Konzerne unter Beobachtung - Markus Mugglin - E-Book

Konzerne unter Beobachtung E-Book

Markus Mugglin

4,8

Beschreibung

Die Macht der Konzerne wächst – in der Schweiz und weltweit. Der Einfluss der Schweizer Multis wie Nestlé, Novartis, UBS, CS, Glencore und anderer kennt keine Grenzen. Ihr Tun entscheidet über das Schicksal von Millionen, über die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen aller Art, darüber, wer profitiert und wer nicht. Doch mit der Macht der global tätigen Konzerne ist auch die Kritik an ihnen gewachsen. Nichtregierungsorganisationen decken auf, wie Multis Menschenrechte missachten, die Umwelt schädigen, Arbeitskräfte ausbeuten, Profite in Steueroasen verstecken. Die Konzerne reagieren mit neuen Strategien. Was ändert sich wirklich? Ist »soziale Unternehmensverantwortung« mehr als nur Imagepflege? Das Buch analysiert, wie Konzerne unterschiedlich auf den Druck der Zivilgesellschaft reagieren, was sich in der Schweiz verändert hat und welche Rolle die Politik spielt. Es zieht eine Zwischenbilanz nach mehr als vierzig Jahren Auseinandersetzungen zwischen NGOs und Schweizer Konzernen. Und das Buch zeigt, dass die NGOs mit ihren Kampagnen einiges in Sachen Arbeitsbedingungen und Umweltschutz erreicht haben. Eine Erfolgsgeschichte.

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Markus Mugglin

Konzerne unter Beobachtung

Markus Mugglin

KonzerneunterBeobachtung

Was NGO-Kampagnen bewirken können

Rotpunktverlag

Für Ruth

Ivo, Leonie und Elias

Das Buch wurde von Pro Helvetia,

Schweizer Kulturstiftung gefördert.

Der Verlag bedankt sich hierfür.

© 2016 Rotpunktverlag, Zürich

ISBN 978-3-85869-722-6

1. Auflage 2016

Inhalt

Einstieg

Konfrontation und Kooperation

Nestlé

Kritik und auch Lob

»Am Vormittag Kollegen, am Nachmittag Protester«

Gespräch mit Peter Brabeck-Letmathe, Nestlé-Verwaltungsratspräsident

Novartis

Auf dem Weg zu weniger Profil

UBS und CS

Neuer Wein in alten Schläuchen?

Glencore

Selbst Mineure kommen aus der Deckung

Gold

Oft ohne Glanz

Fairtrade

Vom Lädeli in die Megastores

NGO-Szene

Globalisierungskritik global vernetzt

»Bringt der Dialog nichts, starten wir eine weltweite Kampagne«

Gespräch mit Danièle Gosteli Hauser, Amnesty International, Schweizer Sektion

Menschenrechte

Eine Frage der Freiwilligkeit?

Beobachtung und Druck

Schluss

Anhang

Die Beobachter

Anmerkungen

Liste der Kästen

Zum Beispiel Lindt & Sprüngli

Stärken und Schwächen des Shared-Value-Konzepts

Syngenta – die Ausgliederung einer politisch sensiblen Sparte

Die Banken lüften ihre Geheimnisse

Was versteht die UBS unter nachhaltig verwalteten Vermögen?

Die Thun Group

Die Äquator-Prinzipien

Extractive Industries Transparency Initiative

Globale Rohstoffdrehscheibe Schweiz

Gütesiegel für fairen Handel

Fairphone

Faires Beschaffungswesen

Ratings und Rankings nun auch von NGOs

Großes Bündnis für die »Konzernverantwortungsinitiative«

Lobbyismus für mehr Hilfe

Die »zehn Gebote« des Global Compact

Kurzzeitmitglied Triumph

Vielfältiger Instrumentenkasten für Unternehmensverantwortung

Einstieg

Konfrontation und Kooperation

Im März 2010 startete Greenpeace eine internationale Kampagne gegen Nestlé. Der Nahrungsmittelkonzern müsse auf Palmöl aus Urwaldzerstörung in Indonesien verzichten. Ein Video auf Youtube wurde aufgeschaltet; in Anspielung auf den Werbeslogan für den Schokoriegel KitKat, »Have a Break« (Mach mal Pause), hieß er »Give the Orang Utans a Break!« Mehrere Millionen sollen sich das Video angeschaut und Hunderttausende die Kampagne mit Aktionen, Protestmails und Nachrichten auf sozialen Medien unterstützt haben.

Die Aktion hatte großen Erfolg. Begünstigt durch die Reaktion des Konzerns, der den Rückzug des Videos mit Copyright-Argumenten durchsetzte. Damit war der Skandal perfekt. In den sozialen Medien folgte ein Shitstorm. Statt auf Youtube schaltete Greenpeace das Video auf der Internetplattform Vimeo auf.

Höchste Zeit für Nestlé, die Strategie zu ändern. Der Konzern suchte das Gespräch mit Greenpeace, stoppte die Käufe von Palmöl beim indonesischen Unternehmen Sinar Mas, beteiligte sich am runden Tisch für nachhaltiges Palmöl und startete die Zusammenarbeit mit Forest Trust, einem auf die Zertifizierung nachhaltigen Palmöls spezialisierten Unternehmen.

