Kontaktabbruch in Familien - Claudia Haarmann - E-Book

Kontaktabbruch in Familien E-Book

Claudia Haarmann

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Beschreibung

Wenn Kinder einfach gehen

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des Buches »Kontaktabbruch. Kinder und Eltern, die verstummen«.

Konflikte sind in Familien keine Ausnahme, doch der totale Bruch kommt für die meisten überraschend. Mehrheitlich sind es erwachsene Kinder, die sich von den Eltern oder auch von der gesamten Familie lösen. Claudia Haarmann beschreibt die Hintergründe und Dynamiken, die zu den schweren Zerwürfnissen in Familien führen und zeigt Möglichkeiten zur Annäherung auf.

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Das Buch

»Sehr viele Menschen kennen heute in ihrem Umfeld eine Tochter, einen Sohn, die ihre Familien verlassen haben oder darüber nachdenken, diesen Schritt zu tun.«

Konflikte sind in Familien keine Ausnahme, doch der totale Bruch kommt für die meisten überraschend. Mehrheitlich sind es erwachsene Kinder, die sich von den Eltern oder auch von der gesamten Familie lösen. Die erfahrene Therapeutin Claudia Haarmann beschreibt die Hintergründe und Dynamiken, die zu den schweren Zerwürfnissen in Familien führen und zeigt Möglichkeiten einer Annäherung auf. Mit einfühlsamen Erläuterungen und zahlreichen Fallbeispielen wird die Bedeutung von Sicherheit, Halt und Bindung in Familien erklärt.

Die Autorin

Claudia Haarmann, geboren 1951, arbeitete lange als freie Journalistin und ist heute Psychotherapeutin (HP). Schwerpunkt ihrer Arbeit sind die Bindungs- und Beziehungsdynamiken in Familien und deren Auswirkungen im Erwachsenenalter. Sie setzt vorwiegend körperorientierte Psychotherapieverfahren und Gesprächstherapie ein. Die Autorin lebt in Essen.

Für Wolf und Michael

Claudia Haarmann

Kontaktabbruch in Familien

Wenn ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich scheint

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dies ist eine überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des Titels Kontaktabbruch. Kinder und Eltern, die verstummen, erstmals erschienen 2015 im Orlanda Frauenverlag GmbH, Berlin.

Copyright © 2019 Kösel-Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Weiss Werkstatt, München

Covermotiv: © shutterstock/Darknesss (BildNR. 357924479); © shutterstock/Bachkova Natalia (BildNR. 1050438245)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-24087-5V005

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort zur neuen Ausgabe

Einleitung

Kapitel 1: Der Kontaktabbruch in Familien – wenn es miteinander nicht mehr weitergeht

Kapitel 2: Was Bindung ausmacht – die Bedeutung von Sicherheit und Halt

Kapitel 3: »Ich bin nicht so, wie ihr mich wollt« – Autonomie und Selbstbestimmung, die nicht gelebt werden dürfen

Kapitel 4: Die ungestillte Sehnsucht – wenn Nähe und Geborgenheit fehlen

Kapitel 5: Ohne Halt und Geborgenheit – Kinder, die zu Rettern werden

Kapitel 6: Kriegstraumata und die Folgen für die nächsten Generationen

Kapitel 7: Vom Gesicht-Herz-Kontakt – ein anderer Blick auf Kommunikation

Kapitel 8: Von der inneren Unruhe zum Kontaktabbruch – ein Gespräch mit Elisabeth Schneider-Kaiser

Kapitel 9: Mütter oder Väter, die im Mittelpunkt stehen – sogenannte narzisstische Eltern

Kapitel 10: Keine Erfahrung wird vergessen, vor allem die erste nicht – von Kindern, die nicht sein sollten

Kapitel 11: Kontakt auf Augenhöhe – Möglichkeiten einer Annäherung

Kapitel 12: Nachlese – das Phänomen des Überliebens

Danke

Bibliografie

Die Autorin

Vorwort zur neuen Ausgabe

Seit der ersten Veröffentlichung dieses Textes nehmen sowohl betroffene Eltern als auch Töchter und Söhne Kontakt mit mir auf, flächendeckend aus Ost und West, aus allen Gesellschaftsgruppen, aus dem In- und Ausland. Der familiäre Kontaktabbruch ist keine Ausnahme mehr. Selbst in Japan, so habe ich erfahren, ist es ein sehr großes und gleichzeitig absolut tabuisiertes und schambesetztes Thema.

Ich höre so viele Familiengeschichten, jede ist einzigartig und bemerkenswert, und ich verstehe, dass jede/r Betroffene ihren/seinen Fall beleuchtet haben möchte. Das kann ein Buch natürlich nicht leisten, es kann nur Hintergründe dieser dramatischen Konstellation beschreiben. Und so versuche ich, wie bei einem Bild, auf das man schaut, die schwierigen Familienmuster sichtbar zu machen, um die Grundlinien der Verwerfungen zu sehen. Wenn es gelingt, und das ist meine Hoffnung, die generationenübergreifende Problematik besser zu verstehen, können sowohl die Schuld- und Versagensgefühle der Eltern als auch und die Selbstvorwürfe der Kinder gemildert werden.

Was mich verblüfft, sind die jungen Leute. Schon mit 18, 20 Jahren analysieren sie im Gespräch sehr klar, was in ihrer Familie geschieht. Während es meiner Generation noch immer nicht leicht fällt, für die tief liegenden Gefühle Worte zu finden, nehmen sie die Problematik ihrer Familie präzise wahr und sprechen darüber. Bei der jungen Generation ist eine emotionale Beweglichkeit, ein Bewusstsein gewachsen, dem ich in Kapitel 12, einer Nachlese zu dem bisherigen Text, gesonderte Aufmerksamkeit schenke. Dort bringe ich die familiären Konflikte in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang.

Was mich bewegt, ist der Schmerz der Eltern, deren Kinder den Kontakt ganz und gar eingestellt haben. Sie sind verzweifelt. Die Anfragen betroffener Mütter klingen etwa so: »Bitte Frau Haarmann, sagen Sie mir, was soll ich tun? Wie lange kann so ein Kontaktabbruch gehen, zwei, fünf oder zehn Jahre? Soll ich meinem Kind ein Buch schicken oder ein Geburtstagsgeschenk? Soll ich einmal hinfahren? Was soll ich sagen? Soll ich schreiben und was?« Väter reagieren meist anders, sie appellieren und stellen fest, was ihr Kind doch endlich einmal müsste: »Es muss doch mal verstehen…, es muss doch einsehen, dass man so nicht miteinander umgeht, es muss doch erkennen, dass das Leben so nicht funktioniert.« Sie sind unglücklich, und der Appell, der ja kein Gegenüber mehr hat, ist der verzweifelte Versuch, etwas zu kontrollieren, was nicht zu kontrollieren ist. Die Situation ist für diese Betroffenen wirklich sehr schlimm. Meiner Erfahrung nach kommt es selbst im Falle eines radikalen Bruchs nach Jahren oft wieder zu einer Kontaktaufnahme, nur sehr selten bleibt der Konflikt für immer unauflösbar. Auch in diesen Fällen mag es helfen und erleichtern, die Zusammenhänge zu verstehen.

