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Beschreibung

Die westlichen Gesellschaften sind seit dem vergangenen Jahrzehnt zunehmend von Polarisierung geprägt, sei es in gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Hinsicht. Das gilt auch, oder vielleicht sogar umso mehr, für innerjüdische und israelische Auseinandersetzungen. Für Israel bedeutet das natürlich in erster Linie die Debatte um Lösungsansätze im Nahostkonflikt und das Verhältnis zwischen Orient und Okzident. Oder die Diskussion um die eigene Verortung im Umgang mit der Aufarbeitung von Kolonialgeschichte. Aber es gibt auch ungewöhnliche Wege der Konsensfindung: So vereint die 2021 gebildete Regierung in Jerusalem diverse Koalitionspartner, die ideologisch nicht weiter auseinander liegen könnten.

In diesem Almanach geht es um das ganze Spektrum von Konsens und Dissens in der jüdischen Welt und nicht zuletzt auch um die Grauzonen, in denen sich Übergreifendes oder Gar-nicht-zu-Greifendes verorten lässt.

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Titel

JÜDISCHERALMANACH

der Leo Baeck Institute

Konsens Dissens

Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem

Impressum

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Gefördert durch: Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, BaselIm Dialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und NassauRedaktionelle Beratung: Irene Aue-Ben-David, Na’ama Sheffi und Oded SteinbergDas Leo Baeck Institut (LBI) ist benannt nach der Symbolfigur der deutschen Judenheit im20. Jahrhundert und besitzt Zentren in New York, London und Jerusalem sowie eine Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft in Deutschland. Es wurde 1955 in Jerusalem gegründet, um die Geschichte und Kultur des deutschen und zentraleuropäischen Judentums zu erforschen und zu dokumentieren.Seit 1993 gibt das Leo Baeck Institut Jerusalem den Jüdischen Almanach heraus. Dies knüpft an eine alte Tradition an, die durch den Nationalsozialismus gewaltsam abgeschnitten wurde.Erstmals erschien ein Jüdischer Almanach im Jahre 1902.Leo Baeck Institute:Jerusalem: 33 Bustenai Street, Jerusalem 9322928 Israel; www.leobaeck.orgLondon: 2nd Floor, Arts Two Building, Queen Mary University of London, Mile End Road,London E1 4NS, UK; www.leobaeck.co.ukNew York: 15 West 16th Street, New York, NY 10011 USA; www.lbi.orgFreunde und Förderer des LBI: Liebigstr. 34 60323 Frankfurt am Main

eBook Jüdischer Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagabbildungen: Ursus Wehrli, Buchstabensuppe, erschienen in: Ursus Wehrli, Die Kunst, aufzuräumen, Copyright (c) 2011 by KEIN & ABER AG Zürich - Berlin. Fotos: Geri Born

eISBN 978-3-633-77482-1

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Zu diesem Almanach

Dan Diner

:

Jüdische Gedächtnisbilder im Umsturz. Über die Neuverhandlung geschichtlicher Erfahrungen im Ukraine-Krieg

Rebekka Grossmann und Oded Steinberg

:

Gedanken zur globalen Sichtbarkeit von Diskriminierungserfahrungen. Partikularinteressen und universaler Humanismus in der Geschichtsschreibung

Doppelte Provinzialisierung: Jüdische Fotograf:innen in kolonialen Kontexten

Die Nation als Minderheit: Jacob Robinson

Von der Linderung der Leiden anderer: Jüdischer Humanitarismus und armenische Geschichte

Michael Wuliger

:

Kurzer Lehrgang – als Jude unter Kommunisten

Marcel Reich-Ranicki

:

Heinrich Heine – Eine Provokation und eine Zumutung

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

Ralf Balke

:

Integrativ im Inland, polarisierend im Ausland – Das Phänomen Bruno Kreisky

Jeremi Suri

:

Henry Kissinger und der Aufbau der Weltordnung: umstritten, aber unabdingbar

Paul Alonso

:

Sacha Baron Cohen: Agent Provocateur mit Mission

Toby Greene

:

#Jewsdontcount – Über David Baddiels Polemik »Und die Juden?«

Yuval Tal

:

Wie in der Politik der französischen Republik zwischen Juden und Muslimen differenziert wird

Noam Zadoff

:

Die Grenzen des Konsenses: Die »Semitische Aktion« und die Idee einer arabisch-israelischen Föderation

Ofer Waldman

:

Schizophrenie

Yehuda Bauer

:

Linksradikalismus trifft Rechtsradikalismus

Tal Schneider

:

Die 36. israelische Regierung: Das grösste gesellschaftspolitische Experiment

Avi Shilon

:

Bibismus

Dan Shaham-Ben Hayun

:

Die Abraham-Abkommen als Konsensbrecher

Yossi Yonah

:

»Oh Migrant, wohin des Weges?«. Hommage an Eliyahu Eliasha

Orly Ganany Dagan

:

Städtischer Wohnraum, ländlicher Charakter. Die neuen kollektiven Gemeinschaften in Israel

Ruben Honigmann

:

Dein Deutsch, ist das Hebräisch?

