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Beschreibung

Sie waren die Köpfe der deutschen Geheimdienste in Ost und West, des Ministeriums für Staatssicherheit sowie des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes: Wilhelm Zaisser und Otto John, Ernst Wollweber und Reinhard Gehlen, Erich Mielke und Gerhard Wessel. Um diese und andere Spitzenfunktionäre der Spionage ranken sich zahlreiche Legenden, waren doch alle gehalten, konspirativ zu arbeiten und ihre Fäden hinter den Kulissen zu spinnen. Viele führten ein abenteuerliches Leben, was der Mythenbildung weiteren Vorschub leistete.
Die Geschichte der ost- und westdeutschen Spionageorganisationen ist auch die Geschichte ihrer Chefs. In ihnen spiegelt sich deutsche Zeitgeschichte wie in einem Brennglas.
Einschlägig ausgewiesene Autoren stellen die deutschen Geheimdienstchefs auf Grundlage der neuesten zeithistorischen Forschung vor. Sie fragen nach ihrer Rolle für die Dienste und in den Diensten sowie nach ihrer Position im Spannungsfeld von Demokratie und Diktatur.

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Seitenzahl: 566

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Dieter Krüger/Armin Wagner (Hg.)

Konspiration als Beruf

Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Januar 2018

entspricht der 1. Druckauflage vom März 2003

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel. (030) 44 02 32–0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: KahaneDesign, Berlin

unter Verwendung eines Porträts von Reinhard Gehlen (oben)

und eines Porträts von Markus Wolf (unten), Archiv des Verlages

eISBN 978-3-86284-410-4

Inhaltsverzeichnis

Im Spannungsfeld von Demokratie und Diktatur

Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg

von Dieter Krüger und Armin Wagner

Wilhelm Zaisser (1893–1958)

Vom königlich-preußischen Reserveoffizier zum ersten Chef des MfS

von Helmut Müller-Enbergs

Friedrich Wilhelm Heinz (1899–1968)

Verschwörer gegen Hitler und Spionagechef im Dienste Bonns

von Susanne Meinl

Richard Stahlmann (1891–1974)

Ein Handlanger der Weltrevolution im Geheimauftrag der SED

von Matthias Uhl

Fritz Tejessy (1895–1964)

Verfassungsschützer aus demokratischer Überzeugung

von Wolfgang Buschfort

Karl Linke (1900–1961)

NVA-Geheimdienstchef im Visier des Gegners

von Armin Wagner

Otto John (1909–1997)

Ein Widerstandskämpfer als Verfassungsschutzchef

von Bernd Stöver

Ernst Wollweber (1898–1967)

Chefsaboteur der Sowjets und Zuchtmeister der Stasi

von Roger Engelmann

Reinhard Gehlen (1902–1979)

Der BND-Chef als Schattenmann der Ära Adenauer

von Dieter Krüger

Erich Mielke (1907–2000)

Revolverheld und oberster DDR-Tschekist

von Jens Gieseke

Gerhard Wessel (1913–2002)

Der Ziehsohn Gehlens an der Spitze des BND

von Dieter Krüger

Markus Wolf (*1923)

Drei Jahrzehnte Spionagechef des SED-Staates

von Karl Wilhelm Fricke

Anhang

Übersicht: Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg 1950–1990

Anmerkungen, Quellen und Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsnachweis

Personenregister

Über die Autoren

Im Spannungsfeld von Demokratie und Diktatur

Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg

von Dieter Krüger und Armin Wagner

Generationen von Kinogängern sind mit dem Geheimagenten Ihrer Majestät aufgewachsen. Er besitzt nicht nur die Doppelnull-Lizenz zum Töten, er kann auch Autos und Panzer fahren, Flugzeuge führen, Bridge und Golf spielen; er verkehrt nicht nur in den Spielcasinos dieser Welt, sondern auch mit den Schönheiten aller fünf Kontinente. Bevor er so die Welt rettet, begegnet ihm stets die Personalausstattung seines Geheimdienstes: die Sekretärin Miss Moneypenny, der Obertüftler »Q« sowie »M«, sein Chef. In diesem Buch geht es nicht um den in Wirklichkeit viel weniger bunten Alltag des Agenten. Es geht um »M«. Und zwar um seine Amtskollegen in den deutschen Geheimdiensten in Ost und West nach 1945 sowie um ihre Prägung in den Jahrzehnten zuvor. Einige dieser Männer sind immer noch bekannt, andere längst vergessen. Sie alle haben die Konspiration zu ihrem Beruf gemacht, dienten sie nun dem west- oder dem ostdeutschen Staat. Ihre jeweilige Rolle war jedoch so unterschiedlich wie die der Geheimdienste in Demokratie und Diktatur.

Eine Typologie der geheimen Dienste

Einige der im folgenden immer wiederkehrenden Begrifflichkeiten sollen an dieser Stelle kurz erläutert werden. Nicht um trockene Definitionen geht es dabei, sondern – zum besseren Verständnis des Lesers – um die Unterscheidung der Rolle von Geheimdiensten in demokratischen und diktatorischen Staatssystemen sowie um die verschiedenen Formen geheimdienstlicher Tätigkeit.

In der Bundesrepublik Deutschland folgen Verfassung und Recht – als Antwort auf die Zerstörung der Weimarer Republik durch Radikale von rechts und links – dem Leitbild der wehrhaften Demokratie. Die zum Schutz der staatlichen Ordnung geschaffenen geheimdienstlichen Einrichtungen unterliegen gesetzlichen Bestimmungen und parlamentarischer Kontrolle. Sie sind von der Polizei strikt getrennt und besitzen nicht deren exekutive Befugnisse. Ebenfalls getrennt wurde die Inlandsaufklärung durch den Verfassungsschutz von der Auslandsaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst (BND). Daß letzterer diese Trennung in den fünfziger und sechziger Jahren mißachtete, war ein Strukturdefekt, den erst der zweite Präsident des BND, Gerhard Wessel, behob. Beide Dienste sammeln und bewerten – teilweise geheime – Nachrichten im Vorfeld der Gefahrenabwehr, um den Regierungen des Bundes und der Länder ein Lage- und Bedrohungsbild im Bereich der Sicherheit zu vermitteln. Der Staat muß dem inneren und äußeren Gegner ebenso konspirativ entgegentreten, wie dieser selbst auftritt: »Wer die Untergrundarbeit von Verfassungsfeinden überwachen will, kann sich nicht nur des uniformierten Schutzmanns bedienen.«1 Voraussetzung geheimdienstlicher Arbeit ist dann die Überzeugung von der Demokratie als gegenwärtig bester möglicher Staatsform.

Dagegen war das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) in erster Linie immer Geheimpolizei – mit polizeilichen und staatsanwaltlichen Befugnissen – zur Verfolgung politischer Gegner, die das totalitäre Deutungsmonopol der kommunistischen Partei nicht akzeptierten. Erst in zweiter Linie betrieb das MfS Auslandsaufklärung. Ähnlich verhielt es sich mit dem nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Die Rechtsstellung des MfS als Ministerium erweckte den Anschein regierungshoheitlichen Handelns und staatlicher Kontrolle. Tatsächlich war es vom Politbüro der SED weisungsabhängig, also von einem Parteigremium als faktisch oberster politischer Instanz der DDR. Darin unterschied sich das MfS vom RSHA. Im demokratischen Rechtsstaat besteht ein Spannungsverhältnis zwischen konspirativer Geheimdiensttätigkeit auf der einen sowie stets öffentlicher richterlicher Nachprüfbarkeit und parlamentarischer Kontrolle auf der anderen Seite. Naturgemäß gibt es diese Grauzone geheimdienstlicher Aufgaben des demokratischen Staates in der Diktatur nicht. Sie kennt weder Grundrechte noch Gewaltenteilung.

Geheimdienste in Demokratie und Diktatur haben jedoch eines gemeinsam: Sie verbergen ihre Existenz und Tätigkeit teilweise oder ganz vor der Öffentlichkeit, weil sie sich davon Ergebnisse versprechen, die durch offenes Handeln nicht zu erzielen wären. Die Betroffenen ihrer Aktivitäten sollen die Absichten der Geheimdienste nicht erkennen. Damit soll ihnen die Möglichkeit genommen werden, sich gegen deren Vorgehen zu wappnen. Grundsätzlich können alle Organisationen Geheimdienste unterhalten; hier sei das Augenmerk auf die staatlichen oder halbstaatlichen Dienste gelenkt. In dieser Kategorie ist zwischen Nachrichtendienst und Geheimpolizei zu unterscheiden. Beide Aufgabenfelder werden häufig – und auch in den einzelnen Beiträgen dieses Buches – unter dem wenig trennscharfen, dafür aber leichter zugänglichen Begriff des Geheimdienstes zusammengefaßt.

Der geheime Nachrichtendienst ist an Informationen interessiert, die er nur oder überwiegend durch verdecktes Vorgehen zu erlangen vermag, weil der Betroffene solche Informationen selbst geheim zu halten versucht. In der Regel sind staatliche Auslandsnachrichtendienste an militärischen, politischen und wirtschaftlichen Informationen über andere Staaten und/oder Organisationen interessiert, um sich möglichst frühzeitig über deren voraussichtliches Handeln Aufschluß zu verschaffen. Dies geschieht zunehmend durch fernmeldetechnische und elektronische Aufklärung.2 Der menschlichen Quelle kommt aber noch immer eine Schlüsselrolle zu, ist es doch vielfach nur ein Agent oder Spion,3 welcher in Schriftsätze Einsicht nehmen oder an Besprechungen teilhaben kann. Neben den klassischen Informationsagenten plazierte die DDR-Spionage im deutsch-deutschen Konflikt nach 1945 auch Einflußagenten. Deren vorrangiges Ziel ist nicht die Nachrichtenbeschaffung, sondern die Beeinflussung einer bestimmten Haltung oder Entscheidung.

Um das Eindringen gegnerischer Dienste zu verhindern, verfügen Nachrichtendienste über eine Abwehrkomponente. Sie überprüft zum Beispiel Personal in sicherheitssensiblen Verwendungen. Zum Aufgabenbereich der Spionageabwehr zählt auch die Gegenspionage, die ungeachtet ihres Namens eher offensiv arbeitet: Sie soll in die gegnerischen Nachrichtendienste eindringen und deren Pläne schon im Vorfeld erkunden, Aktionen fremder Dienste beobachten und ihren Erfolg verhindern. Im Kalten Krieg wie zuvor im Zweiten Weltkrieg haben die geheimen Dienste auch zu anderen Maßnahmen gegriffen, die von verdeckten Aktionen über die psychologische Kriegführung bis hin zu kulturellen Maßnahmen reichten. Bei den verdeckten Operationen (»covert actions«) – etwa die Unterstützung von Freiheitsbewegungen durch Geld und Waffenlieferungen – geht es nicht vorrangig um Informationsgewinnung, sondern um ein aktives Eingreifen. Es sollen politische oder militärische Anliegen durchgesetzt werden, die man nicht auf dem Wege der Diplomatie oder durch reguläre Kriegführung anstreben kann oder will. Psychologische Aktivitäten – etwa durch Radio- und Flugblattpropaganda – und kulturelle Veranstaltungen, scheinbar weit entfernt vom konspirativen Metier, zielten im Kalten Krieg auf den Prozeß der Meinungsbildung im fremden und eigenen Lager. Das war längst nicht mehr klassische Spionage, aber immer noch nachrichtendienstliche Arbeit, ausgeweitet auf den Krieg um die Köpfe.