Dagegen haben es die On-Off-Kontakte leichter, mal treffen sich Eltern und Kinder wieder, mal telefonieren sie, mal gibt es einen Brief. Hier besteht eine gute Chance, die Beziehung zu verändern. Grundsätzlich setzt das natürlich voraus, dass beide Seiten sich bewegen.

Ich glaube jedoch, nach Hunderten von Gesprächen und therapeutischen Prozessen, sagen zu können: Wenn die Eltern einen Schritt in Richtung ihrer erwachsenen Kinder tun könnten, wenn sie zuhören und nicht mit einem »ja, aber« gegenhielten, wenn es den Eltern gelänge die Gründe, die ihre Kinder benennen, zu verstehen oder besser gesagt zu erfühlen, wenn sie alte, sich im Kreis drehende Gedanken und Konzepte wie etwas sein müsste, losließen, dann würde und wird Bewegung in der Familie entstehen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass diese Aussage manche Eltern schockieren wird, vielleicht sogar erbost, weil sie ein Einlenken ihrer Kinder fordern. Und dennoch – die Ursachen der Kontaktabbrüche liegen, aus meiner Sicht, in der Familiengeschichte, die nicht die Kinder, sondern die Eltern und auch deren Eltern anzunehmen haben. Das wäre ein verantwortlicher Umgang mit der Familienwahrheit, einer Wahrheit, deren Wurzeln sehr tief eingegraben sind. Diese Verantwortung werden die jetzt »unbequemen« erwachsenen Kinder später dann auch für ihre eigenen Kinder tragen müssen. Es liegt in der Natur der Generationenabfolge, dass Eltern vorangehen, die Richtung angeben und die Atmosphäre der Familie prägen. Darüber berichte ich hier.

Was mich sehr freut, sind die vielen Briefe der Leser/innen. Darunter auch Menschen, die nicht direkt vom Kontaktabbruch betroffen sind. Für sie scheint es hilfreich, sich über die Bedeutung von Sicherheit und Rückhalt klarzuwerden und damit sich und ihre Herkunftsfamilie besser zu verstehen. Eine Reaktion lässt mich schmunzeln: Da schreibt eine Leserin, dass ihr in diesem Buch alles wie einem Kind erklärt werde, und das tue ihr so gut. Ja, es stimmt, ich beschreibe manches noch einmal aus einer anderen Perspektive. So arbeite ich in meiner Praxis auch, denn zu verstehen, schafft Orientierung; und diese Orientiertheit gibt uns Boden und damit Halt. Begreifen zu können, was geschieht, schafft Sicherheit im inneren Durcheinander. Und es macht einen Unterschied, ob wir nur abstrakt und mental oder auf einfache Weise mit dem Herzen verstehen.

Die Aktualität des Themas wird immer offensichtlicher und ich bin froh, dass das Buch wieder verfügbar ist. Im Kösel-Verlag eine neue verlegerische Heimat gefunden zu haben, freut mich ganz besonders.

Claudia Haarmann

Essen, Januar 2019

Einleitung

Dieses Buch richtet sich vor allem an Töchter, aber auch an Söhne, die mit dem Gedanken spielen, den Kontakt zu ihren Eltern abzubrechen, oder die in einer On-Off-Beziehung mit ihren Eltern leben, vor allem aber an diejenigen, die den Kontakt bereits eingestellt haben. Die Töchter stehen hier im Fokus, weil das Mutter-Tochter-Verhältnis der Schwerpunkt meiner Arbeit ist und vieles davon in dieses Buch mit einfließt.

Dieses Buch ist auch für alle Mütter und für alle Väter geschrieben, die den Rückzug ihrer Kinder nicht verstehen, die die Frage nach dem »Warum« bewegt und die sich womöglich in einer Sackgasse von Selbstvorwürfen oder Schuldzuschreibungen befinden.

Und dieses Buch ist genau genommen auch für die Großeltern der betroffenen Familien geschrieben, denn solch ein ernsthaftes Zerwürfnis hat in der Regel eine weitreichende Geschichte.

Die schweren Konflikte in Familien sind keine Ausnahmen. Schon die Erwähnung des Themas Kontaktabbruch löst schnell ein Kopfnicken aus, sehr viele Menschen kennen heute in ihrem Umfeld eine Tochter, einen Sohn, die ihre Familien verlassen haben oder darüber nachdenken, diesen Schritt zu tun. Mehrheitlich sind es die erwachsenen Kinder, die sich von den Eltern oder auch von der gesamten Familie lösen. Dass Eltern nichts mehr von ihren Kindern wissen wollen, kommt eher selten vor. Es gibt leider keine verlässlichen Daten über das Ausmaß der Kontaktabbrüche, aber die Zahl der Selbsthilfegruppen, der Internetforen und der Menschen, die Beratungen und Therapeuten aufsuchen, ist enorm. Und dieses Buch ist entstanden, weil ich seit dem Erscheinen von Mütter sind auch Menschen im Jahr 2008 kontinuierlich sehr viele Briefe von verzweifelten Müttern und Töchtern bekomme, die unter dem Familienunfrieden leiden und nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Während einer SWR-Sendung zum Thema »Mutter und Tochter« riefen Hunderte Hörer/innen an, um mir von ihrer Familientragödie zu erzählen, in der Hoffnung, Antworten zu finden.

Unser Beziehungsleben beginnt mit der Mutter, sie ist die Urbeziehung, mit ihr machen wir die grundlegenden ersten Bindungserfahrungen. Besonders deutlich wird das in Kapitel 10, in dem das Zusammenleben von Mutter und Kind während der Schwangerschaft thematisiert wird. Und das ist der Grund, warum die Mutter auch in diesem Buch eine wesentliche Rolle spielt. Die Lebensberichte, auf die ich mich hier beziehe, beschreiben Mutter-Tochter-Beziehungen. Es gibt aber keinen Zweifel, dass die Bindungsthematik genauso die Väter betrifft. Auch die Väter gestalten die Beziehung zu ihren Kindern, und sie sind im gleichen Maße verantwortlich für die Atmosphäre, die in einer Familie herrscht. In diesem Buch geht es um die Bindungs- und Kommunikationsdynamiken, die zu den schweren Zerwürfnissen führen.

In Kapitel 7 werden Erkenntnisse aus der Neurophysiologie vorgestellt, die unsere Kommunikation, unser Miteinander auf völlig neue Weise beleuchten. Vermutlich wird es die eine oder den anderen erstaunen, wie sehr dabei die Biologie unseres Körpers, unser Gefühls- und Zusammenleben beeinflusst.

Gesellschaftlich sind Beziehungsabbrüche alles andere als ein Randphänomen, sie sind Normalität. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es mehr als jemals zuvor toleriert wird, subjektiv belastende Beziehungen zu beenden. Paare ertragen ungute Beziehungen nicht mehr lange, sie trennen sich. Eltern lassen sich scheiden. Das Statistische Bundesamt verzeichnete allein im Jahr 2017 über 123.500 Minderjährige, die von der Trennung ihrer Eltern betroffen sind. Väter verlassen ihre Kinder aus welchen (familiären) Gründen auch immer. Verwandtschaft hat bei Weitem nicht mehr die Bedeutung wie noch vor 30, 40 Jahren. Freiwillig gewählte Gemeinschaften und Wahlverwandtschaften gewinnen an Wichtigkeit.