Zu den Autorinnen und Autoren

Bildnachweise

Informationen zum Buch

Zu diesem Almanach

Unsere Gesellschaften werden im 21. Jahrhundert von starken Polarisierungen und Atomisierungen geprägt –, sei es in sozialer, politischer oder kultureller Hinsicht. Zugleich greifen die klassischen Links-Rechts-Koordinaten nur noch bedingt. Das spiegelt sich auch in jüdischen oder israelischen Debatten wider. Der vorliegende Almanach widmet sich solchen nicht immer leicht zu identifizierenden Bruchlinien, ebenso wie deren Überwindung. Es geht um Konsens und Dissens in der jüdischen Welt und in Israel, aber auch um Grauzonen, in denen sich Übergreifendes oder Gar-nicht-zu-Greifendes manifestiert.

Besonders dramatisch zeigt sich dies aktuell im Ukraine-Konflikt. Denn der russische Einmarsch im Februar 2022 hat achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die europäische Sicherheitsarchitektur nachhaltig erschüttert. In dem Eröffnungsbeitrag geht Dan Diner dem mit der Region verbundenen jüdischen Gedächtnisraum und den darin verborgenen historischen Schichtungen nach. Dabei werden fragmentierte und auf den ersten Blick paradoxe Bilder aus dem jüdischen Gedächtnis eingeordnet.

Ein anderes Beispiel ist die Debatte über den Sinn oder die Unzulänglichkeit von historischen Vergleichen, wie sie auch im Ukraine-Krieg instrumentalisiert werden. Besonders viel Sprengstoff gibt es bei der Frage nach der Vergleichbarkeit der Shoah mit anderen Genoziden. In ihrem Essay »Gedanken zur globalen Sichtbarkeit von Diskriminierungserfahrungen« beschäftigen sich Rebekka Grossmann und Oded Steinberg mit jüdischen Partikularinteressen und dem Engagement von Juden für die Rechte von Minderheiten in historischen Narrativen.

Von der Macht solcher Narrative erzählt Michael Wuliger, der in der Bundesrepublik aufgewachsen ist, aber die DDR in seiner Jugend für das bessere Deutschland hielt. Er schreibt über seine persönlichen Erfahrungen in den Untiefen des deutschen Kommunismus der Post-68er, von dem er sich bald wieder abwenden sollte. Die rote Assimilation scheiterte an seinem Judesein.

Seine jüdische Herkunft hatte 150 Jahre zuvor auch Heinrich Heine zum Problemfall gemacht. Sowohl Kommunisten als auch Anti-Kommunisten versuchten gleichermaßen ihn für sich zu vereinnahmen. In einem 1972 erschienenen Essay schildert Marcel Reich-Ranicki wie Heinrich Heine aufgrund seiner vielschichtigen Identität immer wieder an Grenzen stieß.

Wer auf keinen Fall provozieren wollte und um des lieben Konsens' willen sogar bereit war, selbst mit ehemaligen SS-Angehörigen zu koalieren, war Bruno Kreisky. Über dessen Selbstverständnis als jüdischer Bundeskanzler Österreichs schreibt Ralf Balke. Schmerzhafte Umbrüche waren dagegen für den ehemaligen amerikanischen Außenminister Henry Kissinger nichts Unbekanntes. Jeremi Suri skizziert, wie der einstige Flüchtling aus Nazideutschland die Außenpolitik der Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägte, indem es ihm gelang, immer wieder konträre Positionen zu vereinen.

Lange Zeit war der britisch-jüdische Komiker Sacha Baron Cohen damit beschäftigt, den gesellschaftlichen Verwerfungen mit beißender Ironie zu begegnen. In seinem Beitrag beschreibt Paul Alonso, wie dem Erschaffer der umstrittenen Kunstfigur Borat das Lachen vergangen ist und warum er aus Sorge um eine weitere gesellschaftliche Radikalisierung jetzt konkrete Maßnahmen fordert. Sacha Baron Cohens Kollege David Baddiel, ebenfalls aus Großbritannien, nimmt die Vertreter einer politischen Wokeness unter die Lupe und entdeckt dabei einen blinden Fleck, die Ignoranz gegenüber Juden und einem unterschwelligen Antisemitismus. Über die Genese von Baddiels Polemik »Jews don't count« berichtet Toby Greene.

Wie Toleranz und Intoleranz gegenüber Minderheiten instrumentalisiert werden, beschreibt Yuval Tal am Beispiel des Umgangs französischer Politik von links bis rechts mit Juden und Muslimen. In diesem Fall liefert die koloniale Vergangenheit den Schlüssel zum Verständnis dafür, warum zwei Arten von Andersartigkeit konstruiert wurden.

Auch in Israel wurde der Konsens in der Vergangenheit herausgefordert, und zwar schon in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Staatsgründung. Noam Zadoff erzählt die Geschichte der Gruppe »Semitische Aktion«, die sich als Alternative zur zionistischen Politik präsentierte und nach einer Lösung jenseits des jüdisch-zionistischen Partikularismus suchte. Über die Wahrnehmung Israels als Besatzungsmacht nach 1967 streitet sich Ofer Waldman mit seinem Vater. Dabei tritt nicht nur ein Generationenkonflikt zutage, sondern auch die scheinbar unversöhnlichen politischen Positionen zwischen alten und neuen Linken. Bei den Diskussionen um einen Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern hat in jüngster Zeit vor allem im Ausland die Idee eines binationalen Staates Fürsprecher gewonnen. Mit der Realitätsferne dieses Wunschkonzepts und seinen möglichen Folgen setzt sich Yehuda Bauer auseinander.

