Kostbare Zeit – Das Buch für Großeltern - Margot Käßmann - E-Book

Kostbare Zeit – Das Buch für Großeltern E-Book

Margot Käßmann

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Beschreibung

Margot Käßmann ist vierfache Mutter und siebenfache Großmutter. Sie schreibt über die kostbare Zeit, die wir mit unseren Enkelkindern verbringen. Über das Glück, diesen jungen Menschen das Wichtigste mit auf den Lebensweg zu geben: Wurzeln und Flügel. Einfühlsam formuliert die Bestsellerautorin Margot Käßmann Texte zu allen Themen und Fragen, die Großeltern bewegen. Die riesige Dankbarkeit, die man für seine Enkelkinder empfindet. Aber auch eine leichte Sorge, wie die junge Familie mit der neuen Situation zurechtkommt. Kann man helfen? Darf man sich einmischen? Und wie richtet man sich selbst nun am besten in der neuen Rolle als Großelternteil ein? Wie gelingt die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu Kindern und Enkelkindern? Wo verbergen sich vielleicht auch Spannungen und Konflikte? Wie kann man den neuen Erdenbürger*innen auf dem Weg ins Leben Türen öffnen und eine gute Begleitung sein? Auch religiöse Themen finden in diesem Großeltern-Buch der beliebten Theologin Raum: Rituale, gute Traditionen. Wie man der Enkelin oder dem Enkel Segen zusprechen kann.  »›Der Alten Krone sind Kindeskinder‹, heißt es in der Bibel (Spr. 17,6). Und ja, mit Enkelkindern setzt uns das Leben eine Krone auf, wir sind gewissermaßen gekrönt mit dem Segen, den diese Kinder darstellen. In den Enkelkindern siehst du geradezu, wie dein eigenes Leben lebendige Spuren hinterlässt.« Margot Käßmann

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Seitenzahl: 204

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Margot Käßmann

Kostbare Zeit

Das Buch für Großeltern

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Es ist eine wahrhaft kostbare Zeit, die wir mit unseren Enkelkindern verbringen. Ein großes Glück, jungen Menschen das Wichtigste mit auf den Lebensweg zu geben: Wurzeln und Flügel. In diesem Buch finden Sie Anregungen, was Sie als Großeltern mit Ihren Enkelkindern unternehmen, erleben und besprechen können. Altbewährtes und Neues können zusammenkommen. Es ist einfach wunderbar, die Großelternzeit bewusst zu gestalten.«Margot Käßmann

Inhaltsübersicht

Für meine Enkelkinder

Einleitung

Vom Glück, die übernächste Generation zu erleben

Alles andere als einfach …

Die eigene Rolle finden

Konfliktpotenziale

Mit den Enkeln durch das Jahr

Advent

Nikolaus

Weihnachten

Engel

Weihnachtsbaum

Neues Jahr

Heilige Drei Könige

Geschichten von früher

Märchen

Fasching bzw. Karneval

Quatsch machen

Frühling

Ostern

Poesie

Himmelfahrt

Pfingsten

Sommer – Zeit für Spaziergänge, Fragen, Geschichten und Neuland

Sprich ruhig darüber

Spielen

Spiele im Freien

Fragen nach Gott und der Welt

Wie groß ist die Welt?

Einschulung

Herbst

Sich einordnen – da bin ich!

Josef und seine Träume

Erntedank

Winter

Vorlesen

Martinstag

Namen

Taufe

Volkstrauertag

Ewigkeitssonntag

Kinder haben ihre eigenen Vorstellungen – und das ist gut so

Die Gesellschaft braucht die Alten

Kostbare Zeit, die endlich ist

Für meine Enkelkinder

 

Einleitung

Was für ein Wunder – ein Enkelkind! Die Nachricht, Großeltern zu werden, ist tief berührend, ein Glücksmoment. Mit ihm ordnet sich dein Leben ein in die Abfolge der Generationen. Und offensichtlich gibt es ein Vertrauen in das Leben, das unsere Kinder weitertragen.