Auch zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern hat sich Grundlegendes geändert. Töchter und Söhne halten ein schwieriges Familienklima nicht mehr unbedingt aus. Sie mahnen mit ihrem Verhalten an, dass etwas in der Familienatmosphäre so bedrückend ist, dass sie es nicht mehr hinnehmen wollen beziehungsweise hinnehmen können. Ihnen fällt es leichter als den Eltern und Großeltern, Gefühle zuzulassen. Sie halten mit dem, was sie bewegt, nicht mehr zurück. Und sie tun das häufig provokativ, manchmal überheblich und fordernd oder im schlimmsten Fall auch schweigend – aber sie tun es. Das christliche Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren« ist nur noch entfernt in Erinnerung. Die erwachsenen Kinder aus der jüngeren Generation haben Aufkleber, auf denen steht: »Seelenverwandtschaft ist dicker als Blut«. Anders als die Generationen vor ihnen sind sie mit den Grundlagen der Psychologie vertraut. Sie sind reflektiert, was ihr Leben betrifft, holen sich Hilfe im Außen, etwas, was früher kaum jemand tat. Und deshalb sind sie es, die die Familie aufrütteln, die Änderung provozieren, die handeln und nicht länger in der Vergangenheit gefangen sein wollen.

Während der Recherche zu diesem Buch habe ich oft gedacht: Das Thema ist so komplex wie das Leben selbst. Es hat so viele Facetten, dass kein einzelnes Buch ausreicht, um der Problematik gerecht zu werden. Nur einige Beispiele, die mir begegnet sind: Da ist die 65-Jährige, die über ihre Mutter schimpft: »Nie wieder gehe ich dahin, nie wieder lasse ich mir sagen, wie unmöglich und missraten ich bin.« Ihre Mutter ist 90 Jahre alt, liegt seit drei Jahren nahezu bewegungslos im Bett. Nur sprechen kann sie noch. Da ist der Sohn, der nichts als Abstand braucht, weil seine Mutter ihn zu ihrem engsten Vertrauten, ihrem Ein und Alles gemacht hat. Und der 45-Jährige, der mit seinem Vater in all den Jahren – gefühlt – nicht mehr als vier wichtige Sätze gesprochen hat und der die Eltern mehr oder weniger bewusst aus seinem Leben ausgrenzt. Oder die 15-Jährige, die die Gewalt zu Hause, die Streitereien, das Begrabschen ihres Stiefvaters nicht mehr aushält und lieber bei Freunden oder notfalls sogar auf der Straße lebt. Ganz zu schweigen von den Adoptivkindern, für die der Kontaktabbruch am Beginn ihres Lebens stand.

Und weil es so komplex ist, muss das Thema eingegrenzt werden. Die Familie, so stellte Johann Wolfgang von Goethe vor etwa 200 Jahren fest, solle den Kindern starke Wurzeln geben und Flügel zum Fliegen. Doch diejenigen, die das familiäre Band infrage stellen, beklagen, dass sie weder intakte Wurzeln gefunden noch die Ermutigung zum Fliegen bekommen haben. Meine These lautet: In diesen Familien konnte etwas Wesentliches nicht vermittelt werden – Sicherheit, Halt, Geborgenheit, aber auch Konstanz und Wertschätzung. Aus diesem Samen sind aus meiner Sicht die Zerwürfnisse gewachsen, und daraus ergibt sich die Frage, was die Vermittlung des Wesentlichen verhindert hat.

Ich gehe in diesem Buch nicht spezifisch auf die Vater-Tochter- oder die Vater-Sohn-Beziehung ein. Auch die Geschwisterthematik behandle ich nicht ausdrücklich, obwohl natürlich die Geschwister bei den Kontaktabbrüchen involviert sind. Bruder und Schwester können nicht neutral sein, denn sie sind Teil des Familiensystems. Oft fühlen sich die Geschwister in eine Parteilichkeit gezwungen und solidarisieren sich mit der Schwester/dem Bruder, die/der die Familie verlassen hat, oder aber mit den trauernden Eltern. Schwierig ist es natürlich, wenn sie in die Rolle der reitenden Boten zwischen den beiden Parteien geraten. Dabei ist es wichtig zu wissen: Die Verbindung der Eltern zu den einzelnen Kindern kann sehr verschieden sein. Die Lebenssituation der Eltern ist unter Umständen beim ersten Kind eine ganz andere als beim zweiten oder dritten gewesen. Es gibt vieles, was die Beziehung zu einem Kind beeinflussen kann. Was auch immer es war: Die unterschiedlichen Zeitfenster, in denen Geschwister geboren werden, haben erheblichen Einfluss auf die Beziehung zwischen Mutter/Vater und dem jeweiligen Kind.

Ein besonderer Fall ist der Missbrauch. Das Thema wird hier nicht dezidiert behandelt, denn bei massiven Übergriffen in der Familie ist es in der Regel für die Opfer angeraten, sich aus den missbräuchlichen Beziehungen zu lösen. Bei körperlichem, seelischem und sexuellem Missbrauch müssen sich die erwachsenen Kinder vor weiteren Verletzungen schützen. Der Abbruch der Beziehungen ist notwendig, um Grenzen zu setzen, um nicht stetig einer neuen Traumatisierung ausgesetzt zu sein. Vor allem auch, um die eigene Integrität wiederherzustellen. In diesen Fällen brauchen die Betroffenen therapeutische Hilfe und Begleitung, um sich aus den schädigenden Verhältnissen lösen zu können und um Stabilität in ihr jetziges Leben zu bringen.

Dieses Buch ist geschrieben für Mütter, Väter, Töchter, Söhne, die in der Tiefe den Wunsch haben, wieder in Kontakt zu kommen, aber den Weg nicht kennen. Ich glaube, dass es bei der Mehrzahl der betroffenen Familien Spielraum für eine Veränderung gibt. Um diesen zu nutzen, brauchen sie jedoch ein Bewusstsein darüber, was in dem Familiensystem geschehen ist. Nur das, was verstanden wird, ist zu verändern. Ich habe es oft erlebt: Mit dem Erkennen der Wirkkräfte und Hintergründe können schwierige Verhaltensautomatismen verlassen werden und die immer gleichen Gedanken und Vorwürfe ziehen sich zurück. Man nimmt dann etwas Merkwürdiges wahr: Wir Menschen sind geneigt, gerade diejenigen, die wir am meisten lieben, niederzumachen. Wir verhalten uns häufig gegenüber unseren Kindern und auch Partnern auf so unfreundliche Weise, wie wir es niemals mit Fremden oder guten Bekannten tun würden. Diese scheinbare Paradoxie möchte ich hier entwirren.

Vier Kapitel in diesem Buch sind den sachlichen Hintergründen der Konfliktsituation gewidmet. (In Kapitel 2, 6 und 7 gehe ich auf Theorien und Forschungsergebnisse ein, in Kapitel 8 spreche ich mit einer Expertin.) Der Schwerpunkt des Buches sind jedoch die Berichte von Frauen, die von der familiären Problematik erzählen. Es sind sowohl Töchter, die sich von ihren Eltern getrennt haben, als auch Mütter, deren Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben. Jede Einzelne – die Mutter, wie die Tochter – repräsentiert einen speziellen familiären Konflikt. Die sehr persönlichen Lebensberichte sind Ausgangspunkt für grundsätzliche Überlegungen, denn diese Schilderungen spiegeln immer auch ein Thema, das für andere Familien zutrifft.