All das geschah in nur zwei Monaten. Für Robert Blood markieren sie die große Wende von Nestlé. Er ist Chef von SigWatch, einem Unternehmen, das die Kampagnen von weltweit 6000 Nichtregierungsorganisationen systematisch beobachtet und bewertet. Wird ein Unternehmen kritisiert oder findet es lobend Erwähnung in irgendeiner Aktion in Nordamerika, Europa, Lateinamerika oder im asiatisch-pazifischen Raum, verarbeitet Sig-Watch diese Informationen zu jährlich publizierten Rankings. Welche Unternehmen erhalten am meisten Lob und welche stehen am meisten in der Kritik der Nichtregierungsorganisationen? Für jedes Unternehmen werden die positiven und negativen Meldungen gegeneinander aufgerechnet. Bei den Top-Firmen überwiegen die positiven, bei den Flop-Firmen die negativen Meldungen.

Nestlé ist der große Aufsteiger der letzten zwei Jahre im Sig-Watch-Ranking. Bis 2010 sei das Ansehen des Nahrungsmittelmultis als »undiskutabel« abgetan worden, meinte Robert Blood rückblickend.1 Die nicht verstummenden Kontroversen um Babynahrung und die KitKat-Affäre hätten dem Ansehen geschadet. Doch das ist Vergangenheit. 2014 hätten die Nichtregierungsorganisationen keinem anderen Unternehmen der Welt so viel Lob gespendet wie Nestlé. 2015 wiederholte sich die Erfolgsstory. Im Ranking »Corporations that NGOs Loved and Hated«2 erhielt der Nahrungsmittelmulti erneut die Bestnote vor der britischen Ladenkette Marks & Spencer und – ebenfalls überraschend – McDonald’s auf dritter Position. Der Fast-Food-Gigant erhielt positive Feedbacks wegen höheren Löhnen in der Wertschöpfungskette, einem Engagement im Bereich Tierschutz, Maßnahmen gegen Antibiotika in der Nahrung und Kennzeichnungen zu angebotenen Speisen.

Nestlé erhielt Lob von Nichtregierungsorganisationen für die Bemühungen um Transparenz in der Lieferkette: Unter welchen Bedingungen werden die vom Konzern benötigten Rohstoffe Kakao, Kaffee oder Palmöl produziert? Auch die Engagements in den Bereichen Klimawandel und Wasser würden oft gewürdigt.

Das heißt allerdings nicht, dass es keine Kritik mehr an Nestlé gibt. Die Differenz zu früher liegt darin, dass im Falle des Nahrungsmittelkonzerns positive und negative Nachrichten fast ausgeglichen sind. Es gibt nach wie vor Kritik. Selbst Klagen vor Gerichten gibt es weiterhin. Anfang 2016 wurde in den USA eine Klage von ehemaligen Kinderarbeitern auf Kakaofeldern in der Elfenbeinküste zugelassen.

Nestlé ist ein Beispiel unter vielen global tätigen Unternehmen. Sie befassen sich mit »Corporate Social Responsibility«, Nachhaltigkeit, Wirtschaft und Menschenrechten. In den letzten Jahren wurden Dutzende von Standards für die Verantwortung der Unternehmen entwickelt, Hunderte von Industrie-Initiativen ergriffen, Tausende von Unternehmen haben spezifische Verhaltenskodizes mit sozialen und ökologischen Zielen verabschiedet. Dazu kommen die international vereinbarten Leitsätze: die vor vierzig Jahren verabschiedeten Grundsätze der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die ebenfalls in den 1970er-Jahren verabschiedete Tripartite-Erklärung der Internationalen Arbeitsorganisation über Prinzipien für multinationale Unternehmen, der 1999 am WEF in Davos lancierte UN Global Compact sowie die 2011 gutgeheißenen UNO-Leitsätze über Wirtschaft und Menschenrechte. Es gibt eine nicht mehr überschaubare Vielfalt an Vorgaben und Versprechen. Dazu kommt die beim UNO-Menschenrechtsrat lancierte Diskussion über eine verbindliche internationale Konvention zur Einhaltung der Menschenrechte durch multinationale Unternehmen.

Viele Unternehmen ergreifen soziale und ökologische Initiativen. Zum Beispiel viele Banken und andere Finanzinstitute. Nachhaltig angelegte Gelder nehmen seit Jahren zwei- oder gar dreistellig zu und wachsen allmählich aus einer kleinen Anlagenische heraus. Aufs ganze Bankengeschäft machen sie vorerst aber noch immer nur einen vergleichsweise geringen Teil aus.3

Selbst die heftig umstrittenen Rohstoffunternehmen von Glencore über Trafigura, Vale bis zu den Verarbeitern des Edelmetalls Gold bekennen sich in neu formulierten Verhaltenskodizes zu Menschenrechten. Das überrascht insofern nicht, als sie in den letzten Jahren ebenfalls Ziel von Kampagnen geworden sind. Der Schweizer Ableger des brasilianischen Bergbaukonzerns Vale wegen den Steueroptimierungspraktiken seiner Niederlassung in St-Prex, Trafigura wegen seiner engen Bande zu Personen im Umfeld der angolanischen Regierung, Glencore wegen des Verdachts der systematischen Steuervermeidung in Sambia und der Umweltschäden des Kohleabbaus in Kolumbien, Louis Dreyfuss wegen der Kinderarbeit im Baumwollanbau in Usbekistan.

