Körperpsychotherapie bei chronischen Schmerzen - Martin J. Waibel - E-Book

Körperpsychotherapie bei chronischen Schmerzen E-Book

Martin J. Waibel

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Beschreibung

Schmerzen bio-psycho-sozial-ökologisch behandeln Praxisanregend: Das Buch motiviert, Körperpsychotherapie am eigenen Leib zu erfahren und zu erlernen Kreativ vielfältiger Zugang: Der Lebensraum wird als ökologische Perspektive mitgedacht Online: Videomaterial, Übungsanleitungen und Bilder Um SchmerzpatientInnen in ihrem Leid zu helfen, geht dieses Buch von einem Zusammenspiel von biologischen, seelischen, sozialen und ökologischen Verursachungfaktoren in deren Erlebens- und Leidensgeschichte aus. In einem modernen Schmerzverständnis ist die phänomenologische Vorgehensweise von der Befunderhebung über die Diagnostik bis zur therapeutischen Intervention handlungsleitend. Waibel beschreibt für die Integrative Leib- und Bewegungstherapie, wie das gelingt.   Der akute Schmerz trifft vorrangig den physiologischen Körper. Der chronische Schmerz ist hingegen ein Angriff auf die Person des Menschen. Das bedeutet, dass der Mensch als Leibsubjekt im Mittelpunkt der Körperpsychotherapie steht. Nur Sprechen allein genügt nicht. Was sagt der Körper? Die Körperpsychotherapie erfasst den Menschen in seinen impliziten Beziehungsmustern und seiner gesamten leiblichen Existenz.

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Seitenzahl: 561

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Cover for EPUB

Martin J. Waibel

Körperpsychotherapie bei chronischen Schmerzen

Integrative Leib- und Bewegungstherapie (IBT)

Schattauer

Die digitalen Zusatzmaterialien haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de

bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM40155

Impressum

Martin J. Waibel

Im Obstgarten 6

88326 Aulendorf

[email protected]

Besonderer Hinweis

Die in diesem Buch beschriebenen Methoden sollen psychotherapeutischen Rat und medizinische Behandlung nicht ersetzen. Die vorgestellten Informationen und Anleitungen sind sorgfältig recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen weitergegeben. Dennoch übernehmen Autor und Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendeiner Art, die direkt oder indirekt aus der Anwendung oder Verwertung der Angaben in diesem Buch entstehen. Die Informationen sind für Interessierte zur Weiterbildung gedacht.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von Adobe Stock/Manu Reyes

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Karla Seedorf

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40155-4

E-Book ISBN 978-3-608-12033-2

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20609-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Inhalt

1 Einführung

2 Ein modernes Schmerzverständnis

2.1 Um welche Schmerzen geht es in diesem Buch?

2.2 Das biomedizinische Schmerzverständnis

2.3 Ein psychosomatisches Schmerzverständnis

2.4 Das bio-psycho-soziale Schmerzverständnis

2.5 Ein neurobiologisches Schmerzverständnis

2.6 Ein philosophisch-phänomenologisches Schmerzverständnis

2.7 Das leibparadigmatische Schmerzverständnis in der Integrativen Therapie

3 Körper-, Leib- und Bewegungstherapie

3.1 Was ist Körperpsychotherapie?

3.1.1 Definition

3.1.2 Entstehung der Körperpsychotherapie 

3.1.3 Moderne Entwicklungen und Institutionalisierung

3.1.4 Grundlagenkonzepte von Körperpsychotherapie

3.1.5 Körperpsychotherapie als Verfahren

3.1.6 Problematik der Begriffe von Körper und Leib

3.1.7 Weiterführende Literatur

3.2 Was ist die Integrative Leib- und Bewegungstherapie (IBT)?

3.2.1 Integrative Leib- und Bewegungstherapie (IBT)

3.2.2 Wie entstand die Integrative Leib- und Bewegungstherapie?

3.2.3 Was bedeuten die Begriffe »integrativ«, »Leib« und »Bewegung«?

3.2.4 Hat die IBT ein Menschenbild?

3.2.5 Hat die IBT ein wissenschaftstheoretisches Modell?

3.2.6 Welche Rolle spielt die therapeutische Beziehung in der IBT?

3.2.7 Was versteht man unter intersubjektiver Ko-respondenz?

3.2.8 Gibt es eine besondere Methodik oder Technik, welche die IBT von anderen Methoden unterscheidet? 

3.2.9 Könnte man die IBT auf einem Blatt kurz darstellen?

3.2.10 Gibt es eine Theorie in der IBT, die auch in anderen Verfahren bekannt geworden ist?

3.2.11 Welche Bedeutung hat Lernen in der IBT?

3.2.12 Wird in der IBT gedeutet?

3.2.13 Wieso sollte der Körper bei chronischen Schmerzpatientinnen überhaupt einbezogen werden?

3.2.14 Wird in der IBT Berührung eingesetzt?

4 Fünf Module einer Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD)

4.1 Grundsätzliche Positionen in der Diagnostik (Theragnostik)

4.2 Anthropologische und klinische Krankheitslehre

4.3 Multifaktorielle Genese – multimethodische Therapie

4.4 Der Weg zur Erkenntnis: »Von den Phänomenen zu den Strukturen hin zu den Entwürfen«

4.5 Fünf Stufen (Module) der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD)

4.5.1 Die erste Stufe: Psychosoziale Anamnese, Motivation

4.5.2 Die zweite Stufe: Klassifikation nach dem neuen ICD-11 und dem bisherigen ICD-10

4.5.3 Die dritte Stufe: Ätiologie

4.5.4 Die vierte Stufe: Persönlichkeitsdiagnostik und Ressourcendiagnostik

4.5.5 Die fünfte Stufe: Behandlungsplanung – Motivation – Volition

5 Praxeologie

5.1 Die »vier Wege der Heilung und Förderung«

5.1.1 Erster Weg: Bewusstheitsfindung und Sinnfindung

5.1.2 Zweiter Weg: Entwicklungsförderung, Nachsozialisation und Grundvertrauen

5.1.3 Dritter Weg: Ressourcenstärkung und Erlebnisaktivierung

5.1.4 Vierter Weg: Solidaritätserfahrung in menschlicher Gemeinschaft

5.2 17 Wirk- und Heilfaktoren zur Linderung und Heilung bei chronischen Schmerzerkrankungen

5.3 Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung

5.3.1 Intersubjektiven Ko-respondenz und Zwischenleiblichkeit

5.3.2 Übertragung

5.3.3 Gegenübertragung

5.3.4 Affiliation und Reaktanz

5.3.5 Resonanz

5.3.6 Empathie

5.3.7 Interkulturelle Beziehungskompetenz

5.4 Die Bedeutung der Psychoedukation

5.5 »Arbeit im schwierigen Terrain« – Körperpsychotherapie in der Gruppe im stationären Setting

5.5.1 Was sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gruppentherapie?

5.5.2 Was sind relative Ausschlusskriterien für eine erfolgreiche Gruppentherapie?

5.5.3 Was sollte man unbedingt vermeiden?

5.5.4 Was sagen die Praktikerinnen?

5.5.5 Lösungswege im »schwierigen Terrain«

5.6 Inkarnation und Dekarnation

5.7 Modalitäten der körperpsychotherapeutischen Behandlung

6 Klinische Praxis

6.1 Die konservativ-stützende Modalität

6.2 Übungszentrierte Modalität

6.2.1 Das Gehen: die einfachste Form der übungszentrierten Modalität

6.2.2 Stress, Selbstregulation und Entspannung

6.3 Erlebniszentrierte Modalität 

6.3.1 Das Ressourcenpanorama (ressourcenorientierter Längsschnitt)

6.3.2 Fünf Säulen des Supports (ressourcenorientierte Querschnittsdiagnostik und therapeutische Ansätze)

6.3.3 Der Ressourcenzukunftsraum (antizipierte Diagnostik und Therapie)

6.3.4 »Ressourcen einleiben«

6.3.5 Kein Zugang zu den Ressourcen: Arbeit mit den Barrieren – ein kurzer Ausflug zur konfliktzentrierten Modalität

6.3.6 Embodiment: Den eigenen Körper wieder als Sicherheit erleben

6.3.7 Aktivierung und Förderung des vitalen Evidenzerlebens

6.4 Konfliktzentrierte Modalität

6.4.1 Die Bedeutung der Emotionen in der konfliktzentrierten Modalität

6.4.2 Emotionale Differenzierungsarbeit

6.4.3 Emotionale Entwicklungsförderung: Der eigene Raum

6.4.4 Emotionale Differenzierungsarbeit von Ärger: Grenzerfahrungen

6.4.5 Emotionale Feinspürarbeit mit impliziten Beziehungsmustern: Der Corona-Stab

6.4.6 Die Stressampel: Emotionales Kurzzeit-Differenzierungsmodell von Stress

6.4.7 Emotionale Trauer- und Trostarbeit

6.4.8 Weitere konfliktzentrierte Ansätze

6.5 Netzwerkzentrierte Modalität

6.5.1 Einführung

6.5.2 Ein Beispiel

6.5.3 Wie hilfreich sind soziale Netzwerke bei chronischen Schmerzen?

6.5.4 Netzwerke können auch belastend und verhindernd sein

6.5.5 Netzwerkarbeit ist beständiger Teil der körperpsychotherapeutischen Behandlung

6.6 Bewegungstherapeutische/körpertherapeutische Einzeltherapie bei chronischen Schmerzerkrankungen (Leibtherapie)

6.6.1 Vorbemerkung

6.6.2 Ein Behandlungsprozess

6.6.3 Wege der Heilung in der Einzeltherapie

6.6.4 Warum eine körpertherapeutische Behandlung nicht durch eine verbale Therapie ersetzt werden kann

6.6.5 Leibtherapeutische Inkarnation bei schweren körperlichen Schädigungen

6.6.6 Berührung – Die Rolle der Leibtherapie im Team

6.6.7 Indikationen für die bewegungs-/körperpsychotherapeutische Einzeltherapie

7 Rahmenbedingungen

7.1 Das therapeutische Team

7.2 Die Rolle der Körpertherapie

7.3 Supervision und Intervision

7.4 Therapiepläne und Gruppenteilnahme

7.5 Kurzzeit-, Langzeit-, Intervall- und ambulante Therapie

7.6 Ambulante Schmerztherapie

8 Aus-, Fort- und Weiterbildung

Literatur

Sachverzeichnis

1 Einführung

Die Ausführungen in diesem Buch sind die Ergebnisse meiner Arbeiten und Erkenntnisse zu Schmerzen, die ich zunächst im somatischen Bereich in der Arbeit bei Wirbelsäulenerkrankungen mit Kindern und Adoleszenten (Skoliose, Kyphose etc.) in den späten 1970er-Jahren in der Arbeit mit Massage und Krankengymnastik sowie Psychomotorik kennengelernt habe, z. B. der Skoliosetherapie nach Lehnert-Schroth. Sehr hilfreich waren in dieser Zeit für mich therapeutische Begleiterinnen wie die Krankengymnastin, Psychologin und Integrative Bewegungstherapeutin Gabi Rütschi-List (1988) und Hildegund Heinl (1980/1991), die als Fachärztin für Orthopädie und Psychosomatikerin mein Denken in der orthopädischen Psychosomatik und damit bezogen auf verschiedenste Schmerzerkrankungen maßgeblich beeinflusst hat. Die frühen 1990er-Jahre waren geprägt von einer lebendigen Entwicklung der »psychosomatischen Orthopädie«, die leider mit dem Kliniksterben im Reha-Bereich, ausgelöst durch die »Kurkrise« Ende der 1990er-Jahre, ein jähes Ende fand. Bei meinem Lehrer Prof. Petzold bedanke ich mich ganz besonders, denn die Ausbildungen in Leibtherapie und das Studium der Supervision waren für mich entscheidend auf meinem Weg zu einer modernen Humantherapie.

