Körperbild bei Essstörungen - Reinhild Schwarte - E-Book

Körperbild bei Essstörungen E-Book

Reinhild Schwarte

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Beschreibung

Wie fühle ich mich in meinem Körper? Diese Frage ist für Patient:innen mit Essstörungen schwierig. Impulse für die Körperbild-Arbeit mit allen Altersgruppen gibt dieses Manual. Verhaltenstherapie und Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen werden mit Improvisationstheater verbunden. So bringen kreative Elemente Schwung und Leichtigkeit in die Therapie. Vielfältige emotionsaktivierende Übungen bilden die Grundlage für die ganzheitliche Auseinandersetzung mit Gefühlen, insbesondere Scham und Unsicherheit sowie Kontrollbedürfnisse. Die Therapieeinheiten sind detailliert beschrieben, frei kombinierbar und für Gruppen- und Einzeltherapie geeignet. Zudem werden Exkursionen (z. B. Kleidungsshopping, Schwimmbad) und jahreszeitliche Besonderheiten (z. B. Weihnachten, Ramadan) beschrieben. Arbeitsblätter zum Download unterstützen Patient:innen beim Alltagstransfer.

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Dr. Reinhild Schwarte ist psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Sie leitet in der Oberbergklinik Konraderhof bei Köln den Fachbereich Essstörungen und ist Mitgründerin des Netzwerkes für angewandte Improvisation in der Psychotherapie.

Dr. Katharina Alexandridis ist Sport- und Bewegungstherapeutin an der Oberbergklinik Konraderhof bei Köln. Sie forscht und lehrt an der Deutschen Sporthochschule (u. a. zu Körperbilddiagnostik) und bietet tiergestützte Interventionen an.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03218-1 (Print)

ISBN 978-3-497-61888-0 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61889-7 (EPUB)

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG einschließlich Einspeisung / Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

Printed in EU

Covermotiv: © iStock.com / La Cassette Bleue

Icons: Zoi Alexandridis; Abb. 28 Fotografin Riehe Schwarte

Satz: Katharina Ehle, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Einleitung

1 Essstörungen: Störungsbilder und Behandlungsansätze

1.1 Erscheinungsbild und Klassifikation ICD-11

1.2 Behandlungsansätze

1.3 Schlussfolgerungen für die Körperbildarbeit bei Essstörungen

2 Interdisziplinäre Betrachtung des Körperbildes

2.1 Körperbild aus verhaltenstherapeutischer Sicht

2.2 Bewegungstherapie und Körperbildtherapie

2.3 Improvisationstheater und Körperbildtherapie bei Essstörungen

3 Multidimensionale Diagnostik bei Körperbildstörungen

3.1 Ausgewählte Fragebögen

3.2 Kölner Körperbild-Test

4 Ziele, Methoden und Techniken der Interventionen

4.1 Ziele

4.2 Methoden und Techniken

5 Rahmenbedingungen

5.1 Personelle Rahmenbedingungen

5.2 Strukturelle Rahmenbedingungen

5.3 Gruppenregeln

5.4 Ablauf einer Therapieeinheit

6 Die 30 Therapieeinheiten (TE)

6.1 Die vier Komponenten des Körperbildes

6.2 Körperbildbezogene Achtsamkeit

6.3 Teufelskreismodell

6.4 Ausstieg aus dem Teufelskreis

6.5 Ziele setzen

6.6 Attraktivität

6.7 Attraktivität und ich

6.8 Attraktivität und Werte

6.9 Intimität und Körperkontakt

6.10 Selbstsichere Körpersprache

6.11 Sicherheit durch Aufgeben von Kontrolle

6.12 Regeln aufgeben

6.13 Selbstwertquellen

6.14 Fotobiografie

6.15 Wahrnehmungsverzerrungen

6.16 Grundbedürfnisse

6.17 Vergleichen

6.18 Soziale Medien

6.19 Körperliche Individualität: Wertfrei wahrnehmen

6.20 Körperliche Individualität: Positiv wahrnehmen

6.21 Körperliche Individualität: Akzeptierend wahrnehmen

6.22 Umstyling

6.23 Körperumriss

6.24 Körperumriss und Rückschau

6.25 Scham

6.26 Umgang mit triggernden Kommentaren

6.27 Skills für Körperbildprobleme

6.28 Körperbezogene Selbstfürsorge

6.29 Sozialer Kontext als Herausforderung

6.30 Persönliche Nutzung sozialer Medien

7 Exkursionen

7.1 Fußgängerzone

7.2 Kleidungsshopping

7.3 Fitnessstudio

7.4 Schwimmbad

8 Jahreskreisbezogene Interventionsideen

8.1 Frühling

8.2 Sommer und Urlaubszeit

8.3 Weihnachten und Jahreswechsel

8.4 Karneval bzw. Fasching

8.5 Ramadan und Zuckerfest

9 Danksagung

Literatur

Anhang

Übersicht über die Übungen

Übersicht über die Arbeitsblätter

!

Das Online-Material zum Buch können Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter https://www.reinhardt-verlag.de herunterladen. Auf der Homepage geben Sie den Buchtitel oder die ISBN in der Suchleiste ein. Hier finden Sie das passwortgeschützte Online-Material unter den Produktanhängen. Das Passwort zum Öffnen der Dateien finden Sie im Buch vor dem Anhang. Bitte beachten Sie, dass das Online-Material den „Nutzungsbedingungen für digitale Inhalte“ unterliegt: https://www.reinhardt-verlag.de/nutzungsbedingungen.

Einleitung

Im Umgang mit Körperbildsymptomatik besteht bei der Arbeit mit essgestörten Patientinnen häufig auf Patientinnenseite die größte Bedürftigkeit, auf Therapeutinnenseite indes ein großer Bedarf nach ganzheitlichen Ansätzen. Die Bedürftigkeit speist sich aus einem hohen Leidensdruck durch die Symptomatik sowie durch das meist lange Fortbestehen derselben. So beschreiben einige Patientinnen erst nach ein bis zwei Jahren eine substanzielle Besserung der körperbezogenen Selbstwahrnehmung. Aus verhaltenstherapeutischer Perspektive fehlen die problemaktivierenden, praktischen Inhalte. Aus spezialtherapeutischer Perspektive hingegen mangelt es oft an psychoedukativen Elementen und verbalem Transfer des Erlebten auf die Symptomatik. Dementsprechend scheint die Zusammenführung verschiedener Behandlungsdisziplinen mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten und Ressourcen vielversprechend.