Das vielleicht Herausfordernde an diesem Buch ist der Wechsel in der Perspektive – mal schaue ich auf die Elterngeneration, mal auf die erwachsenen Kinder. Diese Vorgehensweise erschließt sich aus meiner Kernthese – der transgenerationalen Weitergabe von Familienproblematiken.

Allen Frauen, deren Lebensgeschichte hier veröffentlicht wird, bin ich sehr, sehr dankbar. Sie waren bereit, sich noch einmal ihr schmerzliches Leben anzuschauen. Ohne sie hätte ich nicht so genau nachvollziehen können, was in den Familien geschieht. Mein Dank geht auch an alle Frauen und Männer, die mir erlaubt haben, sie zu zitieren. Ohne sie alle, ohne die vielen Aussagen und Gedanken wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Die Namen und einige Identifikationsmerkmale wurden geändert, um alle, die hier zu Wort kommen, und auch ihre Familien zu schützen.

Kapitel 1: Der Kontaktabbruch in Familien – wenn es miteinander nicht mehr weitergeht

»Wir machen als Menschen alle Fehler. Der schwerste Fehler jedoch ist, den Fehler nicht zu erkennen, den wir gemacht haben, denn damit verhindern wir Veränderung.«1

Dr. William Emerson

Dieses Buch möchte ich mit einem kleinen Rätsel beginnen. Vier Frauen beschreiben den Kernkonflikt mit ihrer Mutter. Die Aufgabe: Finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, heraus, welche dieser Frauen wohl den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen hat.

a) »Meine Mutter war vielleicht ganz froh, dass ich geboren wurde, sie hat mich auf ihre Art bestimmt gern gehabt. Aber sie war kein Mensch, der Liebe vermitteln konnte. Meine Mutter kannte nur eine Bibel, die hieß: »Was werden die Leute sagen?« Alles richtete sich bei ihr nach anderen Leuten.

Ich wurde oft geschlagen, wusste meist nicht, warum, vermutlich einfach nur, weil ich aufgefallen war. Nicht ich war wichtig, sondern immer nur die anderen. Ich war in ihren Augen ein Nichts. Sie war so kühl! Dass wir mal geschmust haben? Nein. Ich hatte einen Teddy, dem habe ich alles erzählt, das konnte ich mit ihr nicht. Alles hat sich nach ihr gerichtet, mein ganzes Leben hat sie dominiert.«

b) »Was da war, war dieses Versorgen. Also: Nahrung war da, Kleidung, ein Dach über dem Kopf war da. Aber das war es dann auch. Keine Wärme, kein Vertrauen, kein Zuspruch, kein Trost. Ich vergleiche meine Mutter gerne mit einem Feldwebel, sie war ein Mensch, der diktiert. Früher gab es Schelte ohne Ende und auch mal eine hinter die Ohren. Ich hatte richtig Angst vor meiner Mutter, es war Terror.«

c) »Der Standardsatz meiner Mutter war: ›Meine Blagen plagen.‹ Damit bin ich groß geworden. Ich war eine Plage. Es gab keine Bestärkung, nichts, überhaupt nichts. Du hattest zu funktionieren. Die Liebe, die ich gebraucht hätte, habe ich von zu Hause nicht gekriegt, und als ich 16 war, da kam dann dieser Mann, der mich auf Händen getragen hat. Da schmilzt du dann wie Butter an der Sonne. Später allerdings wurde er aggressiv – selbst da habe ich von meiner Mutter keinerlei Unterstützung bekommen, ich hätte sie auch nie gefragt. Ich war immer allein und kann sagen: Mein Leben ist ein Kampf.«

d) »Meine Mutter hat mich nie geküsst oder getröstet. Sie kannte nur »Umsichtreten« und »Umsichmeckern«. Gleichzeitig war für mich ihre Traurigkeit zu spüren. Als Kind habe ich funktioniert und sie entlastet und mir immer gewünscht: »Mama, werd glücklich!« Aber sie hat mehr oder weniger uns Kindern die Schuld an ihrem Lebensunglück gegeben. Wenn ich an meine Mutter denke, dann habe ich das Gefühl, nie eine Mutter gehabt zu haben, ich habe mich um sie gekümmert, ich war eher die Mutter meiner Mutter. Ich kenne keine Tochtergefühle meiner Mutter gegenüber.«

Des Rätsels Lösung

Vier Töchter – vier Perspektiven auf die eigene Mutter. Könnte man nicht bei jeder dieser Frauen verstehen, wenn sie dieser schwierigen Beziehung ein Ende gesetzt hätte? Denn jede dieser Beziehungen ist ein Unglück. Erstaunen wird vielleicht die Lösung des kleinen Rätsels: Zwei dieser Frauen, beide in den Vierzigern, haben den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen.

Die beiden anderen, 72 und 64 Jahre alt, sind Mütter, die es hinnehmen müssen, dass ihre Töchter den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben. Die unter b) und d) zitierten Frauen wollen ihre Mütter weder hören noch sehen – die unter a) und c) sind zurückgelassene Mütter.

Eine Familientradition

Warum mit diesem Rätsel beginnen? Es ist ein erster wichtiger Hinweis, vielleicht sogar ein Schlüssel für die tieferen Gründe des Kontaktabbruchs zwischen Eltern und Kindern. In den vielen Gesprächen, die ich mit betroffenen Müttern geführt habe, stellte ich immer auch eine Frage: »Wie ging es Ihnen eigentlich mit Ihrer eigenen Mutter?« Und immer kam die Antwort: »Auch nicht gut!« Das bestätigen auch die Töchter. Ja, das Verhältnis der Mutter zur Großmutter sei auch schwierig gewesen. Die Kontaktlosigkeit scheint eine Familientradition zu sein. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Familien? Und was ist das überhaupt für eine Tradition?

Da falle ich mal gleich mit der Tür ins Haus! Es geht um die Bindungsfähigkeit. Die Liebe ist in der Regel da, aber sie scheint ihren Weg zum Gegenüber nicht zu finden. In den betroffenen Familien kann sich aus meiner Sicht die Liebe nicht offen, freilassend und akzeptierend ausdrücken. Die Zuneigung der Elterngeneration zur Kindergeneration ist in ihrem Ausdruck gehemmt oder verschlossen. Manchmal ist es auch nur die Unfähigkeit, Gefühle zu kommunizieren, eine tiefe Unsicherheit also, wie Liebe auszudrücken ist.

Wenn die Liebe sich versteckt hält

Wenn die Liebe sich nicht ausdrücken kann, wenn die Bindung zwischen Eltern und Kindern nachhaltig gestört ist, zeigen sich über Generationen hinweg Themen wie Distanz, die Unfähigkeit zu kommunizieren, stattdessen eisiges Schweigen, Intoleranz, Respektlosigkeit, hohe Ansprüche, übergriffige Enge, Lieblosigkeit und eben auch Grobheit und Kälte. Es gibt kaum Verständnis für die Bedürfnisse der Kinder – eher Sätze wie: »Da mussten wir auch durch und das hat uns auch nicht geschadet. « Der zentrale Punkt dabei ist: Über mehrere Generationen hinweg fehlen den Kindern in diesen Familienlinien das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit, Halt, Konstanz und das Gefühl, in ihrem Wesen (in ihrer Person) angenommen zu sein.