Die Liste der Top-Unternehmen, wie sie jährlich die Handels­ zeitung zusammenstellt, erweist sich als eine Art Topliste der von Nichtregierungsorganisationen publik gemachten Skandalstories. Und weil sie alle ausgesprochen global tätig sind, machen sie nicht nur in der Schweiz von sich reden. Die Kampagnen und die dahinter stehenden Akteure sind selber globalisiert. Greenpeace, WWF, Amnesty International, OXFAM, Friends of the Earth agieren international und haben – spiegelbildlich zu den Großkonzernen – ihre nationalen Ableger mit zusätzlich nationalen Kampagnen. Aber auch kleinere, nationale Nichtregierungsorganisationen agieren international koordiniert in grenzüberschreitenden Allianzen: Die Clean Clothes Campaign für faire Bedingungen im Textilsektor, das Tax Justice Network gegen Steuervermeidungspraktiken, die um die niederländischen Spezialisten von »Banktrack« gruppierten Organisationen für Aktionen über die weltweit führenden Großbanken.

Auch in den Kommunikationsstrategien und -methoden stehen sie ihren Kontrahenten nicht nach. Sie schlagen die Unternehmen zuweilen mit deren eigenen Waffen.

Die Kampagnen der Nichtregierungsorganisationen richten sich am häufigsten gegen konsumnahe Industrien und Unternehmen des Finanzsektors. Weniger im Fokus stehen andere Industriebranchen und der Rohstoffsektor. Zumindest bisher war dem so. Mit dem Klimawandel scheint sich das zu ändern. Erste Anzeichen gab es im Umfeld des UNO-Klimagipfels von Paris von Ende 2015. Die Erdöl- und Kohlemultis rücken allmählich ins Zentrum der Kritik. Der gemessen am Börsenwert weltweit größte Erdölkonzern Exxon Mobil und der zweitgrößte US-amerikanische Erdölkonzern Chevron haben es an ihren Generalversammlungen im Frühjahr 2016 erfahren. Starke Minderheiten von knapp unter beziehungsweise knapp über 40 Prozent forderten Transparenz und Rechenschaft über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Geschäftsrisiken der beiden Konzerne.

Im Ranking von SigWatch gibt es schon Hinweise, dass die Rohstoffkonzerne vermehrt in den Fokus von Kampagnen rücken. Shell führte in den letzten zwei Jahren die Liste der am schärfsten kritisierten Unternehmen an. Mit Trans Canada, Exxon Mobil und BP schafften es drei weitere im Erdölgeschäft tätige Unternehmen unter die zehn, die 2015 am meisten in der Kritik standen. Auf den Rängen zwischen dem elften und dem 20. Rang folgten mit Enbridge (betreibt Rohöl- und Flüssigkeiten-Pipe-line-Systeme), Chevron und Total drei weitere Unternehmen aus diesem Sektor. Stark in der Kritik stehen regelmäßig auch der Gentech-Multi Monsanto und die Weltbank.

Dass sich die Kampagnen vor allem gegen die Großen richten, lässt sich einfach erklären, meinen die NGO-Beobachter von SigWatch. Denn mit Kampagnen gegen große und bekannte Marken lasse sich am meisten erreichen. Sie erregen medial mehr Aufsehen als Kampagnen gegen wenig bekannte Unternehmen. Gehen große Unternehmen auf Kritik ein und ändern ihre Geschäftspraktiken, kommt das mehr Menschen zugute, als wenn ein kleines Unternehmen seine Praktiken ändert. Ändern große Unternehmen ihr Verhalten, »färbt« es auch auf mittlere und kleinere Unternehmen der gleichen Branche »ab«. Umgekehrt ist das kaum der Fall.

Vieles bewegt und ändert sich. Unternehmen, vor allem große mit globaler Wirkung, haben ihre Verhaltenskodizes. Doch vollziehen sich die Änderungen genügend schnell, sind sie ernsthaft, reichen sie weit genug, wird das Kerngeschäft tangiert oder ist es so, wie SigWatch beobachtet, dass die Unternehmen jeweils nur korrigieren, was gerade in der Kritik steht? Geschieht also nur »Greenwashing«, »Bluewashing« oder Imagepolitur, wie Konzernkritiker angeblich gewieften Konzernchefs vorhalten?

Was hat sich verändert und wie stark? Wo stehen die Auseinandersetzungen zwischen den Konzernwelten und ihren Kritikern? Wie unterschiedlich wurden Veränderungen vollzogen – bei Nestlé, Novartis, den beiden Großbanken UBS und CS, bei Glencore, bei den Goldraffinerien, im Detailhandel? Wie beurteilt Nestlé-Verwaltungsratspräsident Peter Brabeck-Letmathe die Veränderungen in den Beziehungen zwischen Konzernen und Zivilgesellschaft? Was hat sich aus Sicht von Danièle Gosteli Hauser von der Schweizer Sektion der Menschenrechtsorganisation Amnesty International getan?