Es gibt aber auch neue Wege der Konsensfindung in Israel. So hat die im Juni 2021 gebildete neue Regierung in Jerusalem acht völlig unterschiedliche Koalitionspartner zusammengebracht, die ideologisch nicht weiter auseinander liegen könnten. Über dieses erste gesellschaftspolitische Experiment in der Ära der sozialen Medien schreibt Tal Schneider. Dem gegenüber positioniert sich die Anhängerschaft des damals abgewählten Benjamin »Bibi« Netanyahu. Diesem Phänomen der »Bibisten« und ihrer ungebrochenen Treue dem früheren Regierungschef gegenüber geht Avi Shilon auf den Grund.

Bis zum Sommer 2020 war in der arabischen Welt die öffentliche Normalisierung des Verhältnisses mit Israel zwingend von der Regelung der palästinensischen Frage abhängig gewesen. Die Abraham-Abkommen stehen deshalb für einen disruptiven Gesinnungswandel, den Dan Shaham-Ben Hayun als israelischer Diplomat in Abu Dhabi aus der Nähe verfolgt hat. Dabei sieht er Israelis orientalischer Herkunft in der Rolle als potenzielle Vermittler. Mit der Frage nach der Zugehörigkeit Israels zum nahöstlichen Kulturraum beschäftigt sich Yossi Yonah, dessen Eltern aus dem Irak stammen. Am Beispiel der arabischen Sprache und Musik erzählt er von seiner eigenen subtilen Affinität zu diesen Klängen, was jedoch lange Zeit nicht dem gesellschaftlichen Konsens entsprach.

Individualistisches versus kollektives Denken – diesem Widerspruch widmet sich Orly Ganany Dagan. Ihr geht es um die Renaissance eines totgesagten gesellschaftlichen Modells. Sie erzählt, wie sich in den vergangenen Jahren in Israel neue Communities in Gestalt urbaner Kibbuzzim gebildet haben, die Kapitalismus mit Sozialismus zu vereinen suchen.

In dem Schlussbeitrag reflektiert Ruben Honigmann über sich und sein Dasein als statistische Abweichung, weil er als in Frankreich lebender Jude aus Ostberlin immer wieder gefragt wird, ob er mit seinen Kindern Hebräisch sprechen würde, obwohl er mit ihnen auf Deutsch kommuniziert. Das steht im krassen Gegensatz zu früheren Zeiten, als man ihn als Schüler in Straßburg noch für den Gebrauch der Nazi-Sprache anprangerte – verkehrte Welten.

Gisela Dachs

Jerusalem/Tel Aviv

Dan Diner

Jüdische Gedächtnisbilder im Umsturz

Über die Neuverhandlung geschichtlicher Erfahrungen im Ukraine-Krieg

Der russische Krieg in der und gegen die Ukraine löst nicht nur, aber vor allem im jüdischen Gedächtnis eine Kaskade kaleidoskopisch fragmentierter, paradoxer Bilder kollektiver Erinnerung aus. Während der Name Bohdan Chmelnyzkyj aufgrund des 1648 erfolgten kosakischen Aufbegehrens gegen die herrschenden polnischen Grundherren mit einem ikonisch gewordenen Blutbad an der jüdischen Bevölkerung verbunden wird, scheint heute der Name Wolodimir Selenskij auf – der jüdische Präsident der kämpfenden Ukraine. Eine solche Konstellation, so scheint es, stürzt die eingeschliffenen, die emblematisch-negativen jüdischen Gedächtnisbilder über die Ukraine um.

Eine jüdisch geeichte Sicht auf die Gewaltgeschichte der Ukraine in der neueren Zeit könnte im Jahre 1821 ihren Ausgang nehmen. Es war das Jahr eines ersten, in Odessa und wesentlich von Griechen an Juden verübten Pogroms. Und es war das Jahr, in dem, von dieser russländischen Stadt ausgehend, die hellenische, die griechisch-nationale, weiter südwestlich gegen die osmanische Herrschaft gerichtete Unabhängigkeitsbewegung ihren Ausgang nahm. Geführt wurde sie von einem griechischen General im Dienste des Zaren – dem Fürsten Alexander Ypsilantis. Odessa selbst wurde zu Ende des 18. Jahrhunderts von Katharina der Großen auf den Trümmern eines tatarischen Ortes errichtet und nach der mythischen Figur des Odysseus benannt. Unter den an den Gestaden des Schwarzen Meeres von einem muslimischen Khanat eroberten Gebieten, unter den in jenem sogenannten »Neurussland« sich ansiedelnden Bevölkerungen, ragten neben Griechen Juden hervor.