Das Band, das wir Liebe oder Bindung nennen, zeigt bei einem Kontaktabbruch deutliche Schwachstellen oder es ist gänzlich auseinandergerissen. Mit dem Rückzug der Kinder werden die Eltern mit einer Realität konfrontiert, die sie lange nicht wahrhaben wollten. Denn ein erwachsenes Kind, das den Kontakt verweigert, bringt mit seinem Schritt zum Ausdruck: »Was ihr Eltern Liebe nennt, ist für mich keine. Meine Vorstellungen von Familie und mein Bedürfnis nach Liebe und Bindung sind andere. Hier stimmt etwas nicht in unserer Familie.«

Und vielleicht teilt das erwachsene Kind damit etwas mit, was die Eltern ihren Eltern früher hätten auch sagen wollen.

Trifft es zu, dass die Probleme in der Familie seit Generationen da sind, mag es leichter sein, sich dem Dilemma zu nähern. Man kann sich als Vater oder als Mutter dann fragen: »Habe ich selber die Zuwendung bekommen, die wünschenswert und notwendig war? Bin ich so geborgen aufgewachsen, habe ich mich sicher und aufgehoben gefühlt, bin ich so geliebt und respektiert worden, dass ich aus dem Vollen schöpfend diese Liebe weitergeben kann und konnte?« Jede Mutter, jeder Vater war eben auch einmal Kind.

Bei einem Kontaktabbruch gibt es scheinbar zwei Lager: »Wir, die Eltern, stehen gegenüber dir, dem Kind.« Beziehungsweise: »Ich, Kind, stehe gegenüber dir, Mutter/Vater, oder euch, den Eltern.« Es werden Klagen und Schuldzuweisungen hin- und hergeschoben oder es wird nach wie vor geschwiegen. Das Erkennen des generationsübergreifenden Aspekts mag ein erster Schritt sein, um etwas Dampf aus dem Familiendrucktopf zu lösen. Es geht dann nicht mehr ausschließlich um Schuld und Vorhaltungen, wer recht hat, um Anklage oder Selbstanklage, sondern um das Erkennen, dass die radikale Trennung ihre Wurzeln in der Familiengeschichte hat. Jede Familie hat ihr Schicksal, sehr häufig geht es um Traumatisierungen der Eltern oder Großeltern mit nachhaltigen Folgen.2

Kontaktabbrüche fallen nicht vom Himmel

Auch wenn es immer wieder anders berichtet wird: In allen Fällen, von denen ich gehört habe, sind die massiven Konflikte nicht vom Himmel gefallen, sie haben eine Geschichte. Es rumorte schon lange, aber nie wurde über Störungen gesprochen. Und das ist der Hinweis, dass etwas Ungutes in der Familie geschieht: die Kommunikationslosigkeit. Dieses gehemmte Schweigen, keine Worte zu haben, keine Gefühle ausdrücken zu können, sich zurückzuziehen, das ist kennzeichnend. Stattdessen wird in manchen Familien geschrien, in anderen tagelang geschwiegen. Wieder andere Familien reden übers Wetter, was bedeutet, dass die Kommunikation über Belangloses und Unwichtiges läuft, statt die wichtigen Themen zu benennen. Sprachlosigkeit ist ein Gradmesser, der anzeigt: Da brodelt etwas, das dringend Aufmerksamkeit benötigt.

Aus meiner Sicht ist der Kontaktabbruch der Endpunkt alter, schwieriger Familienmuster. Mit diesem Buch folge ich deshalb den Fragen, wann der Kontakt zwischen Eltern und Kindern – hier im Besonderen zwischen Müttern und Töchtern – abgebrochen ist. Ist der Riss zwischen den Generationen ein Phänomen des erwachsenen Alters oder hat der Riss des Beziehungsbandes seine Wurzeln in früheren Zeiten? Warum und wann, das wird eine entscheidende Frage sein, hat das Auseinanderdriften begonnen?

Der Trennungsschmerz der Kinder

Der Kontaktabbruch ist dramatisch für beide Seiten – für Eltern und Kinder. Auch wenn es für betroffene Eltern schwer nachvollziehbar ist: Trennt ein Kind sich von seinen Eltern, dann findet das immer unter großen seelischen Schmerzen statt. Erwachsene Kinder trennen sich nicht einfach so nebenbei, sie lösen sich damit von ihren Wurzeln, ihrer Herkunft, ihrer inneren Heimat. Sie sind massiv in Not. Die Atmosphäre mit den Eltern erleben sie als bedrückend, bedrängend, sie fühlen sich nicht ernst genommen, nicht gesehen, nicht geliebt, nicht akzeptiert, fühlen sich manipuliert oder sogar bedroht. Viele empfinden Einsamkeit in ihrer Familie. Das erwachsene Kind geht durch einen sehr schweren Entscheidungsprozess, einen Prozess voller Wut und Verzweiflung. Alle betroffenen Töchter und Söhne berichten, dass sie Monate, oft Jahre mit sich gerungen haben, bevor sie den Entschluss endgültig fassten, dass sie wieder und wieder versucht haben, in der Beziehung zur Mutter oder zum Vater etwas zu verändern. Es braucht dann manchmal nur ein kleines Ereignis, welches das Fass zum Überlaufen bringt und sie zum Handeln. Selbst nach Jahren ist der Abbruch für die meisten ein zwiespältiges Ereignis. Auf der einen Seite können sie die Beziehung zu den Eltern nicht aufrechterhalten, da diese in ihren Augen zu kraftraubend, zu demütigend, zu respektlos, zu hoffnungslos, zu einsam, zu schmerzhaft, zu beängstigend, zu bedrängend und vereinnahmend ist. Gleichzeitig sehnen sie sich zutiefst nach einer guten, liebevollen Beziehung, die sie vor allem bei den Müttern nicht finden konnten. »Der Konflikt mit meiner Mutter tut mir weh bis in die Zellen«, sagt eine Tochter, und immer wieder ist da ihr unerfüllter Wunsch: »Obwohl ich sie nicht ertragen kann, sehne ich mich so nach der Nähe und Geborgenheit meiner Mutter!« Eine andere Tochter sagt: »Ich will meinen Eltern auf keinen Fall wehtun, aber ich kann den Kontakt, so wie er ist, nicht aushalten.«

Tina Soliman betitelt ihr Buch Funkstille – Wenn Menschen den Kontakt abbrechen3. Sie erklärt, dass der Begriff der Funkstille – ein Synonym für Kontaktabbruch – aus der Schifffahrt kommt. Erst die Einstellung des gesamten Funkverkehrs, die Stille, stellt den Empfang von Notsignalen sicher. Mit dem Kontaktabbruch sendet das Kind ein Signal, dessen zentrale Botschaft ist: »Hörst du meine Not in meinem Schweigen?« Der Kontaktabbruch ist der Ausdruck von Verzweiflung, er geschieht nicht einfach aus einer Laune heraus, denn in der Regel lieben Kinder ihre Eltern. Der Abbruch ist ein Symbol. Er ist die bewusste Demontage der Verbindung. An dem viel beschworenen Zusammenhalt wird heftig gerüttelt. Der Abbruch und das Schweigen kommunizieren: »Ich finde keinen anderen Ausweg, um auszudrücken, wie es mir mit euch geht, was mein inneres Erleben ist. Als Kind konnte ich nichts tun, aber heute zeige ich dir/euch: ›So will ich nicht mehr. Da du/ihr mich nicht verstehen willst/wollt, gehe ich.‹«