Der staatliche Inlandsnachrichtendienst bemüht sich um Informationen über solche Bestrebungen, in denen er eine Gefährdung der staatlichen Ordnung erkennt. Von einer Geheimpolizei unterscheidet er sich in der Regel durch das Fehlen von polizeilichen Befugnissen. Die Geheimpolizei sammelt nicht nur Nachrichten über mögliche und tatsächliche politische Gegner durch verdeckte Ausspähung und Denunziation. Sie versucht vor allem, jegliche Form des Widerstandes oder der Opposition gegen die herrschende politische Ordnung durch polizeiliche Verfolgung und verdeckte Beeinflussung zu unterdrücken. Die Geheimpolizei profitiert von der unbestimmten Kenntnis ihrer Existenz. Die Vorstellung, ihrer physischen und psychischen Gewalttätigkeit mehr oder minder rechtlos ausgeliefert zu sein, ist Teil ihrer vorbeugenden Wirkung.

Über die Bedeutung von Geheimdienstaktivitäten kann gestritten werden. Inzwischen wird aber deutlich, daß Geheimdienste den Verlauf des Kalten Krieges ebenso beeinflußt haben wie die innere Verfassung der DDR und die deutsch-deutschen Beziehungen nach 1945. Von der Tätigkeit des MfS ist mittlerweile so viel bekannt, daß gelegentlich der falsche Eindruck entstanden ist, die Geschichte der DDR sei nur eine Unterabteilung der Geschichte ihrer Staatssicherheit.4 Die Akten der westdeutschen Dienste bleiben dagegen noch immer weitgehend verschlossen. Folglich kann der Einfluß der Geheimdienste auf die innere Entwicklung der Bundesrepublik und ihre Außenbeziehungen derzeit noch nicht hinreichend geklärt werden. Der allmähliche Aktenzugang ist ein dringender Wunsch der Historiker, die den Kalten Krieg erforschen.

Deutsche Geheimdienste im Zeitalter der Weltkriege

Die unerwartete Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 läutete nicht nur den endgültigen Untergang des kommunistischen Herrschaftssystems ein. Damit ging auch das 20. Jahrhundert als historische Epoche zu Ende, die mit dem Putsch der Bolschewiki in St. Petersburg im Oktober 1917 begonnen hatte. Daß sich das Schicksal des Weltkommunismus in Berlin erfüllte, war kaum Zufall. In Deutschland lag gleichsam das Epizentrum der globalen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen haben diese Beben in der ersten Jahrhunderthälfte mit ausgelöst und erlitten, in der zweiten nur noch erlitten.

Seit etwa 1880 war das Deutsche Reich zu einer politischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Großmacht herangewachsen. Seine Politik wurde von den rivalisierenden Großmächten Großbritannien, Frankreich und Rußland als bedrohliches Streben nach Vorherrschaft mindestens über Europa wahrgenommen. Nicht zuletzt die wachsende Bereitschaft der Deutschen, einen Krieg um die Führung in Europa zu entfesseln, mündete im Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918.

Die Geschichte der Geheimdienste verzeichnete in diesem Krieg einen ersten Höhepunkt. Als dauerhaftes Element staatlicher Verwaltung wurden sie in Deutschland seit dem beginnenden 19. Jahrhundert eingerichtet. Die Beschäftigung mit den möglichen militärischen Gegnern oblag in Preußen dem Generalstab, der aus den bestehenden Strukturen 1914 eine Nachrichtenabteilung bildete. Ab 1917 hieß sie »Fremde Heere«. Sie beschäftigte sich mit der Auswertung von Nachrichten. Deren Beschaffung war bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Preußen eher zufällig und unsystematisch verlaufen. Dann baute, im Auftrag des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, der Jurist und ehemalige Chef der Berliner Kriminalpolizei Wilhelm Stieber (1818–1882) eine Geheime Feldpolizei und ein Central-Nachrichtenbüro auf. Diese Vorläufer der modernen deutschen Geheimdienste beobachteten – in einer Mischung aus geheimpolizeilicher und nachrichtendienstlicher Tätigkeit – sowohl die äußeren als auch die inneren Gegner, unter letzteren namentlich Sozialisten und Anarchisten. Mit Stieber wurde Konspiration im staatlichen Auftrag zum Beruf.

Nach den deutschen Einigungskriegen gegen Dänemark, Österreich-Ungarn und Frankreich (1864–1870/71) richtete der preußische Generalstab ein eigenes Nachrichtenbüro ein. Der dem Auswärtigen Amt angegliederte Dienst Stiebers verlor nach dessen Tod schnell an Bedeutung. Die Auslandsaufklärung wurde zur Domäne der Soldaten. Bis zum Ersten Weltkrieg baute die mit der Nachrichtenbeschaffung befaßte Abteilung IIIb des Generalstabs Außenstellen auf und führte den sogenannten Ic-Dienst ein. Militäraufklärung wurde jetzt ein eigenständiges militärisches Führungsgrundgebiet neben Operationsführung, Personalbearbeitung sowie Nachschub und Versorgung. Damit hatte Deutschland nachrichtendienstlich den Schritt ins 20. Jahrhundert vollzogen. 1913 übernahm der Generalstabsoffizier Walter Nicolai (1873–1947) die Abteilung IIIb. Im Ersten Weltkrieg expandierte sein Aufklärungsapparat. Mit der Gegneraufklärung und der schon damals praktizierten systematischen Befragung von Kriegsgefangenen gingen die Beobachtung des »inneren Gegners« und die Pressezensur einher. Soldaten und Bevölkerung sollten durch sogenannten Vaterländischen Unterricht zum Durchhalten der Kriegsanstrengung veranlaßt werden. Der auch politisch einflußreichen Rolle des Militärs im Zeichen des »totalen Krieges« in der zweiten Kriegshälfte entsprach das Vordringen Nicolais in den Bereich geheimpolizeilicher Tätigkeit, politischer Propaganda und vor allem der Zusammenarbeit mit radikalnationalistischen Kräften.

Das Deutsche Reich verlor den Ersten Weltkrieg. Es konnte jedoch trotz des militärischen Zusammenbruchs und des Untergangs der Monarchie seine staatliche Integrität wahren. Allerdings hatten revolutionäre Soldaten – an vorderster Front der Kieler Matrose Ernst Wollweber – im November 1918 die Einführung der Republik als neue Staatsform angestoßen. Große Teile der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Eliten lasteten die Niederlage der Republik den sie tragenden Parteien (Sozialdemokraten, Liberalen und katholischem Zentrum) an, die als Erben des bankrotten Kaiserreichs den Friedensvertrag von Versailles hatten unterzeichnen müssen. Mit dem internationalen System von Versailles wurde kein europäisches Problem gelöst, aber viele neue Probleme wurden geschaffen

Die Großmächte Frankreich und Großbritannien gingen zwar siegreich, aber ebenfalls geschwächt aus dem Krieg hervor. Ihr Versuch, die Bolschewiki in Rußland wieder von der Macht zu vertreiben, blieb trotz amerikanischer Hilfe und der Unterstützung durch deutsche Freikorps5 kraft- und erfolglos. Die vermeintlichen oder tatsächlichen Verlierer und Benachteiligten warteten nur auf die Gelegenheit, die Niederlage wettzumachen. Dabei hatte sich über den »alten« Konflikt der Großmächte und Nationalitäten längst ein »neuer« Konflikt der Ideologien geschoben, der das 20. Jahrhundert prägen sollte.

Breite Schichten der europäischen Gesellschaften verarmten während des Krieges und blieben auch danach vom Abstieg bedroht. Der Verlust der sozialen Bindungskraft der Staaten bereitete den Boden für die Ausbreitung von zwei totalitären Weltanschauungen. Beide forderten gleichermaßen die scheinbar siegreiche Demokratie französischen oder angelsächsischen Ursprungs heraus, die zahlreiche Deutsche ohnehin nur widerwillig übernommen hatten. Die Demokratie versteht sich als System der friedlichen Vermittlung gegensätzlicher sozialer, wirtschaftlicher und politischer Interessen. Dagegen versprachen die totalitären Ideologien denjenigen Rettung durch Aufhebung aller Interessengegensätze in der Volksgemeinschaft oder in der klassenlosen Gesellschaft, die der Demokratie nicht mehr zutrauten, sie vor den Folgen der allgemeinen wirtschaftlichen Krise zu bewahren. Die Kommunisten hatten während des Krieges den auf Demokratie und Sozialreform orientierten Pfad der europäischen Sozialdemokratie verlassen. Ihre Herrschaftspraxis in der Sowjetunion belegte, daß der Kommunismus die individuelle Freiheit von Kapitalismus und Demokratie durch die Gemeinschaft einer sozial gleichen, geistig gleichgeschalteten und bürokratisch beherrschten Gesellschaft ersetzen wollte. Im Wettbewerb mit den Kommunisten boten Radikalnationalismus und Faschismus eine ebenso konsequente Ausrichtung der Gesellschaft auf die konfliktfrei gedachte Gemeinschaft des Nationalstaates an. Radikalnationalen Bewegungen fiel es leicht, die Probleme der internationalen Nachkriegsordnung als Wurzel aller Probleme und sich selbst als berufene Retter auszugeben. Die Attraktivität dieser Bewegungen für die alten gesellschaftlichen Eliten bestand darin, daß sie das Privateigentum nicht grundsätzlich in Frage stellten. Vielmehr verhießen sie die Konsolidierung der bürgerlichen Ordnung gegen das Gleichheitspostulat der Kommunisten durch Isolierung vom krisenhaften Weltkapitalismus. Autarkie, Aufrüstung, Wiederherstellung der alten Grenzen und Entfaltung des nationalen Machtstaates lauteten ihre Patentrezepte.