Zur Zeit des Fin de Siècle hatte sich Odessa zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und Literatur entwickelt. Die den modernen jüdischen Kanon gestaltenden Autoren verfassten ihre Schriften in jiddischer, hebräischer und russischer Sprache – manche von ihnen in allen drei Idiomen. Zu erwähnen wären der Journalist Ascher Ginsberg (Ahad Ha'am), der Historiker Simon Dubnow, der Dichter Haim Nachman Bialik oder der Politiker und Romancier Wladimir Jabotinsky. Odessa, eine vornehmlich von durch die Französische Revolution in die Emigration vertriebenen Adligen erbaute Stadt, orientierte sich kulturell Richtung Süden und suchte intellektuell Anschluss an die griechische und römische Antike. Dies regte auch die jüdischen Autoren an, sich in national-jüdischer Absicht dem Aufleben einer hebräischen Kultur zu verschreiben.

Demographisch war der Bereich des Schwarzen Meeres griechisch-diasporisches Siedlungsgebiet gewesen. Eine auffällige Anzahl ukrainischer Ortschaften trägt das Zeichen ihrer griechischen Herkunft im Namen. Das Wort von der Polis erschließt sich anhand des Suffix: Sewastopol, Mariupol, Melitupol. Auch andere Städtenamen weisen auf griechische Ursprünge hin. So leitet sich der Name der Stadt Cherson und des sie umgebenden Bezirks Cherson vom griechischen Wort Chersonesos ab. Es bedeutet Halbinsel. Gemeint ist die Krim.

Ihr gewaltsames Ende fand die griechische Präsenz in der Landschaft der südlichen Ukraine während des russischen Bürgerkriegs. Es war im Jahre 1919, als mit der alliierten Intervention hellenische Seestreitkräfte und mitgeführte Truppen gemeinsam mit Briten und Franzosen an der nördlichen Küste des Schwarzen Meeres anlandeten, um in wenig erfolgreiche Kämpfe mit der Roten ukrainischen Armee verwickelt zu werden. Alsbald ließen sie von ihrem Ansinnen ab und bereiteten ihren Rückzug vor. In Panik suchten die inzwischen mit den fremden Interventionstruppen identifizierten ortsansässigen Griechen, so berichtet der Chronist des Bürgerkrieges, Isaak Babel, an Bord der Schiffe zu gelangen, um dem Kessel der Hafenanlagen Odessas zu entkommen. Schauerliche Szenen spielten sich ab, als beim Versuch, auf die sich absetzenden Schiffe zu gelangen, ins Wasser gestürzte Flüchtlinge zwischen Bordwand und Kai gerieten, um dort zu Tode erdrückt zu werden oder elendig im Hafenbecken zu ertrinken.

Schon vor den Ereignissen des russischen Bürgerkriegs war die Gewaltgeschichte der Region in das historische Gedächtnis Europas eingegangen. Der Mitte des 19. Jahrhunderts tobende Krimkrieg – ein aus Osmanischem Reich, Britannien, Frankreich und Piemont-Sardinien geschmiedetes Bündnis kämpfte gegen ein gen Süden strebendes Russland – war der erste wirklich modern ausgetragene Krieg gewesen. Dampfgetriebene metallene Kriegsschiffe, Hinterlader-Gewehre, für den Transport von Truppen und Material angelegte Eisenbahnstrecken, Schützengräben und andere Neuerungen revolutionierten die Kriegskunst. Und auf allen Seiten hinterließ der Krieg Arsenale literarisierter Erinnerung. So ging Alfred Tennysons »The Charge of the Light Brigade« in den schulischen Kanon Britanniens ein – ein Epos, das den Todesmut britischer Kavalleristen besingt, die mit gezogenem Säbel und gesenkter Lanze gegen die Stellungen ohne Unterlass feuernder russischer Artillerie anritten. Damals verfasste Lew Tolstoi seine »Sevastopoler Erzählungen«, die literarische Zeugenschaft seines anfänglichen Enthusiasmus für den Krieg.

Auch Polen und Juden waren an den Kämpfen beteiligt und erinnern sich dieser andächtig. Der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz kämpfte in einer bewaffneten Formation, die den dort eingesetzten französischen Streitkräften beigeordnet war – der »Legion Polski«. Die Polen erstrebten die politische Wiederherstellung ihres untergegangenen, zerteilten Gemeinwesens. Ihr Kampf galt vornehmlich dem autokratischen Russland – dem Gendarmen des reaktionären Europas. Im November 1855 erlag Mickiewicz in einem alliierten Lazarett in Konstantinopel der an der Front wie im Hinterland grassierenden Cholera. Zuvor war es ihm gelungen, eine aus jüdisch-russischen Kriegsgefangenen bestehende militärische Abteilung der »Husaren Israels« aufzustellen, die in die Formation der polnischen Legionäre integriert worden war. Wladimir Jabotinsky, der während des Großen Krieges jüdische Einheiten als Teil der britischen Empirestreitkräfte in der Schlacht von Gallipoli 1915/16 befehligte, pries Mickiewicz als Zionisten »avant la lettre«.