Die therapeutische Idee unseres interdisziplinären Ansatzes hat ihre theoretische Begründung einerseits in hirnphysiologischen Veränderungen durch die Erkrankung (z. B. Seitz et al., 2018), zum anderen in krankheitsassoziierten Persönlichkeitsmerkmalen wie ängstlich / vermeidend, zwanghaft / rigide oder perfektionistisch. Wir wollen daher in unserer Arbeit einen Anteil Exposition sowie einen Anteil Flexibilisierungstraining praktisch umsetzen – angelehnt an die Idee der Kognitiven Remediationstherapie bzw. Cognitive Remediation Therapy (Tchanturia et al., 2014) und der Bewegungstherapie (Hölter, 2011).

Dabei geht es darum, dass flexibles entgegengesetztes Verhalten die Patientinnen in ihren Veränderungsprozessen und in einem gesunden Wiederaufbau des Gehirns unterstützt. Impulse, die helfen aktiv zu werden, neue Wege auszuprobieren, Initiierung nicht planbarer Situationen, Aktivierung von Spontaneität und Emotionen, Ausbrechen aus gewohnten Mustern, auch aus Behandlungsmustern, das Eingehen von Risiken, Fehler machen und bei alldem begleitender, authentischer Kontakt schienen uns in unseren Gruppen- und Einzelkontakten hilfreiche Ansätze für Psychotherapien und Spezialtherapien.

All dies findet sich in den Grundhaltungen des Improvisationstheaters wieder, mit dem wir privat und professionell beide in den letzten Jahrzehnten viel Kontakt haben durften.

„Wir“, das sind:

Dr. Katharina Alexandridis: MA, EMDAPA – Sport- / Bewegungstherapeutin (auch tiergestützt), spezialisiert auf die Behandlung von Erwachsenen und Kindern mit psychischen Erkrankungen. Berufliche Meilensteine waren die Arbeit in der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee von 1996 bis 2015, wo ich u. a. die Abteilung für Sport- / Bewegungstherapie leitete und mit einer Cluster-RCT-Studie (randomised controlled trial) im Bereich der stationären Bewegungstherapie bei Bulimia nervosa promovierte. 2004 eröffnete ich das Alogo Institut für tiergestützte Interventionen, das ich bis heute leite.

2016 wechselte ich an die Deutsche Sporthochschule Köln und erstellte ein bewegungstherapeutisches Konzept für die Oberberg Fachklinik Konraderhof, wo ich pferdegestützte Therapie bei Essstörungen anbiete und Patientinnen in der Körperbildgruppe begleiten kann.

Seit den 1990er Jahren habe ich meinen Schwerpunkt auf der bewegungstherapeutischen Behandlung von Essstörungen. Eine erste therapeutische Nutzung von Bewegungstherapie bei Essstörungen erlebte ich 1990, im Rahmen meines Adapted Physical Activity Studiums in Leuven / Belgien. Die Psychomotorische Therapie bei Essstörungen (Probst et al., 1988), die ich als Hospitantin und wissenschaftliche Assistentin begleiten durfte, prägte mich in meiner therapeutischen Arbeit und in meiner Forschungsausrichtung. Die Hypothese, dass angemessenes Krafttraining die Körperakzeptanz bei Anorexia nervosa in der Gewichtszunahme verbessere, ließ sich empirisch nicht bestätigen. Diese Erkenntnis weckte mein Interesse an kreativen Ausrichtungen der Bewegungstherapie, die ich in den Folgejahren an einer hohen Anzahl von Patientinnen entwickeln konnte. Kreativer Bewegungsausdruck, symbolisches und soziales Bewegungshandeln, Achtsamkeit und ein selbstbestimmter, offener Umgang mit der Psychopathologie auf emotionaler und kognitiver Ebene sowie das mit den Patientinnen gemeinsame Handeln erwiesen sich als geeignete Hauptbestandteile meiner Arbeit. Für die von übertriebenem Bewegungsverhalten betroffenen Patientinnen der Schön Klinik entwickelte ich mit Kolleg:innen der Spezialtherapien ein gruppentherapeutisches Behandlungskonzept, welches ich an ärztliche und psychologische Mitarbeiter:innen weitergeben konnte. So entstand eine Arbeitsgruppe, die dieses Konzept weiterentwickelte, wissenschaftlich überprüfte und in Manualform veröffentlichte (Dittmer et al., 2020). Über dieses Projekt wurde ich mir zum einen der Synergien, die sich aus der Verbindung von Verhaltenstherapie und Bewegungstherapie ergeben, bewusst. Zum anderen beobachte ich mit Freude, dass die Veröffentlichung zu einer Verbreitung effektiver Behandlungskomponenten beiträgt und Patientinnen in der Überwindung dieser schweren Erkrankung nachhaltig unterstützt.

Dr. Reinhild Schwarte: Dipl.-Psychologin und approbierte psychologische Psychotherapeutin (VT) für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Berufliche Meilensteine waren die Arbeit in der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Aachen von 2004 bis 2016, wo ich u. a. ein BMBF-gefördertes multizentrisches Forschungsprojekt zur teilstationären Behandlung der Anorexia nervosa leitete, mit dem ich auch promovierte. 2016 wechselte ich in die Oberbergklinik Konraderhof, wo ich mittlerweile den Fachbereich Essstörungen leite und mit zahlreichen multiprofessionellen Kolleg:innen Patientinnen – u. a. in der Körperbildgruppe – begleiten konnte. Dabei gehört auch die konzeptionelle Arbeit zu meinen Aufgabenfeldern, insbesondere auch eine beständige Weiterentwicklung von einzel- und gruppentherapeutischen Behandlungskonzepten.

In den 1990er Jahren hatte ich im Rahmen einer studentischen Theatergruppe erste Kontakte mit Improvisationstheater. Eine erste therapeutische Nutzung erlebte ich 2006, als im Team der Aachener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie eine psychotherapeutische Improvisationstheatergruppe entstand. Diese wurde über die Jahre weiterentwickelt und bei Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen präsentiert. 2018 entschied ich mich für eine intensivere Fortbildung, die ich 2019 mit dem Zertifikat für angewandtes Improvisationstheater beendete. Seit der Gründung im Mai 2023 bin ich Mitglied im Netzwerk für angewandtes Improvisationstheater in der Psychotherapie und halte Vorträge sowie Fortbildungen dazu.