Die Verteidigung der Demokratie gegen die radikalen Bewegungen von links und rechts blieb zeit ihrer Existenz ein Problem der Weimarer Republik. Sie siedelte den Staatsschutz und die Inlandsaufklärung bei den Polizeipräsidien der Länder an; die Leitfunktion lag beim Präsidium Berlin (Abteilung Ia). Die Bearbeitung der »fremden Heere« übernahm eine Abteilung im Truppenamt, dem Ersatz des durch den Versailler Vertrag verbotenen Generalstabes. 1931 hieß sie wieder »Fremde Heere«. Die Wehrkreiskommandos der Reichswehr betrieben in bescheidenem Umfang Auslandsaufklärung, widmeten sich der Spionageabwehr, der Beobachtung der eigenen Truppe und der politischen Inlandsaufklärung mit der vorherrschenden Perspektive gegen links. Rhetorische Talente mit rechter Gesinnung – wie der Weltkriegsgefreite Adolf Hitler – wurden bei der Fortsetzung der politischen Propaganda eingesetzt. Im übrigen bestanden zahlreiche persönliche Verbindungen der Reichswehroffiziere zu den ehemaligen Kriegskameraden in den Freikorps und den Parteien, Vereinigungen und Geheimbünden der politischen Rechten. Die Reichswehr sah in ihnen eine im Kriegsfall rasch zu mobilisierende Reserve (»Schwarze Reichswehr«) ihres nur 100 000 Mann starken Berufsheeres. Geradezu beispielhaft für diese Netzwerke erscheint der Weltkriegsleutnant und Freikorpskämpfer Friedrich Wilhelm Heinz. Für einen von der Reichswehr und der Schwerindustrie unterhaltenen Nachrichtendienst beobachtete er den äußeren und inneren Gegner, die französische Besatzungsmacht, die von den Franzosen geförderten deutschen Separatisten im Rheinland und in der Pfalz sowie die Parteien der Arbeiterschaft. Heinz stand für viele Frontkämpfer, welche den Weg zurück in ein bürgerliches Leben nicht mehr fanden. Ihnen war der »thrill« zum Lebenselixier geworden. Dem Weltkriegsleutnant Wilhelm Zaisser und dem Feldwebel Richard Stahlmann ging es ähnlich. Allerdings nahmen sie den Weg nach links.

Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) unterhielt seit ihrer Gründung Anfang 1919 eine geheime Organisation. Sie hieß anfangs M[ilitärische]-Abteilung, später M[ilitär-politischer]-Apparat, und wechselte in den zwanziger Jahren mehrfach Namen und Struktur. Schon während der Ruhrkämpfe 1920 wurde sie unter maßgeblicher Beteiligung Zaissers aktiv. Als die Sowjets 1923 den Zeitpunkt für eine Revolution in Deutschland gekommen sahen, konzentrierte sich der KPD-Geheimdienst auf die Unterstützung eines bewaffneten Aufstandsversuchs. In den anschließenden Jahren standen der Schutz und die nachrichtendienstliche Unterrichtung der eigenen Parteiführung über den politischen Gegner sowie die politische Propaganda in den Polizeien der Länder und in der Reichswehr im Vordergrund. Dabei wurde der Apparat von hauptamtlichen Mitarbeitern unterstützt, die von Moskau nach Deutschland befohlen wurden. Seit Ende 1925 von Hans Kippenberger geleitet, entwickelte sich die konspirative Organisation zu einem Instrument der Bolschewisierung der KPD. Damit nahm der Parteigeheimdienst der deutschen Kommunisten in der Weimarer Republik – zwischen nachrichtendienstlicher Aufklärung, Zersetzung des Gegners und Überwachung der Parteimitglieder – die Kernaufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit in der späteren DDR vorweg.

Die Karrieren von Zaisser und Wollweber begannen mit regionalen Leitungsaufgaben in diesem Apparat und führten dann ins Zentrum der kommunistischen Bewegung nach Moskau. Im Auftrag des Kreml übernahm Zaisser später ein hohes Kommando in den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939. Dort wurde ein Stellvertreterkrieg zwischen den totalitären Rivalen Faschismus und Kommunismus ausgefochten. Hier standen deutsche Kommunisten – auch Erich Mielke und Richard Stahlmann zählten dazu – Soldaten der Wehrmacht gegenüber. Mielke stammte aus dem Parteiselbstschutz der KPD, der unter anderem Demonstrationen, Versammlungen und Parteiführer gegen Polizeieinsätze und die national-sozialistische Sturmabteilung (SA) sicherte. Die personelle Kontinuität von den zwanziger und frühen dreißiger Jahre bis zu ihrer Rolle als Staatssicherheitschefs der DDR liegt bei Zaisser, Wollweber und Mielke auf der Hand. Sie läßt sich jedoch für die MfS-Führung nicht verallgemeinern. Der M-Apparat wurde nämlich zerschlagen, seine leitenden Funktionäre fielen größtenteils der Verfolgung durch die Nationalsozialisten oder die sowjetische Geheimpolizei zum Opfer. In der Sowjetunion war die Geheimpolizei von Anfang an ein wesentliches Instrument zur Durchsetzung der kommunistischen Parteiherrschaft. Der nahezu unterschiedslose Terror Stalins gegen die eigene Partei und die gezielte Dezimierung bestimmter Bevölkerungsgruppen überspitzte nur das für die kommunistische Herrschaft bis ans Ende typische Wesensmerkmal.

Ähnlich wie die Kommunisten setzten auch die Rechtsradikalen auf eine Mixtur aus legaler Parteiarbeit, offenem Straßenkampf und konspirativer Gewalttätigkeit. Zunächst in Italien und schließlich auch in Deutschland verhalfen Teile der alten Eliten der bürgerlichen Gesellschaft den Faschisten bzw. Nationalsozialisten an die Macht. Sie wurden daraufhin selbst gleichgeschaltet – im Falle Italiens allmählich, im Falle Deutschlands in atemberaubender Geschwindigkeit. In Deutschland hatten die nationalkonservativen und rechtsradikalen Parteien, Gruppen und Geheimbünde die Republik fast von Anfang an bekämpft. Die Übergänge zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) waren dabei fließend, wie das Beispiel von Friedrich Wilhelm Heinz unterstreicht. Nach der Berufung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wußten sich die ebenso gewaltbereiten wie konspirativ erfahrenen Nationalsozialisten des staatlichen Polizeiapparates zu bedienen. Aus der Abteilung Ia des Berliner Polizeipräsidiums entstand nun die berüchtigte Geheime Staatspolizei (Gestapo). Sie verfolgte und unterdrückte die politischen Gegner und war insofern klassische Geheimpolizei. Allerdings war sie (neben der Reichswehr) auch für die Spionageabwehr zuständig. Die gegen das Ausland gerichtete Militäraufklärung konnte man getrost noch dem nationalkonservativen Militär überlassen; schließlich teilte dieses die auf Revision des Versailler Vertrages gerichtete Außenpolitik Hitlers.

1934 wurde Reinhard Heydrich (1904–1942) Chef der Gestapo. Der aus der Marine entlassene Seeoffizier hatte 1931 im Rahmen der Schutzstaffel (SS) der NSDAP einen Nachrichtendienst (Sicherheitsdienst, SD) zur Überwachung anderer Parteien und innerparteilicher Vorgänge der NSDAP aufgebaut. Nachdem der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, 1936 Chef der Deutschen Polizei geworden war, lag die Zusammenführung von Gestapo und SD nahe. Sie wurde am 27. September 1939, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, mit der Gründung des Reichssicherheitshauptamtes vollzogen. An seine Spitze trat Heyd-rich. Im RSHA wurden unter anderem Kriminalpolizei, Gestapo, SD-Inland und SD-Ausland unter einem Dach zusammengeführt. Damit vereinigte das RSHA fast alle polizeilichen, geheimpolizeilichen und nachrichtendienstlichen Funktionen in einer Hand. Nur das MfS reichte in Deutschland später an diese für eine totalitäre Diktatur nicht untypische Machtfülle heran. Freilich konnte auch das RSHA keine nachrichtendienstliche Alleinherrschaft errichten. Die beiden für die militärische Feindlage zuständigen Abteilungen »Fremde Heere Ost« und »Fremde Heere West« des Oberkommandos des Heeres (OKH) waren zunächst zwar nur reine Auswertungsabteilungen. Aus einer 1928 eingerichteten gemeinsamen Abwehrstelle von Heer und Marine im Reichswehrministerium war aber das Amt Ausland/Abwehr der Wehrmacht hervorgegangen. An seine Spitze trat 1935 der Konteradmiral Wilhelm Canaris (1887–1945), auch er ein Offizier mit Freikorps- und nationalkonservativer Vergangenheit. Er baute das Amt zu einem großen Nachrichtendienst aus, zuständig für die Auslandsaufklärung, die Gegenspionage und die Spionageabwehr. Mit dem Regiment, später der Division »Brandenburg« verfügte die Abwehr zudem über eine militärische Einheit zur Durchführung verdeckter Operationen.

In den rivalisierenden Machtapparaten des nationalsozialistischen Herrschaftssystems stand das RSHA für die SS, die Abwehr für die Wehrmacht. Die Abwehr wurde bald ein Sammelbecken der nationalkonservativen Opposition gegen Hitler, die SS und die NSDAP. Auch Heinz tauchte hier wieder auf, oder besser: unter. Der militärische Widerstand um den Generalstabschef des Heeres Franz Halder, Canaris, seinen Mitarbeiter Hans Oster (1888–1945) und Heinz hatte bereits vor Kriegsbeginn erkannt, daß es Hitler längst nicht mehr nur um die Revision des Versailler Vertrages ging. Mit Hilfe der Geheimpolizei wurden weite Bereiche der deutschen Gesellschaft in die rassische Neuordnung Europas durch Deportation und massenhaften Völkermord einbezogen, nachdem auf dem Kontinent nahezu alle Demokratien überrannt worden waren und die Staaten des deutschen Einflußbereichs sich mit den Nationalsozialisten zu arrangieren begannen. Auch Reinhard Gehlen, seit 1942 Chef der Abteilung »Fremde Heere Ost« (FHO) im OKH, erkannte schließlich, daß Hitler der Rassenkrieg wichtiger war als der bloße Sieg über den Sowjetkommunismus. Nach dem mißlungenen Attentat des militärischen Widerstandes gegen Hitler am 20. Juli 1944 gelang es dem RSHA, sich die Abwehr als »Militärisches Amt« einzuverleiben. Gehlen hatte sich inzwischen bereits Teile der Nachrichtenbeschaffung der Abwehr unterstellen können. Er behauptete fortan einen Rest an Unabhängigkeit der FHO vom RSHA.