Weiter westlich, im unter russischer Herrschaft stehenden Bessarabien, heute in der postsowjetischen Republik Moldau gelegen, ereignete sich im April 1903 in Kischinew (heute: Chișinău) ein dem jüdischen Gedächtnis ikonisch gewordenes Pogrom. Der an den dortigen Juden geradezu rituell vollzogene Gewaltakt sorgte durch breite Berichterstattung für weltweites Entsetzen. In ein literarisches Emblem kollektiven jüdischen Bewusstseins verwandelte sich jenes Geschehen mittels des damals verfassten Poems des hebräischen Nationaldichters Chaim Nachman Bialik: »al-hashchita« – Auf der Schlachtbank.

Iona Jakir, in eine jüdische Apothekerfamilie in Kischinew geboren, erlebte als Siebenjähriger das Pogrom. Für ihn zog jene Gewaltorgie andere Folgen nach sich. Jakir wurde ein bedeutender Militär. Als Angehöriger der Roten Armee nahm er am russischen Bürgerkrieg teil, war an der Vertreibung der »Weißen« von der Krim unter Baron Pjotr Wrangel und an der Vernichtung der ukrainisch-anarchistischen Bauernarmee unter Nestor Machno beteiligt. 1920 stieg Jakir zum Befehlshaber des Kiewer Militärbezirks auf – ein Bereich, der im Wesentlichen die heutige Ukraine umfasste. Als enger Vertrauter von Michail Frunse, nach Leo Trotzki oberster Befehlshaber der Roten Armee, galt Jakir den Worten des vormaligen Generalfeldmarschalls und damaligen Reichspräsidenten von Hindenburg nach als einer der bedeutendsten militärischen Erneuerer seiner Zeit. Auf ihn geht das von vielen Armeen übernommene Gefecht verbundener Waffen zurück. Vom Reichspräsidenten Ende der 1920er nach Berlin eingeladen, dozierte der fließend Deutsch sprechende Jakir an der damals als Führergehilfenausbildungsstätte getarnten Kriegsakademie der Reichswehr.

Mit Michail Tuchatschewski und anderen hohen Militärs der Roten Armee geriet Jakir in die Mühlen der Tschiska, der Stalin'schen Säuberung, und wurde mit anderen herausragenden militärischen Kadern 1937 hingerichtet. Unterzeichnet wurde das Todesurteil von vier Militärrichtern, zu denen auch Semjon Budjonny gehörte, der Kommandeur der im Bürgerkrieg berühmt gewordenen Roten Reiterarmee. Die war jener Front zugehörig, die im August 1920 auf Betreiben ihres Politkommissars Stalin nach Lemberg abschwenkte, anstatt – wie vorgesehen – den auf Warschau zumarschierenden Tuchatschewski zu unterstützen.

Bereits im finnisch-sowjetischen »Winterkrieg« 1939/40 war die darniederliegende Leistungsfähigkeit der kopflos gewordenen Roten Armee für alle Welt sichtbar geworden. Hitler erkannte in dieser offenbar gewordenen Schwäche geradezu eine militärische Einladung »Barbarossa« zu wagen und im Juni 1941 in die Sowjetunion einzufallen. In dem der sowjetischen Sprachreglung nach folgenden sogenannten »Großen Vaterländischen Krieg« 1941 bis 1945, entging die enthauptete Rote Armee um Haaresbreite einer vernichtenden Niederlage durch die Wehrmacht. Den Sieg über Hitlerdeutschland errang die Rote Armee durch die gewaltigen Opfer die ihre auf einen schier unerschöpflichen menschlichen Einsatz beruhende Strategie einforderte. Im Unterschied zur Art der Kriegsführung ihrer westlichen Verbündeten nahmen die Sowjets auf die kämpfende Truppe wenig Rücksicht. Damit setzte sie die zarische Tradition der Massenheere ungebrochen fort.

Zunehmend drang die Erinnerung an jenen Krieg ins Zentrum des sowjetischen Selbstverständnisses ein. Die jährlichen Feierlichkeiten zum 9. Mai begannen die des Roten Oktober zu überstrahlen. Mit der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der drei auf die mythische Kiewer Rus sich berufenden modernen Gemeinwesen – Russland, Ukraine und Belarus – zog die Russische Föderation den Tag des Sieges über Nazi-Deutschland zunehmend an sich. Choreographie und Narrativ übertrugen die Lorbeeren des Sieges in das kollektive Gedächtnis der Russen allein.

Das Ganze hatte freilich auch eine sowjetische Vorgeschichte. Unmittelbar bei Kriegsende, genauer am 24. Mai 1945, rief Stalin zu Ehren der im Kreml versammelten Truppenführer der Roten Armee das russische Volk mit einem von lauten Hochrufen unterbrochenen Trinkspruch zum eigentlichen Sieger des Krieges aus. Die anderen am Kampf beteiligten Völker – Ukrainer, Belarussen und andere – wurden dem russischen Volk nachgeordnet. Diese Einstellung ging nicht nur auf einen von Stalin zunehmend vertretenen großrussischen Chauvinismus zurück. Auch die Realität war einer solchen Sichtweise insofern entgegengekommen, als die westlicher gelegenen Sowjetrepubliken allein schon ihrer geographischen Lage wegen zu Deutschlands erster und furchtbarer Beute geworden waren. Und während dort unter deutscher Besatzung Aufbegehren und Unterwerfung nahe beieinander zu liegen kamen, konnte im weiter östlich gelegenen, unbesetzten Herzbereich Russlands, und in seinem sibirischen Hinterland, der Widerstand der Roten Armee neu organisiert werden. Belarus und die Ukraine wurden hingegen für eine dem Verlauf des Krieges geschuldete Dauer unter deutscher Besatzung blutig ausgeweidet.