Zusammen verfügen wir also über Jahrzehnte an Erfahrung in der Behandlung von Essstörungen sowie im Bereich Improvisationstheater, was wir vor allem interdisziplinär gut nutzen können. Dieses Buch soll einen Eindruck des „Best-of“ geben, also unsere Lieblingsübungen und -inhalte darstellen, vor allem aber die der Patientinnen. Es soll dabei als Baukastensystem verstanden werden, d. h. die dargestellten Inhalte und Therapieeinheiten sind modular und nicht streng manualisiert zu verstehen. Arbeitsblätter helfen den Patientinnen beim Alltagstransfer. Mit den Patientinnen sind wir immer wieder in regem Austausch über ihre Wünsche und Bedürfnisse, auf die wir in der Art unserer Arbeit flexibel und spontan eingehen. Nicht zuletzt dadurch hatten die Patientinnen konzeptionell großen Anteil an der Entstehung dieses Buches. Auch im Entstehungsprozess des Manuals findet sich die Grundhaltung des Improvisationstheaters wieder: situativ auf den anderen eingehen, Pläne über Bord werfen, den anderen im Kontakt weiterbringen, Fehler und Risiken zulassen. Das Buch soll Mut machen, dies auch in die eigene therapeutische Arbeit zu übertragen. Unser Ziel ist es, die Bausteine für Einzel- und Gruppentherapie nutzbar zu machen. Dafür sind die Übungen zumeist zunächst für das Gruppensetting beschrieben und dann durch Anmerkungen für die Einzeltherapie ergänzt. Auch sind die dargestellten Interventionen altersübergreifend, d. h. sowohl in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als auch mit Erwachsenen nutzbar.

Wir hoffen, dass zahlreiche Kolleg:innen von unserem Erfahrungsschatz profitieren und wünschen viel Freude und Inspiration beim Lesen! Und dann Mut bei der Umsetzung, beim Folgen von Impulsen, bei gegenseitiger Wertschätzung im heiteren Scheitern, vor allem: beim gemeinsamen Lernen!

Köln, Winter 2023 / 2024

Reinhild Schwarte und Katharina Alexandridis

P.S.: Aufgrund des statistischen Überhangs des weiblichen Geschlechts bei Patientinnen und Therapeutinnen haben wir uns weitestgehend für die weibliche Nomenklatur entschieden. Selbstverständlich sind auch andersgeschlechtliche Patient:innen und Therapeut:innen mitgemeint. In allgemeineren Textstellen sowie zu anderen Personengruppen haben wir dann die allgemeingültigere Form mit Doppelpunkt gewählt.

In den Übungsbeschreibungen und Arbeitsblättern standen wir vor der Herausforderung, uns zugunsten des Leseflusses zwischen der Du- und der Sie-Form zu entscheiden. Für die Übungsbeschreibungen im Buch fiel unsere Entscheidung aufgrund der Statistik zugunsten der Sie-Form. Sofern es die Kommunikation der Patientinnen untereinander betrifft, etwa bei Übungsbeschreibungen, haben wir uns für die Du-Form entschieden. Die Arbeitsblätter liegen online in zwei Versionen vor, einmal in der Du-Form für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, einmal in der Sie-Form für die Arbeit mit erwachsenen Patientinnen. Uns ist bewusst, dass sich diese Entscheidungen aus verschiedenen Perspektiven betrachten lassen, wir haben sie daher auch mit Betroffenen diskutiert.

1 Essstörungen: Störungsbilder und Behandlungsansätze

1.1 Erscheinungsbild und Klassifikation ICD-11

Die Beschreibung und Klassifikation psychischer Störungen erfolgt aktuell über das DSM-V (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 5. Revision der American Psychiatric Association) und über das ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision der Weltgesundheitsorganisation). Beide Klassifikationssysteme haben eine lange Historie: Die erste Version des DSM gab es 1844, 1948 wurde die ICD zum ersten Mal herausgegeben.

Die 11. Revision der ICD (ICD-11) wurde im Mai 2019 von der WHO verabschiedet. Derzeit ist die ICD-10-GM aber nach wie vor die in Deutschland gültige Version. Wann die ICD-11 in Deutschland eingeführt wird, ist im Jahr 2023 zwar noch nicht absehbar, dennoch soll die hiesige Darstellung der Störungsbilder auf diesem, wohl fortschrittlichsten und zukunftsweisenden Klassifikationssystem basieren.

Die ICD-11 bietet mit der Darstellung der „drei großen Essstörungsdiagnosen“ (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge Eating Disorder) eine praktisch sehr gut handhabbare Grundlage. Differentialdiagnostisch stellt die Erweiterung um die vermeidende / restriktive Essstörung (Avoidant Restrictive Food Intake Disorder; ARFID) eine hilfreiche Weiterentwicklung dar. Im Gegensatz zu den Betroffenengruppen der drei o. g. Diagnosen leiden ARFID-Patient:innen jedoch zumeist nicht unter einer besonders ausgeprägten Körperbildsymptomatik.

Das hiesige Manual zielt auf Behandelnde von Patient:innen mit Körperbildproblemen (zur näheren Begriffsdefinition Kap. 2). Neben den „großen drei“ Essstörungskategorien gehören hierzu zum einen Patient:innen mit depressiven und sozial-phobischen Störungen, die massive, auch körperbildbezogenen Selbstwertprobleme haben. Zum anderen gehören dazu auch Patient:innen mit körperbildbezogenen Störungen wie dem „Adonis-Komplex“ (Mangweth, 2004), einer von Harrison et al. (2001) beforschten Muskeldysmorphie. Hier handelt es sich um ein zumeist bei männlichen Patienten vorliegendes Bestreben zu sehr muskulösen Körpern, wobei es in der Selbstwahrnehmung zu Verzerrungen kommt. Auch Behandelnde von Patient:innen mit Essstörungen mit großen zwanghaften Anteilen wie der Orthorexie, dem zwanghaft „gesunden“ Essen, gehören zur Zielgruppe des Manuals.

Ausführlich dargestellt werden im Folgenden die Diagnosen der Essstörungen, die in der ICD-11 aufgeführt sind und klassischerweise mit Körperbildproblemen einhergehen: Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge Eating Disorder.

