Kopflos - Ariana Harwicz - E-Book

Kopflos E-Book

Ariana Harwicz

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Beschreibung

Stürmisch und jenseits aller Konventionen erzählt Ariana Harwicz von einer Leidenschaft, die sich selbst verzehrt. "kopflos" ist die Geschichte einer Entführung – ein Roman, wie man ihn über Mutterschaft noch nie gelesen hat, sprachlich sensationell, emotional kaum zu fassen.

Menschen glauben zu wissen, wozu sie fähig sind. Sie denken, dass sie unter keinen Umständen ihre Eltern umbringen oder einem Kind etwas antun könnten. Sie denken, sie wären nicht fähig, ein Verbrechen zu begehen, bis sie es tun.
Ein Supermarkt in Frankreich. Lisa hofft, einen Blick auf ihre fünfjährigen Zwillinge werfen zu können, die mit ihrem Vater einkaufen sind. In einem Sorgerechtsprozess hat sie das Umgangsrecht mit den Söhnen verloren und darf sich dem Haus der Familie nicht mehr nähern. Ihre Kinder sieht sie nur noch einmal im Monat unter Aufsicht. Der Schmerz, das Heranwachsen ihrer Söhne nicht mehr Tag für Tag mitzubekommen, ist so überbordend wie ihre Emotionen. Ihre Pflichtverteidigerin verzweifelt an Lisa, die sich selbst zur größten Gefahr wird, während sie das Leben ihrer eigenen Familie observiert. Doch das Beobachten, das immer mehr zur Obsession wird, reicht irgendwann nicht mehr aus ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Ariana Harwicz

KOPFLOS

Roman

Aus dem argentinischen Spanisch von Silke Kleemann

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Zum Buch

Vita

Impressum

Widmung

Für Sofía Troszynski Delphine Jubillar Alexia Daval Fouillot Vanina Fonseca

Für Lisa, weil sie mitten in einem Sonnenblumenfeld meinen Notruf entgegengenommen hat

