Körpervertrauen - Ruth Knaup - E-Book

Körpervertrauen E-Book

Ruth Knaup

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Beschreibung

Der Körper ist unser Tor zur Welt. Regen im Gesicht spüren, ein orientalisches Gericht schmecken, den Duft trockener Kiefern einatmen, in einer Umarmung versinken, uns zu Musik bewegen: all das können wir nur durch unseren Körper. Überall da, wo wir fühlen, handeln und gestalten, hat das Leben eine völlig andere Intensität, als dort, wo wir nur konsumieren. Die virtuelle Welt wird immer nur ein zweidimensionales, ödes Abbild der Fülle an sensorischen Erfahrungen und motorischen Ausdrucksmöglichkeiten sein, die unser wunderbarer Körper uns erlaubt. Letztlich sind und bleiben wir Teil des großen Ganzen: Es kann keinen sinnvollen Gegensatz geben zwischen »Mensch« und »Natur«. Nur, wenn wir uns selbst körperlich als Teil der Welt wahrnehmen und spüren können, können wir vertrauensvoll und achtsam mit ihr umgehen. In diesem hochaktuellen Buch zeigt uns Ruth Knaup, wie wichtig es ist, mit unserem Körper in liebevollen Kontakt zu kommen und wie uns das im Alltag über sinnliche Nähe, Musikmachen, Naturerfahrung, achtsames Essen und körperlich erfahrbare Spiritualität gelingen kann. Unser Körper ist so viel mehr als ein Virengastgeber! Wenden wir uns ihm wieder positiv zu, denn so erfahren wir unmittelbar, was es bedeutet, wirklich lebendig zu sein.

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Ruth Knaup

KÖRPERVERTRAUEN

Der Weg zu mehr Lebendigkeit und Lebensfreude

SCORPIO

Wichtiger Hinweis:

Die Informationen und Ratschlage in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt von Autorin und Verlag erarbeitet und geprüft. Alle Leserinnen und Leser sind jedoch aufgefordert, selbst zu entscheiden, ob und inwieweit sie die Anregungen in diesem Buch umsetzen wollen. Eine Haftung der Autorin bzw. des Verlags für Personen-, Sach- oder Vermögensschaden ist ausgeschlossen.

1. eBook-Ausgabe 2022

© 2022 Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Schlusskorrektur: Ulla Rahn-Huber

Layout und Satz: Margarita Maiseyeva

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-432-7

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

INHALT

VORWORT

EINFÜHRUNG:

Körpervertrauen und Lebendigkeit

1. SELBSTWIRKSAMKEIT SPIELERISCH ERFAHREN:

Wie sich Körpervertrauen entwickelt

2. SEX UND INTIMITÄT GENIESSEN:

Den Drachen der Lust mutig reiten

3. WANDLUNGEN UND ÜBERGÄNGE:

Wieder heimfinden, wenn der eigene Körper sich plötzlich fremd anfühlt

4. KANN EXPERTENWISSEN UNSER KÖRPERVERTRAUEN ERSETZEN?

Selbstverantwortung in schwierigen Zeiten

5. BERÜHRUNG UND VERBUNDENHEIT:

Wie vertrauensvolle Nähe uns stärkt

6. HÖR DOCH MAL AUF DEINEN BAUCH!

Was Darm und Vagusnerv mit Vertrauen zu tun haben

7. EIN TEIL VON ALLEM, WAS LEBT:

Wie Naturerfahrungen unser Körpervertrauen stärken

8. DIE WELT ALS KLANG:

Musik ist Resonanzerfahrung

9. SPIRITUALITÄT ERLEBEN:

Der Körper als Tempel des Heiligen

DANKSAGUNG

LITERATUR

VORWORT

So, wie jede Musikerin Vertrauen in ihr Instrument braucht, brauchen wir alle Vertrauen in das Instrument, auf dem wir unser Leben spielen: unseren Körper. Und wie jedes Instrument seine ganz eigene Klangfarbe hat, sein Material, seine Blessuren, die den besonderen Klang mitprägen, sind auch unsere Körper einzigartig. Wir brauchen keine ruinös teure »Stradivari«, um auszudrücken, was wir sind. Die Musik Osteuropas wird häufig auf Instrumenten gespielt, die eine lange Geschichte hinter sich haben. Sie scheppert manchmal ein bisschen – und ist voller Intensität, Lebensmut, Melancholie, Feuer und Trauer.