1.1.1 Anorexia nervosa

Charakteristisch für die Anorexia nervosa (AN) ist restriktives Essverhalten, das in Mangelernährung und schließlich in einen kachektischen Zustand, also einen Hungerzustand, mündet. Dabei unterscheidet man Patientinnen mit rein restriktivem Verhaltensmuster und Patientinnen, bei denen auch kompensative und dekompensative Verhaltensweisen auftreten, ähnlich der Bulimia nervosa (Kap. 1.1.2). Dabei tritt aber immer der oben erwähnte Hungerzustand durch Untergewicht oder raschen Gewichtsverlust auf.

In der ICD-11 wird die AN wie folgt definiert (und in der ICD-11 mit 6B80 verschlüsselt):

■Für Körpergröße, Alter und Entwicklungsstand signifikant niedriges Körpergewicht, das nicht auf eine andere gesundheitliche Störung oder auf die Nichtverfügbarkeit von Nahrung zurückzuführen ist. Das bedeutet hier:

aBMI von weniger als 18,5 kg / m² bei Erwachsenen und ein BMI unter der 5. BMI-Altersperzentile für Kinder und Jugendliche oder

brascher Gewichtsverlust (z. B. mehr als 20 % des Körpergewichts innerhalb von sechs Monaten) oder

causbleibende Gewichtszunahme bei Kindern und Jugendlichen wie es aufgrund des individuellen Entwicklungsverlaufs zu erwarten wäre.

■Anhaltendes Verhaltensmuster, das die Wiederherstellung des Normalgewichts verhindern soll.

■Niedriges Körpergewicht oder schlanke Körperform stehen im Mittelpunkt der Selbsteinschätzung der Person oder werden fälschlicherweise als normal empfunden.

Bei der Diagnostik kann auch das Körpergewicht verschlüsselt werden:

■Anorexia nervosa mit signifikant erniedrigtem Körpergewicht (6B80.0): BMI zwischen 18,5 kg / m2 und 14,0 kg / m² für Erwachsene oder zwischen der 5. BMI-Altersperzentile und der 0,3-Perzentile bei Kindern und Jugendlichen.

■Anorexia nervosa mit kritisch erniedrigtem Körpergewicht (6B80.1): BMI unter 14,0 kg / m² bei Erwachsenen oder unter der 0,3 BMI-Altersperzentile bei Kindern und Jugendlichen.

Gemäß ICD-11 werden die Klassifikationen 6B80.0 und 6B80.1 jeweils weiterführend differenziert in:

■Anorexia nervosa mit restriktivem Verhaltensmuster (6B80.00 bzw. 6B80.10): Ausschließlich eingeschränkte Nahrungsaufnahme oder Fasten oder in Kombination mit einem erhöhten Energieverbrauch (z. B. durch exzessive körperliche Betätigung), d. h. keine Essanfälle oder Purging-Verhalten.

■Anorexia nervosa mit Binge-Purging-Verhaltensmuster (6B80.01 bzw. 6B80.11): Vorliegen von Binge-Eating- oder Purging-Verhalten, d. h. entweder ausgeprägtes Abführverhalten (z. B. selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder Einläufe) und / oder Essanfälle.

■Anorexia nervosa, nicht näher bezeichnet (6B80.0Z bzw. 6B80.1Z): ergänzende Diagnosekategorie für ansonsten nicht klar zuzuordnende Bilder.

Weitere Kategorien sind folgende:

■Anorexia nervosa in Remission mit normalem Körpergewicht (6B80.2): Zustand nach Gewichtsrehabilitation (z. B. für mindestens ein Jahr nach Absetzen der intensiven Behandlung).

■Anorexia nervosa, sonstige näher bezeichnete (6B80.Y): ergänzende Diagnosekategorie für ansonsten nicht klar zuordbare Bilder, für die aber eine Bezeichnung, ein Konzept existiert.

■Anorexia nervosa, nicht näher bezeichnet (6B80.Z): ergänzende Diagnosekategorie für ansonsten nicht klar zuordbare Bilder.

1.1.2 Bulimia nervosa

Bei der Bulimia nervosa (BN) wechseln sich restriktive, kompensierende Verhaltensweisen mit dekompensierenden ab. Patientinnen leiden einerseits unter Heißhungerattacken mit erlebtem Kontrollverlust, denen sie mit entgegengesetzten Maßnahmen wie Erbrechen, aber auch exzessiver körperlicher Aktivität, abführenden Maßnahmen oder Hungerperioden entgegenzutreten versuchen. Dabei kommt es zu keiner Mangelernährung, die für die Störung spezifisch wäre. Es können aber zahlreiche medizinische Konsequenzen, etwa Elektrolytverschiebungen im Blutbild, kardiologische Probleme, Probleme bei der Zahnhygiene, hormonelle Veränderungen etc. entstehen. Gewichtsschwankungen bestehen je nach Ausmaß der Symptomatik.

In der ICD-11 wird die BN (6B81) wie folgt definiert:

■Häufige, wiederkehrende Essanfälle (z. B. einmal pro Woche oder öfter über einen Zeitraum von mindestens einem Monat).

■Unangemessene kompensatorische Verhaltensweisen, die Gewichtszunahme verhindern sollen (z. B. selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder Einläufen und anstrengendem Sport).

■Gedanken über Körperform oder Gewicht, welche die Selbsteinschätzung stark beeinflussen.

■Ausgeprägter Leidensdruck

ain Bezug auf Essverhalten und unangemessenes kompensatorisches Verhalten oder

beine erhebliche Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

1.1.3 Binge Eating Disorder

Patientinnen mit Binge Eating Disorder (BED) leiden unter Essattacken mit erlebtem Kontrollverlust, führen jedoch keine kompensatorische Verhaltensweisen aus.

In der ICD-11 wird die BED (6B82) als Diagnosekategorie neu eingeführt und wie folgt definiert:

■Häufige, wiederkehrende Episoden von Essanfällen (z. B. einmal pro Woche oder öfter über einen Zeitraum von mehreren Monaten).

■Keine unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen.

■Ausgeprägter Leidensdruck:

aaufgrund der Essanfälle oder

beine erhebliche Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen.

1.2 Behandlungsansätze

In der Darstellung der Behandlungsansätze beschränken wir uns an dieser Stelle auf die psychotherapeutische / medizinische Perspektive. Auf Behandlungsansätze der Bewegungstherapie (BWT) wird in Kapitel 2.2 eingegangen.