Der Trennungsschmerz der Eltern

Der Endpunkt ist für die Eltern meist nicht zu begreifen. Für sie ist der Abbruch eine Katastrophe, er stellt ihr Leben, ihr Lebensglück infrage. Das, worüber sie sich die letzten Jahrzehnte definiert haben – die Familie –, wird angegriffen. Viele Eltern sagen, dass der Abbruch unvorhersehbar und überraschend für sie war. Es scheint, als hätten sie die Signale nicht sehen, hören und spüren können, als hätten sie die Tragweite der familiären Konflikte nicht wahrhaben wollen. Nur so ist es erklärbar, dass so viele die Entscheidung der Kinder als aus heiterem Himmel kommend beschreiben. Für sie geschieht die Katastrophe ohne Vorwarnung, ohne Rücksicht, ohne die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.

Bei den Eltern gibt es eine ganze Reihe an Reaktionen, und ich gehe im Folgenden vor allem auf die vielen Mütter ein, die mir geschildert haben, wie sie empfinden. An dem einen Ende stehen die Mütter, die nachhaltig im Schock sind: »Ich liebe doch mein Kind und weiß nicht, was ich tun soll. Wie kann ich mein Kind nur erreichen?« Sie erleben den Kontaktabbruch als riesigen Verlust. Dann gibt es die Selbstanklage und das Sich-schuldig-Fühlen: »Habe ich denn wirklich alles falsch gemacht?« Es gibt Betroffene, die sagen: »Man meint ein Leben lang, alles war richtig und gut, und jetzt steht man vor einem Scherbenhaufen. « Andere wieder lassen das Ganze nicht wirklich an sich herankommen. Das klingt dann etwa so: »Wenn ich den Verlust an mich ranlasse, fange ich an zu heulen. Wenn ich es herunterschlucke, ist es leichter, dann sage ich mir: ›Liebe Tochter, dann eben nicht, dann bleib doch, wo du bist!‹«

Und dann gibt es diejenigen, die es vermeiden anzuerkennen, dass es da etwas Schwerwiegendes in der Familie gibt, dass sie an dem Zerwürfnis beteiligt sind. Sie verleugnen die Realität, sie können die Position des Kindes nicht zulassen. Das drückt sich dann etwa so aus: »Sie war doch früher nicht so! Es war doch immer alles gut, unser Kind hat alles gehabt, es ist so behütet groß geworden, wir haben doch immer so viel Schönes unternommen und jetzt will sie nichts mehr von uns wissen, wir haben keine Ahnung, warum.« Oder diese Eltern weisen die Schuld an dem Bruch ihren Kindern zu, im Sinne von: »Du schreckliches Kind, wie kannst du uns das antun! Wie kannst du nur so undankbar sein, wo wir alles für dich getan haben!« Manche zeigen sich nach außen ungerührt und ohne Bedauern.

Die Eltern/Mütter bewegen sich also zwischen Schmerz, Irritation und Abwehr. Was aber sind die Hintergründe dieser Zerwürfnisse? Ist das Band tatsächlich erst mit dem realen Bruch gerissen oder war das Band schon lange davor brüchig? War es vielleicht auf einer tieferen Ebene nie richtig da?

Das Miteinander – wie auf dünnem Eis

Meine These lautet: Ein Kontaktabbruch ist lange vorher fühlbar und von außen betrachtet ist er sogar lange vorhersehbar – nur von innen scheint er oftmals wie nicht erklärlich. Und ein Kontaktabbruch hat eine Geschichte. Es ist, als hätten Mutter und Kind sich verpasst, als hätten sie nicht richtig zueinander finden können. In der Beziehung ist dann so viel Spannung, so viel Unverstandenes, so viel Unheil, dass es einen Notausgang braucht(e). Für die Tochter/den Sohn ist das Miteinander nicht mehr möglich – nur noch das Ohneeinander.

Der konkrete Bruch des erwachsenen Kindes geschieht entweder mit einem großen Knall, es gibt heftige Auseinandersetzungen, bei denen Sätze fallen wie: »Du bist für mich gestorben. Du siehst mich nie wieder! Dann macht doch, was ihr wollt, aber ohne mich!« Oder es ist ein schleichender, langsamer Entfremdungsprozess. Immer ist er der Schlusspunkt einer schwierigen Beziehung. Die Kommunikation, das Miteinander waren bereits lange gefährdet und brüchig. Wie zu dünnes Eis – jederzeit konnte es an einer Stelle einbrechen. Aus meiner Sicht ist ein Kontaktabbruch die Zäsur einer ohnehin schwierigen Beziehung. Und ich vermute, die meisten Eltern hatten schon immer eine Ahnung, dass zwischen ihnen und den Kindern etwas fehlt, dass sie das nicht ausdrücken konnten, was sich tief in ihrem Herzen eigentlich ausdrücken wollte.

Die Sprache fehlt

Eva Holthaus ist 56 Jahre alt. Für sie war es schon lange schwierig mit ihrer Tochter, die ihr dann auch eines Tages mitteilte, sie habe sich immer vernachlässigt und lieblos behandelt gefühlt, die Brüder seien immer wichtiger gewesen und würden bis heute besser behandelt und jetzt müsse sie erst einmal Abstand von der Mutter nehmen. Für Eva Holthaus bricht die Welt zusammen und nach dem ersten Schock beginnt sie sich zu erinnern. Schon mit fünf, sechs habe sich die Tochter oft ganz zurückgezogen, saß allein in ihrem Zimmer und spielte. Manchmal weinte das Kind, und Eva Holthaus verstand gar nicht, warum. Ihre beiden Söhne waren dagegen so unkompliziert und pflegeleicht, mit ihnen gab es nie Probleme, die waren und sind immer guter Dinge. Eva Holthaus spürt, dass sie schon damals nicht so recht wusste, wie sie mit der Tochter umgehen sollte. Ja, sie habe sie getröstet und auf den Schoß genommen, aber den Kummer des Kindes nie richtig verstanden. In der Rückschau sieht Eva Holthaus, wie hilflos sie war. Es gab eine Art Wand zwischen ihr und der Tochter, etwas Fremdes, das sich immer wie eine gewisse Distanziertheit angefühlt habe. Und das sei auch heute noch so. Wenn heute die Tochter käme und reden wolle, dann wäre sie ganz unsicher. Sie habe richtig Hemmungen, weil sie gar nicht wisse, was sie sagen solle: »Wahrscheinlich wäre ich sprachlos.« Eine andere Mutter sagt: »Ich habe Angst, eigentlich sogar Panik vor einem Gespräch, ich fühle mich so bloßgestellt. Und was, wenn ich wieder etwas Falsches sage?«

Wenn es dann doch einmal zum Kontakt kommt, so berichten die Mütter, seien sie vollkommen verhaltensunsicher, was bis zu einem Gefühl von Lähmung gehen könne. Das Grundgefühl ist dann: »Was ich tue und mache, alles ist falsch. Ich kann mein Kind nicht mehr erreichen.«

Ähnliches höre ich auch von Töchtern. Auch sie fürchten, wieder etwas falsch zu machen oder wieder falsch verstanden zu werden oder auch gar nicht verstanden zu werden. Die gemeinsame Sprache fehlt.