Einmal hat eine Musikerin aus dem Bekanntenkreis mir ihre Geige in die Hand gegeben. Es war ein geradezu heiliger Moment. Ich spürte, was für ein Vertrauensbeweis das ist. Ein andermal kam mich meine Freundin Aisha besuchen und brachte ihre neue, selbst gebaute Harfe mit. Ihr Spiel berührte mich tief. Nicht durch seine Virtuosität, sondern wegen der Beziehung, die zwischen Harfe und Aisha spürbar war – sie wurden eins in der Bewegung und im Klang.

Mit der Wahrnehmung einer Tänzerin und Psychologin dachte ich: Genau, mit solcher Achtsamkeit und liebevollen Hingabe sollten wir alle unser persönlichstes Instrument, unseren Körper, behandeln.

Während der Corona-Zeit haben wir alles Körperliche fast ausschließlich durch die Brille von Krankheit und Gefahr betrachten gelernt. Das hatte eine große Entfremdung zur Folge. Statt eine vertrauensvolle Liebesbeziehung zu unserem Körper zu pflegen, untersuchten wir ihn tagaus, tagein voller Angst auf Krankheitssymptome. Das Leben sollte möglichst nur noch virtuell stattfinden, körperliche Berührungen tunlichst vermieden werden. Seit Jahren weisen Neurowissenschaftler/-innen darauf hin, dass vertrauensvolle körperliche Nähe für uns Menschen unverzichtbar ist, in jedem Lebensalter. Natürlich ändert sich das nicht durch eine Pandemie.

Je mehr die Digitalisierung und Entkörperung der Gesellschaft voranschreiten, umso größer wird die Sehnsucht vieler Menschen nach ganzheitlichen, lebendigen Erfahrungen und Begegnungen.

Der Körper ist unser Tor zur Welt. Bäume rauschen hören, Regen im Gesicht spüren, ein orientalisches Gericht schmecken, den Duft trockener Kiefern einatmen, jemanden umarmen, uns zu Musik bewegen: All das können wir nur mit und durch unseren Körper. Die virtuelle Welt wird immer nur ein zweidimensionales, ödes Abbild der Fülle an sensorischen Erfahrungen und motorischen Ausdrucksmöglichkeiten sein, die unser wunderbarer Körper uns erlaubt. Letztlich sind und bleiben wir Teil des großen Ganzen: Es kann keinen sinnvollen Gegensatz geben zwischen »Mensch« und »Natur«. Nur wenn wir uns körperlich als Teil alles Belebten wahrnehmen und spüren, können wir vertrauensvoll und achtsam in der Welt sein. Deshalb fällt es vielen Menschen draußen in der Natur besonders leicht, auch ihr eigenes Körpervertrauen zu stärken.

Wie groß die Weisheit des Körpers ist, lässt sich inzwischen auch neurophysiologisch abbilden. Bei einer Berührung, die uns angenehm ist und die wir vertrauensvoll genießen können, wird eine Vielzahl von Hormonen freigesetzt, die unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit fördern. Erleben wir die gleiche Berührung jedoch als aufgezwungen und übergriffig, werden Stresshormone ausgeschüttet, die signalisieren: Abstand nehmen! Grenzen setzen! Dies alles findet auch statt, wenn wir es gar nicht bewusst wahrnehmen. Nicht der Kopf entscheidet zuerst, sondern der Körper – eben intuitiv. Je besser wir gelernt haben, ihm zu vertrauen, desto eher können wir ein Leben führen, das uns guttut.