Inzwischen habe ich sieben Enkelkinder, vier Jungen und drei Mädchen. Ich spüre ein tiefes Glück, eine große Dankbarkeit dafür. Und kann im Alter über vieles neu staunen.

Die Welt mit Enkelkindern erleben zu dürfen, bringt noch einmal ganz andere Erfahrungen mit sich als bei den eigenen Kindern. Großeltern stehen nicht so unter Druck wie Eltern, die in der viel zitierten »Rushhour des Lebens« Familie und Beruf, vielleicht auch noch die Sorge um die eigenen Eltern und ein Ehrenamt vereinbaren müssen. Sie haben mehr Zeit, mehr Erfahrung und auch im guten Sinne mehr Distanz. Das liegt natürlich auch daran, dass sie nicht rund um die Uhr Verantwortung übernehmen. Sie sind es auch nicht, die bei Kinderkrankheiten Tag und Nacht gefordert sind. Gewiss, Sorgen um Kinder und Enkel treiben sie um. Aber Husten, Fieber und Albträume der Kinder halten sie nicht konkret nachts wach.

 

Mehr als zwanzig Millionen Menschen in Deutschland sind Großeltern – also jeder bzw. jede Vierte! Was das an Betreuungszeit, Wissen und ja auch finanziellen Zuwendungen bedeutet, kommt so gut wie gar nicht vor im öffentlichen Bewusstsein. Das ist mir zum ersten Mal deutlich geworden, als ich vor einigen Jahren in der Sendung Planet Wissen zum Thema »Großeltern heute – zwischen Enkeln und Ehrenamt?« eingeladen war. Der zweite Gast war Andreas Reidl, Gründer der Webseite grosseltern.de. Mir wurde klar: Großelternsein ist ein Thema, das viel zu wenig wahrgenommen wird! Es gibt Elternratgeber, Elternzeitschriften – aber was gibt es an Angeboten für Großeltern? Wo können sie sich austauschen, Anregungen holen?

 

Großeltern zu werden, ist keine Entscheidung, die wir selbst treffen. Es ist eine Überraschung, ein Geschenk, eine wunderbare Phase im Leben, die wir bewusst genießen, ja feiern sollten. Zeit, die wir mit den Enkeln verbringen, ist besonders kostbar, so erlebe ich es.

Gewiss bringt die Ankunft der nächsten Generation auch Konflikte mit den eigenen Kindern oder den Schwiegerkindern mit sich. Manches Mal würden Großeltern anders erziehen. Ich rate da zur Gelassenheit. Großeltern spielen ihre ganz eigene Rolle. Kinder können sehr wohl begreifen, dass bei Eltern manchmal andere Regeln gelten als bei Großeltern. Und natürlich sollte abgesprochen werden, was geht und was nicht. Denn die Großeltern stehen ja nicht in Konkurrenz zu den Eltern, sondern ergänzen sie.

Mit diesem Buch möchte ich von meiner eigenen Erfahrung her Anregungen geben, was Großeltern mit den Enkeln unternehmen, erleben, besprechen können. Altbewährtes und neues Erleben können zusammenkommen. Mir liegt daran, die Großelternzeit bewusst zu gestalten. Zunächst habe ich ein paar grundsätzliche Überlegungen vorangestellt. Dann folgt ein Weg durch den Jahreskreis. Es geht darum, etwas weiterzugeben von den Erinnerungen der Familie, von alten Traditionen und Ritualen. In unseren Tagen geht vieles verloren, was in früheren Zeiten das Jahr gegliedert hat: das Wissen um die Bedeutung der großen Feste, die Wegmarken des Zusammenlebens – Fastenzeit, Ostern, Erntedank, Advent und Weihnachten. Enkel hören gern Geschichten, das ist eine gute Basis, um die Familienerinnerungen zu tradieren. Und es geht darum, bewusst die eigene Rolle wahrzunehmen, dass Großeltern nicht erziehen, sondern einfach da sind. Am Ende schließen sich Kapitel zur Rolle der Kinder und der Alten in unserer Gesellschaft an.