Deutsche Geheimdienste im Kalten Krieg

Mit der gleichzeitigen Herausforderung der angelsächsischen Demokratien und des sowjetischen Kommunismus stiftete Hitler ein widernatürliches Bündnis, das den Untergang des Nationalsozialismus kaum lange überleben konnte. Sowohl der demokratische Kapitalismus als auch der totalitäre Kommunismus waren gesellschaftlich-ideologische Ordnungsvorstellungen mit universalem Geltungsanspruch. Die Führung der Sowjetunion hatte den Gedanken der Weltrevolution – vorrangig als Reaktion auf die inneren Widersprüche des Kapitalismus, aber im konkreten Fall auch mit tätiger Hilfe der Sowjetmacht und der kommunistischen Weltbewegung – nie aufgegeben. Die Stalinisierung der osteuropäischen Gesellschaften und ihre Abschottung vom Weltmarkt der Güter und Informationen widersprach demokratischen Überzeugungen und der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Sie wurde daher im Westen als Bedrohung wahrgenommen. Folgerichtig zeichnete sich zwischen den beiden Siegern des Zweiten Weltkrieges schon 1945/46 eine asymmetrische Auseinandersetzung ab: Die Sowjetunion konsolidierte ihren osteuropäischen Einflußbereich mit der bekannten Mischung aus politischer Überzeugungsarbeit und geheimpolizeilicher Unterdrückung. Die Staaten Westeuropas sollten – vor dem Hintergrund massiver wirtschaftlicher Probleme – durch eine ähnliche Kombination von militärischem Druck von außen und politischer Einflußnahme von innen allmählich dem sowjetischen Block einverleibt werden.

Stützten sich die Sowjets namentlich auf die Macht ihrer Soldaten, Geheimpolizisten und der kommunistischen Parteien, griffen die Vereinigten Staaten auf ihre überlegene Wirtschaftsmacht zurück. Sie stabilisierten Westeuropa wirtschaftlich und reduzierten damit die Erfolgsaussichten der Kommunisten. Der sozial gemilderte und durch internationale Institutionen geregelte Kapitalismus brachte mit der Zeit mehr Wohlstand hervor als die östlichen Zentralverwaltungswirtschaften. Es bildete sich überdies eine, allen inneren Widersprüchen zum Trotz, halbwegs stabile westliche Sicherheitsgemeinschaft unter amerikanischer Führung. Die Sowjetunion reagierte mit der weiteren Formierung und Abriegelung ihres Blockes. Die Grenze zwischen den beiden Systemen verlief mitten durch Deutschland und dessen Hauptstadt Berlin. Der Konflikt zwischen den Supermächten besaß zwei Dimensionen: erstens die Festigung des eigenen Lagers, zweitens der Versuch, den feindlichen Block zu lockern und aufzulösen. Das geschah auch durch geheimdienstliche Mittel. Anders als vor 1945 wurde danach in Europa bis 1989/90 mit regulären Streitkräften nicht mehr angegriffen. Es gab »nur einen Kalten Krieg […] in den Schattenzonen der verschiedenen, miteinander konkurrierenden, offiziellen und inoffiziellen Geheimdienste«6. Das schloß Stellvertreterkriege (in Korea, Vietnam, später auch in Afrika) nicht aus. Freilich waren die Männer, die den Schattenkrieg der Geheimdienste nach 1945 auf deutschem Boden führend organisierten, von den blutigen Auseinandersetzungen im Zeitalter der Weltkriege geprägt.

Die Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 bedeutete einen politischen Bruch wie zuvor das Kriegsende 1918 und die nationalsozialistische Machtergreifung 1933. Doch in der Alltagserfahrung der deutschen Bevölkerung markierten andere Ereignisse die lebensgeschichtlichen Umbrüche. Historiker haben die Einschnitte eher in der Wahrnehmung der Niederlage in der Schlacht von Stalingrad Anfang 1943 und der Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen im Frühsommer 1948 ausgemacht.7 Mit Stalingrad setzte die Abkehr breiter Bevölkerungskreise und von Teilen des Offizierkorps von Hitler ein; mit der Einführung der D-Mark wurde das wirtschaftliche Fundament für den westdeutschen Staat gelegt. Dazwischen lagen Flucht und Vertreibung, der Zusammenbruch der Staatlichkeit sowie der Verlust von Besitz, Beruf und Wertvorstellungen. Doch gerade manche Angehörige der Funktionseliten – nicht der politischen Führungselite – aus den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft verstanden es, ihre Karriere im neuen Staat fortzusetzen. Viele Mediziner, Juristen und Unternehmer saßen bald wieder in wichtigen Ämtern und Firmen der jungen Bundesrepublik. Das galt auch für zahlreiche frühere Angehörige des Amtes Ausland/Abwehr, der FHO und des RSHA. Betrachtet man heute die Fortsetzung ihrer beruflichen Lebensläufe, verlieren die politischen und sozialen Umbrüche der vierziger Jahre ihre Bedeutung als Wendemarken des persönlichen Lebens.

Anders sah es in der DDR aus. Dort wurden die alten Eliten weitgehend ausgetauscht. Der Preis dafür war der Verlust an Professionalität – ungeachtet des Gewinns an Glaubwürdigkeit im deutsch-deutschen Systemvergleich. Auch die ostdeutsche Geheimpolizei litt unter diesen Folgen, nicht zuletzt durch das geringe Bildungsniveau ihrer leitenden Mitarbeiter aus der Zeit der Weimarer KPD. Immerhin führten die ostdeutschen Geheimdienstchefs ihre konspirativen Karrieren aus den kommunistischen Geheimorganisationen der zwanziger bis vierziger Jahre jetzt im Sicherheitsapparat der DDR weiter.

Beim Aufbau dieses Apparates lag die Regie in den Händen der Sowjets, das Personal aber mußte von den Deutschen gestellt werden. Unter der Kontrolle des SED-Politbüros entstand eine mehrgliedrige Polizei. Sie übernahm nicht nur die normale Verbrechensbekämpfung. Die Verschärfung des Wirtschaftsstrafrechtes bot die Handhabe zur polizeilichen Verfolgung politischer Gegner. Die sogenannten K5-Kommissariate der Kriminalpolizei unterstützten die Sowjets bei der Stalinisierung Ostdeutschlands.8 Eine wichtige Rolle bei der politischen Instrumentalisierung der Polizei spielte der dort bis 1950 für Personalfragen zuständige Mielke. Er genoß das besondere Vertrauen des SEDParteichefs Walter Ulbricht. Nach Gründung des ostdeutschen Staates 1949 existierten im neueingerichteten Ministerium des Innern (MdI) drei sicherheitspolitische Abteilungen: die Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei; die Hauptverwaltung für Ausbildung, welche militärisch ausgerichtete Polizeiverbände aufstellte; und die Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft, aus der im Februar 1950 das MfS hervorging. In der stalinistischen Phase bis Anfang 1956 formierte sich der Staatssicherheitsdienst. Minister Zaisser, der zugleich im Politbüro saß, stieß mit seiner Kritik an Ulbricht auf Widerhall bei den Führungskadern der SED und geriet damit in die Rolle eines Rivalen. Er unterlag Ulbricht, als es beinahe zeitgleich in der DDR zum Juni-Aufstand und in Moskau zur Entmachtung des sowjetischen Innenministers und Geheimdienstchefs Lawrenti P. Berija (1899–1953) kam. Den Apparat des MfS prägte intern bereits in dieser frühen Zeit Zaissers sein Staatssekretär Mielke.

Flankierend zur Doppelstruktur aus Volkspolizei und Staatssicherheit wurden innerhalb der SED weitere konspirative Organisationen eingerichtet. Die bedeutendste war der sogenannte Haid-Apparat. Ab Dezember 1945 begann Bruno Haid (1912–1993), Referent in der Kaderabteilung der KPD (dann der SED), Auskünfte über das Verhalten von Parteimitgliedern während des Dritten Reiches zu sammeln. Außerdem sollte das Eindringen von »feindlichen Elementen« aus früheren rechten und linken Absplitterungen der Weimarer KPD verhindert werden. Da viele der Betroffenen Westkontakte besaßen, beschäftigte sich der Haid-Apparat zunehmend mit sogenannter West-Arbeit. Ende der vierziger Jahre begann die Einschleusung von Einflußagenten und Informanten nach West-Berlin und Westdeutschland. Richard Stahlmann baute seit dem Frühjahr 1946 den sogenannten Grenz-Apparat an der Zonengrenze zu Westdeutschland auf. Dieser schmuggelte in großem Stil Personen und Propagandamaterial von Ost nach West. Über Stahlmann lief auch der Geldtransfer an die KPD im Westen. Während sein Grenz-Apparat als Abteilung Verkehr im zentralen SED-Apparat bis zum Ende der DDR fortbestand und für die Finanzierung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP)9 zuständig blieb, wechselte Stahlmann 1951 zum Außenpolitischen Nachrichtendienst (APN) der DDR. Nach sowjetischem Vorbild dem Staatssekretär im Außenministerium Anton Ackermann (1905–1973) unterstellt, war der APN die Keimzelle der späteren Spionage des MfS im Westen. 1952 schied Ackermann aus, aber nicht der altgediente Stahlmann oder einer der anderen Parteiveteranen im APN trat an seine Stelle, sondern der 29jährige Markus Wolf, ein in der Sowjetunion aufgewachsener prominenter Emigrantensohn. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 wurde der APN als sogenannte Hauptabteilung XV in die Staatssicherheit eingegliedert. Drei Jahre später entstand daraus die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA).10

Nicht allein die HVA und ihre Vorläufer betrieben Spionage gegen den Westen. Dies war auch Aufgabe des militärischen Nachrichtendienstes der Kasernierten Volkspolizei (KVP) und der 1956 aus ihr hervorgegangenen Nationalen Volksarmee (NVA). Die Militäraufklärung der KVP/NVA wurde allerdings gerade in den fünfziger Jahren von einer Reihe geheimdienstlicher Pannen gebeutelt. Im Spiegel der vom US-Geheimdienst in West-Berlin gegen ihren Leiter Karl Linke durchgeführten Operation zeigt sich das problematische Verhältnis zur Militärabwehr des MfS und die Konkurrenzsituation zu Wolfs HVA. Dagegen wurden die Umrisse einer durchaus erfolgreichen westlichen Geheimdienstaktivität in der DDR sichtbar. Doch nicht nur die Ausspähung Linkes, sondern auch die Flucht eines Stellvertreters seines Nachfolgers in den Westen zählte zu den frühen Pannen des militärischen Nachrichtendienstes: Siegfried Dombrowski war der ranghöchste Überläufer aus DDR-Geheimdienstkreisen überhaupt. In späteren Jahren operierte der Militärgeheimdienst erfolgreicher, wenngleich sein Agentennetz wesentlich kleiner blieb als das der HVA (die allerdings nicht ausschließlich für Militärspionage zuständig war).11

Zwei weitere, heute weithin unbekannte Aufklärungsdienste waren die operative Grenzaufklärung und die konspirative Struktur innerhalb der Politischen Hauptverwaltung der NVA. Die Grenzaufklärung spähte im östlichen Grenzgebiet der Bundesrepublik die dortigen Sicherheitskräfte aus. Darüber hinaus unterhielt sie Grenzschleusen zum unerkannten Übertritt von MfS-Personal – ein Teil der alten Aufgabe des Stahlmann-Apparats also. Zum konspirativen Bereich der NVA-Politverwaltung zählte unter anderem eine Abteilung, die sich für den Kriegsfall mit der Vorbereitung von gewaltsamen Aktionen und Partisaneneinsätzen auf westdeutschem Territorium beschäftigte. Sie wurde von Willy Sägebrecht (1904–1981) geleitet, der im Sommer 1957 Karl Linke an der Spitze des NVA-Geheimdienstes ablöste.