Über die positive Hinwendung zu unserem Körper kommen wir in Kontakt mit dem Wunder des Lebens, mit all seiner Verletzlichkeit, seiner Unkontrollierbarkeit, aber auch seiner unerschöpflichen Kraft der Wandlung und Erneuerung. So kann sich noch ein anderes Fenster öffnen: das der spirituellen Suche. Wir wollen unser Vertrauen erweitern in eine höhere Kraft, wie auch immer wir sie nennen. Pilgern, Yoga und andere Formen spiritueller Körperarbeit bieten neue Wege an, sich der Erfahrung des Transzendenten auf ganzheitliche Weise zu nähern.

Unser Körper ist so viel mehr als ein Virengastgeber. Erobern wir uns seine wunderbaren Möglichkeiten der Selbsterfahrung, Welterfahrung und Kontakterfahrung zurück – indem wir (wieder) lernen, ihm zu vertrauen!

Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Buch findest du keine knackigen Anleitungen, wie du »in nur fünf Minuten dein Körpervertrauen boosterst«. Nein, dieses Buch funktioniert eher wie eine Art »Wanderführer«. Ich lade dich ein zu einer geführten Wanderung durch abwechslungsreiche Landschaften – immer entlang der Frage: Wo wächst und gedeiht Körpervertrauen?

Wir beginnen an der Quelle: Wie entfaltet sich das kindliche Körpervertrauen optimal? Später durchwandern wir auch steinige Abschnitte (Pubertät, Schwangerschaft, Wechseljahre) und setzen uns mit »Giftpflanzen« auseinander (Scham, Bevormundung durch »Expert/-innen« u.Ä.). Und immer wieder führe ich dich durch Wälder und Auen, die es zu genießen und erkunden gilt: die sinnlich-sexuelle Lust und das Tanzen, den Zauber der Musik, das Wunder der Natur, die Suche nach spiritueller Heimat.

Als Autorin stelle ich mir vor, dass du am Ende unserer Wanderung inspiriert bist und dich angeregt fühlst, noch viel weiter zu wandern und ganz neue Wachstumszonen deines Körpervertrauens zu entdecken, auf die ich nie gekommen wäre.

Kommst du mit? Rucksack schultern, und los geht’s!

EINFÜHRUNG

Körpervertrauen und Lebendigkeit

Wie das Überhören von körperlichen Signalen uns in echte Schräglagen bringen kann

Warum Zoom-Meetings müde machen und sich ganzkörperliche Kommunikation so viel vertrauensvoller anfühlt

Wie das Sicheinlassen auf die körperlich fühlbare Welt unser Leben wieder farbig und aufregend macht

Körper, Seele und Geist sind untrennbar

… zumindest in dieser Welt. Wir können nichts denken, nichts fühlen und nichts sein ohne unseren Körper. Er ist nicht bloß das »Vehikel«, mit dem Seele und Geist durchs Leben reisen, sondern erst durch ihn wird Welterfahrung und Weltaneignung möglich. Dabei vermitteln uns zunächst unsere Sinne ein Bild von der Welt. Wie fühlt sie sich an? Wie schmeckt sie, wie riecht sie, wie klingt sie, wie sieht sie aus? Eine Libelle mit ihren Facettenaugen nimmt die Welt völlig anders wahr – sie kann Bewegungen sehen, die uns unsichtbar bleiben. Unsere Sinne geben uns aber nicht nur Auskunft über die Welt außerhalb, sondern auch über unser Sein in dieser Welt. Die sogenannten propriozeptiven Nervenrezeptoren im Inneren des Körpers geben uns in jedem Augenblick Meldung über unsere Körperhaltung, die Position im Raum, Gleichgewicht, Darmtätigkeit, Atmung, Körpertemperatur und vieles mehr.