Mit der Auflösung der Sowjetunion und der sukzessive sich durchsetzenden Allmacht Putins vollendete sich die Verwandlung des Großen Vaterländischen Krieges zu einem ausschließlich russischen Ereignis. Und mit seinem untauglichen Versuch, die Ausmaße des zerborstenen Gehäuses der Sowjetunion von der Russischen Föderation einnehmen zu lassen, wird die verzerrte Erinnerung an diesen Krieg in kollektivem Wiederholungszwang aufs Neue gewalttätig aufgerufen. So suchen die russischen Staatsmedien angesichts des Ukraine-Krieges mit der Parole des mozem povtorit – »wir können es abermals«, die sich vor aller Augen abspielenden aktuellen Ereignisse jenen des Weltkrieges anzuverwandeln. So wurde die Ukraine zu einem Wiedergänger Nazi-Deutschlands gemacht, den es – der Wortwahl der Potsdamer Beschlüsse von 1945 nach – zu »entnazifizieren« und zu »entmilitarisieren« gelte.

Ein solches Zerrbild trägt dazu bei, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg auszuhöhlen. So schilderte ein deutscher Korrespondent bei einem jüngst erfolgten Besuch im heute ukrainischen Czernowitz – der Stadt von Paul Celan, Rose Ausländer, Itzik Manger, Aharon Appelfeld und vieler anderer mehr –, wie von der dortigen Bevölkerung ein an den sowjetischen Sieg über Hitlerdeutschland und die Befreiung der Stadt am 24. März 1945 erinnerndes Mahnmal als Reaktion auf den gerade erfolgten russischen Überfall auf die Ukraine entsorgt wurde. Von dieser Entsorgung zeugt ein inzwischen leeres Postament.

Wie an anderen Orten des östlichen Europa wurde dort der durch massenhaften Einsatz im Weltkrieg ikonisch gewordene sowjetische Tank vom Typ T 34 vom Sockel gerissen um einem Kadaver gleich am Boden zu liegen. So wird das Gedächtnis des Großen Vaterländischen Krieges durch das gegenwärtige russische Vorgehen in der Ukraine kontaminiert. Aus dem Standbild des sowjetischen Tank als Mahnmal für die Befreiung Czernowitz' durch die Rote Armee war ein heute die Ukraine zu zermalmen suchender russischer Panzer hervorgegangen. Seine symbolisch vorgenommene Zerstörung zeigt – so die Vermutung –, dass das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg (wie wir es kannten) im Orkus der Vergessenheit untergeht.

Für die Ukraine kommt dem gegenwärtigen Krieg die Bedeutung eines Gründungsereignisses zu. Es weist die sich verengenden Konturen eines Kulturkampfes auf. So etwa mittels der zunehmenden Weigerung, sich der russischen Sprache zu bedienen, was wiederum zur Folge hat, dass deren universale, kosmopolitische Bedeutung zurücktritt. Auch die klassische russischsprachige Literatur wird von einer derartigen Engführung erfasst. Kein Puschkin und kein Tolstoi sollen es mehr sein. Wie bei Dostojewski handele es sich bei diesen Autoren und Dichtern um großrussische Nationalisten und Imperialisten. Nikolai Gogol wird davon ausgenommen, so man ihn eigensinnig ukrainisch ausspricht: Mikóla Hóhol.

Solche Tendenzen der Nationalisierung konfrontieren das jüdische Gedächtnis mit nicht unerheblichen Dilemmata. Zwar war eine jüdische Affinität zu einer eher kosmopolitischen russischen bzw. russischsprachigen Zugehörigkeit unübersehbar, die aber in der späteren Sowjetzeit durch antijüdische Schübe gebrochen wurde. Dazu gehörte die auf Diskriminierung hinauslaufende Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion sowie in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Verfolgung und Ermordung jiddischsprachiger Schriftsteller als »Kosmopoliten« und »Zionisten«. Gleichzeitig entsprang dem sowjetischen Sieg über Hitler-Deutschland ein durchaus positiver Bezug, was wiederum dazu führte, dass beide Bilderwelten wie unverbunden nebeneinander zu stehen kamen. Dieses doppelte Bildnis der Sowjetunion: positiv wie negativ zugleich geprägt zu sein, ging mit jener Amnesie einher, die hinsichtlich der Stalin'schen Verbrechen eintrat, die in den 1930er Jahren im Westen zwar durchaus bekannt waren, aber durch den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland gleichwohl verdeckt wurden. Im Gefolge des Ukraine-Krieges verlieren sich jene positiven Anteile jetzt endgültig.