Auch die Veränderungen in der NGO-Szene werden beleuchtet: Wie sich die globalisierungskritischen Bewegungen selber globalisieren, welche Strategien sie verfolgen, welche Erfolge sie erzielen. Schließlich die Politik der Schweiz: Strebt sie bezüglich Menschenrechten und Wirtschaft, Corporate Social Responsibility nach ganz oben, wie im jährlich publizierten Ranking des World Economic Forum (WEF) zur Wettbewerbsfähigkeit oder in internationalen Vergleichen über die Innovationskraft der Länder? Oder gibt sich die Schweiz damit zufrieden, möglichst unauffällig »hinterherzutraben«? Geht es nach der Methode des Nachvollzugs, also zuwarten, bis andere Länder vorangehen, um sie dann zu kopieren, wenn es nicht mehr anders geht? Oder versucht die Schweiz bewusst weniger zu tun als andere, weil Regulierungen angeblich der Wettbewerbskraft des Landes Schaden zufügen?

Die Schweiz und ihre Unternehmen sind Global Player par excellence. Sie erwirtschaften den weitaus größten Teil ihrer Umsätze im Ausland. Die Rohstoffhändler sowieso. Ihre Ware erreicht gar nie Schweizer Boden. Auch die traditionellen Schweizer Multis von Nestlé über Novartis bis Roche, ABB oder Holcim sind mehr international als national präsent. Deren Produktionsstätten und Arbeitsplätze befinden sich zum größten Teil im Ausland.

Die Schweizer Wirtschaft und ihre größten Unternehmen sind seit langem international ausgerichtet. Sie haben sich aber in den letzten Jahrzehnten noch viel stärker globalisiert. Der Kapitalbestand schweizerischer Direktinvestitionen im Ausland hat sich seit 1990 weit mehr als nur verzehnfacht. Damals betrug er 85 Milliarden Franken. 2014 stieg er auf mehr als 1000 Milliarden und übertrifft damit bei weitem das jährlich in der Schweiz erwirtschaftete Bruttonationalprodukt. Die Expansion im Ausland drückt sich auch in den Beschäftigtenzahlen aus. In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre zählten Schweizer Niederlassungen im Ausland 1,3 Millionen Beschäftigte. 2014 waren es fast zwei Millionen. Viele Schweizer Unternehmen gehören auch zu den Großen ihrer Branchen. Nestlé übertrifft alle anderen Nahrungsmittelunternehmen. Novartis und Roche gehören im Pharmasektor zur Spitzengruppe, Syngenta im Agrarsektor, Holcim nach dem Zusammengehen mit Lafarge sowieso und auch die Rohstoffhändler – sei es im Geschäft mit Öl oder mit verschiedenen Mineralien und Metallen oder auch mit Agrarprodukten. Die Schweiz ist die globale Drehscheibe im Handel vieler Rohstoffe.

Es ist deshalb geradezu selbstverständlich: Schweizer Konzerne stehen unter scharfer Beobachtung der Zivilgesellschaft. In der Schweiz, aber auch in vielen anderen Ländern. Wie reagieren sie darauf? Verändern sie sich? Und falls ja, warum? Wie haben sich die Auseinandersetzungen zwischen NGOs und Großkonzernen verändert und mit welcher Wirkung? Darauf will das Buch Antworten geben.

Nestlé

Kritik und auch Lob

Nestlé sei »ein wahrer Champion«. Solche Aussagen kommen für den Nahrungsmittelkonzern nicht überraschend, ist er doch weltweit Spitze. Kein Branchenkonkurrent kann ihn übertrumpfen, gemessen am weltweit erzielten Umsatz. Und dennoch dürfte das im Sommer 2014 geäußerte Lob selbst die Nestlé-Chefs überrascht haben. Denn ausgesprochen hat es nicht ein Finanzanalyst oder professioneller Marktbeobachter. Die Kampagnenmanagerin der Entwicklungsorganisation Oxfam, Monique van Zijl, stellte dem ansonsten oft kritisierten Multi das höchste Lob aus.1 Die Vertreterin einer Organisation, die multinationale Konzerne regelmäßig ins Visier nimmt, immer gut dokumentiert ist und erschreckende Geschäftspraktiken der Mächtigen bloßstellt. In Deutschland beispielsweise zählt Oxfam zu den vehementesten Kritikern der Nahrungsmittelspekulanten.

Und nun dieses Lob. Nestlé sei ein wahrer Champion für die Landrechte der Kleinbauern, habe er doch Nulltoleranz gegenüber Landraub verkündet. Auch im regelmäßig von Oxfam publizierten Report »Behind the Brands« holt sich Nestlé nach dem niederländisch-britischen Konzern Unilever die besten Noten unter den weltweit zehn größten Nahrungsmittel- und Getränkekonzernen. Die beiden schneiden bezüglich Ernährungssicherheit und Nachhaltigkeit deutlich besser ab als die nächstplatzierten Coca Cola, Kellogg’s, Mars und Pepsico. Nestlé erhält vor allem in den Bereichen Klimawandel und Respektierung von Landrechten Bestnoten.2