Was machen wir mit all diesen Informationen? Zunächst einmal gewichten wir sie. Würden wir uns permanent auf alle gleichzeitig zu konzentrieren versuchen, könnten wir unseren Alltag nicht mehr bewältigen, geschweige denn das Rad erfinden, Mondraketen bauen oder gar eine Schulklasse unterrichten. Damit unsere Aufmerksamkeit auf das Wesentliche gerichtet werden kann, laufen die meisten Wahrnehmungsprozesse »im Hintergrund« ab. Sie rücken nur dann in unser Bewusstsein, wenn etwas sich sehr ungewöhnlich anfühlt – im negativen wie im positiven Sinne. Wenn ich urplötzlich starkes Bauchgrummeln bekomme, kann es sein, dass ich mir einen Infekt zugezogen habe – oder dass der neue Kollege, der unerwartet mein Büro betritt, wirklich irrsinnig attraktiv ist.

Die meisten von uns können nach einer kurzen Analyse beide Arten von Bauchgrummeln unterscheiden – und jeweils angemessene Maßnahmen ergreifen. Wenn sich ein Magen-Darm-Infekt ankündigt, sollte ich mich schleunigst auf den Heimweg begeben. Wenn die Attraktivität des Kollegen mich so erwischt, sollte ich tief durchatmen und ganz liebevoll an meinen Partner denken bzw. an die reizende Ehefrau des Kollegen. (Okay, falls du Single bist, könntest du auch darüber nachdenken, an welchem Abend du dich mit ihm zum Essen verabreden möchtest …)

Klar ist jedenfalls in beiden Fällen: Mein Körper sagt mir etwas, und das ist es wert, gehört und bedacht zu werden. Überhören wir diese Signale aber, weil sie nur »stören«, drohen wir uns blindlings in wirkliche Schräglagen zu manövrieren. Brechdurchfall im Büro ist nicht lustig. Und eine erotische Anziehung am Arbeitsplatz vor sich selbst zu verleugnen, bis man »plötzlich« zusammen im Bett landet, kann viele emotionale und karrieretechnische Kollateralschäden verursachen.

Um weise und vorausschauend durchs Leben zu gehen, ist es also enorm hilfreich, wenn wir die Signale unseres Körpers wahrnehmen und uns auf sie verlassen können. Das meint Körpervertrauen.

In den Geisteswissenschaften wird gelegentlich unterschieden zwischen den Begriffen Körper und Leib. Dabei gilt die Unterscheidung »Der Körper, den ich habe, der Leib, der ich bin« (Karlfried Graf Dürckheim). Der Körper wird also auf das objekthafte, äußerliche »Ding« begrenzt, das von anderen gesehen und bewertet wird, der Leib hingegen ist das, womit ich (mich) spüre.

Diese Unterscheidung scheint mir fragwürdig – zumal sie nur im Deutschen funktioniert. Welchen Sinn soll diese rein theoretische Trennung von Körper und Leib machen? In Wirklichkeit habe ich ja nur diesen einen Körper. Mit ihm und durch ihn fühle ich – und durch ihn werde ich auch von außen fühlbar und sichtbar. Gerade in der Begegnung mit anderen macht diese Unterscheidung keinen Sinn. Die Augen, in die der Mitmensch schaut, sind dieselben, mit denen ich ihn sehe. Die Haut, die er berührt, ist die, mit der ich ihn spüre – und durch die ich wiederum ihn berühre.

Deshalb wird in diesem Buch durchgängig nur vom Körper gesprochen.

Ein gesundes Körpervertrauen setzt voraus, dass ich meinen Körper als etwas Kostbares ansehen kann. Kostbar auch und gerade wegen seiner Verletzlichkeit. Mein Partner besitzt als Ingenieur hochsensible, teure Messinstrumente. Er behandelt sie vorsichtig und behutsam, damit sie keinen Schaden nehmen und ihm lange ihren Dienst erweisen. Mit unserem Körper hingegen sind wir oft ungeduldig und unachtsam. Stundenlang soll er täglich in Haltungen verbringen, die ihm nicht guttun: Sitzen zum Beispiel. Meldet er sich dann mit Rücken- oder Nackenschmerzen, greifen nicht wenige zur Chemiekeule, bis irgendwann eine OP am Horizont droht. Muss das wirklich sein?