Das Beste gegeben – das Beste nicht bekommen

Bei dem Thema Kontaktabbruch haben wir es mit zwei unterschiedlichen Wahrnehmungen zu tun. Die Kinder erleben etwas ganz anderes als die Eltern. Es ist wie zwei Leben in einem – in einem Familienleben. Die Wahrnehmungen gehen grundlegend auseinander. Die betroffene Mutter wird immer sagen: »Ich habe doch mein Bestes getan!« – und das ist für sie auch absolut stimmig. In dem Buch Mütter sind auch Menschen beschreibe ich genau das – ja, die Wahrheit ist, es war das Beste, was die Mutter geben konnte, und etwas anderes war ihr, zumindest als junger Mutter, nicht möglich. Für die Tochter, die den Kontakt nicht mehr aushalten kann, ist etwas anderes wahr, sie drückt aus: »Ich habe nicht bekommen, was für mich das Beste gewesen wäre!« Und im Nachsatz steht: »Leider ist meine Mutter nicht bereit, das anzuerkennen.«

Es gibt noch eine weitere Diskrepanz. In den Familien, die entzweit sind, stehen die Eltern in Richtung Ende ihres Lebens – während die Kinder am Anfang oder in der Mitte stehen. Das bedeutet, die Eltern schauen zurück, ihr Lebensplan kann nicht wiederholt werden: Was geschehen ist, ist nicht mehr zu ändern. Man hatte sich doch ein schönes Leben, eine glückliche Familie gewünscht, wollte unter Umständen alles besser machen, als man es mit den eigenen Eltern erlebt hatte. Deshalb ist es auch so unglaublich schwer sich einzugestehen, dass es ganz anders geworden ist, als man es wollte, dass im eigenen Leben offensichtlich etwas nicht gelungen ist. Diese Situation macht die Mütter und Väter so angreifbar und verletzbar. Und die Einlassung von Eltern, die sagen: »Willst du denn unser Leben kaputt machen?«, ist durchaus verständlich. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum Eltern nicht zulassen, was ihre Kinder zu sagen haben. Sie sehen ihr Leben infrage gestellt – und das ist für sie kaum zu ertragen. Sie erwehren sich jeder Kritik, jedes Argument ihrer Kinder schmettern sie ab, die Angst ist zu groß.

Wie Chinesisch – eigentlich nicht zu verstehen

Das erste Interview zu diesem Buch führte ich mit Katharina Hoffmann. Sie ist 73 Jahre alt und lebt seit vielen Jahren allein. Sie hat eine Tochter. Das Gespräch mit Frau Hoffmann, einer geistig sehr aktiven Frau, hat mich an einer Stelle wirklich verblüfft, und ich möchte das erst einmal kommentarlos beschreiben.

»Ich habe seit acht Jahren kaum Kontakt zu meiner Tochter. Dreimal hat sie sich in den Jahren gemeldet und das nur, weil sie Geld brauchte.« Es ist ein Novembernachmittag. Katharina Hoffmann hat mich zu sich nach Hause eingeladen, es gibt Kaffee und das erste vorweihnachtliche Spritzgebäck. Wir sitzen im Wohnzimmer, in den Regalen aus Eiche stehen Familienfotos. Großeltern, Eltern und eine hübsche blonde junge Frau. Das muss die Tochter sein – überall Fotos von ihr, am Strand, der erste Schultag, ein Portrait, vom Profi aufgenommen, das klassische Weihnachtsfoto – das Mädchen lächelt. Einen Ehemann und Vater kann ich nirgends finden. Neben kleinen Porzellanfiguren und Andenken sehe ich Fotos von einem Jungen und einem Mädchen: »Das sind meine Enkel, die sehe ich ja auch nicht mehr«, sagt Frau Hoffmann. Sie ist eine überaus freundliche Frau mit einer warmen Ausstrahlung. Gleichzeitig ist da ihre große Frage, ihr Unverständnis, was mit ihrem Leben geschehen ist:

»Ich weiß nicht, wie ich meine Tochter erreichen soll. Erst vor drei Monaten, da wollte sie wieder Geld, nach langer Zeit das erste Mal, dass ich sie sehe, und dann sitzt sie hier und wir können nicht reden über das, was zwischen uns steht. Sie will nicht. Ich bitte sie immer, flehe sie an um ein Gespräch …, sie will nicht. Nach 16 Monaten rigoroser Funkstille sitzt sie hier zu Besuch und kein Gespräch. Wissen Sie«, sagt Frau Hoffmann und schluckt, weil ihr die Tränen in den Augen stehen, »Lisa kommt, setzt sich hier hin und schnappt sich sofort ihr Tablet – so was hat sie, obwohl sie ja eigentlich kein Geld hat! Aber technisch die tollsten Sachen, alles, was neu ist, das hat sie! Und dann fängt sie sofort mit irgendwelchen Spielen an. Spielt die ganze Zeit. Ich krieg dann einfach keinen Kontakt zu ihr. Und dann bin ich auch erleichtert gewesen, als sie wieder ging. Weil ich nicht weiß, wie ich mit ihr reden soll. Ich fühle mich dann so hilflos. Geld kann und will ich ihr nicht mehr geben.«

Was die 73-Jährige über ihre 50-jährige Tochter Lisa berichtet, ist Anklage und zugleich Ausdruck von Verzweiflung, ihrer Hoffnungslosigkeit und dieses Nichtverstehens:

»Ja, das tut weh. Ich habe oft gedacht, das kann doch gar nicht sein. Aber du kannst es nicht abstellen, kannst nichts tun. Da setzt du ein Kind in die Welt und du hast ja irgendwie den Kontakt dazu. Und es war für mich unvorstellbar, dass man dann nicht mehr miteinander redet oder den anderen nicht versteht. Dass das so in die Brüche gehen kann wie bei mir, ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. Und ich habe mich deshalb auch lange sehr geschämt.«

Frau Hoffmann hatte mich nach einer Lesung angesprochen. Ihre eindringliche Frage an mich, was ich ihr rate, um wieder in Kontakt mit ihrer Tochter zu kommen, hatte mich wirklich berührt, und sie war es, die den letzten Anstoß gab für dieses Buch, denn mit dem Thema Kontaktabbruch bin ich seit Jahren mehr und mehr konfrontiert.

Katharina Hoffmann hat sich viele Gedanken über ihre Ehe und die Tochter gemacht, hat eine Therapie hinter sich und ist wirklich reflektiert, was ihr Leben betrifft. Sie erzählt in einem langen Gespräch über sich und ihre Familie. Es ist eines der Schicksale, mit dem keiner tauschen möchte. Eine große Einsamkeit durchzieht ihr Leben. Sie muss sehr früh einen Mann heiraten, den sie nie gewählt hätte und der ihr fast unerträglich war. Verliert ihr erstes Kind kurz nach der Geburt, dann eine schwierige Fehlgeburt, das dritte Kind lebt und wird ein Mädchen. »Ich war davon überzeugt: Wenn ich ein Kind habe, dann kann der Mann mir egal sein. Dann habe ich was zum Liebhaben.« Bald stellen sich Depressionen ein und im Laufe der Jahre kommen Selbstmordfantasien dazu. Katharina Hoffmann lässt sich endlich scheiden, die 14-jährige Tochter pendelt zwischen den Eltern hin und her.