Doch nicht nur NGOs machen plötzlich durch ungewohnt wohlwollende Urteile von sich reden. Auch in umgekehrter Richtung sind überraschende Töne zu vernehmen. Der oberste Nestlé-Mann höchstpersönlich, Peter Brabeck-Letmathe, gab sich ausgerechnet gegenüber dem vielleicht schärfsten und bekanntesten Multi-Kritiker, Jean Ziegler, außergewöhnlich konziliant: Er bekannte sich in einer Fernsehdebatte zu achtzig Prozent einig mit den Positionen und Analysen, wie sie der umstrittene Soziologe in seinem Bestseller Wir lassen sie verhungern ausgebreitet hat.3 Gutheißen könne er natürlich nicht die Kraftausdrücke wie Gauner und Halunken, mit denen Ziegler seine Kontrahenten zu beschimpfen pflegt. Aber auch er geisselt die Produktion von Lebensmitteln, die statt Menschen zu ernähren als sogenannter Biosprit die Fahrzeugmotoren antreiben. Auch die Spekulation mit Nahrungsmitteln kritisierte Brabeck-Letmathe bei seinem gemeinsamen Auftritt mit Ziegler, wodurch das Rauf und Runter auf den Märkten verstärkt werde. Auch zu dieser Kritik meinte der Nestlé-Chef: »Das ist vollkommen richtig.«4

Werden da neuerdings gemeinsam Friedenspfeifen geraucht? Sind die alten Zeiten der Konfrontation Vergangenheit, als die Berner Arbeitsgruppe Dritte Welt den Nahrungsmittelriesen mit der Publikation Nestlé tötet Babies krimineller Taten beschuldigte und die Erklärung von Bern kurz danach die Multis der Unterwanderung des UNO-Systems bezichtigten? Oder der Multi-Schreck Jean Ziegler Peter Brabeck-Letmathe zu den gefürchtetsten »Kosmokraten« gezählt hat: Er »bekämpft gnadenlos jede Gewerkschaft [...], erobert Märkte mit der Brutalität eines Dschingis Khan und hält in Vevey einen Hofstaat von unterwürfigen Schranzen.«5

Um es vorwegzunehmen, nein, es herrscht nicht »Friede, Freude, Eierkuchen« zwischen den Kontrahenten. Es gibt weiterhin Gegensätze und Auseinandersetzungen, Polemiken, Anschuldigungen und auch gegenseitiges Misstrauen. Aber der Fall Nestlé ist exemplarisch für eine neue Qualität des Streits. Zu ihm gehören Konfrontation und Anklagen ebenso wie Dialog. Gleichzeitig und auch abwechselnd prägen sie das Verhältnis zwischen Konzernen und ihren Kritikern. Oder wie es Peter Brabeck-Letmathe ausdrückt: Am Vormittag sind sie als Kollegen bei uns im Büro, am Nachmittag sind sie draußen als Protester (vgl. Interview mit Peter Brabeck-Letmathe, Seite 37).

Bittersüße Kakaobohnen – USA machen Druck

Die Auseinandersetzungen um Schokolade und Kinderarbeit auf den Kakaoplantagen scheinen geradezu exemplarisch für die vielfältigsten Formen von Kritik, Sanktionsdrohungen, Gerichtsklagen, Versprechen, schönen Plänen und wirklichen Veränderungen.

Es begann 2001 mit dem »Harkin-Engel-Protokoll«. Harkin steht für einen US-amerikanischen Senator mit dem Vornamen Tom und Engel für das damalige Kongressmitglied Elliott Engel. Sie reagierten empört auf Berichte des State Department, von Zeitungen und eine BBC-Reportage, welche die sklavenähnlichen Bedingungen und Kinderarbeit in den westafrikanischen Staaten Elfenbeinküste und Ghana anprangerten. Rund 15 000 Kinder mussten unter Bedingungen von Zwangsarbeit Kakaobohnen pflücken, sehr viele unter ihnen von Menschenhändlern in den umliegenden Ländern Mali und Burkina Faso rekrutiert.

Für die beiden Politiker Harkin und Engel ein klarer Verstoß gegen ein Gesetz von 1930 mit dem Namen Smoot-Hawley Tariff Act. Es verpflichtet die Zollverwaltung dazu, die Einfuhr von unter Zwangsarbeit produzierten Gütern nicht zuzulassen. Harkin und Engel forderten nun ein Soziallabel für alle Importe. Es sollte den Konsumenten garantieren, dass in den USA nur Kakaoprodukte frei von Kinderarbeit verkauft werden.

Das Vorhaben schreckte die Schokoladekonzerne auf. Sie fürchteten um den Verlust des US-Marktes im Wert von 13 Milliarden Dollar. Das war zwar nicht das Ziel der US-Parlamentarier. Denn sie fürchteten, dass eine Kakaoblockade am meisten den sieben Millionen Kakaobauern und -arbeitern in der Elfenbeinküste schadeten, noch viel mehr als den zum Pflücken der Kakaobohnen gezwungenen Kindern, die nur ein Prozent der im Kakaoanbau Beschäftigten ausmachten.

Die Schokoladeindustrie wollte unbedingt ein Gesetz verhindern. Sie zeigte sich deshalb bereit, über eine andere Lösung zu verhandeln. Nach hartem Feilschen einigten sich die Chocolate Manufacturers Association und die World Cocoa Foundation auf ein Kakao-Protokoll. Damit verpflichteten sich praktisch alle großen Schokoladekonzerne und die Regierungen der Elfenbeinküste und Ghana als die weltweit wichtigsten Produzentenländer darauf, Kinderarbeit in der Kakaoproduktion nicht mehr zuzulassen. Das Protokoll wurde zudem auch von den US-Politikern Harkin und Engel sowie Gewerkschaften und mehreren Nichtregierungsorganisationen mitunterzeichnet. Bis am 1. Juli 2005 sollte ein öffentliches Zertifizierungssystem garantieren, dass Kakaobohnen und daraus hergestellte Produkte ohne die schlimmsten Formen von Kinderarbeit bereitgestellt werden.