Insgesamt ist die Studienlage im Bereich der Essstörungen trotz Vorliegen mehrerer RCT-Studien (randomised controlled trial) im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen noch deutlich ausbaufähig. Bezüglich ARFID oder Essstörungen wie Orthorexie, die nicht als eigenständiges Krankheitsbild in die Klassifikationssysteme aufgenommen wurden, bietet die Studienlage kaum eine systematische Grundlage für die Behandlung. Auch sind diese Diagnosen eher selten mit den hier fokussierten Körperbildproblemen assoziiert. Es werden daher im Folgenden analog zur Darstellung in Kapitel 1.1 zu AN, BN und BED die Grundzüge der jeweiligen Therapie an den aktuellen Leitlinien orientiert dargestellt. Hierbei sollen Behandlungsziele und die psychotherapeutisch relevantesten Empfehlungen der Leitlinien im Vordergrund stehen. Bei der Betrachtung der psychotherapeutisch relevanten Aspekte wird u. a. der Themenbereich Selbstwert wiederholt genannt. Hier zeigt sich ein direkter Zusammenhang zur Körperbildarbeit wie wir sie hier im Manual konzeptualisieren (Kap. 2).

Ausführliche Informationen zu den derzeit aktuellsten Behandlungsleitlinien finden Sie bei Herpertz et al. (2019) sowie im Internet: https://register.awmf.org/assets/guidelines/051-026l_S3_Essstoerung-Diagnostik-Therapie_2020-03.pdf.

1.2.1 Anorexia nervosa

Bei der Behandlung der AN steht in der Zielhierarchie zunächst das Wiedererlangen eines ausreichend versorgten Körpers im Vordergrund. Erst im Verlauf ist es dann möglich, anhand eines individuellen Störungsmodells Entstehungsbedingungen und aufrechterhaltende Bedingungen zu explorieren und therapeutisch zu bearbeiten.

Als Behandlungsziele werden in den Leitlinien genannt:

■die Wiederherstellung und das Halten eines für Alter und Größe angemessenen Körpergewichts,

■eine Normalisierung des Essverhaltens,

■die Behandlung körperlicher Folgen von Essverhalten und Untergewicht,

■die Beeinflussung der dem Störungsbild zugrunde liegenden Schwierigkeiten auf emotionaler, kognitiver und interaktioneller Ebene,

■eine Förderung der sozialen Integration, die oft mit einem „Nachholen“ verpasster Entwicklungsschritte verbunden ist.

Die psychotherapeutisch relevantesten Empfehlungen der Leitlinien sind:

■Patientinnen mit AN soll frühzeitig eine Behandlung angeboten werden, um eine Chronifizierung zu vermeiden.

■Die Behandlung der AN sollte störungsorientiert sein und die körperlichen Aspekte der Erkrankung berücksichtigen.

■Komorbide Störungen sollten systematisch erfasst und in der Behandlung berücksichtigt werden.

■Bei der Behandlung sollte beachtet und auch darüber informiert werden, dass der Heilungsprozess einen Zeitraum von vielen Monaten bis mehreren Jahren umfassen kann.

■Ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlungen sollen in Einrichtungen oder bei Therapeutinnen erfolgen, die Expertise in der Therapie mit Essstörungen haben.

■Ein zentrales Therapieziel in der Behandlung von Patientinnen mit AN soll die Normalisierung des Körpergewichts sein.

■Patientinnen mit AN stehen einer Veränderung ihres Gewichtes und Essverhaltens in der Regel hochambivalent gegenüber. Das Arbeiten an der Motivation und Ambivalenz ist daher eine zentrale Aufgabe und sollte über den gesamten Behandlungsprozess erfolgen.

■Bei Kindern und Jugendlichen mit AN sollten die Sorgeberechtigten bzw. nahen Angehörigen / Bezugspersonen ausführlich über die Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten informiert und in die Behandlung mit einbezogen werden, wenn nicht explizite Gründe dagegen sprechen.

■Eine unter Zwang durchgeführte Behandlung von Patientinnen mit AN sollte nur bei akuter Selbstgefährdung und nach Ausschöpfung aller anderen Maßnahmen erfolgen.

1.2.2 Bulimia nervosa

Bei der BN steht das Aufgeben selbstschädigender dysfunktionaler kompensatorischer Verhaltensweisen wie etwa Erbrechen im Vordergrund. Im zweiten Schritt geht es dann um die Etablierung eines gesunden Essverhaltens und das Ersetzen der emotionsregulativen Wirkung der Essattacken durch funktionalere Verhaltensweisen oder auch das Bearbeiten der individuellen Entstehungs- und aufrechterhaltenden Bedingungen. Dabei entsteht häufig die Sorge einer Gewichtszunahme, die für einen Großteil der Patientinnen auch bei ausreichender gesunder Ernährung unbegründet oder überschätzt ist. Die Stabilisierung eines geregelten Essverhaltens bedingt die Reduktion von Gewichtsschwankungen.

Als Behandlungsziele werden in den Leitlinien genannt:

■Reduktion der Symptome der BN, d. h. Reduktion der Essanfälle, der gegensteuernden Maßnahmen (z. B. Erbrechen, Laxantiengebrauch) und der Bedeutung des Körpergewichtes für die Selbstevaluation (Körperbildprobleme).

■Behandlung psychischer Probleme (z. B. Selbstwertprobleme, Perfektionismus, Impulsivität, Probleme mit der Regulation von Affekten) und Hintergrundkonflikte, die mit der BN zusammenhängen.

■Behandlung komorbider psychischer Störungen (z. B. Depression, soziale Angst).

■Prävention bzw. Rückfallprophylaxe.

Die psychotherapeutisch relevantesten Empfehlungen der Leitlinien sind:

■Als Behandlungsverfahren der ersten Wahl soll eine Psychotherapie angeboten werden, insbesondere die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT; inkl. ihrer Weiterentwicklungen wie die Dialektisch-Behaviorale Therapie), alternativ auch die Interpersonelle Psychotherapie oder die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.

■Bei Kindern bzw. Jugendlichen kann auch eine familienbasierte Therapie angeboten werden.

■Für einige Patientinnen mit BN kann die Teilnahme an einem evidenzbasierten Selbstmanagementprogramm empfohlen werden, das unter therapeutischer Anleitung erfolgt („angeleitete Selbsthilfe“) und auf Elementen der KVT beruht.

■Bei Vorliegen komorbider Störungen sollte die Behandlung um störungsorientierte therapeutische Elemente ergänzt werden.