Erste Publikationen zur seelischen Bedeutung bei Wirbelsäulenerkrankungen erfolgten von meiner Seite ab 1993 in Fachzeitschriften wie »Praxis der Psychosomatik und Psychotherapie«, die inzwischen umbenannt wurde in »Psychotherapeut«, und in der »pt – Zeitschrift für Physiotherapeuten« (1995). Parallel erschienen zwei Ratgeberbücher für Betroffene (Waibel 1994), hier mehr aus einer populärwissenschaftlichen Perspektive. 

In meiner Tätigkeit als Bewegungstherapeut, als Körperpsychotherapeut und Leiter von spezialtherapeutischen Fachbereichen lernte ich das Symptom Schmerz in seiner vielfältigsten Form in der klinisch-stationären Arbeit in der Psychosomatik in 41 Jahren intensiv kennen: auf den unterschiedlichsten Stationen wie auf den Allgemeinstationen (Depression, Angst u. a.), bei älteren Menschen und bei jungen Erwachsenen. Im gastroenterologisch-psychosomatischen Bereich, bei Essstörungen als auch auf der psychoonkologischen Station ging es ebenso immer wieder um die vielfältigen Formen chronischer Schmerzen. Die Begegnungen mit anderen Kolleginnen, psychosomatischen Fachärzten, systemisch-orientierten Psychologinnen, Analytikern, Verhaltenstherapeuten und Supervisoren wie Prof. Kächele waren für mich äußerst unterstützend und bereichernd auf dem Weg des Verstehens von chronischem Schmerz. Damals war es nicht immer ganz einfach, die vielfältigen chronischen Schmerzen einem entsprechenden Krankheitsbild differentialdiagnostisch genau zuzuordnen. Die Literatur hierzu war breit mit z. T. sehr konträren Auffassungen, zumeist biologistisch geprägt, und daher wenig differentiell. Für mich war daher das erste Modell von Egle (2003) sehr hilfreich, um in einem interdisziplinären Diagnostikverständnis ein Wissen davon zu bekommen, wie die jeweilige Schmerzsymptomatik bei den einzelnen Patienten vorläufig einzuschätzen sei. Dieses bio-psycho-soziale Modell war auch sehr hilfreich in Lehre und Praxis für die unterschiedlichen Berufsgruppen (Psychologen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Krankenschwestern, Sozialarbeiter u. a.), die ich als Dozent in der Lehre an Fachschulen und Hochschulen unterrichtet habe. In der Publikation 2009 zur Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (Jakob-Krieger/Waibel 2009) diente es in drei Artikeln als grundlegendes Verständnismodell bei chronischen psychosomatischen Schmerzen.

Nach der Jahrtausendwende hatte ich die Möglichkeit, an der Psychosomatischen Fachklinik, an der ich arbeitete, sowohl im Reha- als auch im Akutbereich beim Aufbau einer störungsspezifischen Station für chronische-psychosomatische Schmerzerkrankungen mitzuwirken. Die körperpsychotherapeutische Gruppen- und Einzeltherapie (IBT) war neben der verbalen Psychotherapie ein wesentlicher Grundpfeiler der stationären Versorgung. Wir haben hier im Team miteinander in den folgenden Jahren nochmals viel Neues hinzugelernt. 

Meine klinisch-stationäre Arbeit endete schließlich 2019, wo ich die Möglichkeit hatte, zusammen mit einem sehr professionellen Team die letzten Jahre meiner bewegungstherapeutisch-körperpsychotherapeutischen Arbeit auf einer Schmerzstation zu verbringen. Heutzutage arbeite ich sowohl in Einzelpraxis als Therapeut als auch als Supervisor und Lehrtherapeut in einem ganz anderen Setting. Auch diese Erfahrungen mit ambulanten Patienten, die unter unterschiedlichsten Schmerzsyndromen leiden, sind in dieses Buch eingeflossen.

Aus der Fülle der Erfahrungsschätze in diesen 41 Jahren klinischer Therapie habe ich versucht, die »Essenz der Erkenntnisse« zu systematisieren und zusammenzustellen, um vielleicht dadurch jüngeren Bewegungs- und Körpertherapeuten manche Klippen zu ersparen, die wir als Pioniere in diesem Arbeitsbereich überwinden mussten. All den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Berufsgruppen und Spezialtherapien, Dr. Rahm als Chefarzt der Schmerzstation, Dr. Matzek als Supervisor, Dr. Hölzer als Chefarzt der Klinik und Geschäftsführer sowie Dr. Kovanetz als Ärztin und Psychotherapeutin kann ich nur danken für die ko-kreativen Austauschprozesse, die eine liebevolle und lebendige Arbeit mit unseren Patientinnen ermöglichte. Wenn Sie auch mit Schmerzpatientinnen arbeiten sollten, dann verlieren Sie nie die Freude und Lust, täglich mit dem »Unbekannten« und an dem »Unmöglichen« zu arbeiten. All meinen Patientinnen danke ich für ihre Offenheit und Bereitschaft, sich auf eine intensive Therapie einzulassen, für ihre bewegenden und berührenden Schilderungen ihrer Lebenserfahrungen. Das hat mir wesentliche Erkenntnisse im Bereich der psychosomatischen Schmerztherapie vermittelt, die ohne sie nie möglich gewesen wären.

Die Komplexität der Erkrankung bei chronischen Schmerzerkrankungen ist sowohl in der Anamnese, Diagnostik, beim Krankheitsverständnis und schließlich auch bei den Interventionen sehr hoch. Ich habe versucht, hier viel zu reduzieren. Letztendlich aber würden gewisse komplexe Zusammenhänge in ihrer Aussagekraft einiges verlieren, wenn man noch weitere Vereinfachungen vorgenommen hätte. So ist es hoffentlich gelungen, ein »einfaches, praxisnahes Buch« für viele Berufsgruppen zu schreiben über das, was wir hier in der Körperpsychotherapie und Integrativen Leib- und Bewegungstherapie bei chronischen Schmerzerkrankungen machen. Viele meiner Kolleginnen beklagen, dass es ihnen so schwer möglich sei, ihre eigene Arbeit, die von vielen Patienten als sehr hilfreich erlebt wird, den anderen Fachkolleginnen differenziert zu erläutern. Das ist, so meine Erkenntnis, auch nur schwer vermittelbar, weil letztendlich leibliches Erleben nicht nur kognitiv verstanden werden kann, sondern erfahrungsbereit »am eigenen Leib« erlebt werden muss. Meinen Patienten, die manchmal eine Einführung zur IBT nicht ganz verstanden haben, gebe ich folgenden Vergleich: Sie gehen in ein gutes Restaurant und studieren intensiv die Speisekarte. Nachdem Sie mehrere Minuten gelesen haben, sind Sie einerseits begeistert, haben jedoch auch Zweifel, ob es wirklich so gut schmeckt. Um das herauszufinden, müssen Sie eines tun: essen.

Dabei kann Ihnen dieses Buch etwas helfen. Sie können natürlich die Übungen ausprobieren. Noch besser ist es, ein Körperpsychotherapieseminar bei den zahlreichen Kolleginnen zu besuchen. Das Erleben am eigenen Leib ist durch kein kognitives Wissen zu ersetzen!

Das zentrale Anliegen dieses Buches möchte ich mit einem persönlichen Erlebnis veranschaulichen. Mein Enkel, knapp zwei Jahre alt, wollte an einem schönen Frühlingstag mit mir spazieren gehen. Also setzte ich ihn auf die Treppe, zog ihm die Schuhe an und holte seine Jacke. Er »hampelte« dann sitzend ein wenig hin und her und da passierte es: Er schlug sich den Kopf am Treppengeländer an. Auf sein Schreien hin rannte ich zu ihm, nahm ihn in den Arm und spürte deutlich, wie er sich an mich kuschelte. Bis wir beim Wasserhahn waren, hatte er sich schon etwas beruhigt. Ich nahm einen kalten Tupfer, um damit seine Schläfe und Kopfseite zu kühlen. Er hatte nun aufgehört zu weinen, konnte mir aber nicht sagen, wo er sich genau angeschlagen hatte. So kühlte ich weiter seine Schläfe, bis er meine Hand wegschob. Es war gut! Mein nächstes Sedativum »Heile, heile Gänsle, heile heile Mausespeck …« interessierte ihn gar nicht mehr. Ich setzte ihn an den Frühstückstisch und gab ihm etwas zu essen. In diesem Moment kam meine Frau von der Arbeit. Er freute sich, sagte aber sofort »Aua, bum bum« und zeigte an seinen Kopf. Hierbei wurde er wieder weinerlicher. Inzwischen bemerkte ich eine etwa ein Euro große Prellung an seiner Schläfe. Meine Frau meinte, »Nimm doch einen Löffel zum Kühlen.« Den Löffel fand er sehr interessant und der Schmerz spielte keine Rolle mehr. Er beschäftigte sich wieder mit Essen und einem Spielzeugtraktor. Jetzt sah ich die ziemlich große Beule, die sich blau gefärbt hatte, und wunderte mich ein wenig über seine geringe Schmerzreaktion.

Wie anders hätte dies mein Enkel verarbeitet, wenn ich ihn ausgeschimpft hätte, wieso er nicht aufgepasst habe. Und warum er sich jetzt so anstelle und rumheule? Wenn ich ihn am Arm gepackt hätte, ihn nach draußen gezerrt und gesagt hätte: »Wir gehen jetzt spazieren.« Oder noch schlimmer, ihm eins auf den Hintern gegeben hätte, wenn er nicht gleich aufhört zu weinen und »rumbockt«. Unvorstellbar – aber wie ich aus zahlreichen Krankheitsgeschichten und Berichten von Patientinnen erfahren durfte, waren solche Reaktionen in deren Leben oft »ganz normal«. Sie haben selten Hilfe, Unterstützung und Verständnis, geschweige denn Zuwendung und mitmenschliche Sorge bei ihren Schmerzerlebnissen erfahren. Im Gegenteil – körperliche Schädigungen, emotionale Misshandlungen, Verachtung, Unverständnis, Gefühlskälte, Entwertungen und trostloses Leid waren Erfahrungen, die sie erleben und erleiden mussten.