Das Versprechen tönte gut. Doch die Realität sah anders aus. Bis 2005 änderte sich praktisch nichts. Eine BBC-Reportage über die Lage auf den Kakaoplantagen in der Elfenbeinküste bilanzierte: »Niemand kümmert sich um die Umsetzung der im Rahmen des Kakao-Protokolls versprochenen Maßnahmen.« Auch die im Jahre 2002 eigens in Genf gegründete International Cocoa Initiative änderte nichts daran. Da hatten sich mehrere Konzerne wie Nestlé mit Gewerkschaften, Konsumenten- und mehreren Menschenrechtsorganisationen zusammengetan mit dem Ziel, verantwortungsvolle Arbeitsstandards im Kakaosektor zu fördern. Außer Pilotprojekten in Ghana und in der Elfenbeinküste konnte diese Initiative im Zieljahr 2005 nur wenig vorweisen. Die Konzerne mussten eingestehen, dass das Ziel »nicht vollständig erreicht« worden sei.

Die Reaktion blieb nicht aus. Einige NGOs wollten das Protokoll aufgeben. Die Menschenrechtsorganisation Global Exchange reichte zusammen mit drei Personen aus Mali in Kalifornien Klage gegen Nestlé, ADM und Cargill ein und erhöhte so den Druck. Sie warfen den drei Konzernen vor, sie hätten es versäumt, Folter, Zwangsarbeit und willkürliche Festnahmen zu verhindern, die die drei als Kindersklaven erlitten hatten; ja, die Konzerne hätten sich sogar der Beihilfe oder Begünstigung schuldig gemacht. Auch hätten sie Profit gezogen aus der Arbeit von Kindern und damit gegen internationale Konventionen der Arbeit und internationales Recht verstoßen. Nestlé wies die Klage zwar sofort als unbegründet zurück. Doch das änderte nichts daran, dass sich der Druck auf die Multis verstärkte.

Andere NGOs forderten ein Sozial-Label auf Kakaoimporten und den Importstopp für Kakaoprodukte, bei denen nicht belegt werden könne, dass sie unter fairen Bedingungen hergestellt wurden. Wieder andere gestanden der Schokoladeindustrie eine zusätzliche Frist für die Zertifizierung der Produkte zu.

Die Fristverlängerung wurde vorerst auf 2008 angesetzt. Die Industrie versprach, bis dann zu 50 Prozent eine Kakaoproduktion ohne Kinderarbeit zu erzielen. Aber auch dieses Ziel wurde verfehlt. Die Industrie versprach dann für Ende 2010 ein voll ausgebautes Zertifizierungssystem für Kakao aus der Elfenbeinküste und Ghana. Aber auch bis dann tat sich nur wenig. Es folgte wieder ein neues Abkommen. Seither wird nicht mehr eine totale Zertifizierung von Kakao ohne jegliche Kinderarbeit versprochen, sondern nur eine Reduktion der schlimmsten Formen von Kinderarbeit um 70 Prozent bis im Jahr 2020. Damit verknüpft wurde ein Aktionsplan. Er verlangt größere Transparenz darüber, wie sich die Unternehmen finanziell engagieren. Sie müssen über ihre Ziele und Ergebnisse Auskunft geben und sich der Diskussion mit den Mitunterzeichnern des neuen Abkommens stellen – also auch mit den Kritikern aus der Zivilgesellschaft.

Das setzte einiges in Gang – vorerst verbal. Kinderarbeit wurde als gravierendes Problem anerkannt. Projekte wurden gestartet, wie der Bau von Schulen. Denn die meisten Kinderarbeiter schufteten nicht nur unter schwersten Bedingungen, sie hatten auch keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen – selbst wenn es in der näheren Umgebung eine gegeben hätte.

Doch noch immer änderte sich kaum etwas auf den Plantagen. Der dänische Dokumentarfilmer Miki Mistrati bezeugte es in einem ersten Film 2010. Und sein zweiter Film Schmutzige Schokolade zwei Jahre später deckte erneut eine große Kluft zwischen Worten und Taten auf.6

Doch etwas hatte sich geändert. Der Filmemacher Mistrati war selber am meisten überrascht. Nestlé zeigte sich plötzlich gesprächsbereit – was der Konzern bisher nicht war. Und noch überraschender war die Art der Gesprächsbereitschaft. Nestlé beschönigte nichts. Ihr für Operationelles zuständiger Generaldirektor José Lopez gestand vor laufender Kamera: »Was Sie mir gezeigt haben, ist die Realität. Es ist nicht, wie es sein sollte und nicht, was wir uns vorstellen. Es ist eine Lektion, die wir aus dieser Sache mitnehmen müssen.« Der Nestlé-Spitzenmann Lopez spendete dem Filmemacher sogar Dank: »Sie werfen Licht auf diese Dinge, schaffen ein Bewusstsein und das stellt sicher, dass keiner vergisst.« Dies leiste einen Beitrag in die richtige Richtung.