Eine derartige Ambivalenz weist das Bild vom jüdisch-ukrainischen Verhältnis nicht auf. Die Ukraine galt im jüdischen Gedächtnis schon immer als durchweg historisch belastet. Diese Ahnenreihe hebt an mit dem Kosakenführer Chmelnyzkyj der im ukrainischen Gedächtnis indes als Träger kosakischer Freiheiten und verehrter Begründer eines vormodernen ukrainischen Gemeinwesens gilt. Es setzt sich fort in der Figur eines Symon Petljura, der als nationaler ukrainischer Politiker in verschiedenen führenden Ämtern von der Februarrevolution bis 1921 zwischen den Mittelmächten, den Polen, den Weißen wie den Roten mäanderte, um eine ukrainische Staatlichkeit zu erringen, und dabei scheiterte. Im jüdischen Gedächtnis steht sein Name für die damals verübten schrecklichen Pogrome in der Ukraine bei denen Zehntausende von Juden grausam getötet wurden. Als Inbild des Pogromisten wurde Petljura am 25. Mai 1925 von dem jüdischen Anarchisten und Poeten Scholem Schwartzbard in Paris auf offener Straße mit Pistolenschüssen niedergestreckt. Seine Tat wurde in der jüdischen Öffentlichkeit befürwortet. Das französische Gericht, das über Schwartzbard zu richten hatte, sprach diesen gleichwohl frei. Es habe sich um eine Tat aus Leidenschaft gehandelt.

Inzwischen hat sich das Bild Petljuras in der Geschichtsschreibung, auch in der jüdischen, gewandelt. Die Pogrome werden nicht mehr seiner Politik und Verantwortlichkeit zugeschrieben. Indes sind die Bilder von den in Lwiw beim deutschen Einmarsch 1941 von Ukrainern an Juden verübten Pogromen in ihrer Grausamkeit ikonisch. Sie erreichen ihren Höhepunkt mit dem von den Deutschen zu verantwortenden Massaker von Babyn Jar, an dem sich gleichwohl auch ukrainische Hilfswillige beteiligt hatten.

Vor diesem historisch kontaminierten Hintergrund hat sich das jüdisch-ukrainische Verhältnis in der Gegenwart gänzlich gelöst. Die Ukraine begreift sich heute als ein multiethnisches und multikulturelles Gemeinwesen, das sich einer westlichen politischen Tradition von Werten und Institutionen öffnet und längst mit jener vergifteten Vergangenheit gebrochen hat, die im jüdischen Gedächtnis tiefe Spuren hinterlassen hat. Damit werden Tür und Tor geöffnet für eine neue Sicht auch auf die belastete Vergangenheit – ausgehend von der Revolutionszeit, der Zeit des Bürgerkriegs, der von Stalin initiierten Hungerkatastrophe und dem Zweiten Weltkrieg. Insofern ist der russische Krieg in und gegen die Ukraine nicht nur eine Zeitenwende der Großen Politik sondern auch eine der Gedächtnisse.

Rebekka Grossmann und Oded Steinberg

Gedanken zur globalen Sichtbarkeit von Diskriminierungserfahrungen

Partikularinteressen und universaler Humanismus in der Geschichtsschreibung

Wenn es einen Dissens gibt, der es in letzter Zeit ganz besonders in sich hat, dann ist es der zur Frage der Vergleichbarkeit des Holocaust mit anderen Genoziden. Es ist ein Thema, das weitreichende Konsequenzen hat für die Anerkennung dieser Ereignisse und ihre institutionalisierte Erinnerung. Schon Denker:innen wie Hannah Arendt erkannten, dass es dabei in besonderer Weise um die Frage nach den Anfängen moderner Gewalt geht, prominent diskutiert in Arendts zunächst 1951 auf Englisch, dann 1955 auf Deutsch erschienenem Opus magnum Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.

Der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg hat Hannah Arendts Thesen vor einigen Jahren in seinem Werk Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung aufgegriffen. Mit seinem Vorschlag, die Erinnerung an koloniale Verbrechen mit Erinnerungen an Verbrechen, die im Namen des Holocaust begangen wurden, zusammenzudenken, kehrt Rothberg zu Hannah Arendt zurück. Er lädt sie zu einer literarischen »Konversation« mit postkolonialen Schriftsteller:innen wie etwa dem aus Martinique stammenden Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire ein, der 1950 ähnliche Ideen veröffentlichte. Weitere literarische Zusammenführungen verdichten das Bild, dass Fragen nach den historischen Wurzeln des Holocaust schon früh ein Nachdenken über Gewaltverbrechen an anderen Völkern und ethnischen Gruppen beinhaltete. Rothberg zeigt, dass diese Vergleiche nicht ohne Fehler und Verkürzungen auskommen. Auch Rothbergs eigene Analysen lassen Raum für Kritik. Seine analytische Linse der »Multidirektionalität« jedoch ermöglicht es, über Verflechtungen unterschiedlicher Erfahrungen der Gewalt und Diskriminierung nachzudenken, sie überführt die politische Kategorie der Intersektionalität in die Erinnerungsforschung.