Der Vorfall mit meinem Enkel enthält alle helfenden Erfahrungen, die unseren chronischen Schmerzpatientinnen oft gefehlt haben:

Gleich nach dem ersten Schock und dem Eintreten des Schmerzes hatte mein Enkel einen sicheren Halt und Schutzraum. Ich nahm ihn sofort auf den Arm und dicht an den Körper. Ich nehme an, es kam zu einer guten schmerzdämpfenden Hormonausschüttung (Oxytozin). Unsere chronischen Schmerzpatientinnen erlebten bei ihren ursprünglichen Schmerzereignissen (Trauma, Vernachlässigung, Ausstoßung) in der Regel weder einen Schutzraum noch Halt, sondern Kontrollverlust und tiefe Verunsicherung.

Der Schmerz wurde sofort versorgt und in seiner biologischen Ursache gemildert. Psychologisch wären mir noch Trost und Ablenkung (Lied) zur Verfügung gestanden, das war aber gar nicht mehr nötig. Unsere chronischen Schmerzpatienten hingegen waren zumeist allein dem Schmerzereignis ausgesetzt, es fehlte an adäquater Hilfe, Trost und Ablenkung.

Das Schmerzereignis war logisch und selbst verursacht. Erlebte und erlittene Schläge sind bei unseren Schmerzpatientinnen häufig fremdverursacht, völlig unverständlich, ungerecht, menschenunwürdig und nicht nachvollziehbar. Es fehlte sowohl die Kontrolle als auch die Sinnhaftigkeit bei dem Erlebten.

Mein Enkel drückte seine Emotion aus. Danach versuchte er, das Schmerznarrativ meiner Frau gegenüber zu verbalisieren. Emotionen für den Schmerz werden bei unseren Patientinnen häufig unterdrückt, nicht mehr wahrgenommen, noch weniger differenziert oder verbalisiert.

Zwei Wochen später saß mein Enkel auf der Treppe und wir zogen wieder die Schuhe an. Er sagte »Bum bum« und ich verstand es im ersten Moment gar nicht. Das ursprüngliche Schmerzereignis hatte er nun als lustiges Schmerznarrativ eingeordnet. Denn er zeigte es mir und lachte. Damit hatte er eine gesunde Distanz zum ursprünglichen Schmerz geschaffen, eine wichtige Form der Bewältigung.

Das Buch ist so aufgebaut, dass ich zunächst ausgehend vom klassisch-medizinischen Schmerzmodell einen Weg zu einem modernen Schmerzverständnis aufzeige. Es folgt ein kurzer Abriss über die Körperpsychotherapie, dann der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie im Verfahren der Integrativen Therapie. Es soll hier jedoch keine schulenspezifische Verengung eintreten, vielmehr sollen die Sichtweisen zu chronischem Schmerz und zum Menschen herausgearbeitet werden an dem Ort, wo der chronische Schmerz seinen Ausdruck findet: dem Leib.

Die Diagnostik orientiert sich an den bekannten diagnostischen Kriterien, bezieht jedoch einige kreative mediale Zugänge zum Leib ein, die es ermöglichen, implizite lebensgeschichtliche Narrative bewusst zu machen und auszudrücken. Systematisch an einem wissenschaftstheoretischen Modell orientiert folgt nun die Praxeologie, d. h. welche wichtigen Gesichtspunkte für eine erfolgreiche Praxis mit den Patientinnen zu berücksichtigen sind. Schließlich wendet sich der größte Teil des Buches an die Praktikerinnen unter Ihnen und bietet in den Modalitäten systematische Vorgehensweisen aufgrund des Entwicklungsstandes der Patientinnen an. Den Abschluss des Buches bilden die besonderen Möglichkeiten der leibtherapeutischen Einzeltherapie unter Berücksichtigung wichtiger Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Behandlung. Für die interessierte Leserin zeige ich dann zum Schluss geeignete Weiterbildungsmöglichkeiten auf. 

Meine Kritik ist grundsätzlich immer wohlwollend gemeint und soll diskursive Anregungen für die Reflexion der eigenen beruflichen Praxis geben.

Vorweg sei gleich gesagt: Alle Ausführungen im Buch begrenzen sich nicht auf ein cartesianisches Weltbild, dem leider viele modernen erklärenden Ansätze in der Schmerztherapie bei chronischen Schmerzerkrankungen aus medizinischer Sicht, viele physiologistischen Theorien und leider auch die Neurobiologie größtenteils anhaften, sondern will das Phänomen Schmerz breiter als subjektive Erlebens- und Leidensform des Menschen in seiner Gesamtheit erfassen. Insofern versucht diese Publikation, einen weiten Bereich von medizinisch-naturwissenschaftlicher Perspektive bis hin zu phänomenologisch-hermeneutischen Betrachtungen abzubilden. Beginnend von der biografischen Anamnese und dem Befund, der Diagnostik bis hin zur Therapie, geleitet von intersubjektiven ko-respondierenden Interventionen, die niemals als Tools und Techniken zu verstehen sind, sondern aus einer zwischenleiblichen Bezogenheit entstehen.

Nebst den umfangreichen Hinweisen und Zitaten verweise ich u. a. auf das Schattauer-Archiv, wo Sie Anleitungen, Filmbeispiele, farbiges Bildmaterial und erweiterte Informationen (z. B. kostenfreie Internetquellen) finden. Der Leserin erschließt sich hiermit ein reichhaltiges Archiv mit vertiefenden Quellen und vielen ergänzenden Erfahrungsangeboten. Durch diesen Service können Sie auf umfassendere Wissensbestände zugreifen. Als Käuferinnen dieses Buches erhalten Sie hierzu einen Zugangscode.

Die Integrative Therapie als übergreifendes Verfahren und die Methode der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie als eine »Entwicklungstherapie in der Lebensspanne« sieht Menschen – genderbewusst Frauen und Männer – als Körper-Seele-Geist-Wesen im sozialen und ökologischen Kontext/Kontinuum, als informierte Leibsubjekte in der Lebenswelt. Im klinisch-stationären Bereich sind die Betroffenen von chronischem Schmerz mehrheitlich Frauen. Aus diesem Grunde habe ich aus genderbewusster Sensibilität in Absprache mit meiner Lektorin Frau Dr. Nadja Urbani im Buch die weibliche Sprach- und Anredeform gewählt, da chronischer Schmerz nicht selten auch ein Ausdruck der Schädigung leiblicher Identität von Frauen durch Übergriffe in einem langen historischen Prozess sind. Selbstverständlich sind Männer und Therapeuten jeweils mitgemeint.

Für die Durchsicht des Manuskripts und die vielen Anregungen danke ich Peter Krieger, Robert Stefan und Andrea Michel und natürlich meiner Lektorin Karla Seedorf.

Alle Autorinnen, die ein Buch schreiben, wissen auch, wie sehr die direkte soziale Umgebung von uns Buchautoren darunter leidet. In den letzten beiden Jahren danke ich daher besonders meiner Frau Sonja Bumiller, denn sie spürte: Da war immer ein »Dritter im Bunde«: dieses Buch.

Martin J. Waibel im Oktober 2022

2 Ein modernes Schmerzverständnis

Vom biomedizinischen Modell zu einer phänomenologisch-integrativen Sichtweise

In diesem Abschnitt zeichne ich die Denklinien ausgehend von einem biomedizinischen Schmerzverständnis hin zu einem psychosomatischen Schmerzverständnis und weiterführend zu einem modernen bio-psycho-sozial-ökologischen Schmerzverständnis auf. Unser neurobiologisches Wissen hat uns aus einer materiellen Sichtweise beim Verstehen der Komplexität von Schmerzen in den letzten 20 Jahren erheblich weitergebracht. Um den Menschen jedoch in seinem Schmerz zu verstehen, ist eine philosophische und phänomenologische Sichtweise unverzichtbar. Dies führt schließlich zu einem modernen integrativen Denkansatz, in dem Materielles und Transmaterielles gleichsam berücksichtigt wird.

2.1 Um welche Schmerzen geht es in diesem Buch?

In diesem Buch geht es um chronische Schmerzen. Bei Schmerzen, die länger als drei bis sechs Monate andauern, spricht man von chronischen Schmerzen. Die Ursachen eines akuten Schmerzereignisses sind nach dieser Zeit abgeheilt. Der akute Schmerz hat eine Warnfunktion und ist biologisch sinnvoll: Er führt dazu, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf das Schmerzereignis lenken und weitere Schädigungen damit verhindern. Diese Alarm- und Schutzfunktion des akuten Schmerzes geht beim chronischen Schmerz nahezu verloren. Chronische Schmerzen sind hochkomplex und daher gibt es auch über die Ursachen bei den verschiedenen Autorinnen aus medizinischer, psychologischer, sozialer und ökologischer Sicht unterschiedliche Auffassungen und Vermutungen. Zwar scheint sich die Fachwelt bei der Verursachung chronischer Schmerzen heutzutage im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Modells geeinigt zu haben, es gibt hierzu allerdings sehr unterschiedliche fachspezifischen Überzeugungen und Therapiestrategien. Egle et al. 2020 kritisiert, dass die Realisierung eines bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses nach wie vor in der Versorgungsrealität der Patientinnen meist eine leere Worthülse bleibe. Warum dies so ist, versuche ich anhand der Modelle des Verständnisses von Schmerz in Kapitel 2.2 zu beschreiben und zu problematisieren.

Die physiologischen und neurobiologischen Zusammenhänge bei akutem und chronischem Schmerz sind in den Lehrbüchern aus Medizin, Psychologie und Neurobiologie umfangreich und eingehend nachzulesen. Um nicht gleich zu Beginn des Buches ein rein naturalistisches Weltbild zu zeichnen und damit über einen »cartesianischen Fallstrick zu stolpern«, habe ich hierauf verzichtet. Dieses Wissen ist jedoch zum Gesamtverständnis für chronischen Schmerz unabdingbar, aber eben nicht ausschließlich. Ich verweise mehrfach auf diese Publikationen.

Ich versuche, mich in diesem Buch dem chronischen Schmerz aus einer phänomenologisch-hermeneutischen Sichtweise zu nähern, d. h. den chronischen Schmerz sowohl in seiner Materialität als auch in seine Transmaterialität zu begreifen. Chronischer Schmerz ist wie gesagt ein sehr komplexes Phänomen. Aus medizinischer Sicht hat er eine eindeutige physiologische Ursache und ist dementsprechend mit therapeutischen Interventionen zu behandeln. Die medizinische Perspektive ist heutzutage immer noch die bestimmende! Aus psychologischer Sicht sind hingegen seelische Ursachen vor allem für die Schmerzverursachung verantwortlich und diese belasten das Individuum und die zwischenmenschlichen Beziehungen erheblich. Die sozial-ökologische Perspektive zu Schmerz sieht die Ursachen von Schmerz im Beziehungsgeflecht sozialer Netzwerke und einer Mensch-Umwelt-Passung. Pädagogische Sichtweisen hingegen befassen sich damit, wie Schmerz und insbesondere chronischer Schmerz durch entsprechende Erziehung, Vermeidung von Gewalt und Vernachlässigung erst gar nicht entstehen sollte. Hier ist auch die Sozialpädagogik und Sozialarbeit aufgerufen, durch rechtzeitige Interventionen Kindesmissbrauch zu verhindern und mutige Verfechterinnen für das Kindeswohl zu sein, denn wir wissen, dass lebenslaufbezogene seelische und körperliche Vernachlässigung und Schädigung erheblich zur Entwicklung chronischer Schmerzen beitragen. Entsprechend ist auch die Politik gefragt, sich nicht nur um die eigenen Bürgerinnen und Bürger zu kümmern, denn chronische Schmerzen sind nicht selten die Spätfolgen von Migration, Vertreibung, Trauma, Gewalt, emotionaler Misshandlung und Folter. 