SERIENMÖRDER WURDEN GEFRAGT, was sie beim ersten Mal empfunden haben, ob es sich unheimlich angefühlt hat zu töten. Ehrlich gesagt, nicht so sehr, lautete die Antwort. Davon kann man sich in den Überwachungskameras von Restaurants überzeugen, die zeigen, wo die Mörder Mittag essen, kurz bevor sie sich auf die Gleise werfen, oder kurz nachdem sie ein Kind getötet und es unter ein Hotelbett gestopft haben. Die Kellner sagen übereinstimmend, dass Mörder Appetit hätten, locker und herzlich wirkten. Zu 99 Prozent sind wir normal, sagen die Elternmörder. Nur ein Prozent macht den Unterschied, nur das trennt uns von den Verbrechern. Ein schmaler Grat zwischen Davor und Danach, so gut wie nichts. Solche Auswüchse, die nirgends hinführen und nur Zeit fressen, beherrschen meine Gedanken, während ich Erdbeerkaugummi kaue. Eins nach dem anderen, ich löchere meine Zähne, mache Blasen, es sind die, die die beiden gern mögen, ich kaufe sie weiter packenweise, ganz vorn, bei der Supermarktkasse. Zuckerfrei, wie J sie mag, mit flüssiger Erdbeerfüllung, wie E sie mag. Ich bleibe, bis der Supermarkt schließt, am Wochenende gibt es weniger Möglichkeiten, und ich lungere an anderen Orten herum, wo ich ihnen begegnen könnte. Zwei Mal hab ich sie im Gang mit dem Alkohol gesehen, Likör auf Wodkabasis, Aromatisches mit Rum, Aperitifs, verdauungsfördernder Pastis, Prosecco, Cava, halbtrockener Sekt, er lud den Einkaufswagen voll, Schaumweine, Cidre, Cocktails, und die Jungs halfen ihm diszipliniert, stellten sich hintereinander auf, der Vater reichte die Flaschen dem einen und der an den anderen weiter. Wie im Krieg, die freiwilligen Helfer reichen den Soldaten das Lebensnotwendigste, später wird alles in dem in die Erde eingelassenen Pool enden, den sie bei der Steuer nicht angegeben haben. Scheinbar wird es ein großes Fest, sicher mit Paaren und Freunden aus der Gegend, mit anderen Kindern in ihrem Alter, sicher bleiben alle zum Übernachten in den Kojenbetten, in der Mansarde und im Dachgeschoss, die Erwachsenen mit Drinks in den Händen lässig auf den beiden weitläufigen Etagen des Hauses verteilt. Einige der Gäste werden später ihre Weinstöcke verkaufen, werden in den Strudel der immer schneller wachsenden Steuerschulden geraten und sich eines Nachts in den frühen Morgenstunden vom Viaduc de Saint-Satur stürzen. Ich laufe durch die Gänge, weiß schon, wo die Überwachungskameras sind, dann verbringe ich lange Zeit im Herrenklo versteckt, für den Fall, dass einer von ihnen schnell Pipi muss, schon ein Tröpfchen in der Unterhose. Immer dasselbe, sie müssen Pipi nach dem Ganztagsschultag, auch wenn sie normalerweise lieber gegen die Vintage-Motorräder pinkeln, die die Fanatiker aus der Gegend draußen parken. Ich gehe in die Spielzeugabteilung, früher konnte ich einen batteriebetriebenen Roboter für sie klauen, einen zahlen und den anderen unter dem T-Shirt oder in den Shorts verstecken, das brachte sie so richtig zum Lachen, wenn ich den Roboter im Auto rauszog, explodierten wir alle vor Magie. Hier hat Mama noch einen gefunden, Überraschung, er kommt aus den Shorts, aus der Unterhose, wie das Kaninchen aus dem Zylinderhut. Zwei Mal bin ich ihnen nach dem Urteil begegnet, ich kann nicht sicher sagen, ob sie mich gegrüßt haben, ich glaube schon, der eine mit der Hand, der andere mit einem Lächeln, ich mit Hand und Lächeln. Raus laufe ich durch die Regale mit Steckern, Verlängerungs- und Stromkabeln, mir wird alles hochkommen, so viel steht schon fest, das totale Begehren und die theatralische, delirante Freude verursachen Übelkeit. Gekrümmt haste ich auf den Parkplatz, um dort ordentlich zu würgen, der Würgereiz wird größer und größer, mein Pelikanschnabel bis zum Anschlag aufgerissen. Da sehe ich die drei mit randvoll gefülltem Einkaufswagen rauskommen und aus der Entfernung das neue Auto aufschließen, was für eine Marke ist das, ich hab noch nie was von Automarken verstanden, ein Audi, ein Clio, ein Cabrio, ein Armeelaster, jedenfalls ist es brandneu. Die beiden helfen dem Papa, alles in den Kofferraum zu laden, Flaschen und Fertigdesserts mit Schlagsahne. Ich will wieder rein, aber der Supermarkt schließt. Bitte, bitte, ich hüpfe wie ein Kind, tanze ein Latino-Tänzchen vor dem Rollladen, und sie lassen mich reinstürmen, durchgeschwitzt, ein lächerlicher Anblick. Ich kaufe Bockwürste, Chips mit Senf-, Essig- und Bacongeschmack, Tiefkühlware, Packungen thailändischen Reis und stecke alles in meinen Hoodie, danke, danke, sehr freundlich von Ihnen. Ich glaube, sie glotzen mich voll Ekel an, würden mich nicht mal anrühren, wenn ich mich herschenken würde in der Werkstatt vom Gebrauchtwarenhändler. Rechnen Sie nicht mit mir, ich werde mich nicht herschenken, man kann nie im Voraus wissen, zu was jemand werden kann.

IM URTEIL IST MEINE SOZIALWOHNUNG ZU SCHMAL, ein schlauchartiger Gang mit nur wenigen Öffnungen, um die Wärme zu halten. Im Urteil ist meine Wohnung heruntergekommen, ungeeignet, um die Brüder zu empfangen, ich darf sie nur einmal im Monat sehen an einem überwachten Ort, weniger oft als die Familien von Terroristen ihre Angehörigen. Ein neutraler Ort, von dem aus ich während des Treffens den Vater eine Zigarette nach der anderen rauchen sehen kann. Der Rauch, den der Vater ausstößt, bringt mich manchmal raus aus dem Gespräch und aus den Spielen, die wir spielen müssen. Paff, paff, paff, er macht Wolken und bläst Botschaften in die Luft, irgendwas will er mir sagen mit diesen Rauchschwaden, er lenkt mich ab, das hab ich gesagt, aber ich glaube, die Sozialarbeiterin im Saal fand das nicht so gut, sie schrieb etwas in den Bericht, und ich bestand nicht weiter darauf.