Ein ganz neuer Umgang mit der Kritik, obschon sie radikaler gar nicht hätte sein können.

Nick Weatherill von der in Genf domizilierten International Cocoa Initiative, die im Auftrag von Nestlé und anderen Schokoladenkonzernen Projekte in der Elfenbeinküste durchführt, gab sich ebenso selbstkritisch: »Es ist gut, dass die Verbraucher besorgt sind. Es ist wichtig, dass sie das Problem verstehen und nicht die Erwartung haben, dass wir eine Garantie geben können, dass so etwas nicht mehr passiert.«

Waren die Eingeständnisse mehr als nur Taktik? Hatte man eingesehen, dass das Leugnen der Wirklichkeit nichts bringt? Nestlé hätte auch jetzt in der hergebrachten Weise reagieren können, so wie die anderen vom Filmemacher angefragten und angeprangerten Konzerne Cargill oder Mars, die noch immer schwiegen.

Hatte Nestlé einen Kurswechsel vollzogen? Es gibt Hinweise, die dafür sprechen. Und nicht nur den Hinweis der Gesprächsbereitschaft, an der es vorher gefehlt hatte. Nestlé sucht neue Kontakte und Wege bei der Bekämpfung der Kinderarbeit auf den Kakaofeldern.

»Kakao-Aktionsplan« ab 2009

Ausgangspunkt war der sogenannte Kakao-Aktionsplan (Cocoa Plan), den Nestlé im Herbst 2009 lanciert hat, ein Projekt, das mit 460 Millionen Franken für zehn Jahre ausgerüstet war. Ein Jahr später folgte die Ankündigung, der Fair Labor Association (FLA) beizutreten, die sich dem hohen Anspruch »Improving Workers’ Lives Worldwide« verschrieben hat. Die 1999 gegründete Organisation hat ihren Hauptsitz in Washington, unterhält Zweigbüros in Genf und Shanghai und beschäftigt rund fünfzig Personen. Die FLA will gemeinsam mit Unternehmen, Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen die Bedingungen für Arbeitskräfte rund um die Welt verbessern.

Nestlé war der erste Nahrungsmittelkonzern, der die Zusammenarbeit mit FLA gesucht hat. Aus anderen Branchen macht eine Vielzahl global bekannter Unternehmen mit. Dazu gehören etwa Apple, Adidas, Nike, Puma, H & M oder aus der Schweiz Syngenta.

Um dabei zu sein, muss sich ein Konzern zu einer Reihe von Grundsätzen bekennen, die FLA im sogenannten »Workplace Code of Conduct« festhält. Diese stützen sich auf die international anerkannten Standards der ILO (Internationale Arbeitsorganisation). Aufgelistet sind faire Entlöhnung, Verbot von Kinderund Zwangsarbeit, Vereinigungsfreiheit und das Recht auf kollektive Verhandlungen, Diskriminierungsverbot betreffend Rasse, Religion, Gender und anderes. Doch Bekenntnisse allein reichen nicht. Die FLA überprüft regelmäßig, ob die Unternehmen sich daran halten.

Mit dem Beitritt zur FLA versprach der damalige Generaldirektor für Operationelles, José Lopez, auch gleich, dass »Kinderarbeit in der Wertschöpfungskette von Nestlé keinen Platz« habe.

Die FLA schickt regelmäßig ihre Kontrolleure unangemeldet an Produktionsstandorte. Im Falle von Nestlé erstmals 2012 und ein Jahr später erneut. Beide Male in der Elfenbeinküste, dem weltweit größten Kakaoproduzenten.

Auf den ersten FLA-Bericht gab der Nestlé-Führungsmann José Lopez offen zu, dass kein Unternehmen, das Kakao aus der Elfenbeinküste beziehe, eine Garantie geben könne, dass es keine Kinderarbeit gebe. Aber für Nestlé habe die Bekämpfung von Kinderarbeit oberste Priorität.

Die FLA hat in den Jahren 2014 und 2015 erneut Berichte über die Kakao-Wertschöpfungskette von Nestlé im westafrikanischen Land publiziert, nachdem seine Kontrolleure 200 beziehungsweise 260 Farmen ohne Voranmeldung besucht und überprüft hatten.

Kontrolliert wurden Farmen, die Teil des »Nestlé Cocoa Plan« sind. 2013 wurden davon rund 20 Prozent des vom Konzern aufgekauften Kakaos erfasst. Ein Jahr später rund 25 Prozent.

Die Kontrolleure haben eine längere Mängelliste präsentiert. Sie fanden Kinderarbeit vor, ungenügende Gesundheitseinrichtungen, sie kritisierten, dass praktisch keine Frauen in den Führungsgremien der Kooperativen vertreten sind. Und: Auch wenn die Bauern den Code of Conduct kannten, so hat Nestlé kaum Trainings für die Umsetzung der Grundsätze durchgeführt.

Nestlé reagierte auf den Bericht mit einer Reihe von Verbesserungen und Korrekturen. Der Konzern werde sein System zur Überwachung und die Verhinderung von Kinderarbeit erweitern und verbessern. Der Konzern versprach die Durchführung von Trainings und eine Reihe konkreter Maßnahmen bei der Gesundheitsversorgung, der Frauenförderung und gegen Diskriminierungen.