Die philosophische Sichtweise von Schmerz ist vielfältig, unterscheidet beispielsweise zwischen Schmerz und Leid, und man könnte sie als ein »Gebrochensein der Person zu seiner Lebenswelt« umschreiben, Schmerz stellt hiermit einen Bruch des Individuums zur Welt dar. Wir erweitern damit die rein materiell-medizinische Betrachtungsweise und nähern uns dem chronischen Schmerz als transmaterielle Emergenz, wie wir ihn in einem integrativen Verständnis verstehen. Gefühle, Gedanken, Willensakte, psychische und geistige Prozesse insgesamt stellen eine transmaterielle Wirklichkeit dar. Transmateriell meint, dass das Erleben von chronischem Schmerz über das Materielle hinausgeht. Es ist rein naturwissenschaftlich nicht zu erfassen. Emergenz beschreibt die Tatsache, dass beispielsweise die im Gehirn ablaufenden und mit modernen bildgebenden Verfahren zwar darstellbare, neurophysiologischen Prozesse etwas gänzlich Neues herausbilden wie Gedanken und Gefühle. Denn die Aktivität der Amygdala ist nicht mit dem persönlichen Angstempfinden eines Menschen gleichzusetzen. Mit dem Begriff der transmateriellen Wirklichkeit werden also subjektive Erlebnisinhalte erfasst.

Körper(psycho)therapie und die Integrative Leib- und Bewegungstherapie (Integrative Therapie) sind eine Therapie am Körper bzw. besser ausgedrückt am Leib. Das ist der Ort, wo der chronische Schmerz erlebt wird und Menschen ihr Leid erleben. Was könnte näherliegen, als sich daher mit diesem leib- und körperpsychotherapeutischen Verständnis dem Phänomen des chronischen Schmerzes zu nähern? Davon handelt dieses Buch: von interessanten Denkmodellen und lebendigen Formen in der Befundaufnahme hin zur Diagnostik und schließlich von der Praxis mit vielen leib- und körpertherapeutischen Ansätzen im Rahmen eines modernen Leibverständnisses.

2.2 Das biomedizinische Schmerzverständnis

Unsere grundsätzliche Auffassung von Schmerz ist: »Schmerz ist körperlicher Schmerz!«

Diese grundsätzliche Auffassung von Schmerz hat sich trotz vieler moderner widersprechender Publikationen in den Köpfen nicht nur von Ärzten, sondern in nahezu allen medizinischen Berufen seit der Formulierung des Körper-Seele-Dualismus(1) von Descartes festgesetzt. Der Philosoph René Descartes (1596–1650) formulierte im 17. Jahrhundert dieses Konzept der Schmerzentstehung auf einer naturwissenschaftlichen Grundlage. Er ging davon aus, dass der Schmerzreiz über Nervenbahnen in das Gehirn geleitet und dort als Schmerz wahrgenommen wird. Zu damaliger Zeit war diese Erkenntnis bahnbrechend und äußerst sinnvoll, weil von nun an Schmerz als ein körperliches Warnsignal und nicht mehr als Strafe für Sünden galt, was die Kirche bis dahin proklamierte. Leider beeinflusste sein Denken auch die Sichtweise auf den Körper des Menschen als mit einer Maschine vergleichbar. Dieses naturalistisch-reduktive Menschenbild hat jedoch auch in unserer Gegenwart eine hohe Attraktivität, nachdem sich Vertreter der künstlichen Intelligenz (KI), Informationstechnologie und Robotik auf den Weg gemacht haben, den Menschen seinesgleichen nachzubilden (vgl. Fuchs 2020).

Geht man von Schmerz als einem akuten Geschehen aus, dann ist diese Auffassung sehr nützlich und hilfreich, weil auf mechanistisch-naturwissenschaftlichem Wege (Medikamente, physikalischen Maßnahmen und Bewegung) zumeist Abhilfe geschaffen werden kann. Es handelt sich hierbei um effektive Diagnostik und Interventionen, die sicherlich jede/r von uns schon in seinem Leben wohltuend erlebt hat. Tatsächlich hegen wir jedoch noch immer die tiefe innere Überzeugung: »Schmerzen ohne dieses organische Korrelat sind psychische Schmerzen«. Und das bedeutet nicht nur unter Patientinnen, sondern auch bei biomedizinisch orientierten Therapeutinnen: Diese Schmerzen haben keine eindeutige Ursache, sind womöglich übertrieben, eingebildet, im besten Fall halt ohne nachweisbare Ursache und daher rätselhaft. Das ist schlichtweg falsch! Obgleich wir das inzwischen längst wissen, arbeiten nach wie vor viele Menschen in den verschiedensten medizinischen und paramedizinischen Berufen nach diesem verkürzten monokausalen Denkkonzept(1). Die Ursache hierfür ist, dass viele Berufsgruppen (Medizinerinnen, Physiotherapeutinnen, Krankenpflegerinnen, Ergotherapeutinnen u. v. a.) nach wie vor einseitig nach dem biomedizinischen Krankheitsmodell aus- und weitergebildet werden. Dieses geht wie schon Descartes von der Annahme eines einfachen Ursache-Wirkungs-Modells auf rein körperlicher Ebene aus (vgl. Pschyrembel 2020).

Das biomedizinische Erklärungsmodell (1)(Siegrist 2005) basiert auf vier Punkten, nämlich

Annahme einer bestimmten und erkennbaren Ursache für jede Erkrankung.

Die Ursache führt zu einer Schädigung von Zellen oder Gewebe oder zu einer Dysregulation von mechanischen oder biochemischen Prozessen.

Aufgrund der äußeren Anzeichen einer Krankheit (Symptome) können wissenschaftlich ausgebildete Ärzte eine Diagnose erstellen und eine Therapieempfehlung aussprechen.

Die Krankheitsverläufe sind beschreibbar und vorhersagbar und verschlimmern sich ohne medizinische Intervention.

Für den akuten Schmerz ist dieses Modell absolut effektiv und hilfreich, um die verschiedensten Schmerzen erfolgreich zu behandeln. Das sei keinesfalls infrage gestellt und stellt damit auch einen Segen für die Menschheit dar, weil wir heutzutage damit nahezu die meisten organisch akut verursachten Schmerzen mit Medikamenten oder physikalischen Maßnahmen gut behandeln können.

Franzkowiak 2018 kritisiert die biomedizinische Perspektive und führt an: »Für Handlungsfelder wie Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie kann die ungefilterte Übertragung des biomedizinischen Paradigmas problematische und u. U. fatale Auswirkungen zeitigen – individuell, kulturell und ökonomisch.« Das US-amerikanische Gesundheitssystem wird auch für die Mental Health seit mehr als drei Jahrzehnten von einem biologisch fokussierten Ansatz in Wissenschaft, Politik und Praxis dominiert. Die Folgen waren ein massiver Anstieg der Verschreibung psychiatrischer Medikation und eine (professionelle und sich in das Kultur- und Alltagsverständnis einschreibende) Verengung des Verständnisses psychischer Störungen auf im Kern biochemische Fehlfunktionen des Gehirns, deren Korrektur effektiv nur mit krankheitsspezifischen Medikamenten erfolgen könne. Der neurowissenschaftliche Zugriff auf die klinischen Felder hat nach Deacon jedoch keinesfalls zu klinischer Innovation oder einer »Revolutionierung« der Mental Health Practice geführt – im Gegenteil: eher zu verschlechterten Ergebnissen in diesem Feld, zudem zu einer Spaltung zwischen Ätiologie- und Therapieforscherinnen vs. Praktikerinnen. Deacon bezweifelt daher grundsätzlich die Validität wie die Nützlichkeit des biomedizinischen Paradigmas in psychiatrischen und vergleichbaren klinischen Feldern.

Egle/Zentgraf 2021 kritisieren, dass die Behandlung von chronischen Schmerzerkrankungen weiterhin stark von fachspezifischen Therapiestrategien geprägt sei. Dabei stünde die Verordnung von Analgetika – zunehmend von Opiaten – bei anästhesiologischen Schmerztherapeuten, aber auch bei Orthopäden, Rheumatologen und Neurologen ganz im Vordergrund, ohne dass dies durch die wissenschaftliche Studienlage legitimiert sei. Die Nebenwirkungen von Opiaten sind immens (vgl. ebd., 130), eine opiatinduzierte Hyperalgesie ist die Folge bei langzeitopiatbehandelten Schmerzpatienten und führt neben der Schmerzverstärkung häufig zur Opiatabhängigkeit sowie zur Einschränkung der Wirksamkeit psychotherapeutischer und damit auch körperpsychotherapeutischer Interventionen. Ich konnte dies im stationären Rahmen häufig beobachten, dass eine entsprechende stationäre Therapie erst nach mühsamem Opiatentzug langsam Wirkung zeigte.

Wenn Sie als Leserin biomedizinisch ausgebildet sind und daran einseitig festhalten, führt dieses Denken unausweichlich in die Sackgasse. Damit sind weder der chronische Schmerz verstehbar noch unsere Patientinnen, die darunter leiden. Um es noch einmal zu wiederholen: Eine fokussierte biomedizinische Perspektive ist für unsere chronischen Schmerzpatienten nicht nur wissenschaftlich komplett veraltet, sondern auch falsch, was die neurobiologische Forschung (vgl. Kapitel 2.5) in den letzten 20 Jahren ziemlich deutlich belegt hat. 

Egle et al. 2020 kritisieren, dies bedeute letztendlich, dass die therapeutisch Tätigen bei einer Vielzahl von Patienten mit chronischem Schmerz die Komplexität von Schmerzen nicht oder nur unzureichend erfassen. Dies fördere die Chronifizierungsprozesse von Schmerzpatientinnen, die unter einer differenzierten Betrachtungsweise vermindert werden könnten.

2.3 Ein psychosomatisches Schmerzverständnis(1)

Eigentlich müssten wir es besser wissen. Engel, dessen Studie bereits im Jahr 1959 im American Journal of Medicine über die Psychosomatik des Schmerzes erschien, vermittelte zu diesem Zeitpunkt schon ein sehr komplexes Verständnis von Schmerz. Engel formulierte:

Schmerz schützt den Körper vor Verletzungen. Er trägt entscheidend bei zur Entstehung des Körperbildes und zur Erfahrung der Umwelt. Jeder Körper hat ein eigenes »Schmerzgedächtnis«.

Schmerz hat eine sehr enge Beziehung zur Entstehung sozialer Beziehungen überhaupt: Schmerz führt zum Weinen, das Weinen ruft die Mutter, die Mutter tröstet und nimmt so den Schmerz. Für manchen Erwachsenen ist gewissermaßen die Hoffnung auf Tröstung den chronischen Schmerz wert.