In den ersten Monaten bin ich in meinen Klamotten für zu Hause zu den Treffen gegangen, wie es meine Art ist, wer hat schon Lust, was Goldenes anzuziehen, was mit Stickbesatz oder ein rosa Sweatshirt mit Applikationen. Vom Aufstehen an wartete ich mit einem Kaffee an der Loire, dass es 15:30 Uhr wurde, und lief zu Fuß ins Zentrum. Das ganze ausgestorbene Saint-Satur hindurch spähte ich in jedes Haus, die meisten waren verlassen, ich sah das gotische Ambiente der verschlossenen, erstickenden Salons, die vom Feuer geschwärzten Kuppeln, die langen Holzbänke unter den Bäumen, wo die früheren Bewohner irgendwann einmal bis zum Umfallen getrunken hatten. Manchmal, wenn ich zu viel Zeit hatte, löste ich die Ketten oder sprang über ein Gitter und schlich mich in diese Bruchbuden, die vor zweihundert Jahren mal luxuriös und herrschaftlich gewesen waren und heute von Trinkern und Abhängigen genutzt werden, nächtlichen Horden auf der Suche nach dem nächsten Schuss.

Als der Staat mir endlich eine Pflichtverteidigerin zuteilte, musterte die mich von Kopf bis Fuß und sagte: Madame, es gibt Dresscodes, die man respektieren muss, wenn man eine Chance haben will zu gewinnen. In Fällen wie Ihrem dürfen Sie kein Leder tragen, keine Animal Prints, keinen tiefen Ausschnitt, keine Holzabsätze, das dient Ihrer Sache nicht, verstehen Sie mich? Ich kann Sie nicht vertreten, wenn Sie nicht mitarbeiten. Am selben Abend schickte sie einen Text, den ich am Kreisverkehr von Sancerre las, darin gab sie mir, wie eine Diät für eine Diabetes-2-Kranke, eine Liste der Kleidungsstücke durch, die ich an den Besuchstagen tragen durfte. Das Wasser aus dem Brunnen floss durch die dreckigen Kanäle voll Fischen zu meinen Füßen, an jenem Abend wurde es schnell Nacht, während ich darüber nachdachte, welche Anziehsachen ich mir im Colruyt oder bei Gemo im Angebot kaufen müsste, schwarze Hose, hab ich nicht, feminine oder schlichte Schuhe, hab ich nicht, eine helle Bluse ohne Muster, hatte ich noch nie, zum Friseur gehen, ohne mich.

Ihr Erscheinungsbild kann sich zu unseren Gunsten auswirken, wenn wir die Entscheidung der Justiz anfechten, sagte meine Anwältin. Das Erscheinungsbild, der Tonfall, die Körperhaltung. Lehnen Sie sich nicht so weit nach vorn, heben Sie die Hände nicht so hoch, sprechen Sie nicht mit heiserer Stimme usw. Die Uhren ticken langsam in diesem Land, Madame, alles geht im Schneckentempo. In der Zwischenzeit tragen Sie keine Springerstiefel, keine Nieten, nehmen Sie alle Ketten ab, sogar die ganz feinen, richten Sie Ihr Haar, arbeiten Sie an Blick und Gesten.

Nummer 1: Wirken Sie nicht zu maskulin, denn dann sieht man Sie als wenig mütterlich an.

Nummer 2: Wirken Sie nicht, als wären Sie zu feminin, damit das keine ausgeprägte Neigung zu Sex oder Anzüglichkeit durchblicken lässt.

Nummer 3: Geben Sie sich nicht als Einzelgängerin, das würde als sehr antisozial aufgefasst, und gegebenenfalls könnte man Ihnen vorwerfen, von der Norm abzuweichen. Halten Sie sich in der Mitte, kleiden und verhalten Sie sich auf gemäßigte Weise.

Als sie die Fotos von meiner Wohnung sah, war es dasselbe, zu prollig, das sieht ja aus, als lebten Sie im 13. Jahrhundert in einer modrigen Abrissbude. Sie trug mir auf, den Richtern einen anderen Eindruck zu vermitteln. Streichen Sie die Wände, stellen Sie die Möbel um, suchen Sie einen guten Winkel für den Lichteinfall.

