persönlichkeit betroffen, was so gut wie immer mit sozialen und persönlichen Beeinträchtigungen einhergeht.

Der impulsive Typ der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung kann sich mit aggressivem Verhalten, unkontrollierbarer Wut und Wutausbrüchen sowie mangelnder Impulskontrolle äußern. Der Typ Borderline zeichnet sich zusätzlich durch Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen aus. Des Weiteren empfinden Betroffene ein chronisches Gefühl von Leere, neigen zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen und selbstverletzendem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen (Androhung und/oder Andeutung von Suizid) und Suizidversuchen. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die emotional instabile Persönlichkeitsstörung Auswirkungen hat auf das Fühlen, Erleben, Verhalten und die Identität. Das klingt alles sehr kompliziert und wissenschaftlich, aber in den folgenden Kapiteln werden wir nach und nach die einzelnen Symptome verbildlichen. Die Borderline-Störung kann auch mit anderen psychischen Erkrankungen auftreten. So leiden Betroffene meist auch an Depressionen, Essstörungen, Suchterkrankungen und/oder Angststörungen.

Der Begriff »Borderline« wurde von Adolph Stern Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt, als dieser zum ersten Mal Symptome der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung beschrieb und diese »border line group« nannte. Der Begriff beschrieb damals einen Übergang zwischen neurotischen und psychotischen Symptomen. Neurotische Erkrankungen wurden durch Sigmund Freud geprägt und gelten als leichte, gut behandelbare, psychische Verstimmungen. Psychosen zeichnen sich vor allem durch Wahnvorstellungen, Ich-Störungen und Halluzinationen aus. Aufgrund der psychotischen Symptome der Borderline-Störung (Dissoziationen) wurde diese anfangs den schizophrenen Störungen zugeordnet. Diese Zuordnung zur Schizophrenie wurde inzwischen zurückgenommen. Die neusten Konzepte der Borderline-Erkrankung stellen die Störung des Selbstbildes in eine zentrale Rolle. Der Begriff »Borderline-Störung« ist heutzutage stark stigmatisiert und Betroffene werden von der Allgemeinheit als manipulative, selbstverletzende Unmenschen dargestellt, die ihrem Umfeld schaden und ihre Emotionen nicht im Griff haben. Darstellungen in popkulturellen Medien wie zum Beispiel im amerikanischen Film »Silver Linings«, in welchem Jennifer Lawrence eine emotional instabile junge Frau spielt, die viel Chaos verursacht, fördern diese Wahrnehmung und versäumen eine positive Einordnung. Das ist toxisch, gefährlich und kontraproduktiv. Denn die Erkrankung erzeugt höchsten seelischen Schmerz und persönliches Leid, welches unbedingt behandelt werden muss – ohne im Mittelpunkt einer sensationellen Geschichte zu stehen.