Die verschiedenen Geheimdienste der westlichen Besatzungsmächte bedienten sich der Deutschen als Zuträger und Informanten bei der Verfolgung belasteter Nationalsozialisten. Mit dem einsetzenden Kalten Krieg begann die Aufklärung gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Zunächst existierte keine amerikanische Militär- und Auslandsaufklärung sowie Spionageabwehr gegen die Sowjetunion. So belieferte Heinz Franzosen und Amerikaner mit Nachrichten aus der sowjetischen Zone. Daß nicht wenige Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlichkeit aus den Reihen des RSHA von amerikanischen Diensten angeheuert wurden, gehört zu den düstersten Kapiteln der Geschichte der Geheimdienste auf deutschem Boden. Erinnert sei nur an Klaus Barbie, den ehemaligen Gestapo-Chef in Lyon, der für den Abwehrdienst der amerikanischen Armee, das Counter Intelligence Corps (CIC), arbeitete.

Überhaupt setzte der Kalte Krieg viele Fachleute der Spionage, der Gegenspionage, der Feindlagebearbeitung und der Abwehr rasch wieder ins Brot. Dabei tat sich der Nachrichtendienst besonders hervor, den Gehlen seit 1946 für den amerikanischen Heeresnachrichtendienst und ab 1949 für die Central Intelligence Agency (CIA) betrieb. Im Unterschied zur überwältigenden Mehrheit des Offizierkorps der Wehrmacht – das erst 1955 wieder die Chance bekam, in (west-) deutsche Streitkräfte einzutreten – wurden Gehlen, Wessel und andere FHO-Mitarbeiter also aufgrund ihrer besonderen Kenntnisse nahezu bruchlos weiterverwendet. Die Amerikaner glaubten, mit den ehemaligen FHO-Leuten, die nicht mit Gestapo- und SD-Angehörigen gleichgesetzt werden konnten, über die besten Fachleute für den neuen Feind zu verfügen. Gehlen rivalisierte – letztlich erfolgreich – mit dem zunächst privat und seit 1950 für das Bundeskanzleramt tätigen Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst. Beide Nachrichtendienste richteten ihr Hauptinteresse auf die Sowjetunion und die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) bzw. DDR. Aber beide klärten auch im Inland (also in Westdeutschland) auf. Hier wurden die Kommunisten jetzt in Kenntnis – und unter nicht selten absichtsvoller Übertreibung – ihrer konspirativen Methoden geheimdienstlich ausgespäht und polizeilich verfolgt. Die Amerikaner sollen Gehlen angeblich die Parole mit auf den Weg gegeben haben: »Vergeßt die Nazis und findet lieber heraus, was die Kommis im Schilde führen!«12

Es entstand ein Klima der Gesinnungsschnüffelei, das es zahlreichen Anhängern und Kollaborateuren des Nationalsozialismus ermöglichte, ihren alten Kampf gegen den Kommunismus unter neuer Fahne fortzusetzen. Dabei führten rechtsextreme Organisationen wie die 1952 verbotene Sozialistische Reichspartei das nationalsozialistische Gedankengut fort. Für die Beobachtung sowohl der links- als auch der rechtsradikalen Bestrebungen richteten die deutschen Länder Verfassungsschutzämter ein. Erster Vorläufer dieser Ämter war die 1949 eingerichtete Informationsstelle in Düsseldorf, die Fritz Tejessy leitete. 1950 folgte ein Bundesamt für Verfassungsschutz, das vor allem Gehlen als Konkurrenz empfand. Neben der Extremismus- fiel auch die Spionageabwehr hauptsächlich in die Zuständigkeit der Verfassungsschutzämter. Die Berufung Otto Johns zum ersten Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes war eine demonstrative Abkehr von den alten Fachleuten des RSHA. John, nach Überzeugung eines späteren Nachfolgers »vom Scheitel bis zur Sohle ein Demokrat«13, stammte aus dem Umkreis des Widerstands.

Verdeckt, aber mit erheblichem Aufwand förderte die CIA in den Staaten Westeuropas alle Bestrebungen, die sich kommunistischem Einfluß entzogen oder ihm politisch offensiv entgegentraten. Die Amerikaner betrachteten nachrichtendienstliche Aktivitäten unter einem breiten, nicht nur subversive, militärische, ökonomische oder propagandistische Maßnahmen umfassenden Ansatz. Der von der CIA geförderte »Kongreß für kulturelle Freiheit« vereinte Künstler – oft solche, die sich vom Kommunismus abgewandt hatten, politisch aber immer noch links standen. Sie stellten die Zukunft der Kultur zur Diskussion: Wo keine Freiheit existiere, so die Botschaft, könne sich das Individuum – mithin das künstlerische Genie – nicht entfalten und es deshalb keine wahre Kultur geben. Im Kontrast dazu unterstützte die CIA auch radikale Organisationen osteuropäischer Emigranten und wirkte durch Radiosender wie RIAS oder »Radio Free Europe« und »Radio Liberty« nach Osteuropa hinein. Unter Gerhard Wessel startete der BND eine vergleichbare Operation, um den friedlichen Übergang Portugals und Spaniens in die Demokratie zu fördern.

1949 setzte die Militarisierung des Ost-West-Konflikts ein. Mit dem Auf- und Ausbau der NATO als Verteidigungsbündnis reagierte der Westen auf das überlegene Militärpotential des Ostblocks. Die CIA und die Organisation Gehlen versuchten seit 1950 vergeblich, durch Fallschirmagenten aus dem Kreise der radikalen Emigranten den antikommunistischen Widerstandskampf zum Beispiel in Albanien, in der Ukraine und im Baltikum zu schüren. Die CIA schuf in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten der NATO-Länder mit »Gladio« eine konspirative »Stay-behind«-Organisation. Sie sollte sich im Krieg von den Truppen des Warschauer Paktes überrollen lassen und in deren Rücken einen Partisanenkrieg entfesseln. Im übrigen unterhielt die DDR ebenfalls eine Partisanentruppe, die im Kriegsfall hinter den Frontlinien in der Bundesrepublik zum Einsatz kommen sollte. Die Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR und dann des Ungarn-Aufstandes 1956 machten den Amerikanern klar, daß der Kalte Krieg so nicht zu gewinnen war. Das Spiel der Sowjetunion um ganz Deutschland andererseits war nach der Aufnahme der Bundesrepublik in die nordatlantische Allianz gescheitert.

Die Einbindung der beiden deutschen Staaten in den jeweiligen Block galt nun beiden Seiten als Garant des Friedens in Europa. Allerdings waren weder Amerikaner noch Sowjets bereit, den Kalten Krieg verloren zu geben. Im Gegenteil wurde er jetzt in die Dritte Welt getragen. Damit geriet er zur globalen Machtprobe, der fast jedem regionalen und lokalen Konflikt der Erde seinen Stempel aufdrückte. In den Entwicklungsländern traten dann auch BND und MfS, eingebettet in die Politik des jeweiligen Lagers, gegeneinander an. Während der Kubakrise 1962 hatten die Führer beider Supermächte in den Abgrund eines globalen nuklearen Schlagabtausches geblickt. Ihnen wurde bewußt, daß der Kalte Krieg nur in einer Verbindung von militärischem Wettrüsten, diplomatischen Abrüstungsinitiativen, entwicklungspolitischer Einflußnahme und geheimdienstlichen Aktionen zu führen war. In der unverminderten politisch-ideologischen Auseinandersetzung wirkte der Jahrhundertgegensatz zwischen Kommunismus und kapitalistischer Demokratie weiter.

Seit Mitte der sechziger Jahre belastete der Anspruch auf die Ostgebiete und die Nichtanerkennung der DDR die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik. Diese Position wurde auch von einem Großteil ihrer Bürger nicht mehr als zeitgemäß empfunden. Die sozialliberale Bundesregierung unter Willy Brandt erkannte die DDR Anfang der siebziger Jahre an – gegen erhebliche Widerstände bei den gesellschaftlichen Eliten und bei der Mehrheit der Mitarbeiter des BND. Die Anerkennung war aber nur scheinbar ein Erfolg für die DDR und die osteuropäischen Verbündeten der Sowjetunion. Entspannung und »friedliche Koexistenz« (so ein Schlagwort aus der kommunistischen Terminologie) öffneten die Schotten des Ostblocks, weniger für westliche Geheimagenten als für Journalisten, Geschäftsreisende, Touristen und Informationen aller Art. Die Staatssicherheit unter Mielke reagierte mit dem Konzept der »politisch-ideologischen Diversion« (PID), um vor dem Hintergrund weltweit sich verdichtender Informationsbeziehungen das kommunistische Meinungsmonopol zu behaupten. Mit der PID grenzte sich das MfS von Wollwebers Suche nach westlichen Agenten ab, indem es sich auf den »inneren« Feind konzentrierte, ohne in die überlebten Verfolgungswellen stalinistischen Angedenkens zu verfallen. PID war eine aus geheimpolizeilicher Sicht geradezu geniale Eigenschöpfung, unterstellte dieses Leitbild doch einfach allen DDR-Bürgern, durch westliches Gedankengut beeinflußbar zu sein. Damit legitimierte das Konzept die fortan flächendeckende – und anhaltende – Überwachung der eigenen Bevölkerung und die eigene Existenz als geheimpolizeilicher »Konzern«. Physische Gewalt wurde von eher psychologischen Strategien der »Zersetzung« und Zermürbung abgelöst. Das war weiterhin Repression, nunmehr allerdings defensiv angelegt. Indem der Stalinist Mielke polternd Zeugnis davon gab, daß er nicht mehr durfte wie er wollte, wurde der Erfolg der westlichen – und nicht zuletzt westdeutschen – Entspannungspolitik sichtbar. Dank seines Überwachungsnetzes erkannte der expandierende Konzern MfS die Schwächen des eigenen Staates: vor allem eine zusammenbrechende Wirtschaft in Verbindung mit einem rapiden Verlust an Glaubwürdigkeit. Der anschwellende Strom der Ausreisewilligen war nicht nur Symptom des Niedergangs, sondern auch alltägliches Problem des MfS. Es hatte diese Entwicklung seit Beginn der achtziger Jahre zunehmend erkannt, wagte aber nicht, seine Einsichten der Partei- und Staatsführung mitzuteilen. Die Erfolge seiner Inlands- und Auslandsaufklärung konnten am Ende weder eine funktionierende Wirtschaft noch die schwindende Zustimmung der Bürger ersetzen.