Unser Körper meldet jedes Ungleichgewicht in unserer Lebensführung früher oder später zurück. Um gar nicht erst in allzu viele solcher Dysbalancen zu geraten, können wir uns im Wahrnehmen schulen: so, dass wir nicht nur einmal im Jahr im Urlaub »etwas für unseren Körper tun« und auch nicht nur einmal die Woche im Fitnessstudio; sondern uns jeden Tag bewusst machen, dass wir unser Körper SIND. Und dass wir ständig etwas tun können, um im Einklang mit seinen Bedürfnissen zu bleiben.

Gleichzeitig ist unser Körper das Instrument, auf dem wir uns ausdrücken, mit dessen Hilfe wir kommunizieren, in Kontakt treten, die Welt mitgestalten. Fein abgestimmte Bewegungsabläufe erlauben uns, zu sprechen und zu singen, zu greifen und zu werfen, zu streicheln oder zu schlagen, uns langsam anzunähern oder blitzschnell davonzulaufen. Jede Handlung, die wir wirklich physisch durchführen, fühlt sich auch emotional völlig anders an, als wenn wir sie nur gedanklich oder durch digitale Medien vollziehen. Eine Trennung, die wir im direkten Kontakt aussprechen, mit unserer Stimme körperlich ausdrücken, ist im Nachgang viel leichter zu »verdauen« als eine, die wir als E-Mail in die Tasten des Notebooks tippen.

Die Hand eines Menschen zu ergreifen, seine Wärme zu spüren, seinen Geruch einzuatmen, ihn zu umarmen, das kennt tausend Nuancen. Eine WhatsApp kann nur einen winzigen Bruchteil davon abbilden. Unser Körper kommuniziert im direkten Kontakt auf so unzähligen Kanälen, dass wir nur das wenigste davon bewusst wahrnehmen oder gar benennen können. Dennoch sind wir auf all diese Informationen angewiesen, um ein vollständiges Bild zu bekommen.

Die sogenannte Zoom-Fatigue, also die extreme, bleierne, quälende Müdigkeit und Erschöpfung, die viele Menschen nach einem Tag voller digitaler Meetings beschreiben, hat ganz sicher auch hier ihren Ursprung. Unser Körper versucht krampfhaft, ein vollständiges Bild vom anderen und der Situation zu bekommen, aber es gelingt nicht. Wir brauchen den direkten Kontakt, um uns sicher zu sein, woran wir miteinander sind. Nur dieser erlaubt uns, weiterhin auf allen Kanälen zu senden – und zu empfangen. Dann können wir uns entspannen und finden hinein ins Vertrauen. Vertrauensvolle Kommunikation braucht also langfristig den ganzen Körper, mit allen Sinnen. Nicht bloß sprechende Köpfe auf Mattscheiben. Körpervertrauen braucht ganze, lebendige Menschen. Ob uns das passt oder nicht.

Genau in dem Maße, in dem wir uns der wirklichen, physischen Welt körperlich aussetzen, wird unser Leben wieder farbiger, aufregender, interessanter und spannender. Es ist der Körper, der den Unterschied macht zwischen Leben und Lebendigsein. Dort, wo wir wieder alle Sinne einsetzen müssen, weil wir uns der Welt aussetzen, dort sind wir lebendig. Das, was wir unseren Kindern seit Jahrzehnten predigen, gilt nun als Allererstes für uns selbst: Jede Minute, die wir in der echten, fühlbaren Welt verbringen statt vor digitalen Glasscheiben, ist eine gewonnene Minute Lebendigkeit. Sei es in der Natur, bei Sport und Spiel, beim Musizieren, im Gespräch mit den Nachbarn, beim Theaterspielen, Tanzen, Kochen oder Liebemachen.

Überall da, wo wir Fühlende, Handelnde und Gestaltende sind, hat das Leben eine völlig andere Intensität als dort, wo wir nur Konsumierende von »Fertigprodukten« sind. Musik hören und Musik machen zum Beispiel sind etwas sehr Verschiedenes für Körper, Seele und Geist. Dasselbe gilt für jede Art von Kreativität und Bewegung. Lebendig sind wir da, wo wir unser Körpervertrauen wieder brauchen.