Auch in der Geschichtswissenschaft ist die Kategorie der Multidirektionalität inzwischen angekommen, doch scheint sie vom »Mainstream« weiterhin weit entfernt. Hier wollen wir für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Verflechtungen von Minderheitengeschichten plädieren, da sie in Gesellschaften, die sich plural nennen, nicht nur empfehlenswert, sondern unausweichlich geworden ist. Es soll nicht nach den theoretischen Grundlagen für ein Zusammendenken der Erinnerung von Gewalterfahrungen gefragt werden, sondern danach, was tatsächlich zusammen erlebte Momente der rassistisch und ethnisch motivierten Diskriminierung für die Geschichtsforschung und unseren Umgang mit entsprechendem Wissen bedeuten. Im Fokus der Betrachtungen steht die jüdische Perspektive auf unterschiedliche Erfahrungen der Diskriminierung und der Selbstbehauptung von Minderheiten, gesehen durch die Linsen der Kultur-, der Politik- und der Wissensgeschichte. Der Weg von der Erinnerung zur tatsächlichen Geschichte erfolgt rückwärts, nicht angetrieben von einem Telos, der zu erklären versucht wird, sondern um, von Hannah Arendt ausgehend, die Entwicklung des jüdischen Bewusstseins für die Intersektionalität von Minderheitenerfahrungen zurückzuverfolgen. Am Scheidepunkt zwischen der Gegenwart und der Geschichte des Erlebten lässt sich auch über Erinnerung neu nachdenken. Dies jedoch geht nicht ohne weitreichendere Forschungen zu den Merkmalen von Gewalt und ihrer Wahrnehmung.

Doppelte Provinzialisierung: Jüdische Fotograf:innen in kolonialen Kontexten

Die Fotografie als ein Medium der Begegnung bietet Einsichten in Überschneidungen unterschiedlicher Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen. Nur wenige Jahre vor Hannah Arendts Überlegungen zu den Ursprüngen der Gewalt der Moderne, mitten in den Wirren des Zweiten Weltkrieges, treffen die Geschichte der jüdischen Ausgrenzung und die Geschichte kolonialer Realitäten in der Fotografie aufeinander. Während nicht wenige europäische Juden während des zweiten Weltkrieges Zuflucht in kolonialen Kontexten finden, sind es vor allem die Erlebnisse der Fotograf:innen, die uns die Begegnung zwischen jüdischer Flucht und kolonialer Unterdrückung einerseits und antikolonialem Widerstand andererseits in Erinnerung rufen können. Beispielhaft sind die Reisen von Tim Gidal zu nennen, der als Fotojournalist zunächst Zuflucht in Palästina suchte, bevor er in den Jahren 1938 und 1939 Arbeit in London fand. 1940 reiste er auf einem Schiff mit, das britische Soldaten und Diplomaten nach Indien brachte; er verbrachte Zeit in Ceylon und dokumentierte an beiden Orten, was er sah: die Folgen kolonialer Ausbeutung, aber auch den Unabhängigkeitskampf Gandhis.

Die Arbeiter im Teehandel etwa, die Gidal im damaligen Ceylon fotografiert, sind größtenteils Kinder. Sie sitzen in langer Reihe vor großen Körben. Die diagonale Linie aus Körben, deren schwarze Öffnungen im hinteren Teil von den weißen Tüchern der Kinder überdeckt werden, teilt das Bild. Sie symbolisiert die Ambivalenz, die diese Arbeit für die Kinder bedeutet. Gleichzeitig sieht die Kamera von oben auf die Kinder hinunter, die teilweise zu ihr hinaufschauen. Gidal bleibt Betrachter, die Kamera repräsentiert den westlichen Blick des Durchreisenden.

In ähnlicher Weise können die fotografischen Streifzüge Germaine Krulls gelesen werden, die 1942 als Fotografin für die Freien Französischen Streitkräfte nach Westafrika reiste, mit dem Auftrag und Anspruch, der westlichen Welt vom Beitrag Afrikas zum Krieg zu berichten.1 Zwei Jahre lebte sie in Afrika und fotografierte nicht nur die kriegswichtige lokale Industrie, sondern auch die Bewohner:innen der Länder, durch die sie kam. Erst 1941 hatte sie mit anderen Flüchtlingen (u. ‌a. André Breton, Anna Seghers und Claude Lévi-Strauss) den Atlantik von Marseille in Richtung Martinique überquert und war dort wochenlang in Pointe du Bout festgehalten worden. Einfühlsam beobachtete sie die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Insel und deutete sie als direktes Resultat französisch-imperialer Politik. Trotzdem bleibt ihre Kritik verhalten.

Krulls Fotos aus Afrika zeigen, dass sie die Länder, die sie durchreist, mit Hilfe ihrer Kamera kennenlernt, indem sie den Menschen begegnet, sie durch den Sucher der Kamera betrachtet, sie also nicht nur von weitem anschaut. Darüber hinaus scheint der Kontakt begrenzt zu bleiben. Interaktion gibt es kaum. Viele Fotos, wie auch das Foto mit dem Kind, das ein Baby auf dem Arm hat, scheinen im Vorbeigehen gemacht worden zu sein. Die Blicke der Kinder bleiben verwundert bis interessiert, aber auch skeptisch gegenüber der Durchreisenden, deren Kamera das einzige Verbindungsglied zwischen ihnen zu sein scheint.

Weder Gidal noch Krull äußern sich eindeutig kritisch zu