Die Geheimdienstchefs im biographischen Vergleich

Die Leiter von Geheimdiensten personifizieren die Schnittmenge von vier Handlungsfeldern. Im Vordergrund des landläufigen Interesses stehen die mehr oder minder spektakulären Aktionen unter ihrer Regie. Zentral ist jedoch der politische Zusammenhang, in den die Dienste eingebettet sind. Aus ihm leitet sich auch der jeweilige Auftrag her. Schließlich nehmen die Chefs auf das Selbstverständnis und das Betriebsklima ihres Dienstes wesentlichen Einfluß. Daß mit Gehlen und Wolf gleich zwei von ihnen um sich herum ein Legendengebilde aufgebaut haben, verbindet die nach innen nüchterne Praxis der Behörde mit jenem Schuß Romantik, der ihre Tätigkeit dann doch von Versicherungsanstalt und Bauamt unterscheidet. Hinter den Agenten und den Führungsoffizieren steht das zahlreichere Hilfspersonal: die Techniker, die Personal- und Finanzabteilung, überhaupt die fachneutrale Verwaltung. Je umfangreicher dieser Apparat, desto höhere Anforderungen stellt er an die Managementbegabungen seines Leiters. Das Beispiel Mielkes unter Zaisser im MfS, aber auch Horst Wendlands und Herbert Riecks im BND zeigt, wie die Herrschaft über das Geld, die Karrieren und die Organisation zur Machtposition ausgebaut werden konnte, wenn die Geheimdienstchefs es zuließen. Die Behörde kämpft im politischen Raum um Haushaltsmittel, Personal, Zuständigkeiten und Einfluß. Dies wiederum ist eine Herausforderung an den politischen Instinkt des Chefs und die Fähigkeiten, die Möglichkeiten des jeweiligen Umfeldes für sich und den eigenen Dienst zu nutzen.

Gehlen gründete seinen Einfluß auf die enge Beziehung zu Staatssekretär Hans Globke und über diesen zu Bundeskanzler Konrad Adenauer, was einer konspirativen Note nicht entbehrte, lieferte Gehlen doch offenbar manche intrigentaugliche Information über den eigenen Beritt. Mielke profilierte sich als geradezu devoter Paladin erst Ulbrichts, dann Erich Honeckers. Darin unterschied er sich aus Sicht der Generalsekretäre wohltuend von seinen Vorgängern. Zaisser und Wollweber besaßen einen besonderen Draht zu den Sowjets, der ihnen in den Augen Ulbrichts eine bedenkliche Unberechenbarkeit verlieh. Tatsächlich waren beide in der Wolle gefärbte Stalinisten, aber keine dumpfen Geheimpolizisten, sondern politische Köpfe. Das MfS sollte jedoch – anders als das RSHA – kein eigenständiger Machtfaktor der Diktatur werden. Es blieb dann auch immer Instrument der SED. Dagegen war die Wertschätzung, die Adenauer Gehlen entgegenbrachte, nicht zuletzt von dem Gütesiegel beeinflußt, das die Amerikaner ihm, trotz mancher Vorbehalte, ausgestellt hatten. Umgekehrt war die Nähe Johns zu den Briten nichts, was ihn dem Bundeskanzler empfahl. Gehlen hegte keine politischen Bestrebungen, war aber auch kein reiner Geheimdiensttechnokrat, sondern überzeugter Anti-Kommunist. Als solcher wurde er nach seinem Ausscheiden fast doch politisch. Sein Nachfolger Wessel war mehr noch als Gehlen loyaler Diener der Bundesregierung. Daß es sich mittlerweile um eine sozialdemokratische Regierung handelte, erschwerte das Geschäft des konservativ gesonnenen, distanzierten Soldaten, der zwischen einer nationalkonservativen und einer sozialdemokratischen Gruppierung im eigenen Dienst vermitteln mußte. Gehlen beeinflußte die westdeutsche Presse konspirativ. Sein Gegenspieler Wollweber setzte ihn über die gleichgeschalteten Medien mit einer gekonnten Mischung aus objektiver Berichterstattung und Propaganda unter Druck. Wessel behob die einem demokratischen Auslandsnachrichtendienst unangemessene Beeinflussung der Presse und ersetzte sie durch moderne Öffentlichkeitsarbeit. Er brachte Praxis und Rechtsstellung des BND wieder zur Deckung.

In den Anfangsjahren der Bundesrepublik standen sich mit Gehlen, Heinz und John drei Chefs gegenüber, deren unterschiedlicher politischer und persönlicher Hintergrund sie zu erbitterten Konkurrenten um die Gunst der Bundesregierung machte. Gehlen mißtraute John und Heinz, weil sie dem Widerstand angehört hatten. John lehnte Gehlen ab, weil dieser einst dem RSHA nahestand, nach 1945 dessen Personal rekrutierte und Gehlens Feind offenbar ausschließlich links stand. Heinz war John als ehemaliger Rechtsradikaler verdächtig. Heinz seinerseits verübelte John, daß dieser sich von Gehlen für eine Intrige einspannen ließ. Der Kampf um Einfluß zeigte sich gleichermaßen in der DDR. Als Chef des militärischen Geheimdienstes wehrte sich Karl Linke gegen die Bevormundung durch die Militärabwehr des MfS. Zugleich stand er in direkter Konkurrenz zur Hauptverwaltung Aufklärung unter Markus Wolf. Stahlmann – der in der SBZ und in der frühen DDR wichtige Funktionen im konspirativen Apparat innehatte – wurde noch als Ruheständler von der Staatssicherheit bespitzelt.

Vielleicht noch deutlicher als John erkannte der ehemalige sozialdemokratische Beamte im preußischen Innenministerium Tejessy im Rechtsradikalismus eine mindestens ebenso große Gefahr für die Demokratie wie im Kommunismus. Da er schon in den dreißiger Jahren hatte emigrieren müssen, verband ihn nichts mit den Diensten des Dritten Reiches. Er erwies sich dann auch als eine Art demokratischer »Geheimdienstethiker« gegenüber den »Geheimdienstpraktikern« Heinz, Gehlen und Wessel. Die ehemaligen Mitarbeiter der FHO und der Abwehr setzten andere Prioritäten: Sie wollten dem eigenen Land und darüber hinaus Westeuropa das Schicksal des Bolschewismus ersparen. Die Absicht geriet zur Rechtfertigung der eigenen Rolle. Tatsächlich waren der Stalinismus und der Nationalsozialismus – dem man einst selbst loyal, wenn auch in innerer Distanz gedient hatte – in ihrer totalitären Menschenfeindlichkeit kaum unterscheidbar. Zwangsläufig begegnete Gehlen den wenigen Vertretern der bürgerlichen Elite, die wie John mit dem Regime gebrochen und dies überlebt hatten, später mit Vorbehalten. Die Skepsis speiste sich aus schlechtem Gewissen, der Überzeugung, daß die Widerständler sich sinnlos geopfert hatten, und aus dem grundsätzlichen Unbehagen gegen Hoch- und Landesverrat. Es lag nahe, den Teilnehmern am Widerstand im Einklang mit dem eigenen Anti-Kommunismus Sympathien für den ideologischen Gegner zu unterstellen.

Die Geheimdienstchefs von Stalin und Hitler schieden vielfach durch Hinrichtung, Mord oder Selbstmord aus dem Dienst. Ihren ostdeutschen Kollegen war immerhin ein Rentnerdasein beschieden, das ihnen allerdings wenig von der einstigen Würde und Macht beließ. Zaisser und Wollweber, im Westen Heinz und letztlich auch John, sind gestürzt, entweder über ihre eigenen politischen Bestrebungen, aus Verzweiflung über die politische Entwicklung (John) oder als Opfer in der Auseinandersetzung mit mächtigen Konkurrenten (Heinz und Stahlmann). Linke wurde das Opfer einer gegnerischen Aktion. Andere wurden von der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung überholt, solange sie noch im Amt waren: Mielke teilte dieses Schicksal mit den Greisen im Politbüro der SED. Nur widerwillig hatte er die verfeinerten Unterdrückungstechniken seines Dienstes akzeptiert. Sein Apparat hatte zwar das intelligente Konzept der PID entwickelt. Mielke selbst konnte als ausgesprochener Anti-Intektueller aber gar nicht Vordenker einer staatlichen Sicherheitsdoktrin des »realen Sozialismus« werden, sondern blieb letztlich der Revolverheld des Straßenkampfes in der Weimarer Republik. Auch Stahlmann schaffte nie den Sprung vom Partisanenführer zum Geheimdienstchef. Als Wolf ihn allmählich aufs Altenteil abgeschoben hatte, hinterließ er in seinem Panzerschrank nicht etwa hochgeheime Dokumente, sondern nur Munition, einige Devisen und einen Dietrich. Der Intellektuelle Wolf sah Jahrzehnte danach keine andere Antwort auf den Niedergang der DDR als den allmählichen Rückzug ins bewegte Privatleben. Allerdings wäre auch Gehlen besser mit seinem Mentor Globke in den Ruhestand getreten. Sein sorgfältig gehegter Mythos wäre damit eher gewahrt worden als durch sein Ausharren an der Spitze des BND, den er kaum mehr zu führen vermochte.

Sowohl auf das Innenverhältnis der Dienste wie auf deren Wettbewerb wirkte sich das besondere psychologische Problem geheimdienstlicher Konspiration aus. Die erfolgreiche und erst nach 1989 enttarnte DDR-Spionin Gabriele Gast formulierte in Bezug auf Wolf, ihm sei die »für sachlich notwendig gehaltene Unaufrichtigkeit im Umgang mit Menschen […] so sehr zur zweiten Natur geworden, daß er sie überhaupt nicht mehr wahrnimmt«14. Tatsächlich beruht die Spionage auf dem spiegelverkehrten Verhältnis zum Verrat. Der Geheimdienst setzt alle ihm möglichen und/oder erlaubten Mittel ein, um Menschen zu Mitverschwörern und Verrätern zu machen, und fürchtet zugleich nichts mehr als den Verräter in den eigenen Reihen. Und dies mit Grund: Linke wurde von seiner Haushälterin verraten, Gehlen von Heinz Felfe, dessen scheinbare Aufklärungsergebnisse er durch sein besonderes Vertrauen belohnt hatte. Kein Wunder, daß Mielke der Verräter aus den Reihen des MfS habhaft zu werden versuchte, um sie mit dem Tode zu bestrafen. Der Verrat Johns und der Heinz unterstellte Versuch, sich den Sowjets anzudienen, konnte Gehlen angesichts ihrer Zugehörigkeit zum Widerstand nicht überraschen: »Einmal Verräter, immer Verräter!«

Die Palette der Gründe, aus denen Menschen zu Informanten werden, ist so vielfältig wie die Menschen selbst: politische Überzeugung, materielle Interessen, Abenteuerlust, Geltungsdrang, Rachebedürfnis, Minderwertigkeitsgefühle, Erpreßbarkeit infolge menschlicher Schwächen, von der jeweils gültigen Norm abweichendes Sexualverhalten, aber auch die Sehnsucht nach Geborgenheit, Führung und Loyalität. Der Nachrichtendienstler wird, abhängig von den moralischen Standards seines Dienstes, alle diese Motive nutzen, um eine menschliche Quelle zu gewinnen. Ein ob seines Zynismus herausragendes Beispiel für die Ausbeutung von Gefühlen und Sehnsüchten stellte die von Wolf psychologisch erarbeitete und begleitete Methode dar, Frauen durch auf sie angesetzte »Romeos« zu Spionen zu machen. Der Informant seinerseits ist auf die – gelegentlich eher unsichere – Loyalität des Agentenführers und seines Dienstes angewiesen.