Dieses Buch richtet sich mit seinen Überlegungen und Anregungen an Großeltern, deren Enkel in der Kita- oder Grundschulphase sind. Gerade in dieser Zeit können Großeltern prägend sein. Meine Großmutter war es für mich, meine Mutter war es für meine Töchter. In der Erinnerung können Großeltern eine sehr große Rolle für das Leben ihrer Enkel spielen. Viele Enkel realisieren das erst, wenn sie erwachsen und die Großeltern längst verstorben sind.

 

Wichtig ist auch, dass wir eine Art Resonanzboden für die Enkel bleiben, wenn sie älter werden, in die Pubertät kommen. Die Rolle der Großeltern ändert sich dann. Sie sind nicht mehr so sehr für Betreuung oder Beschäftigung gefragt, sondern als Gesprächspartnerin oder Gesprächspartner jenseits vom Elternhaus. Dann ist es gut, eine vertrauensvolle, verständnisvolle Person zu sein. Menschen, von denen die Enkelkinder aus Erfahrung wissen, dass sie bedingungslos geliebt werden. Aber natürlich kommen dann auch ganz andere Unternehmungen in den Blick. Eine Freundin war mit ihrer Enkeltochter an einem Wochenende in London – großartig. Ich habe gerade zum ersten Mal erlebt, dass die älteren Enkel in den Schulferien eigenständig Zeit bei mir verbringen. Das kann noch einmal ein ganz neues, selbstständiges Erleben des Miteinanders werden.

»Der Alten Krone sind Kindeskinder«, heißt es in der Bibel. Freuen wir uns also an dieser Krone, die uns das Leben in seiner Schlussphase aufsetzt, und genießen wir diese so kostbare Zeit ganz bewusst.

 

Hannover im Mai 2023,

Margot Käßmann

Vom Glück, die übernächste Generation zu erleben

Als meine Mutter die Nachricht erhielt, dass sie Urgroßmutter wird, sagte sie sinngemäß, jetzt könne sie doch in Ruhe abtreten, das Leben sei damit rund. Als sie mit 91 Jahren starb, hatte jede ihrer drei Töchter tatsächlich schon ein Enkelkind.

Mir ging es ähnlich, als meine älteste Tochter Heiligabend 2011 am großen Esstisch der Familie die Nachricht verkündete, sie sei schwanger. Ich war viel stärker, ja zu Tränen gerührt, als ich mir das vorher hatte vorstellen können. Das erste wie jedes weitere Enkelkind habe ich als Wunder und auch als Segen empfunden. Aber ich war damals auch irgendwie überrascht. Noch ein Jahr zuvor, als ich unsere Wohnung in Hannover ausgeräumt hatte, habe ich überlegt, ob es überhaupt Sinn ergibt, Spielzeug oder Bilderbücher aufzuheben. So weit schien mir die Möglichkeit, Enkelkinder zu bekommen, noch entfernt. Aber dann ging es ganz schnell und war irgendwie stimmig: Das Leben geht weiter, über meine Generation und die meiner Kinder hinweg. Jetzt, im Altwerden, denke ich, dass nichts mein Leben so sehr geprägt hat wie meine Töchter. Und meine Enkelkinder legen eine Schippe Segen obendrauf. Nichts hat mein Leben auch so sehr bereichert, kein beruflicher Erfolg, keine Auszeichnung sind am Ende so bedeutend wie Kinder und Kindeskinder.

Ich verstehe, dass Menschen, die keine Enkelkinder haben, schwer nachvollziehen können, wie sehr diese die Großeltern erfreuen. Oder dass Menschen, die keine Kinder und somit auch keine Enkel haben, vielleicht verletzt sind, wenn andere vom Enkelglück erzählen. Aber warum sollten Großeltern diese Freude nicht ausdrücken dürfen? Immer wieder erlebe ich, wie schnell sich Großeltern verständigen – dieses wissende Zunicken, dieses Verstehen: »Ich weiß, wovon du sprichst!« Und es gibt Menschen, die keine Kinder und Enkel haben, aber gut ausdrücken können, worum es geht. Eine davon ist Bertha von Suttner, Friedensnobelpreisträgerin 1905. Sie schrieb: »Nicht unseren Vorvätern wollen wir trachten uns würdig zu zeigen – nein: Unseren Enkelkindern!« Es geht also für alle um Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen. Gerade angesichts des Klimawandels ist das vielen bewusst.