Das tat ich, ich dekorierte die Wohnung mit Vasen, abgerupften Blumen und Bildern mit ländlichen Motiven, die ich auf den Flohmärkten entlang der Loire kaufte. Richtete ein Zimmer für die beiden ein, noch ohne Etagenbett, aber mit guten Matratzen, das mögen die Jungs, von einer Matratze auf die andere hüpfen, die Päckchen mit ihren ungeöffneten Geschenken auf dem unbenutzten Bett.

ZWISCHEN DEN BESUCHEN, was lässt sich da machen, Madame Pflichtverteidigerin, beim Warten darauf, dass der Monat vergeht, was lässt sich da machen, fragte ich wie im Gesang einer nie endenden Trauerszene, wie das Klagen einer unheilbar Kranken, was, was denn bloß. Rufen Sie mich bitte nicht so oft an und erst recht nicht außerhalb der Arbeitszeiten. Was kann ich machen?

Machen Sie, wonach Ihnen der Sinn steht, aber kommen Sie dem Wohnsitz nicht zu nahe.

Bis wie nah darf ich nicht heran, Madame?

Ich kann mich nicht um jede Ihrer kleinen Sorgen kümmern, ich bin im Gericht, den ganzen Tag bei Anhörungen, ich habe andere Klienten, aber wir wollen vernünftig sein, ja? Grundsätzlich dürfen Sie sich dem Village nicht nähern, halten Sie sich in diesen Monaten bis auf zehn Kilometer fern, dann wissen Sie, dass Sie sich nicht verkalkulieren. Ziehen Sie im Geist eine unüberwindbare Linie, eine lange imaginäre Linie, zehn Kilometer lang. Wenn Sie gegen die Beschränkung verstoßen, wird Sie das für den Widerruf des Urteils belasten, und falls Ihr Fall rechtskräftig bleibt, Madame, nun ja, das Revisionsgericht wird für Ihren Fall kein Ausweg sein.

Welchen Fall?

Verlangen Sie nicht von mir, dass ich Ihnen Ihren Fall in seiner ganzen Schwierigkeit erkläre, verlangen Sie nicht von mir, dass ich die doppelte Energie für Sie aufwende. Zum letzten Mal, Sie sind nicht meine einzige Klientin, und ich kann Sie nicht vertreten, wenn wir nicht auf einer Linie sind in einem Kampf, der lang und kostspielig sein wird, den wir aber möglicherweise eines Tages gewinnen. Seien wir vernünftig und üben uns in Geduld, einverstanden? Au revoir.

Seien wir vernünftig, sagte ich mir, während ich über die alte Hängebrücke über der Loire ging, so wunderschön mit den Leichen darin, dass ich ein bisschen weinte. Wenn mich in diesem Augenblick jemand sähe, würde er sicher denken, ich weine, weil ich so fertig aussehe. Alles haben und fertig sein, nichts haben und frohlocken, alle möglichen fiesen Kombinationen und noch mehr. Einmal bekam ich die Telefonnummer von seinem Haus raus und rief ein paarmal spätnachts an und legte dann auf. In diesen Tagen des Wartens auf den monatlichen Besuch, was tun, irgendwas legal arbeiten, um ein solideres Dossier zu bilden, ganz dringend. Eine Wohnung haben, ein Auto, feste Arbeit, Stechkarte, Sozialleben, eine förderliche Umgebung und Ressourcen. Deshalb das schön dekorierte Zuhause, die Fotos vom Kinderzimmer, die neuen Anziehsachen und der saubere Vertrag für die Arbeit in den Weinbergen. Das ganze Jahr, Anbau und Ernte. Alles an die Pflichtverteidigerin geschickt, als Mailanhang, unterschrieben und gescannt im Computerladen mit Druckern im Zentrum. Aber was noch?

Nichts, Madame, sagte die Sekretärin im Büro des Familiengerichts, ich sage es Ihnen ein letztes Mal, wir haben keine Geduld mehr, warten Sie, alles, was Sie von jetzt an tun, schadet Ihnen. Ich hab im Psychologischen und Sozialen Hilfszentrum in Cosne gefragt. Sie können nichts weiter tun, Sie stehen auf der Warteliste, es wird einen Anhörungstermin geben.

Könnten Sie das Gericht oder die Behörde anrufen und fragen, wie lange es noch dauert bis zur Vorladung?

Das kann ich nicht, und passen Sie vor allem auf, dass es keine weiteren Anzeigen oder Beweise gegen Sie gibt. Den Rest der Zeit können Sie trainieren, praktizieren Sie Kampfsport?