Schmerz und Strafe werden ebenfalls in der frühen Entwicklung verbunden. Schmerz wird zum Signal, dass man »böse« ist, wird so zum Zeichen für Schuld und kann in der Form der Sühne die Voraussetzung zur Entlastung von Schuld werden. Auch dieser Mechanismus scheint bei vielen Schmerzpatienten von großer Wichtigkeit zu sein.

Schmerz hat auch eine frühe Beziehung zur Aggression und Macht. Der Schmerz der anderen befriedigt unsere Aggression. In der Wendung des Schmerzes gegen das eigene Selbst des Patienten wird viel Aggression befriedigt, nur ist er selbst jetzt das Opfer.

Damit hängt eng zusammen die Verbindung zwischen Schmerz und realem oder befürchtetem Verlust einer geliebten Person. Verluste schmerzen den Menschen, der Schmerz kann aber wiederum auch die Qual des Verlustes lindern. Der Patient leidet sozusagen mehr unter dem Schmerz als unter dem Verlust. In der Umgangssprache wird dieser Zusammenhang als »schmerzhafter Verlust« beschrieben.

Schmerz kann eine Beziehung zu sexueller Erregung haben. Die Kombination mit Schmerz kann zu einer Verstärkung der Erregung führen. Die entsprechenden sexuellen Empfindungen werden als sadistisch und masochistisch beschrieben.

Dies war ein erster wichtiger Schritt hin zu einem modernen Schmerzverständnis.

Obgleich in der Literatur akuter und chronischer Schmerz aufgrund ihrer zeitlichen Dimension gut abzugrenzen waren, zeigte sich in der Terminologie und Klassifikation von Schmerzzuständen und Schmerzbeschreibungen insbesondere bei den chronischen Schmerzerkrankungen eine undurchsichtige Vielfalt, gekennzeichnet durch die verschiedenen Auffassungen, was Ursache und Diagnostik betraf. Stellvertretend sei hier nur das Fibromyalgie-Syndrom genannt.

2.4 Das bio-psycho-soziale Schmerzverständnis(1)

Egle und Nickel (Egle et al. 2003) stellten ein Modell vor, das gleichermaßen biologische, psychologische und soziale Sichtweisen für die Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Therapie bereitstellte und damit den Weg für ein bio-psycho-soziales Schmerzverständnis bahnte. Ich habe dieses Modell sowohl in der Lehre benutzt, bei Kolleginnen und in psychoedukativer Form bei Schmerzpatientinnen. Es vermittelt bei allen Gruppen ein übersichtliches und zugleich transparentes Verständnis für Schmerzerkrankungen und ist für die Praxis besonders gut geeignet.

Egle teilt chronische Schmerzen im Rahmen seines bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses in fünf Subgruppen ein.

Abb. 2-1: Diagnostische Subgruppen bei chronischem Schmerz (nach Egle et al. 2003), grafisch neu erstellt von M. J. Waibel.

Er konzipiert hierbei sein Modell in drei Achsen: Die vertikale Achse (biologisch) stellt Schmerzerkrankungen dar, die vornehmlich aufgrund biologischer Ursachen zu sehen sind. Die horizontale (psychische) Achse hingegen zeigt die vornehmlich seelischen Ursachen auf. Schließlich zeichnet er eine diagonale Achse, wo soziale Schmerzverursachungen mitverantwortlich sind. Das Modell ist einfach und sehr übersichtlich konzipiert und seine fünf Subgruppen decken einen Großteil von akuten und chronischen Schmerzerkrankungen ab, ohne in der Komplexitätsreduzierung die Wirklichkeit zu verfälschen. Ein Physiotherapieschüler sagte zu mir einmal im Unterricht: »Jetzt habe ich endlich das bio-psycho-soziale Modell verstanden, zuvor waren das immer nur Worthülsen, die ohnehin niemand umsetzte.«

Egle spricht ausgehend von links oben bei den primär (1)nozizeptiven bzw. (1)neuropathisch bedingten chronischen Schmerzzuständen von der biomedizinischen Schmerzverursachung. Hier entspricht die Symptomatik weitestgehend den anatomischen Gegebenheiten und den physiologischen Untersuchungsbefunden. Die Schmerzschilderungen als auch die Affekte des Patienten sind adäquat. Es können jedoch sekundäre psychische Veränderungen in Form von Gereiztheit, depressiver Verstimmtheit etc. bestehen. Beim nozizeptiven Schmerz werden periphere oder viszerale Nozizeptoren durch gewebeschädigende Reizen stimuliert. Zu diesen Krankheitsbildern gehören insbesondere Arthrosen, Morbus Bechterew, rheumatoide Arthritis u. a.

Ein kleines Prozessbeispiel aus einer meinen frühesten ambulanten Arbeiten aus den 1970er-Jahren soll dies verdeutlichen.

PROZESSBEISPIEL

Ein 18-jähriger Patient mit Morbus Scheuermann kommt in die ambulante Praxis. Er klagt seit vielen Jahren über heftige Lumbalgien und teilweise auch Brachialgien. Er möchte gerne Massagen, damit der Schmerz weggehe. Ansonsten habe er sich immer vom Arzt gesund spritzen lassen. Dieser würde das jedoch jetzt verweigern und meint, er soll lieber zu »natürlichen Methoden« greifen. Ich verfügte selber über spezifische Massagetechniken (z. B. nach Dr. Marnitz), die recht gut wirksam sind und auch reflektorisch wirken. Gerade komme ich jedoch von einem Kurs in Funktioneller Bewegungstherapie nach Klein-Vogelbach und erkläre ihm mit großer Überzeugung, dass passive Maßnahmen ihm auf die Dauer nicht helfen würden. Ich schlage ihm eine aktive körperkorrigierende krankengymnastische Arbeit vor und vermittle ihm hierzu einige grundlegende Übungen und Techniken in sechs Behandlungseinheiten. Als ich ihn drei Jahre später wiedertreffe, frage ich ihn, wie es ihm denn jetzt gehe. Er antwortet, es sei klar, dass er immer wieder leichte Kreuzschmerzen und auch Brustschmerzen habe, aber er könne inzwischen gut damit umgehen, weil er sich die einfachen und eindrücklichen Übungen gemerkt habe und jetzt weiß, worauf er achten müsse. Wenn die Schmerzen kommen, dann sei das für ihn auch logisch (z. B. falsches Heben oder bei langem Sitzen). Er sei inzwischen auch in einer anderen Krankengymnastikpraxis gewesen und habe dort weitere Übungen erlernt und jetzt wisse er ja, was er tun müsse. 

Davon unterscheidet sich der (1)neuropathische Schmerz infolge von Schädigungen des peripheren oder zentralen Nervensystems. Typische Erkrankungen sind hier Trigeminusneuralgie, chronische Schmerzen bei Zustand nach Schlaganfall, Rückenmarksverletzungen oder Plexusausrisse.

Bei nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen kann man neben den medizinischen Maßnahmen gute Erfolge mit verschiedenen physiotherapeutischen und physikalischen Techniken erzielen. Hat man hier eine differenzierte Schmerzverursachung diagnostisch abgeklärt, so kann die Therapie entsprechend erfolgreich angewendet werden.

Die zweite Gruppe sind Patienten mit »organischen Schmerzen« und einer (1)inadäquaten Krankheitsbewältigung. Die maladaptive Krankheitsbewältigung ist gekennzeichnet durch ungenügende Krankheitsbewältigungsmechanismen. Diese Patienten haben bezüglich des Schmerzes external-personenbezogene Kontrollüberzeugungen oder sogar external-fatalistische Kontrollüberzeugungen; ein sich schicksalhaftes Ergeben gegenüber den Schmerzen. Weitere Formen sind Medikamentenmissbrauch, die Neigung zum Katastrophisieren sowie ein sekundärer Krankheitsgewinn (z. B. Rentenbegehren). Hintergründe der ungenügenden Copingstrategien sind fehlende soziale Unterstützung, finanzielle bzw. berufliche Existenzängste oder andere belastende Lebenssituationen. 

Die dritte Gruppe sind nozizeptiv/neuropathische Schmerzen mit psychischer Komorbidität. 

Aufgrund epidemiologischer Studien in Deutschland liegen seelische Grunderkrankungen bei 20 bis 25 Prozent in der Bevölkerung vor, d. h. dass rein statistisch jeder vierte bis fünfte Patient mit einer körperlichen Erkrankung auch eine psychische Komorbidität aufweist. Eine solche Miterkrankung kann das Schmerzgeschehen deutlich verstärken. Depression, Angst- und Suchterkrankungen sind die häufigsten psychischen Komorbiditäten. Leider werden die Grunderkrankungen zunächst nicht erkannt und die Diagnostik und Therapie zielt auf das auslösende Ereignis wie z. B. ein Schleudertrauma. Doch der Schmerz bleibt nach acht bis zwölf Wochen weiterhin beständig, es gibt nur geringe oder keine Verbesserungen trotz der sonst wirksamen Behandlungen. Unsere Kommentare waren hier häufig, das können Sie sich vorstellen: »Na, das ist halt psychisch, die hat einen Krankheitsgewinn, das scheint nur eingebildet zu sein« usw. Auch fanden wir die Schmerzschilderungen eigenartig, die Schmerzintensität affektiv übertrieben, die geschilderten Zusammenhänge bzgl. des Auftretens und der Intensität des Schmerzes unlogisch und die anatomischen Gesetzmäßigkeiten nicht stimmig. Wie vielen Patientinnen haben wir aufgrund unseres mangelhaften Wissens damals Unrecht getan oder sie sogar entwertet?

Diagnostisch ist es sehr hilfreich, die Grunderkrankung der Patientin frühzeitig zu erkennen und entsprechend früh zu behandeln. Allerdings sind die Patientinnen häufig auf ihre körperlichen Symptome fixiert: »Ich hab’s doch im Rücken und nicht im Kopf …!« Es braucht viel Geduld, um ihnen psychoedukativ und leibhaftig die Zusammenhänge zwischen der seelischen und der körperlichen Erkrankung zu vermitteln. Das kann auch in einer Gruppentherapie leibhaftig geschehen, denn das Erleben von Schmerz z. B. in einer Stresssituation oder das Nachlassen von Schmerz durch Entspannung ist eine tiefergehende und vitalere Einsicht als nur rein kognitives Verstehen. Ich werde im Praxisteil hierfür einige Beispiele aufführen, die hilfreich zur Erarbeitung einer Therapiemotivation gerade bei dieser Patientengruppe sind.

Psychosozialer Stress ist die Hauptursache bei Patienten mit (1)funktionellem Schmerzsyndrom. Es treten verschiedene Symptome wie Muskelverspannungen, Magenkrämpfe, primäre Kopfschmerzen und verschiedene psychovegetative Symptome etc. als Reaktionen auf. Vor allem eine ängstliche Grundpersönlichkeit bzw. die Neigung zu Angst verstärken das Stresserleben. Die Bewältigungsstrategien des Patienten in Bezug auf die äußeren Anforderungen sind zu gering. Vorrangige Krankheitsbilder sind die chronisch rezidivierende Lumbalgie und Kopfschmerzen.