1.2.3 Binge Eating Disorder

Auch bei der BED geht es um das Etablieren einer ausreichenden, gesunden Versorgung auf der einen Seite und um die Exploration der Funktionalität der Essattacken, zumeist im Sinne einer Emotionsregulation, auf der anderen Seite. Analog zur BN kommt es zu massiven Ängsten vor einer vermeintlichen Gewichtszunahme, die durch ein geregelteres Essverhalten jedoch zumeist ausbleibt.

Als Behandlungsziele werden in den Leitlinien genannt:

■Behandlung der Symptome der BED (z. B. Essanfälle, essstörungsspezifische Psychopathologie),

■Behandlung weiterer psychischer Beschwerden (z. B. Selbstwert- und Schamproblematik, Affektregulation),

■Behandlung komorbider psychischer Störungen (z. B. Depression, soziale Angst),

■Rückfallprophylaxe (z. B. Vermittlung von Meta-Wissen),

■ggfs. Behandlung der Adipositas.

Die psychotherapeutisch relevantesten Empfehlungen der Leitlinien sind:

■Als Therapie der ersten Wahl zur Behandlung der Essstörung sollte Patientinnen mit BED eine Psychotherapie angeboten werden. Wirksamkeit ist insbesondere für die KVT nachgewiesen, alternativ steht die Interpersonelle Psychotherapie zu Verfügung. Für die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Humanistische Psychotherapie bestehen begrenzte Wirksamkeitsnachweise.

■Für strukturierte, manualisierte Selbsthilfe, insbesondere mit Behandlungselementen der KVT, liegen Wirksamkeitsbelege vor.

■Kindern und Jugendlichen mit BED sollte eine Psychotherapie unter Einbeziehung der unmittelbaren Bezugspersonen (i. d. R. der Eltern) empfohlen werden.

1.3 Schlussfolgerungen für die Körperbildarbeit bei Essstörungen

Die oben geschilderten Ziele und Empfehlungen aus den Leitlinien beinhalten insgesamt nur wenig konkrete, empirisch belegte therapeutische Ansätze. Das gilt insbesondere für spezifische Symptome wie etwa Körperbildprobleme. Hier erschwert bei der AN zudem die Tatsache, dass sich das Behandlungsziel Akzeptanz auf einen „Körper in spe“ bezieht, der zum aktuellen Körper deutlich verändert sein wird, massiv. Spezialtherapeutische Ansätze sind in den Leitlinien derzeit nicht berücksichtigt.

Aufbauend auf verhaltenstherapeutischen und bewegungstherapeutischen Forschungsarbeiten und Best-Practice-Modellen wurden für dieses Buch thematische TE entwickelt und erprobt (zur Entstehung des Manuals siehe Einleitung). Dabei sind die entsprechenden TE als Anregung zu verstehen, können und sollen also individuell und thematisch angepasst werden.

Tragend sollte hierbei die therapeutische Grundhaltung des Miteinander-Entwickelns, der Flexibilisierung auf allen Ebenen, der Handlungsorientierung und Emotionsaktivierung, der achtsamen Fokussierung sowie des Annehmens von Fehlern und Herausforderungen sein.

2 Interdisziplinäre Betrachtung des Körperbildes

Bei der Betrachtung des Begriffs „Körperbild“ hat sich als Konsens verschiedener Definitionen eine Unterscheidung zwischen den beiden in der klinischen Welt gängigen Begriffen „Körperbildstörung“ und „Körperschemastörung“ etabliert. Während erstere eher kognitiv-emotional-evaluativ anzusiedeln ist, beschreibt letztere eher somatisch-perzeptive Phänomene. Die „Körperbildstörung“ umfasst allgemeinere, selbstwertbezogene Aspekte wie Identität, Kohärenz, Erfahrungswissen, körperbezogene Fantasien und Reflexionen (vgl. Röhricht et al., 2005). Damit ist das Körperbild untrennbar mit dem Selbstbild verbunden. Das Körperbild ist der Teilaspekt des Selbstbildes, der sich auf den Körper bezieht und so das Selbstbild in seiner allgemeinen Ausgestaltung mitbestimmt. Der sich dadurch ergebende enge Zusammenhang zwischen Körperbild und Selbstwert konnte in Studien gut nachgewiesen werden (Hoffmeister et al., 2010; Linardon et al., 2019; Naumann et al., 2015; Svaldi et al., 2012).

Die Körperbildstörung ist ein zentrales Merkmal bei der Diagnostik von Essstörungen und bei der Behandlung von hoher Relevanz, da sie einen wichtigen Risikofaktor für die Entstehung von und die Rückfallquote bei Essstörungen darstellt (Calugi et al., 2018; Jacobi et al., 2004; Keel et al., 2005; Stice et al., 2011). Auch im Allgemeinen gewinnt das Phänomen der Körperbildstörung zunehmend an Bedeutung. So sind Körperbildprobleme und das Durchführen von Diäten bereits bei Kindern und Jugendlichen häufige Phänomene, die durch die zunehmende Präsenz entsprechender visueller Reize und Inhalte in den Medien mitbeeinflusst werden. So erhöht die Nutzung sozialer Medien die Wahrscheinlichkeit einer Körperunzufriedenheit (De Vries et al., 2016).

Im Folgenden wird zunächst die verhaltenstherapeutische Perspektive auf das Körperbild dargestellt. Anschließend wird auf Körperbildtherapieansätze, die sich aus der BWT bei psychischen Erkrankungen entwickelt haben, verwiesen. Abschließend geht es um die Ansätze des Improvisationstheaters und deren Bezüge zur Körperbildtherapie.

2.1 Körperbild aus verhaltenstherapeutischer Sicht

Die Verhaltenstherapie (VT) basiert auf lerntheoretischen Modellen. Nach dem 2. Weltkrieg entwickelte sich die VT und die Lernmodelle erweiterten sich sukzessive. Das ursprüngliche Modell war das der klassischen Konditionierung: Reiz-Reaktion oder S (Stimulus), R (Reaktion) = SR. Daraus wurde das Modell der operanten Konditionierung: Reiz-Reaktion-Konsequenz oder S (Stimulus), R (Reaktion), C (Consequence / Konsequenz) = SRC. Dieses wurde um die Variable Kontingenz sowie um kognitive Aspekte ergänzt: Reiz-Reaktion-Kontingenz-Konsequenz oder S (Stimulus), R (Reaktion), K (Kontingenz), C (Consequence / Konsequenz) = SRKC. Einen Überblick über die Entwicklung der Lerntheorie findet man bei Rinck und Becker, 2020.