Aber erst Jahrzehnte später macht Lisa ihrer Mutter den formulierten Vorwurf »Du warst und bist ja nie für mich da!« und beendet den Kontakt. Die Anschuldigungen der Tochter scheinen erst einmal völlig unsinnig, denn die Mutter war nicht berufstätig, sondern umsorgend zu Hause und immer für die Tochter da. Hat mit ihr in den ersten drei Jahren gekuschelt und sie lieb gehabt. Was ist dann also passiert?

Im Laufe unseres Gesprächs ereignet sich dann etwas für mich völlig Unerwartetes. Wie gesagt, Katharina Hoffmann ist eine sehr offene, reflektierte Frau und hat im wahrsten Sinne jahrelang über sich und ihre Familie, über das Verhältnis zu ihrer Tochter nachgedacht. Nachdem sie den schwierigen Einfluss ihres Ex-Mannes auf die Tochter beklagt hat – er sei eigentlich verantwortlich für die Tragödie, denn er habe das Kind durch übermäßiges Verwöhnen an sich gezogen und ihr damit entzogen –, entwickelt sich folgender, für mich erstaunlicher Dialog, den ich hier wörtlich wiedergebe.

Haarmann: Darf ich Ihnen etwas dazu sagen?

Hoffmann: Ja, bitte.

Haarmann: Das scheint mit Ihrem Mann damals sehr schwierig gewesen zu sein. Wenn Ihre Tochter jedoch hört, der Vater sei Ursache des Konflikts, ist das vertrackt. Ich vermute, Ihre Tochter will keine Schuldzuweisung hören, nichts von einer Konkurrenz zwischen Vater-Mutter-Kind. Sie möchte von Ihnen hören: »Du hast recht, ich war damals in meinem Film. Ich war damals so mit mir und der schwierigen Ehe mit deinem Vater beschäftigt, so deprimiert, und ich glaube, ich habe dich wirklich oftmals übersehen.« Können Sie sich vorstellen, dass es das ist, was Ihre Tochter von Ihnen hören möchte, und nicht, dass der Vater alles falsch gemacht hat? Sie möchte, dass Sie als Mutter etwas richtigstellen.

Hoffmann: Da mögen Sie recht haben. (Lange Pause)… Ja, vielleicht haben Sie recht.

Haarmann: Was meint das wohl: »Du warst nie für mich da!«? Kann es sein, dass Ihre Tochter das damals so wahrgenommen hat?

Hoffmann: (…) Ja, so betrachtet, haben Sie recht … So betrachtet, könnte da was dran sein.

Haarmann: Mir ist klar, dass Sie damals hochbelastet waren …

Hoffmann: … Ja, ich war hochbelastet und fast außer mir. Es gab damals Zeiten, da war ich wie gar nicht mehr ich selbst. Haarmann: Und diesen Menschen, diese Mutter hat die Lisa erlebt. Sie hat eine Mutter erlebt, die gar nicht sie selbst war, und dann sagt sie nach 40 Jahren: «Du warst früher nicht für mich da.«

Hoffmann: Tja, so gesehen … Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich habe immer nur gesehen, dass ich Lisa nicht erreiche.

Haarmann: (…) Ich glaube, dass das für ein Kind dramatisch ist, denn es spürt, dass es der Mutter schlecht geht und dass die vielleicht sogar Gedanken hat, sich das Leben zu nehmen. Weiß Ihre Tochter davon?

Hoffmann: Das glaube ich nicht. Wir haben nie darüber gesprochen.

Haarmann: Vielleicht fangen Sie an, dahin zu fühlen, wie es wohl damals der kleinen Lisa ergangen ist? Mama und Papa verstehen sich nicht, die Mama so traurig, so leidend …

Hoffmann: Ja, da gebe ich Ihnen recht … (lange Pause)… Ich habe nie darüber nachgedacht. Eigenartig! Wissen Sie, das ist jetzt so, als würden Sie Chinesisch mit mir reden. Wirklich fremd. Ich habe über so vieles, was in meinem Leben passiert ist, nachgedacht, mich aber nie gefragt, wie es meinem Kind damals gegangen ist. Das ist, als hätten Sie mir gerade das Chinesische ins Deutsche übersetzt (sie lacht). Ich fange zumindest an, zu verstehen. Auf dem Dampfer bin ich noch nie gewesen.

Verblüffend, oder? Frau Hoffmann entdeckt in diesem Moment, dass ihre Wahrnehmung eine andere ist als die ihrer Tochter, dass es zwei Erleben in einem Familienleben gibt. So sehr war sie mit sich und ihrem eigenen Schicksal beschäftigt, so sehr hat sie die Empfindungen ihrer Tochter ausgegrenzt. Als wir uns verabschieden, hinterlasse ich eine nachdenkliche Mutter, die mir nur einen Tag später folgende Mail schickt:

Liebe Frau Haarmann,

unser Gespräch gestern hat mich doch sehr bewegt. Mir ist dazu noch etwas eingefallen: Meine Tochter hat mir einmal ein Gedicht von Rainer Maria Rilke vorgetragen, und zwar »Der Panther«. Ich habe das Gedicht noch einmal gelesen und darüber in Ruhe nachgedacht. Ich habe sehr geweint.

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille –

und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 1902, Paris

Katharina Hoffmann beginnt also zu spüren, dass ihre Tochter etwas erlebt hat, was sie als Mutter nie geahnt, nie gefühlt hat, was sie nie zulassen konnte, was sich ihrem bewussten Erkennen entzogen hat. Wenn es ihr jetzt gelingen könnte zu sehen, dass ihr Kind damals eine andere Wahrnehmung hatte, dass die Familiensituation auf spezielle Weise bedrückend und beängstigend für ihre Tochter war, wenn es ihr also möglich sein könnte, die Wahrheit der Tochter anzuschauen, dann wäre das aus meiner Sicht der Weg zur Veränderung der Beziehung. Das wirklich Erstaunliche ist, dass Frau Hoffmann acht Jahre vermieden hat, sich diese Fragen zu stellen. Wie kann das sein? Was hat das für einen Hintergrund?

Bei einem Kontaktabbruch gibt es nichts mehr kleinzureden oder zu bagatellisieren. Das Schlimmste ist ja schon passiert, die Familie hat einen Riss. Und sofern die Beteiligten unter der Entzweiung leiden, wäre es doch sinnvoll, sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen. Aber genau das scheint sehr schwer zu sein. Obwohl sich sowohl die Eltern als auch die Kinder eine verbindende Kommunikation wünschen, eine Sprache, die sie wieder zueinanderführt, bleiben sie in Kommunikationsmustern stecken, die die Türen immer weiter verschließen. Als wäre da eine Unmöglichkeit, den anderen wahrzunehmen. Damit bin ich in diesem Buch an der schwierigsten Stelle. Es scheint für Eltern gefährlich zu sein, sich die Ursachen anzuschauen, und noch gefährlicher, zu fühlen, was zu dem Bruch geführt hat. Man vermeidet, die Wahrheit anzuschauen.

Von Schutz- und Abwehrmechanismen