Der Geheimdienstler aber wird nicht selten selbst zum Opfer seiner berufsbedingten Weltsicht. Er wittert überall Verräter und neigt einerseits zur Abkapselung, andererseits zur möglichst umfassenden und vorbeugenden Beobachtung aller denkbaren Abweichler. Die »Wanzen« in Wessels Pullacher Präsidentenvilla scheinen geradezu typisch. Der Angst vor Verrat entspricht das ausgeprägte Bedürfnis desjenigen, der Konspiration zu seinem Beruf macht, nach persönlicher Loyalität. Dieses wurzelt jenseits des Dienstverhältnisses in der tatsächlichen – oder nur scheinbaren – vertrauenstiftenden Gemeinsamkeit von Herkunft, Werdegang, Gesinnung und gemeinschaftlichem Erleben. So förderte Gehlen die durch das »old-boy-network« der FHO geprägte familiäre Atmosphäre im BND. Sie verflachte seit dem Ende der fünfziger Jahre und wich zusehends einer Behördenmentalität und wachsendem Mißtrauen der Mitarbeiter untereinander. Wie Gehlen betrieben Heinz, Stahlmann und Linke ihre Personalwerbung, indem sie frühere personelle Netzwerke aktivierten. Gehlen bevorzugte Schlesier, Artilleristen und Generalstäbler, Heinz Kampfgefährten aus der Abwehr und der einstigen Division »Brandenburg«. Noch unter Wessel nahmen in Fortsetzung einer langen Tradition Offiziere die Mehrheit der Leitungsverwendungen im BND ein. Im Außenpolitischen Nachrichtendienst versammelte Stahlmann Berufsrevolutionäre, die sich in den vorangegangenen beiden Jahrzehnten im Dienst der sowjetischen Geheimdienste und im militärischen Einsatz in Spanien bewährt hatten. Linke sagte man nach, er bevorzuge sudetendeutsche Landsleute. Hier Schlesier – dort Sudetendeutsche; hier alte Nachrichtendienstler und »Brandenburger« – dort Spanienkämpfer und Kader der Weltrevolution: In beiden deutschen Staaten erwies sich die Freikorps- und Partisanenmentalität der leitenden Mitarbeiter als Fundament der neuen Dienste und erzeugte das besondere Klima der frühen Jahre. Mancher Beobachter wurde folgerichtig den beunruhigenden Verdacht nicht los, daß sich auf beiden Seiten Leute ähnlichen Schlages hauptsächlich mit sich selbst beschäftigten – und zwar auf dreierlei Weise: erstens durch Spionage und Gegenspionage über die Fronten hinweg, zweitens durch Konkurrenz der Dienste desselben Lagers untereinander und drittens begünstigt über den konspirativen Charakter der bürokratischen Rivalitäten im Innenverhältnis der Dienste.

Zu diesem Buch

Im vorangehenden wurde zur Einordnung der hier vorzustellenden Personen die deutsche Geheimdienstgeschichte im 20. Jahrhundert umrissen und ein Resümee aus den elf biographischen Skizzen gezogen. In den folgenden Lebensläufen spiegeln sich die großen politischen Auseinandersetzungen, die das Schicksal Deutschlands in jenen Jahrzehnten bestimmt haben. Das Zeitalter der Weltkriege war in der Regel die Phase der Prägung, der Kalte Krieg die Phase der Wirksamkeit der Geheimdienstchefs. Sie wurden bei allen persönlichen Unterschieden von den Einstellungen und Erfahrungen geformt, die – gerade in ihrer Gegensätzlichkeit – den jeweiligen Generationen gemeinsam waren, denen sie angehörten. Auf den ersten Blick paßt Markus Wolf durch sein im Vergleich relativ spätes Geburtsjahr 1923 nicht ganz zu den übrigen Männern, die zwischen 1891 und 1913 geboren wurden. Wolf war noch einmal zehn Jahre jünger als Wessel, der seinerseits schon einer anderen Generation angehörte als etwa Stahlmann, Zaisser, Wollweber oder Heinz. Aber Wolfs Entwicklung wurde entscheidend durch die Jugend im sowjetischen Exil beeinflußt. Diese Erfahrung verbindet ihn enger mit Zaisser und Wollweber, als es der Abstand im Lebensalter vermuten läßt.

Der Vergleich zwischen Menschenleben, von denen jedes für sich ein vielgestaltiges Mosaik darstellt, kann nur über gleiche Fragen gelingen, die an jede Biographie gestellt werden. Mit ihnen startete das Unternehmen dieses Buches, das sich nicht nur als bloße Aneinanderreihung verschiedener Charakterstudien versteht. In den einzelnen Beiträgen wird daher nach Herkunft und Familie gefragt, nach der Prägung durch die rechts- oder linksradikalen Milieus der Weimarer Republik und durch den Dienst auf den Schlachtfeldern des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkrieges. Das Verhältnis der porträtierten Personen zu Nationalsozialismus, Stalinismus und Demokratie stellte den einen Ausgangspunkt für ihre Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg dar; die politischen Zeitläufe der Nachkriegsjahre und die persönlichen, vor 1945 erworbenen Voraussetzungen für ihre Karriere markierten den anderen. Gefragt wird daher auch nach den Personennetzwerken, die sie vor dem Zweiten Weltkrieg knüpften und anschließend fortsetzten. Dieser Ansatz mündet in der Frage nach den Wirkungen, welche die Geheimdienstchefs an der Spitze ihrer Dienste entfaltet haben. Denn mit ihr beeinflußten sie die politischen Strukturen und Entscheidungen, welche die Bezugspunkte für Wohl und Wehe unzähliger Menschen abgaben. Freilich hat jeder Autor diese Fragen unter seinem ganz persönlichen Blickwinkel beantwortet – je nach den eigenen Forschungsschwerpunkten und der persönlichen Neugier auf die behandelte Person.

Den Herausgebern war wichtig, im Sinne einer immer wieder eingeforderten vergleichenden Betrachtung deutsch-deutscher Zeitgeschichte nach 1945 die westdeutschen an die ostdeutschen Lebensläufe heranzurücken. Dabei werden im jeweiligen Lager etwa zwei bis drei bekanntere und zwei nahezu vergessene Geheimdienstchefs behandelt. Die wechselnde Abfolge der biographischen Skizzen orientiert sich ungefähr am zeitlichen Schwerpunkt in der jeweiligen Amtszeit als Geheimdienstchef. Die Auswahl der Personen ergibt sich aus ihrer exemplarischen Bedeutung. Lexikalische Vollzähligkeit wurde nicht angestrebt. Im Vordergrund stehen jene Geheimdienstchefs, deren Wirken sich in den beiden Weltkriegen und im Kalten Krieg entfaltete. Ein prominenter BND-Chef wie Klaus Kinkel (geboren 1936), Nachfolger Wessels und späterer Bundesjustiz- und Bundesaußenminister, wurde deshalb nicht berücksichtigt. Von den Chefs des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) der Bundeswehr ist – auch wegen der schlechten Quellenlage – keiner mit einem Porträt vertreten; aber auch Werner Großmann (geboren 1929), Nachfolger Wolfs an der Spitze der Hauptverwaltung Aufklärung, fehlt.

Die Herausgeber und Autoren möchten über die wissenschaftlichen Experten hinaus ein breiteres Publikum ansprechen. Auf die in Fachbüchern erforderliche Forschungsdiskussion, auf umfangreiche Anmerkungsapparate und auf akademische Sprache wird daher zugunsten der Lesbarkeit weitgehend verzichtet, ohne allerdings den Anspruch auf geschichtswissenschaftliche Fundierung aufzugeben. Zitate werden deshalb in Anmerkungen am Ende des Buches belegt. Zu den einzelnen Skizzen finden sich dort jeweils knappe Quellen- und Literaturberichte, die dem interessierten Leser weiterführende Informationen erschließen sollen.

Für ihre Unterstützung beim Zustandekommen dieses Buches danken die Herausgeber allen Autoren, insbesondere Dr. Roger Engelmann für fachlichen Ratschlag und Dr. Matthias Uhl, der kurzfristig eingesprungen ist.

Ein besonderer Dank gilt schließlich dem Lektor des Bandes, Thomas Schulz M. A., dessen beharrliche Verbesserungsvorschläge unverzichtbar waren.

(Potsdam, im Januar 2003)

Wilhelm Zaisser (1893–1958)

Vom königlich-preußischen Reserveoffizier zum ersten Chef des MfS

von Helmut Müller-Enbergs

Er war die »graue Eminenz« der frühen DDR – gleichwohl ist die Erinnerung an den ersten Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, weithin verblaßt. Sein Name sagt heute nur noch wenigen etwas, und wenn, dann wird er zumeist mit seinem Sturz im Politbüro wegen »Fraktionstätigkeit« im Juni 1953 in Verbindung gebracht – seiner letzten und verlorenen Schlacht um den Kurs der SED-Diktatur. Mit dieser Niederlage endete eine beispiellose, 30jährige Karriere eines – nach heutigen Maßstäben – Terroristen, Partisanen, Agenten, Militärs und Polizeiministers.

Lehrer aus Rotthausen

Im tristen Ruhrpottort Rotthausen, zwischen Gelsenkirchen und Essen gelegen, brachte die 33jährige Johanna Zaisser am 20. Juni 1893 nachmittags um drei Uhr ihr zweites Kind zur Welt. Am 12. Juli 1893 auf den Namen Robert Wilhelm getauft, wurde der Sohn stets Willi oder – unter Freunden – »der Lange« gerufen. Vater war der 35jährige Carl Friedrich Zaisser, ein großer, stattlicher Mann mit streng deutschnationaler Einstellung, der den Lebensunterhalt der Familie als Fußgendarm in Rotthausen verdiente. Das dürfte ein schwieriges Pflaster für den Polizisten gewesen sein, denn nach dem großen Bergarbeiterstreik von 1889 war Rotthausen eine rote Hochburg; nur Ortsfremde wurden als Gendarm eingesetzt. Carl Zaisser stammte aus Naumburg an der Saale.