Bei der letzten Gruppe der (1)somatoformen Schmerzstörungen sind vornehmlich seelische Prozesse für das Schmerzgeschehen verantwortlich. Hierzu sind insbesondere nach ICD-10 die Ziffern F45 (somatoforme Störungen) zu berücksichtigen. Ebenso sind die posttraumatische Belastungsstörung und auch depressive Störungen als zu berücksichtigende Komorbiditäten hinzuzurechnen.

Noch bevor ich die Arbeiten von Prof. Egle kennengelernt hatte, erlernte ich im Rahmen meiner Ausbildung zum Integrativen Leib- und Bewegungstherapeuten, einen ganz anderen »Blick« auf diesen Patientinnen zu werfen. Dafür bin ich meinen Lehrern Sylvester Walch, Hilarion Petzold und insbesondere Hildegund Heinl Ende der 1980er-Jahre zu großem Dank verpflichtet. Sie öffneten die Lebensgeschichten ihrer Patientinnen hinter den Türen des Schmerzes, der Angst und der Depression. Obgleich ich damals schon fast zehn Jahre u. a. in einer psychosomatischen Klinik arbeitete, war mein Körper- und Leibverständnis immer noch sehr motorisch und funktionell orientiert. Die »erdrückende stumme Macht« komorbider Erkrankungen bei chronischen Schmerzen, die oft jahrelange Leidensgeschichte dahinter, der sprachlose Raum und die vorsichtige Suche nach dem, was »hinter den vordergründigen Schmerzen« steckt, nämlich der viel tiefer erlittene Schmerz in den Leibgeschichten der Patientinnen, konnte ich jetzt erst langsam entdecken. Heinl beschreibt viele solcher Patientenschicksale sehr nah und lebendig nachvollziehbar in ihren Publikationen. Die folgende Prozessbeschreibung habe ich stellvertretend dafür aus ihrem Buch »Körperschmerz – Seelenschmerz« entnommen (Heinl/Heinl 2004, S. 71):

»So kam im Jahre 1991 eine 40-jährige Patientin direkt aus der orthopädischen Fachklinik, in der sie trotz fünfwöchiger physikalisch-orthopädischer Behandlung keine Besserung ihrer chronischen Rückenschmerzen erfahren hatte, in ein Rückenseminar. Sie war wegen viele Jahre anhaltender Rückenschmerzen an einem Bandscheibenvorfall L1–L2 (zwischen dem ersten und zweiten Lendenwirbel) operiert worden, aber trotz der Operation nie mehr schmerzfrei.Die ersten beiden Tage verbrachte die Patientin nur liegend in der Gruppe. Andere Gruppenmitglieder und auch ich selbst halfen ihr bei der Lagerung und beim Lagewechsel und deckten sie liebevoll zu. Es war der Patientin anzusehen, wie schmerzvoll jede Bewegung für sie war. Schmerz, Trauer, ja Verzweiflung spiegelten sich in ihrem Gesicht wider. Dennoch nahm die Patientin aufmerksam, wenn auch schweigend, am Gruppengeschehen teil.Am dritten Tag jedoch wurde die Patientin unerwartet von starken Gefühlen der Verlassenheit und von Ängsten überfallen, ja schier überwältigt. Unter heftigem Weinen berichtete sie dann, dass sie ein Findelkind sei. Als Neugeborene sei sie auf der Treppe eines städtischen Waisenhauses abgelegt worden. Ihre Kindheit hatte sie unter körperlichen Misshandlungen und seelischer Pein in Pflegefamilien durchlitten.Trotz dieses traurigen Schicksals war es der Patientin möglich, Vertrauen zu mir zu fassen und in eine leibtherapeutische Arbeit einzuwilligen, deren Ziel es war, zu versuchen, ihr auf diesem Wege verdrängte, psychologische Ursachen für ihre chronischen Rückenbeschwerden bewusst zu machen.Ich legte meine Hände behutsam auf ihren schmerzenden Rücken. Während ich dies tat und dann sanft mit meinen Händen über ihren Rücken strich, wurde ihr ganzer Körper von wellenförmigen Stößen und einem tiefen Schluchzen erfasst, wie ich es nur bei Säuglingen kenne. Ich fühlte, wie sich ihre bislang seilartig angespannte Rückenmuskulatur allmählich unter der sanften Berührung meiner Hände zu lösen begann und weicher wurde. Schließlich nahm ich sie bergend in meine Arme und tröstete sie, bis ihr Weinen versiegte. Eingehüllt in Decken ruhte sich die Patientin im Schoß der Co‑Therapeutin aus. Eine halbe Stunde später schlug sie die Decken zurück, öffnete die Augen und blickte, so als ob sie aus einem Traum erwacht, mit gelösten Gesichtszügen um sich. […]Auch fünf Jahre nach diesem ersten Seminar ging es ihr insgesamt gesehen gut: In der Regel war sie schmerzfrei. Ihre Rückenschmerzen meldeten sich immer nur dann, wenn sie unter starkem äußerem Druck stand, wie bei finanziellen Sorgen oder bei schwierigen, konflikthaften Beziehungen.«

Psychosomatische Modelle und ein diesbezügliches Grundverständnis zu Schmerz verschaffen einen ersten guten Überblick über die komplexen Ursachen, Symptome und Zusammenhänge bei den verschiedensten Schmerzerkrankungen. Sie reduzieren auch die Komplexität von Schmerz nicht in unzulässiger Form und sind in der Lehre als auch im Team zum gegenseitigen Verständnis unterschiedlicher Berufsgruppen zunächst gut geeignet.

2.5 Ein (1)neurobiologisches Schmerzverständnis

Die neurobiologische Forschung hat gerade in Bezug auf das Verständnis des chronischen Schmerzes viele neue Erkenntnisse vermittelt. Beeindruckend für mich war die fMRI-Studie von Eisenberger et al. 2003, wo sie und ihr Team in einer Neuroimaging-Studie nachweisen, dass die neuronalen Korrelate sozialer Ausgrenzung denen des körperlichen Schmerzes ähnlich sind.

Der neurobiologischen Forschung ist es zu verdanken, dass wir heutzutage ein generell anderes Schmerzverständnis bei chronischen Schmerzen haben. Neurobiologen konnten aufzeigen, dass es gerade bei chronischen Schmerzen zu Veränderungen in den Bereichen des Rückenmarks und im Gehirn kommt. Es vermehren sich neurobiologische Hinweise und korrelative Befunde (Amygdala, Hippocampus, Gyrus cinguli u. a.) für die vielfältige chronische Schmerzverursachung, die neben organischen Ursachen besonders durch Entwicklungsdefizite, Traumata, Vernachlässigung und soziale Ausgrenzung verursacht werden können. Gerade in der Psychoedukation sind solche körperlichen Korrelate für Patientinnen zum Verständnis ihrer Erkrankung (»Man sagt mir, ich hätte nichts …«) schon heute für die Praxis sehr wichtig (… man sieht hier was!). Aus einem naturwissenschaftlichen Verständnis gibt es nun medizinische Belege für das Vorhandensein der chronischen Schmerzerkrankung. Und das kann für die Einsicht und Motivation zu einer umfassenden Schmerztherapie äußerst hilfreich sein. Egle (Egle et al. 2020, Egle/Zentgraf 2021) konzipiert inzwischen sein gesamtes Verständnis von Schmerzerkrankungen auf einem evidenzbasierten neurobiologischen Modell mit dem zuvor beschriebenen bio-psycho-sozialen Modell.

Der seit der Jahrtausendwende eingetretene »neurobiologische Hype« in der Psychotherapie (Brunner 2017) ist allerdings inzwischen wieder etwas abgekühlt. Es gibt zwar immer mehr neurobiologische Forschung gerade auch zur Schmerztherapie, die Tendenz neurobiologischer Befunde, menschliches Verhalten und Erleben vorschnell zu interpretieren, ist inzwischen jedoch einer größeren Zurückhaltung gewichen.

Brunners Ausführungen (ebd.) zu den komplexen Wechselwirkungen zwischen Genetik und Umwelteinflüssen belegen, dass z. B. Traumatisierungen in der Kindheit lebenslange psychobiologische Narben (Scars) im limbischen System und im präfrontalen Kortex hinterlassen. Diese weisen auf seelische Erkrankungen und chronischen Schmerz hin. Misshandlung und Missbrauch führen zu breit gefächerten epigenetischen Veränderungen. Damit sind Veränderungen der Genexpression/Genregulation gemeint, die durch Umwelteinflüsse hervorgerufen werden, die Gensequenz aber nicht verändern. Brunner betont jedoch, dass die neurowissenschaftliche Forschung hier keineswegs Anlass zu neurobiologischem Fatalismus oder therapeutischem Nihilismus geben sollte, denn Entwicklungsdefizite und -störungen sind auch später noch partiell korrigierbar oder zumindest modifizierbar. Welche psychotherapeutischen und insbesondere körperpsychotherapeutischen Vorgehensweisen gerade bei chronischem Schmerz besonders effektiv sind in Bezug auf epigenetische Veränderungen, wird zukünftiger Forschung vorbehalten sein. Ich bin mir jedoch sicher, dass eine Schädigung am Leibe auch eine Therapie am Leibe erfordert.

Fuchs 2020 kritisiert das neurobiologische Konstruktivismusmodell gleichsam wie schon den Dualismus bei Descartes, da beide auf der »doppelten Entleiblichung« beruhen. Der lebendige Leib, das, was wir wahrnehmen, fühlen, erleben, ja, unsere gesamte Subjektivität wird nun reduziert auf das bloße Körperding und hier auf das Gehirn bzw. auf das Rückenmark. Aber nicht das Gehirn empfindet Schmerz, sondern wir erleben den Schmerz als Person an unserem Leibe. Nicht das Gehirn ist es, das fühlt, denkt, wahrnimmt oder sich bewegt, sondern wir als Lebewesen, als ganze lebendige Organismen. Wir werden für unsere Mitmenschen nicht nur durch unsere Gehirne und unser Denken wahrnehmbar, sondern doch vor allem durch unsere Erscheinung, unsere Bewegungen, unseren Ausdruck, unseren Kontakt und die Begegnung mit anderen.

Das Problem in der neurobiologischen Forschung ist bei aller beeindruckenden Erkenntnis: Sie reduziert die lebendige Welt auf physikalisch-chemische Prozesse und damit wird die Lebendigkeit, die Subjektivität des menschlichen Erlebens, gebunden an den eigenen Leib, zur Achillesferse der neurobiologischen Beweisführung. Der Mensch ist mehr als sein Körper. Wäre er nur materieller Körper, dann wäre auch ein Leichnam ein Mensch. Was macht also das Menschsein aus? Sein Leib, seine Lebendigkeit und seine Subjektivität. Der chronische Schmerz greift alle drei Bereiche des Menschseins an. 