Sich permanent mit Krankheitsängsten und Risikovermeidung zu beschäftigen führt in Isolation und schließlich Depression. Das gilt auch, wenn solcherlei Ängste und Vermeidungsstrategien wegen einer Pandemie gesellschaftlich erwünscht sind. Sie machen langfristig emotional und körperlich krank. Lebendigsein braucht Mut, heute mehr als je zuvor. Lebendigsein ist ein Wagnis.

Und ich bin ganz sicher, am Ende des Lebens wird kein Mensch je seufzen: »Ach, hätte ich doch mehr Zeit vor dem Rechner verbracht, als ich körperlich noch jung und fit war …« Also: runter vom Schreibtischstuhl, rein ins Leben!

1.

SELBSTWIRKSAMKEIT SPIELERISCH ERFAHREN

Wie sich Körpervertrauen entwickelt

Warum Kinder Erwachsene brauchen, die ihnen Bewegungsfreude vorleben — und keine »Leistungsverbesserer«

Warum Kinder so gerne Fangen und Verstecken spielen und gelegentlich klare Ansagen bekommen sollten

Wie Schamgefühle das jugendliche Körpervertrauen sabotieren und wie man der Scham den Stecker zieht

Wie das Körpervertrauen sich im Baby und Kleinkind entfaltet

Um es gleich vorwegzunehmen: Körpervertrauen ist nichts, was wir irgendwie in unsere Kinder »hineintun« müssten durch pädagogische Kunstgriffe. Wir brauchen es ihnen nicht extra »einzuflößen«. Vielmehr gehört dieses Vertrauen in die eigenen Entfaltungs- und Expansionsmöglichkeiten zur biologischen Grundausstattung aller Lebewesen. Auch Menschenkinder kommen damit zur Welt. Unsere Aufgabe als Eltern und Erziehende ist es, sie zu bewahren.

Babys sind sehr neugierig. Sie arbeiten unablässig daran, ihre Möglichkeiten der Welterkundung zu erweitern. Dafür bringen die kleinen Forscher/-innen alles mit, was sie brauchen. Wenn man sie lässt, beginnen sie in ihrem ganz eigenen Tempo zum genau richtigen Zeitpunkt mit dem jeweils nächsten Schritt: Sie greifen, drehen sich, heben den Kopf, stützen sich ab, verlagern ihr Gewicht Zentimeter um Zentimeter. Sie schieben sich rückwärts und vorwärts, richten sich weiter auf, setzen sich schließlich auf usw. Die ungarische Kinderärztin und Forscherin der Frühförderung Emmi Pikler hat bereits in den Vierzigerjahren auf beeindruckende Weise dokumentiert, wie sehr die kindliche Beziehung zur Welt von der Möglichkeit abhängt, die Umgebung selbsttätig und ungestört erkunden zu dürfen. (Pikler 2001) Die Fotografien ihrer Schützlinge beim Spielen und Klettern zeigen ein konzentriertes, gelöstes Körpervertrauen, wie man es bei Kleinkindern auf heutigen Spielplätzen oft vermisst. Woran liegt das?

»Zu wenig Hilfe ist Diebstahl, zu viel Hilfe ist Mord!« Dieser Leitsatz der Psychologin Ruth Cohn passt perfekt auf die Förderung von kindlichem Körpervertrauen als Teil des Selbstvertrauens. Überbehütende »Hubschraubereltern« machen viel kaputt. Babys und Kleinkinder brauchen niemanden, der ihnen erklärt, wie sie »richtig« zu klettern, zu balancieren, zu rennen und herumzuturnen haben. Was sie brauchen, ist eine Bezugsperson, die ansprechbar im Blickfeld ist. Auch muss jemand da sein, der für eine sichere Umgebung sorgt und lebensnotwendige Grenzen markiert: Nein, auf der Fensterbank kannst du bei offenem Fenster nicht spielen, auf der befahrenen Straße ebenfalls nicht, und der Kühlschrank ist kein Spielregal.