1965 schließlich entwickelten Kanfer und Saslow das SORKC-Modell: Reiz-Organismusvariable-Reaktion-Konsequenz-Kontingenz oder S (Stimulus), O (Organismus), R (Reaktion), K (Kontingenz), C (Consequence / Konsequenz) = SORKC. Hier beschreibt die Organismusvariable die individuellen biologisch und lerngeschichtlich bedingten Charakteristika der betrachteten Person auf den Stimulus. Dieses Modell bietet seitdem die Grundlage für zahlreiche verhaltenstherapeutische Konzepte und auch für unsere Körperbildarbeit.

Ein weiteres Merkmal verhaltenstherapeutischer Verfahren ist die „Hilfe zur Selbsthilfe“ für die Patientinnen. D. h. die Patientinnen sollen durch die therapeutische Arbeit ermächtigt werden, sich selbst mit Hilfe des Erlernten zu helfen. Daher nimmt in unserem Ansatz der Bereich der Psychoedukation (Kap. 4.2.19), des Selbstmanagements (Kap. 4.2.22) und der Reflexion (Kap. 4.2.9) einen hohen Stellenwert ein.

Im Verlauf konzipieren die Patientinnen auf dieser Basis zu jedem Thema ihre verhaltensverändernden Transferaufgaben für den Alltag selbst oder suchen sich aktiv Hilfe hierfür oder für die Umsetzung (Kap. 5.4.3). Sowohl während der einzelnen Therapieeinheiten (TE) als auch im Alltag begeben sich die Patientinnen damit systematisch in Konfrontation mit Symptomverhalten auslösenden Reizen und zeigen alternatives Verhalten. Damit findet sich das verhaltenstherapeutische Prinzip der Exposition mit Reaktionsverhinderung durchgängig in unserem Konzept. Wichtig ist uns, die Expositionen immer werteorientiert und zielgerichtet vorzubereiten (Kap. 6.5 und 6.6), individuell angepasst durchzuführen (Kap. 5.3.4 und 5.4.3) und mit positiven, ermutigenden Kognitionen zu versehen.

Als Basis hierfür lernen die Patientinnen in den ersten Einheiten grundlegend die vier Komponenten des Körperbildes und den Teufelskreis kennen. Diese beiden Modelle beinhalten aus unserer Sicht die zentralen verhaltenstherapeutischen Grundlagen zur Behandlung des Körperbildes. Im Folgenden sollen diese Aspekte aus theoretischer Perspektive dargestellt werden: die vier Komponenten des Körperbildes und die Entstehung sowie Aufrechterhaltung von Körperbildstörungen. Abschließend werden die gängigsten verhaltenstherapeutischen Behandlungsmethoden des Körperbildes erläutert. Dabei soll jeweils der Bezug zu unseren konzeptionellen Überlegungen sowie zur Umsetzung in unserem Manual, u. a. in spezifischen TE, deutlich werden.

2.1.1 Komponenten des Körperbildes

Kanfer und Saslow (1965) beschreiben in ihrem SORKC-Modell die Reaktion (R) auf vier Ebenen. Die Reaktion zeigt sich bei Körperbildstörungen als symptomatische Veränderungen wie folgt (vgl. auch Vocks et al., 2018):

■Perzeptive Komponente

■Kognitive Komponente

■Affektive Komponente

■Behaviorale Komponente

Diese Veränderungen bedingen sich gegenseitig, manifestieren sich so, halten sich gegenseitig aufrecht und tragen zum Selbstkonzept der Personen bei. Allgemein sollten bei der Behandlung von Körperbildstörungen alle vier Komponenten in Störungsmodell und Intervention eingehen. Gerade dieses wird durch das interdisziplinäre Herangehen und das angewandte Improvisationstheater, welche gegenüber der VT u. a. zu einer Erhöhung der Handlungsorientierung sowie zur Steigerung der Emotions- und Sozialaktivierung führt, umfassend gewährleistet.

In Kap. 6.1 werden die vier Komponenten sowie die Interaktionen, die bezogen auf alle Komponenten untereinander stattfinden, mit den Patientinnen explizit gemeinsam erarbeitet.

Aufgrund der zahlreichen interaktionellen Beziehungen der Komponenten untereinander überlappen sich diese zeitlich und sind inhaltlich schwer zu trennen. Die konzeptionelle Trennung der vier Komponenten bietet Patientinnen und Therapeutinnen jedoch einen klareren Blick auf die Symptomatik, eröffnet spezifischere Interventionsmöglichkeiten und erscheint daher sinnvoll.

Im Folgenden stellen wir die einzelnen Komponenten dar. Insbesondere bezogen auf die perzeptive Komponente gehen wir dabei auch auf einige Schnittstellen mit den anderen drei Komponenten ein, um so deutlich zu machen, wie schwierig definitorische Präzision im therapeutischen Alltag ist.

Perzeptive Komponente: Perzeption im engeren Sinne beinhaltet die Wahrnehmung des eigenen Körpers sowohl aus einer Außen- als auch aus einer Innenperspektive heraus, also sog. Empfindungen. Sie beinhaltet u. a. eine Vorstellung von Haltung, Größe und Form von Körperteilen und für das Empfinden von Bewegungsqualitäten, wie Bewegungsfluss, -rhythmus, -weite, -geschwindigkeit u. a. Auch propriozeptive Wahrnehmungen wie Hitze, Kälte, Beschaffenheit von Gewebe etc. fallen in diesen Bereich. Die auf der reinen Perzeption beruhende Komponente des Körperbildes wird auch als Körperschema bezeichnet.

Das Zusammenspiel von Perzeption und Bewegung bezeichnet man als Sensomotorik. In der Motorik werden aktuelle somatosensorische Informationen durch Informationen aus dem vestibulären, visuellen und akustischen System ergänzt. Das Körperschema ist ein bedingender Faktor für die menschliche Motorik (Baumann, 1986; Lausberg, 2009). Manche Personen, deren Körpermaße sich (ohne Essstörung) verändern, beschreiben Phänomene, die wissenschaftlich kaum untersucht sind. Zum Beispiel stoßen sich manche Personen, die schnell Gewicht zugenommen haben, an Gegenständen an. Andere vermeiden noch Wochen nach der Geburt und trotz geringerem Bauchumfang enge Durchgänge. Es lässt sich somit schwer sagen, inwieweit ähnliche Beobachtungen bei Essstörungen welchen Gründen zuzuschreiben sind – entweder der Erkrankung oder einer zu körperlichen Veränderungen gehörenden vorübergehenden Unsicherheit (Guardia et al., 2012).