Nun ist die neurobiologische Wissenschaft im Verstehen von chronischem Schmerz schon weit vorgedrungen. Jedoch selbst Forscher (Deissenroth 2021), die mit modernsten Methoden wie der Optogenetik und dem Hydrogelgewebeverfahren arbeiten und damit Hirnforschern völlig neue Möglichkeiten der Beobachtungen am lebenden Gehirn ermöglichen, kommen zu dem Ergebnis, dass diese keinen direkten Einblick in das innere Erleben eines anderen Menschen vermitteln. Deissenroth (ebd.) spricht bei der Erforschung der menschlichen Gefühle (»Der Stoff, aus dem die Gefühle sind«) von drei Erkenntnisachsen: Die erste Achse sei die Geschichte des Psychiaters, die er von sich und seinen Patienten erzählt. Auf dieser Achse erfahren wir einen Teil des unsichtbaren inneren Erlebens unserer Patientinnen aus einer interpretativen fachlichen Sicht. Die zweite Achse sind die Emotionen der subjektiven Innenwelt von Menschen. Das sind universelle Empfindungen wie Verlust und Trauer in zwischenmenschlichen Beziehungen, die wir alle kennen, deren Auftreten und Äußerungen jedoch individuumsspezifisch sind. Und auf der dritten Achse beschreibt Deissenroth das rasch sich entwickelnde wissenschaftliche Verständnis, mit dem neue bildgebende Verfahren uns verstehen lassen, was physiologistisch in unserem Gehirn passiert. Er begeht aber nicht den Kategorienfehler anderer Neurowissenschaftler, messbare physiologisch-materielle Vorgänge auf dieser dritten Achse dahingehend zu interpretieren, was wir unter menschlichem Bewusstsein, Geist, Subjektivität, menschlichem Erleben, Lebendigkeit und Spüren verstehen. Vielmehr sind es drei unterschiedliche, einander ergänzende Sichtweisen.

In der körper-, leib- und bewegungstherapeutischen Vorgehensweise stützen sich viele Methoden auf das Sichtbare, Bewegte, durch Körper und Leib Ausgedrückte. Das ist vergleichbar mit Deissenroths erster und zweiter Achsenperspektive. Hier gleiten wir noch nicht in cartesianische Denkmuster ab, wenn wir die Phänomene unserer Patienten wahrnehmen, erfassen und zu beschreiben versuchen. 

Ich will mich nun im folgenden Abschnitt aus drei Gründen der phänomenologischen Methode eingehender widmen: weil sie sich erstens mit der cartesianischen Spaltung in den Wissenschaften intensiv auseinandersetzt und einen wichtigen Gegenpol hierzu darstellt (Frank/Weidtmann 2010, Schmitz 2019, Fuchs 2021), weil sie sich zweitens aus einer philosophischen Sicht mit dem befasst, was für Menschen in ihrem leiblichen und räumlichen Erleben tatsächlich wichtig ist (z. B. Lebenserfahrungen und affektive Betroffenheit), und weil sie drittens für eine leibtherapeutische Arbeit eine optimale Zugangsweise zu unseren chronischen Schmerzpatienten bietet, ohne deren Denken, Erleben in Objekt-Subjekt-Relationen zu teilen bzw. in wahr/falsch-Relationen zu interpretieren.

2.6 Ein (1)philosophisch-phänomenologisches Schmerzverständnis

Wenn man die phänomenologische Literatur, beginnend von ihrem Begründer Edmund Husserl bis hin zur neueren Phänomenologie bei Hermann Schmitz, in Bezug auf den chronischen Schmerz sichtet, dann ist das wirkliche Subjekt chronischen Schmerzes weder das körperlose Bewusstsein noch der physiologische Körper, sondern die verkörperte Subjektivität. Diese verkörperte Subjektivität des chronischen Schmerzerlebens findet sich in der Person selbst. Eine rein medizinische bzw. neurophysiologische Identifizierung des Körpers als objektiver Ort chronischen Schmerzes ist aus dieser Sichtweise schon allein deswegen abzulehnen, weil dies zu offenkundigen Mängeln und Verkünstelungen der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung führt (vgl. Schmitz 2007, S. 15). Schmitz meint damit, was auch schon Deissenroth als neurobiologischer Forscher betont: Man kann Gefühle und Empfindungen, aber auch Gedanken nicht einfach psychologisch interpretieren, man kann sie nicht in materielle Substrate zerlegen oder vereinfachend sagen: »Die Angst sitzt in der Amygdala. Jetzt wissen wir, was Angst ist.« Das sind Kategorienfehler und Vereinfachungen, die versuchen, Materielles (Organfunktionen) und Transmaterielles (Gefühle, Gedanken, subjektives Erleben) zu vermischen, über einen Kamm zu scheren. Der spürbare Leib, so Schmitz, würde hier ganz vergessen oder, soweit man Restbestände wie den Schmerz nicht vergessen kann, in einen Zustand des sezierbaren Körpers aufgelöst (ebd.). Es ist der Versuch, den Menschen zu objektivieren, doch der Mensch ist ein Leib-Subjekt in der Lebenswelt, denn jeder Mensch erlebt und verarbeitet Schmerz in seinem Auftreten und seiner Intensität subjektiv und individuell. Das Subjekt ist aber im Gehirn nicht zu finden, das betont Fuchs 2021. Das Gehirn ist vielmehr das Organ, das unsere Beziehung zur Welt, zu den Mitmenschen und zu uns selbst vermittelt: Das Gehirn ist ein Beziehungsorgan. Auch Fuchs ist der Überzeugung, dass wir in unserer lebensweltlichen Selbsterfahrung nicht zwischen Körper, Seele und Geist unterscheiden. Wir sind verkörperte seelisch-geistige Wesen, vereinfacht und zugleich kompliziert gesagt: leibhaftige Wesen. Es ist zu erahnen, wie viel hinter diesem Begriff steckt. Wir bezeichnen uns auch als persönliche Wesen oder ganz einfach als Personen. Dadurch wird verständlich, was damit gemeint ist, wenn Phänomenologen davon sprechen, dass die verkörperte Subjektivität des chronischen Schmerzerlebens sich in der Person selbst findet.

Der chronische Schmerz trifft somit nicht vorrangig den physiologischen Körper des Menschen wie vornehmlich beim akuten Schmerz, sondern die ganze Person.

Was heißt es, eine Person zu sein? Geniusas 2015 definiert den Begriff in Anlehnung an Edmund Husserl 1952 folgendermaßen:

»Eine Person zu sein bedeutet, ein verkörpertes Subjekt von kognitiven, emotiven und praktischen Handlungen zu sein. Eine Person zu sein bedeutet, in einer intentionalen Beziehung zu seiner Umgebung sowie in einer kommunikativen Beziehung zu anderen zu stehen. Eine Person zu sein heißt, eine einzigartige Geschichte zu haben, die in hohem Grad den eigenen Lebensstil bestimmt.«

Geniusas (ebd.) greift das Konzept des chronischen Schmerzes in Bezug auf die Husserlschen Definition der Person auf und spricht von einem Bruch, der den tiefsten Kern persönlicher Existenz betrifft. Er sieht hier vier Aspekte:

Erstens unterbreche der chronische Schmerz die normale Beziehung zwischen dem Selbst und dem Leib, sodass der Betroffene meint, sein Körper sei gegen ihn, als hätte er einen Feind oder er würde zu etwas Fremdem werden.

Zweitens verändert der Schmerz das Selbstverständnis oder Selbstverhältnis zur Person, weil der Schmerz das Gefühl der Verlässlichkeit zum eigenen Leibe raube und selbst einfache Tätigkeiten wie Treppensteigen oder Gehen zu einer Herausforderung werden.

Drittens unterbreche der Schmerz unsere wahrnehmungsbasierten, emotiven und konzeptuellen Beziehungen zur Welt, weil ständige Kopfschmerzen es uns schier unmöglich machen, klare Gedanken zu fassen, oder chronische Rückenschmerzen unsere emotionalen Beziehungen zu anderen vergessen lassen und der eigene Körper damit zum einzigen wahrnehmbaren, emotionalen und konzeptionellen Objekt wird.

Und viertens bringt der Schmerz die Beziehungen zu anderen Menschen aus dem Gleichgewicht, weil die Person den Schmerz nicht mit anderen teilen kann. Schmerz hat eine isolierende Natur, denn irgendwann glaube einem die Schmerzerfahrung niemand mehr oder sie mache von anderen Menschen abhängig, ja sogar einsam.

Die phänomenologische Argumentation besticht hierbei, dass nämlich aufgrund dieser Schmerzerfahrungen nicht der physiologische Körper vorrangig betroffen ist, sondern vielmehr die ganze Person als lebendiges Subjekt in seiner Lebenswelt.

Buytendijk 1961 betont, »je vehementer der Schmerz ist, desto tiefer geht er, und beeinflusst so nicht nur das Körper-Selbst, sondern auch unsere eigentliche Persönlichkeit«. 

Wenn die Person selbst Subjekt des Schmerzes ist, dann kann man sehr trivial argumentieren, dass der Schmerz von der Person nicht abgekoppelt und auf eine rein physiologistische Form reduziert werden kann. Schmerz betrifft den Menschen immer als gesamte Körper-Seele-Geist-Einheit. Selbst ein kleiner Tritt auf einen Nagel, um mal beim Descartes-Beispiel zu bleiben, tut nicht nur körperlich weh, er führt zum Affektausdruck (»Auaahh!«), und möglicherweise sogar zu einer Reflexion (»Warum habe ich mich so dumm angestellt und den Nagel nicht gesehen?«) bzw. zu einer sozialen Bezogenheit (»Wer hat diesen Nagel dort hingelegt?«). Die cartesianische Spaltung, die physiologische Reduzierung ist eine künstliche, in der wir wie gefangen sind. Aus einer biologistisch-cartesianischen Sicht wird der Schmerz vergegenständlicht und von der Person des Menschen abgetrennt. Das führt wie oben beschrieben zu einer besonderen Bürde für Patientin und Behandelnde. 

Hermann Schmitz, einer der bekanntesten Phänomenologen unserer Zeit und Begründer der Neuen Phänomenologie (2019), kritisiert in seinen Werken die in unserer Kultur dominierende Vergegenständlichung, die vom cartesianischen Denken bis hin zu den modernen Naturwissenschaften bestimmend sei und damit für unser Weltbild prägend ist. Damit befänden wir uns in einer »materialistischen Sackgasse«, in der wir wichtige menschliche Seinserfahrungen wie »Schönheit, Anmut, eindrucksvolle Atmosphären, Ergriffenheit«, aber eben auch negative Erfahrungen wie den chronischen Schmerz und Leid, die für uns lebensbestimmend sind, nicht erfassen.

Was ist für uns Menschen eigentlich wichtig und was zeichnet den Menschen aus? Diese Frage stellt sich in unserer Zeit noch einmal ganz aktuell, da wir im Begriff sind, humanoide Roboter zu erschaffen.