Willi Zaisser wuchs in der Rotthausener Schulzstraße auf, im Schatten des Malakow-Turmes von Schacht I der angrenzenden Kohlenzeche. Überwiegend unteres Kleinbürgertum wohnte dort: Schlepper, Hauer, Huf- und Wagenschmiede. Der Vater stieg zwar zum Gendarmeriewachtmeister auf, doch reichte das Gehalt für die inzwischen siebenköpfige Familie nicht. Er quittierte den Dienst und fing 1904 als Kastellan beim neuerbauten Städtischen Gymnasium in Essen-Rüttenscheid an, während Frau und Kinder durch Heimarbeit Geld hinzuverdienen mußten. Der auf Fotos leicht pummelig wirkende Willi hatte fünf Klassen der Hedwigschule in Rotthausen besucht und ging nun zur Evangelischen Gemeindeschule XII in Essen. Vom Fenster der elterlichen Wohnung aus konnte er die Villa Otto Heinemanns, des Personalchefs bei Krupp, sehen, dessen Sohn Gustav, späterer Bundespräsident, das Rüttenscheider Gymnasium besuchte.

Von 1907 bis 1910 ging Willi auf die Evangelische Präparandenanstalt zu Essen, danach auf das Königliche Lehrerseminar, beides Einrichtungen, die dem Rüttenscheider Gymnasium angeschlossen waren. Wie sein Vater war auch er deutsch-national geprägt. Die Vorstellungen eines seiner Lehrer, den zum linken Flügel zählenden SPDReichstagsabgeordneten August Siemsen, dürften ihm in jener Zeit nicht zugesagt haben. Der Beruf Lehrer hingegen war wohl Passion, denn später sollte er als Kommunist noch oftmals revolutionären Nachwuchs unterrichten. Im Alter von 20 Jahren legte er 1913 sein Lehrerexamen ab.

Königlich-preußischer Offizier

Seinen einjährigen Militärdienst leistete Wilhelm Zaisser als Musketier in einem Kölner Infanterieregiment. Am 1. April 1914 trat er dann eine Stelle als Volksschullehrer – seinerzeit »Hungerleider« genannt – an. Doch bereits vier Monate später wurde er mit dem ersten Tag des Weltkriegs als Reservist zur Infanterie nach Lothringen eingezogen. »Frisch-froher Krieg«, schrieb der 23jährige einem Schulfreund, »in Begeisterung und Manöverstimmung«.1 Im November 1914 folgte die Verlegung in die Hohe Tatra. An der Ostfront sammelte er bei sechsbis achtfach überlegenem russischem Gegner Erfahrungen im Bewegungskrieg auf vereistem Gelände: »Gestürmt, zurückgeschlagen und immer wieder gestürmt.« Binnen fünf Tagen fielen 2 000 Mann des Regiments, darunter alle Offiziere. Zaisser: »Gefangene grundsätzlich nicht mehr gemacht. Förmlicher Blutrausch kam über mich, alte Raubtierinstinkte erwachten. Fürchterliche Zeit, und doch möchte ich sie nicht missen. Ich habe im Nahkampf manchen Menschen getötet, und es erfüllte mich mit Befriedigung.«

Ein Herzfehler und Typhus zwangen ihn drei Monate ins Lazarett. Mit der Sommeroffensive hielt es ihn dort nicht mehr: »Alle Menschen müssen sterben, also – hinaus.« In Brest-Litowsk stieß er wieder auf sein altes Infanterieregiment 220, dem auch sein jüngerer Bruder Adolf angehörte. Dieser starb keine hundert Meter von ihm durch Herzschuß: »Was liegt daran, weiter, weiter, Deutschlands Befreiung gilts.« Im Februar 1917 wurde Zaisser zum Leutnant der Reserve befördert. Da es ihm an der Ostfront zu ruhig geworden war, meldete er sich erfolglos zu den Abwehrschlachten im Westen. Seine Eltern hatten interveniert; ihr letzter Sohn – auch der ältere Bruder war gefallen – sollte geschont werden. Er wurde als Adjutant einem Etappenkommando zugewiesen und erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse. In dieser Zeit gehörte er wiederholt deutschen Militärgerichten an. Dabei habe er, wie er in einem Verhör später einräumte, Bolschewisten, »die in der Ukraine sich an Leib und Leben vergangen haben […], abgeurteilt und auch vielfach erschossen«2.

Die »Stahlgewitter« hatten den jungen Zaisser mit allem ausgestattet, was später in revolutionären Kämpfen vonnöten war. Mit seinen Worten: »Augenblicklich gibt’s doch nur ein Sehnen – Kampf und Sieg, Sieg bis zur Vernichtung der anderen, und wenn in Deutschland noch Hohlköpfe von Verständigung und Menschenrechte[n] faseln (Erzberger etc.), so sollte man sie an die nächste Laterne hängen.«3Dieser Militanz ordnete Zaisser seine privaten Interessen – »Leben, Mädel und Liebe« – unter. Eine Vision rückte ins Zentrum: »Und doch änderte mich der Krieg – was war mir früher Deutschland – nun ja, die Heimat, aber sonst – und heute, heute ist es mir das Ideal, Deutschland, Deutschland über alles, der Heiland unter den Völkern der Erde.« Es bedurfte lediglich eines Schlüsselerlebnisses, um dann in der Sowjetunion das Vaterland aller Werktätigen anzuerkennen.

Davon trennte ihn zu jener Zeit ein knappes Jahr. Für den 23jährigen war eine Rückkehr in den Beruf des Lehrers undenkbar: »Welchen Beruf ich ergreife, weiß ich noch nicht. Ich hab’ ja die Auswahl in der ganzen Leiter vom Steinklopfer bis zum Ministerpräsidenten. Nun qui vivra verra.« Dieses »Qui vivra verra« [»Wer leben wird, wird sehen«, H. M.-E.] ist mehr als nur eine Floskel aus dem Französisch-Unterricht; rückschauend betrachtet, ist sie als Zaissers Lebensmaxime zu lesen. Die Spur war gelegt.

General der Roten Ruhrarmee

Hatte sich Wilhelm Zaisser bislang »für Politik nicht interessiert«, allenfalls »sehr weit rechts gestanden«,4 wurde er von der Roten Armee politisiert. Im November 1918 hatte sein Regiment die Bahnlinie Gomel-Brest-Litowsk zu sichern. Zaissers Verband stand als Teil der Heeresgruppe Kiew unweit der Demarkationslinie zwischen sowjetischem Gebiet und der seit März 1918 von den Deutschen besetzten Ukraine. Kriegsmüde Soldaten verweigerten nach dem Zusammenbruch der Hohenzollern-Monarchie den Befehl, gegen die Rote Armee zu kämpfen. Statt dessen kam es zu legendären Verbrüderungen beider Armeen. Über Wochen wohnte man in Reschitza in gemeinsamen Quartieren. Soldatenräte und Offiziere verhandelten in Gomel mit Delegierten der Roten Armee, in deren Ergebnis die Deutschen sich zur kampflosen Räumung des Gebietes verpflichteten, während im Gegenzug der ungehinderte Bahntransport nach Westen garantiert wurde. Die Räumung der Ukraine erfolgte von November 1918 bis Januar 1919. Zaisser erinnerte sich später: »Nach dem Zusammenbruch im November 18 ist das deutsche zurückgebliebene Militär in Polen von Deutschland abgeschnitten gewesen. Infolgedessen hat der Abtransport nicht funktioniert und man hat mit der russischen Armee verhandeln müssen. Dabei habe ich gute Organisation, insbesondere bei der Verwaltung, wahrgenommen und bemerkt, daß man von Seiten der russischen Roten Armee […] viel rigoroser vorging als es vordem von seiten der Deutschen der Fall war. Dadurch bin ich veranlaßt worden, den Bolschewismus anders zu beurteilen als ich es vordem getan habe.« Das war das Schlüsselerlebnis – freiwillig blieb er nach dem Weltkrieg zur »Abwicklung der Geschäfte« länger in Bialystok und erlebte so den revolutionären Umbruch vor Ort. Hinzu kam ein eigenartiges Pamphlet, das ihn nach seiner Rückkehr in die Heimat tief beeindruckt hat: Paul Eltzbachers Der Bolschewismus und die deutsche Zukunft. Angesichts der deutschen Niederlage, so der Tenor des deutsch-nationalen Bismarck-Anhängers Eltzbacher, könne lediglich ein radikaler Bolschewismus und ein Bündnis mit Rußland, wie 1813, das Vaterland retten. Fortan war für Zaisser »der Bolschewismus die einzige Rettung«. Er vertiefte sich in linke Literatur, las Marx, Engels, Lenin und Karl Radek.

Wilhelm Zaisser, Anfang der zwanziger Jahre. Ursprünglich nationalistisch gesinnt, wandte sich der Reserveoffizier 1918 dem Kommunismus zu.

Wieder in Deutschland, nahm Zaisser seine Arbeit als Lehrer Anfang März 1919 an der Bürgerschule in Essen-Segeroth auf, die in einem Fabrik- und Bergarbeiterviertel lag. Er gab in der untersten Klasse – mit Ausnahme des Religionsunterrichts – alle Fächer, in den Oberstufen Zeichenunterricht und Turnen. In diesen Umbruchzeiten dürfte er ein Doppelleben geführt haben. Politisch hielt er sich zunächst im Umfeld der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) auf. Der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) trat er im September 1919 in Essen bei; insbesondere das kommunistische Schulprogramm sagte ihm zu. Nun sollte er seinen alten Lehrer August Siemsen, Schulbeauftragter des Essener Arbeiter- und Soldatenrates, links überholen. Mit großem Engagement widmete er sich zunächst der Selbstorganisation der Lehrerschaft. Innerhalb des Deutschen Lehrerverbandes warb er, inzwischen Vorsitzender der Essener Ortsgruppe des Verbandes sozialistischer Lehrer, für die Einrichtung einer »neutralen« Lehrergewerkschaft. Im Rahmen der wenig später gegründeten »Freien Lehrergewerkschaft« war er mindestens bis 1921 aktiv. An der Volkshochschule hielt er Vorlesungen über den Kommunismus. Aber das trat zeitweilig in den Hintergrund.

Im Frühjahr 1920 wurde Essen zum Zentrum des Ruhraufstandes. Als Reaktion auf den Kapp-Putsch5 im März entstand im Ruhrgebiet eine sogenannte Rote Armee. 50000–80000 Bewaffnete beherrschten binnen weniger Tage die Region zwischen Dortmund und Düsseldorf. Doch Ostern 1920 marschierten Regierungstruppen ein und warfen den Aufstand nieder. Zaisser war als Mitglied der militärischen Zentralleitung in Essen führend an der März-Revolution beteiligt. Dort gehörte er wohl der strategischen Abteilung an und instruierte die militärischen Leiter der Abwehrformationen, nicht ohne den hintergründigen Einfluß von getarnt eingereisten sowjetischen Beratern. Nach der Niederschlagung des Ruhr-Aufstandes war absehbar, daß Zaisser verfolgt würde. Er mußte fliehen. Erschöpft und erkrankt versteckte er sich bei seinen Eltern. Das anstrengende Doppelleben – hier Lehrer, dort Berufsrevolutionär – ging trotz dieser Niederlage weiter.