Erst recht brauchen kleine Kinder niemanden, der sie beispielsweise auf erhöhte Spielgeräte hebt, die sie selbst noch nicht erreichen können. Solche Aktionen stören ihr natürliches Gefühl für die Sicherheit im eigenen Körper. Erwachsene verhindern damit wichtige motorische Erfahrungen des Kindes, denn jeder kleine Zwischenschritt, der selbst vollzogen und in Ruhe geübt wird, ist Teil der Bewegungsentwicklung. Die notwendigen Sicherungsgriffe und kleinen Gewichtsverschiebungen, der Einsatz von Muskelkraft oder achtsamer Balance, all das trägt zur kindlichen Selbst-Sicherheit und damit zum Körpervertrauen bei. Kinder lernen dies nicht durch verbale Instruktionen Erwachsener, im Gegenteil, diese verunsichern sie eher. Sie lernen es nach und nach von selbst: Ihr Forscherdrang treibt sie an.

Gerade die ersten zwei Lebensjahre, in denen die Bewegungsentwicklung bis zum freien Gehen stattfindet, sind enorm wichtig für ein solides Körpervertrauen. In diesem Alter machen Kinder täglich Dutzende spannende, neue Erfahrungen und Eroberungen. Jede einzelne stärkt ihr Selbstvertrauen: Schau, jetzt bin ich selbst auf diesen Stuhl hochgeklettert! Ha, und heute bin ich alleine die Kellertreppe hinuntergekommen! Und jetzt sogar die Sprossenwand herauf! Je geduldiger und gelassener wir sie dabei begleiten, umso ungestörter erfreuen sie sich daran. In der Psychologie nennt man das Selbstwirksamkeitserfahrung. Die Kinder erleben, dass sie ihre Welt aktiv erfahren und gestalten können. Und jede gelungene »Eroberung« motiviert zur nächsten.

Interessant ist, dass sie diese freudvollen, selbst gesteuerten Lernerfahrungen später auch auf anderes Lernen übertragen und sich in der Schule besser entwickeln – zumindest, wenn ihnen die Freude am Lernen dort nicht durch Zwang und Überregulierung ausgetrieben wird. Die italienische Pädagogin Maria Montessori erkannte sehr früh, wie wichtig es ist, Kindern auch hier ein »intrinsisch motiviertes«, also von der eigenen Neugier ausgehendes Lernen zu ermöglichen. Statt stumm im Frontalunterricht herumzusitzen, arbeiten die Schüler/-innen einer Montessorischule überwiegend an selbst gewählten Aufgaben. Die entsprechenden Materialien stellt die Lehrkraft zur Verfügung und begleitet das kindliche Lernen.

Auch hier berücksichtigt man stets, dass das Sichaneignen von Wissen ein ganzheitlicher Prozess ist, der körperlich, seelisch und geistig zugleich geschieht – unser Leben lang. Ohne unseren Körper ist kein Lernen möglich.

Ganz sicher ist der Geist nicht am aufnahmefähigsten, wenn wir stundenlang zusammengekrümmt auf Schul- oder Seminarraumstühlen kauern. Die Bewegungspädagogin Elfriede Hengstenberg hat dazu wunderbare Experimente gemacht – auch diese sind mit Fotografien dokumentiert. So sehen wir eine Schulklasse unter freiem Himmel lesend – aber wie! Jedes Kind hat sich barfuß und in bequemer Turnkleidung auf Tischen, Stuhllehnen, auf der Wiese neben dem Mobiliar etc. in eine aktive, aufrechte Sitzposition begeben. Inmitten dieser Klassenzimmereinrichtung – ganz »unsachgemäß« genutzt – wirken sie alle wie stolze, schöne Tänzer/ -innen eines modernen Stückes: hellwach, konzentriert und mit einem kleinen Schalk im Nacken … Warum nicht einmal so lesen?