Der Phänomenologie und Psychiater Thomas Fuchs (Fuchs 2020) schreibt einen denkwürdigen Satz in seinem neuen Buch »Die Verteidigung des Menschen«: »Leib, Subjektivität und Lebendigkeit sind die letzten Bastionen, die es für Künstliche Intelligenz, Informationstechnologie und Robotik zu überwinden gilt, um menschengleich zu werden.« Ich bin mir sicher, falls dies eines Tages gelingen sollte, würden dort keinesfalls Schaltkreise für chronischen Schmerz installiert werden. Sicherlich würden diese »humanoiden Roboter« über entsprechend vielfältige Rückkoppelungsmechanismen verfügen, doch kann ich mir nicht vorstellen, dass bei einer Fehlermeldung auf dem Display oder in der Robotersprache die Meldung kommt: »Ich habe Schmerzen.« und vielleicht nach drei Monaten »Ich habe chronische Schmerzen.« Vielmehr würde die Meldung lauten: »Die S45aX-Leitung ist beschädigt, bitte um Überprüfung.« Die Vorgehensweise bei künstlicher Intelligenz, in den modernen Informationstechnologien und in der Robotik ist aber mit der vergleichbar, die wir heute in der Medizin und den Naturwissenschaften anwenden: Wir versuchen, pathologische Vorgänge auf ihr materielles Substrat zu untersuchen, um dieses zu verstehen und entsprechende Lösungen zu finden. In der letzten Konsequenz versuchen wir, so auch menschenähnliche Lebewesen in der Zukunft zu erschaffen. Halt – hier ist sprachlich schon ein Kategorienfehler entstanden, denn Lebewesen sind Geschöpfe, die »Leben« in sich tragen, und das würden wir wahrscheinlich oder hoffentlich von humanoiden Robotern nicht sagen.

Für die hautnahe Auseinandersetzung mit diesem Thema empfehle ich den Film »Ich bin dein Mensch« (2021), in dem die Protagonistin sich auf das Experiment einlässt, für zwei Wochen mit einem nach ihren Vorstellungen erschaffenen humanoiden Roboter zusammenzuleben. Der Film greift all diese Gedankengänge auf: Was ist menschlich und was kann durch materialistische Wissenschaft erschaffen und erklärt werden?

Leib, Lebendigkeit und Subjektivität sind spezifisch menschliche Eigenschaften, die unser Menschsein überhaupt erst ausmachen, und dazu gehört leider auch der Schmerz. Der Schmerz selbst und insbesondere der chronische Schmerz wäre sicherlich in der »schönen neuen Welt« nicht mehr vorhanden. Schmerz gehört zum Menschsein, doch bei dieser Aussage würden wohl die allermeisten Patientinnen sagen: »Danke, darauf kann ich gut verzichten!«. Ist demnach der chronische Schmerz eine bösartige willkürliche Ausprägung der Natur oder ein besonderer Ausdruck menschlichen Seins, eine spezifische Form des Leids, das uns so menschlich macht? Und will er uns etwas sagen oder ist er einfach sinnlos?

Wenn jemand vom Schmerz spricht, wird zugleich das Widrige, das, was einen berührt, bewegt oder bedrängt, angesprochen. Maio (Maio/Bozzaro/Eichinger 2015) spricht vom Schmerz als Widerfahrnis und bezeichnet ihn als eine »tyrannische Erscheinung«. Er bricht in die Welt des Menschen ein und macht sich in ihr breit. Er okkupiert jeden Raum, zwängt sich dem Menschen auf und nimmt keine Rücksicht darauf, wer wir sind, was wir wollen und wie wir unser Leben führen. Maio (ebd.) führt dies drastisch und sehr treffend aus: »Der Schmerz bewirkt somit nichts weniger als eine totale Gefangennahme des Menschen«. Der Schmerz sei wohl das dramatischste und totalisierendste Widererfahrnis, das der Mensch erleben kann. Er bedroht nicht nur die Gegenwart, sondern auch die gesamte Zukunft. Das verleitet dazu, dass Patienten sich zurückziehen, weil gerade der chronische Schmerzpatient irgendwann aufhört, sich den Mitmenschen erklären zu wollen, da die Normalität des Daseins außer Kraft gesetzt ist und er es nicht zulässt, ein Leben wie die anderen zu führen. Der chronische Schmerz hat eine vereinsamende Wirkung und nimmt den Menschen aus einer Gesellschaft, die auf Zufriedenheit, Glück, Leistung und Wettbewerb setzt. Als Folgen sind häufig die Gefährdung des Arbeitsplatzes und ein möglicher ökonomischer und sozialer Abstieg zu befürchten.

Somit wird der Schmerz aber zu einer extremen Herausforderung für Patienten und Behandelnde: Wie kann er besiegt werden, welche Methoden helfen? Die Ursache für den chronischen Schmerz zu finden, und seien es auch »nur« neurobiologische Zusammenhänge, ist zweifelsfrei eine Aufgabe aller am Behandlungsprozess Beteiligten und der erste wichtige Schritt. Zugleich setzt er sowohl Patientinnen als auch Therapeutinnen unter fast unerträglichen Erfolgsdruck und verstärkt die Angst vor einer Niederlage, wenn die Schmerzen nicht objektiviert werden können bzw. trotz Objektivierung nicht besser werden. Hier stellt sich dann schnell die Schuldfrage, die letztendlich in eine Sackgasse führt. Maio (ebd.) spricht hier von einem in unserer Welt beherrschenden Kontrollimperativ: »Der Schmerz kann besiegt werden«. Was passiert aber, wenn er nicht besiegt wird? Der falsche Arzt? Die falsche Methode? Die ewige Suche nach jemandem, der ihn besiegen kann? Oder bilde ich mir die Schmerzen nur ein? Bin ich schuld? Was ist los mit mir, dass ich die Schmerzen nicht loswerde? Bin ich verrückt?

Diese Machbarkeitsideologie wird nicht nur Patientinnen, sondern auch den Behandlerinnen zum Verhängnis – besonders dann, wenn Schmerzfreiheit die einzige Zielsetzung ist bzw. keine Arbeit mit dem Patienten dahingehend stattfindet, dass auch ein Leben mit Schmerzen möglich ist und der Schmerz zur Bewältigungsaufgabe wird. Auch Schmerzen lassen Freiheitsräume zu, dies erfordert aber, dass unsere Patienten ihr Leben neu einrichten, eine große Herausforderung für die Behandelnden als auch die Schmerzpatientinnen. Nicht die Angst vor dem Schmerz, sondern der Einsatz für ein möglichst gut arrangiertes Leben mit dem Schmerz steht nun im Vordergrund. Das heißt, die gesamte Energie nun auf die Ressourcen zu fokussieren. Wo gibt es Möglichkeits-, Handlungs- und Spielräume auf den leiblichen, sozialen, betätigenden, materiellen und Sinnebenen? Diesbezügliche Sinnebenen beschreibe ich in Form der Ressourcenarbeit u. a. in den Kapiteln 4.5.4 und 6.3.

Eine andere Seite des Schmerzes ist der »schmerzhafte Verlust«. Schmerz ist auch ein Gefühl für etwas, was uns verlorengegangen ist, sei es ein liebgewonnener Mensch, eine Überzeugung oder einfach ein Stück Gesundheit. Ein »guter« Schmerz lässt uns diesen Verlust verarbeiten, z. B. in Form von Trauer. Darauf werde ich in der therapeutischen Arbeit in Kapitel 6.4.7 näher eingehen.

2.7 Das leibparadigmatische Schmerzverständnis(1) in der Integrativen Therapie

In unserem integrativen Verständnis sehen wir den chronischen Schmerz als eine transmaterielle Emergenz des Organismus (Petzold 2007). Darunter verstehen wir, dass materielle neurophysiologische Verarbeitungsprozesse biochemische und transmaterielle Informationen in Form von motorischen, emotionalen, ikonischen oder sprachlichen Schemata bzw. Narrativen emergieren lassen. Das heißt: Schmerz ist ein Phänomen, das zwar teilweise messbar und sichtbar ist, gerade bei organisch ursächlich bedingten Schmerzen wie einer Nervenläsion (biologistische Sichtweise), aber ebenso nicht konkret fassbar und objektivierbar wie z. B. bei emotionalen und sozialen Schmerzursachen.

Schmerz und Schmerzerleben haben zum einen materielle, organismische Grundlagen wie alle Lebensprozesse, zum anderen sind sie jedoch mit unseren physikalisch-naturwissenschaftlichen Beschreibungen nur begrenzt bzw. nicht zu erfassen und damit transmateriell. Ein Beispiel: Das schmerzende Fußgelenk, mit dem ich gerade umgeknickt bin, ist für mich greif- und sichtbar, z. B. durch Schwellung, Rötung usw., und auch die unsichtbaren biochemischen Prozesse wie die Ausschüttung von Entzündungsmediatoren oder die Signalübertragung der Nozizeptoren an das zentrale Nervensystem sind prinzipiell nachweisbar und damit materieller Natur. Dagegen beschreiben meine Gefühle, Gedanken, Willensakte, also psychische und geistige Prozesse insgesamt, die transmaterielle Wirklichkeit. Ich ärgere mich beispielsweise darüber, dass ich den Bordstein übersehen habe, an dem ich gerade umgeknickt bin. Und ich bin traurig, dass ich nun am Wochenende nicht auf die Tanzparty kann.

Das subjektive Schmerzerleben eines Individuums ist ohnehin in seiner Komplexität niemals zu objektivieren. Das widerspräche auch unserem metatheoretischen Leibverständnis. Ludwig 2013 betont, dass in der Integrativen Therapie der Leib als ein Zusammenwirken von materieller und transmaterieller Wirklichkeit(1) gesehen wird. Die materielle Wirklichkeit umfasse den biologischen Organismus, der die Grundlage aller Lebensprozesse bildet, einschließlich der neuronalen, immunologischen und genetischen Speichersysteme. Transmateriell besagt hingegen, dass die oben beschriebenen Phänomene über das Materielle hinausgehen. Emergenz beschreibt die Tatsache, dass beispielsweise die im Gehirn ablaufenden und mit modernen bildgebenden Verfahren darstellbaren neurophysiologischen Prozesse etwas Neues herausbilden (Gedanken, Gefühle etc.), das auf die Eigenschaften der an diesen Prozessen beteiligten Elemente (chemische Substanzen, Hirnzellen, Synapsen etc.) nicht zurückzuführen ist. Denn Neurotransmitter oder die Aktivität der Amygdala ist nicht mit dem persönlichen Empfinden von Ärger oder Unzufriedenheit gleichzusetzen!

Schmerz ist für uns eine spezifische Erlebens-, Erleidens- und Ausdrucksform des Leibes, die sich in unterschiedlichen Phänomenen äußert. In der Therapie ist es unser Ziel, die Phänomene des schmerzenden Leibes unserer Patientinnen wahrzunehmen, zu erfassen, zu verstehen und in entsprechenden therapeutisch wirksamen Interventionen zu lindern. Eine umfassende kreative und leibhaftige Anamnese und Diagnostik ist hierbei Ausgangspunkt unseres Handelns. Eigenleibliches Spüren und Erleben, exterozeptives und interozeptives Wahrnehmen, Verarbeiten, Memorieren und Lernen werden hierbei sorgfältig miteinander verknüpft.