Die Differenz zwischen heute und früher ist offensichtlich. In den ersten Jahren nach 2000 gab Nestlé praktisch nur Versprechen ab, tat so als ob, bis die Kritik erneut und umso radikaler vorgetragen wurde. Inzwischen gibt es mehr als nur Versprechen. Es gibt Aktionspläne und Konzepte, es gibt unabhängige Kontrollen, das Aufdecken von Mängeln und Maßnahmen, um die festgestellten Mängel zu beheben. Und Verwaltungsratspräsident Brabeck verspricht: »Nestlé duldet keine Kinderarbeit.« (vgl. Interview, Seite 37)

So räumt Nestlé im Report »Nestlé in society, Creating Shared Value and meeting our commitments 2014« ein, dass bei 13 Prozent der in der Elfenbeinküste kontrollierten Kinder von Kinderarbeit gesprochen werden müsse. Auch habe sich gezeigt, dass nur 59 Prozent der Kinder auf den kontrollierten Kakaogenossenschaften eine Schule besuchten.7

Trotz der Fortschritte gibt es also weiterhin Kinderarbeit auf Kakaoplantagen, »mehr als eine Dekade nachdem das Nahrungsmittelunternehmen versprochen hatte, keine Kinderarbeit mehr in seiner Wertschöpfungskette zu dulden«. Das stellte im September 2015 die auf Konsumentenschutz spezialisierte Anwaltskanzlei Hagens Berman fest und reichte deshalb im kalifornischen Bundesstaat eine Sammelklage gegen Nestlé und andere Schokoladehersteller ein.8 Anfangs 2016 hat zudem der US Supreme Court ein von Klägern aus Mali beantragtes Verfahren zugelassen, das sich mit der Verantwortung von Nestlé und anderen Agrarmultis für die Kinderarbeit auf Kakaofarmen befassen wird.

Der Druck hält also an. Nestlé (und auch die anderen Schokoladehersteller) kommen nicht zur Ruhe. Sie haben einen Anfang geschafft. Das Ziel, bis 2020 zu garantieren, dass beim allergrößten Teil des Kakaos keine Kinder unter fünfzehn Jahren Schwerarbeit unter miserablen Bedingungen leisten müssen, erfordert aber noch große Anstrengungen.

Zertifizierte Schokolade

Ergänzend zu den Kontrollen auf den Kakaofarmen lässt Nestlé seine Schokoladen vermehrt zertifizieren. Der Konzern setzt aber – mit Ausnahme von Nescafé auf dem britischen Markt – nicht auf das Fairtrade-Label Max Havelaar. Fairtrade sei ein Nischenprodukt, Nestlé sei aber »an Nischenprodukten nicht so wahnsinnig interessiert«, hatte mir 2005 der damalige Kommunikationschef François-Xavier Perroud in einem Interview gesagt.9 Stattdessen arbeitet man mit anderen Zertifizierungsunternehmen zusammen. So findet sich auf Schokoladen der Vermerk »UTZ Certified«. Für den »Nescafé-Plan« wird mit dem »Rainforest Alliance-Label« zusammengearbeitet.

»UTZ Certified« ist der größte unter den drei weltweit bekanntesten Zertifizierern. Die Fairtrade Labelling Organizations International (FLO) und die Rainforest Alliance sind die anderen beiden. UTZ Certified setzt im Unterschied zum Fairtrade-Logo keine Mindestverkaufspreise fest. Er ist folglich stärker marktwirtschaftlich orientiert.

Alle drei Zertifizierer weisen stark steigende Umsätze aus. Bei der Schokolade zeigt sich das deutlich. 2009 machte der Anteil zertifizierter Schokolade nur zwei Prozent aus. Bis 2015 hat er sich auf fast 16 Prozent vervielfacht.10 Jede sechste in der Welt verkaufte Schokolade wird also unter Beachtung sozialer und ökologischer Mindeststandards hergestellt.

Die meisten großen und zugleich prominentesten Schokoladeunternehmen wie Mars, Ferrero, Hershey’s und Lindt & Sprüngli haben versprochen, ab 2020 nur noch zertifizierte Schokolade zu verkaufen. Nestlé will sich noch nicht darauf festlegen (wie auch der weltweit drittgrößte Lebensmittelkonzern Mondelez, zu dem unter anderem auch Kraft Foods gehört). Das Jahr 2020 ist weder zufällig noch freiwillig gewählt. Denn dann wird die Fristerstreckung enden, die den Unternehmen in den Auseinandersetzungen rund um das US-Harkin-Engel-Protokoll gewährt wurde.

Wie sich die Zertifizierung von Kakaoprodukten weiter entwickelt, darüber wacht eine Koalition von einem knappen Dutzend Nichtregierungsorganisationen aus mehreren Ländern, darunter aus der Schweiz die Erklärung von Bern (Public Eye). Sie unterziehen die Geschäftspraktiken einer genauen und kritischen Überprüfung und informieren seit 2009 darüber im jährlich erscheinenden »Cocoa Barometer«. Von Jahr zu Jahr stellte das »Barometer« Fortschritte fest. Doch zugleich machte es auch klar, dass es bis zum Ziel einer transparenten und kontrollierten Wertschöpfungskette noch ein weiter Weg ist.