Die Körperschemastörung und damit die perzeptive Komponente der Körperbildstörung wurde in der Vergangenheit beforscht (für einen Überblick vgl. Farrell et al., 2005), allerdings ohne bisher konsistente Erklärungen für die Phänomene zu bieten, die von den Patientinnen immer wieder mit großem Leidensdruck beschrieben werden und / oder von außen zu beobachten sind. Eine gezielte Behandlung der perzeptiven Komponente gestaltet sich schwierig, da diese nicht isoliert von den anderen Komponenten erlebt wird (vgl. Gadsby, 2017). Körperwahrnehmungsübungen mit der Idee einer ausschließlichen Veränderung der Perzeption bei Essstörungen anzubieten, wird den Patientinnen aufgrund ihrer komplexen emotionalen, kognitiven und sozialen Themen nicht gerecht und kann kontraindiziert sein. So rücken derzeit auch in der Forschung zur Körperbildstörung wahrnehmungsbezogene Verhaltensmaße und Prozesse der Informationsverarbeitung in den Vordergrund (vgl. Tuschen-Caffier & Werthmann, 2022).

Diese neueren Forschungsschwerpunkte decken sich mit den in der Körperbildtherapie leichter zugänglichen Aspekten: empfindungsassoziierte Verhaltensweisen, also Wahrnehmungsgewohnheiten, etwa das gewohnheitsmäßige abwertende Fokussieren als negativ bewerteter Körperteile. Dies geschieht in unserem Manual in den Kapiteln 6.19, 6.20, 6.21 bei der Arbeit vor dem Ganzkörperspiegel.

Die Fehler in der Informationsverarbeitung, die empfindungsassoziierten Kognitionen fokussieren wir in Kapitel 6.15 bei der Arbeit mit Wahrnehmungsverzerrungen. Hier überschneiden sich perzeptuelle Wahrnehmung (Empfindung) und kognitive Operationen der Wahrnehmung, sog. Interpretationsbias oder Denkfehler. Dies verdeutlicht jedoch nur einmal mehr, wie eng die Komponenten miteinander verwoben sind. In unseren TE haben wir versucht, die Komponenten möglichst alltagsnah zu bearbeiten. Dass hierbei definitorische Unschärfen entstehen, wird dabei bewusst in Kauf genommen.

Empfindungsassoziierte Emotionen sind bei der Körperbildstörung von Essstörungen von hoher Relevanz. So zeigt sich in Studien, dass von BN Betroffene besonders starke negative Emotionen im Rahmen ihrer Körperbildstörung ausbilden (Probst et al., 1995; Cash & Deagle, 1997). In ihrem Review kommen Mölbert et al. (2017a) dazu passend zu dem Ergebnis, dass die Störung der körperbezogenen Wahrnehmungsprozesse bei Stichproben mit BN stärker ist als bei Gruppen mit AN.

Im Vergleich zur BN ist die negative Emotionalität bei Betroffenen mit AN geringer ausgeprägt, was jedoch vermutlich auf die durch den Starvationszustand generell reduzierte Emotionalität dieser Patientinnengruppe zurückzuführen ist. Im Prozess der Gewichtszunahme kommt es bei diesen Patientinnen dann zu belastenden Phasen. Diese haben ihre Ursache zum einen in der Gewichtszunahme an sich, zum anderen in der sich mit einem gebesserten physiologischen Gesamtzustand verstärkenden Emotionalität.

Kognitive Komponente: Die kognitive Komponente der Reaktion beschreibt automatische Gedanken. Diese sind konzeptionell, inhaltlich und auch bezogen auf therapeutische Implikationen zu unterscheiden von kognitiven Grundannahmen, die als Teil der Organismusvariable im SORKC-Modell zu verstehen sind. Automatische Gedanken sind schnell, situativ gesteuert, also unmittelbar von einem Reiz ausgelöst. Klassischerweise beinhalten sie zahlreiche Wahrnehmungsverzerrungen (Kap. 6.15, z. B. „Ich mache alles falsch!“, „Mich findet niemand attraktiv!“). Es handelt sich klassischerweise um selbstabwertende Kognitionen, allgemeine oder konkrete negative Bewertungen des eigenen Körpers (z. B. „Du bist hässlich!“, „Du bist zu fett!“), häufig begleitet durch eine übersteigert interpretierte Wichtigkeit der Bewertung des Körpers (Kap. 6.25, z. B. „Alle sehen das!“, „Was sollen die denken!“, „Die finden mich blöd, weil ich so hässlich bin!“). Sie sind zumeist kombiniert mit strengen Handlungsanweisungen, die Gebote oder Verbote beinhalten (z. B. „Du darfst nichts mehr essen!“, „Du musst Dich bewegen!“).

Inhaltlich hängen sie mit den Grundannahmen zusammen, was sich im SORKC-Modell klar widerspiegelt: Nach einem Reiz wirkt die Organismusvariable, u. a. durch die biografisch bedingten Grundannahmen der Person, wodurch eine Reaktion entsteht. Teil der Reaktion sind dann die automatischen Gedanken. D. h., dass die den automatischen Gedanken zugrundeliegenden Grundannahmen therapeutisch hohe Relevanz haben. Cornelissen und Tovee (2021) konnten eine Verbesserung des Körperbildes durch ein Training automatischer kognitiver Prozesse nachweisen. Mölbert et al. (2017a, b) konnten für die Körperbildstörung den negativen Einfluss kognitiver Grundannahmen wie etwa einer Überidealisierung von niedrigem Körpergewicht sowie kognitive Schwierigkeiten beim Generieren eines kohärenten Körperbildes zeigen.

Therapieziel sollte demnach sein, die automatischen Gedanken zu erkennen, zu hinterfragen, zugrundeliegende Grundannahmen zu identifizieren, zu hinterfragen und auf Richtigkeit zu überprüfen. Häufige Grundannahmen, die automatische Gedanken auslösen, werden in Kapitel 6.6, 6.7 und 6.8 zum Thema Attraktivität thematisiert, kognitiv verankerte selbstgesteckte Regeln in Kapitel 6.12. Die in Kapitel 6.20