Mir schwitzen die Hände, ich kann nicht schlafen, kann nur essen, bis mir schlecht wird und ich feststecke.

Suchen Sie eine Expertin auf, eine Selbsthilfegruppe, machen Sie irgendwelche Handarbeiten in der Gruppe. An diesen Orten bin ich schon gewesen, zwischen den Zusammenbrüchen der anderen rapple ich mich immer wieder auf, bitte um Entschuldigung und gehe.

WIR ENTSCHEIDEN NICHTS im Verlauf eines Lebens, schwächlich laufen wir dem eigenen Leben auf den Wegen hinterher, die man uns zeigt, versuchen unentschlossen, zu ihm aufzuschließen, immer nur wenige Schritte entfernt vom Sturz in den Abgrund, wir bitten die falsche Person um Hilfe, trampen an einer gefährlichen Autobahn, fliehen von dort, wo wir bleiben sollten, verharren irrtümlich. Allenfalls für ein paar Kilometer schließen wir zum Leben auf, wie ein nächtlicher Marathon neben einem Lastzug, viel mehr kann man nicht verlangen. Auch im Gefühlsleben entscheiden wir nichts, das ansteigende Adrenalin, die feurige Lava. Die lange Ehe, die Romanze im Campingurlaub, inzestuöse Liebschaften; in einer Altersresidenz, einem Heim, einer Einrichtung für Palliativpflege, einem schicken Ort für Sterbehilfe würden die meisten mit denselben Worten dasselbe sagen: dass man stirbt ohne den geringsten Schimmer. Welches Leben hätten Sie gern gelebt, die Herren? Keine Ahnung. Was bereuen Sie, die Damen? Keine Ahnung. Wir könnten alles noch mal machen, und alles würde anders rauskommen. Im selben Bett geboren, von derselben Frau, am selben Tag, im selben Jahr, ein anderes Leben. Ich hätte nie geboren werden können, und alles wäre genau gleich. Dasselbe Nachbarshaus mit seinem Vordach, den Maulwürfen und den Johannisbeeren, dieselben Bäume und dieselbe Art, sie zu fällen und bei Winteranfang zu verfeuern. Dasselbe ordentliche weiße Feld, verschneit in der Ferne, in der Nähe Kaninchenköddel. Niemand konnte die eine, sehr einfache Frage beantworten: Warum er oder sie ein Leben als Single geführt hat oder eines, in dem sich eine Scheidung an die andere reihte, oder in einer Ehe, die jenes finale Kräftemessen erreicht, mit wem es zuerst steil bergab geht. Wieder denke ich herabprasselndes dummes Zeug, damit die Zeit vergeht, während ich die Reben hochbiege und festbinde, die Pfähle aufrichte, den Draht festspanne und die Knospen klassifiziere. Der Supervisor, der Neffe des Besitzers, kontrolliert. Wir hüpfen von einem Bett ins andere, von einem Stuhl zum nächsten, auf der Intensivstation, in dem Saal, wo Karten gespielt wird und alle mit den Achseln zucken. Schließlich erledigt die Amnesie die Drecksarbeit, die keiner machen will, und fegt alles weg. Die meisten sterben im Sabberland, warum diesen Weg bis hierher und nicht in die entgegengesetzte Richtung, sie können sich an Ereignisse erinnern, daran, dass sie aus der Miliz desertiert sind, dass sie sich in eine Minderjährige verliebt und sie heimlich in der Scheune getroffen haben, aber sie erinnern sich nicht an das Wie oder das Warum, ob sie Zöpfe gehabt hat, ob sie den zarten Körper eines Kindes hatte, wie sie selbst so weich in der Birne geworden sind. Er überwacht mich immer noch, ich bin ja nun auch nicht seine Sklavin, dass er jedes Vorbeugen von mir so begaffen könnte, hey, 21. Jahrhundert, sage ich zu ihm, 21. Jahrhundert. Wir überqueren den Kanal zu Fuß, auf dem Motorrad, gehen zur Schlucht oder zum Wasserfall, irren immer herum, bis hierher bin ich gekommen, vor lauter Nachdenken über diesen abstrakten und nutzlosen Quatsch führe ich meine Bewegungen nicht mehr präzise aus. Es ist Zeit zum Stempeln. Entschuldigung, alles gut, bis morgen. Auch in der Arbeit darf ich nicht auffallen, nicht vom Boss zurechtgewiesen werden, alles bildet mein Profil.