 

Großeltern zu werden ist in der Tat ein Glück, aber auch ein Privileg. Beispielsweise erlebten im 16. und 17. Jahrhundert nur zehn Prozent der Menschen in Mitteleuropa überhaupt das Großelternalter.1 Während der privilegierte Teil der Bevölkerung durchaus ein hohes Alter erreichen konnte, war das durchschnittliche Lebensalter der großen Mehrheit aufgrund von Armut, Mangelernährung, Krankheiten und unzureichender Gesundheitsversorgung sehr begrenzt. All das hatte eine hohe Kindersterblichkeit zur Folge. Auch die Müttersterblichkeit war hoch, sodass angenommen wird, dass Frauen damals im Durchschnitt nur zwischen 25 und 40 Jahre alt wurden. Genaue wissenschaftliche Fakten gibt es nicht – wer interessierte sich schon für das Leben einer Magd?

 

Erst im 16. Jahrhundert setzte sich überhaupt der Begriff »Großeltern« durch.2 Interessant finde ich in diesem Zusammenhang die These der Geschichtswissenschaftlerin Juliane Haubold-Stolle: »Das Aufkommen der Verehrung der Heiligen Anna im Spätmittelalter lässt vermuten, dass Großmütter verstärkt wahrgenommen wurden.«3 Anna ist in den kanonischen Evangelien gar nicht belegt. Schon ab dem 2. Jahrhundert taucht sie aber in apokryphen Schriften auf und wird nach und nach als Mutter von Maria, der Mutter Jesu, zur Heiligenfigur. Da ich evangelisch bin, hat mich die besondere Rolle der Anna lange Zeit irritiert. Denn Martin Luther lehnte Heiligenverehrung ab. Die Herausstellung einer Figur, die nicht biblisch belegt ist, finde ich immer schwierig.

Und doch wurden Anna und ihr Mann Joachim zu Heiligen. Von Anna gibt es zahlreiche Gemälde, vor allem »Annaselbdritt«, die Großmutter also gemeinsam mit Tochter Maria und Enkelsohn Jesus. Carvaggio hat das Motiv ebenso aufgegriffen wie Leonardo da Vinci. Ähnlich wie beim biblischen Josef wird Joachim – der Legende nach also der Großvater Jesu –, eher als alter Mann dargestellt, häufig mit einer Schriftrolle, da er Priester gewesen sein soll. Vielleicht wird ihm dieser Beruf zugeschrieben, um zu erklären, dass Jesus schon als Zwölfjähriger im Tempel mit Schriftgelehrten (Lk 2, 41ff.) diskutiert. Wie sollte der Sohn eines Zimmermanns dazu kommen? Ist er Enkel eines Priesters, würde das die Szene erklären. So erhält Joachim in der Legende Rolle und Status.

Inzwischen kann ich mir vorstellen, dass jene Anna, um die sich zahlreiche Legenden bilden, gerade für die Christinnen die Leerstelle der Großmutter füllte. Denn in der Bibel, im Neuen Testament, habe ich nur eine einzige Großmutter gefunden, die explizit erwähnt wird: Lois. Im 2. Timotheusbrief heißt es (1,5): »Denn ich erinnere mich an den ungefärbten Glauben in dir, der zuvor schon gewohnt hat in deiner Großmutter Lois und in deiner Mutter Eunike; ich bin aber gewiss, auch in dir.« Das kleine Zitat, diesen Gruß finde ich sehr interessant. Denn er erzählt etwas davon, dass Großmütter den Glauben von Generation zu Generation weitergeben. Offenbar war das von Anbeginn des Christentums so, und ich nehme an, das gilt auch für andere Religionen. Gerade aus der Sowjetunion, in der Stalin und seine Nachfolger auf brutale Weise versuchten, den Menschen das Christentum auszutreiben, wird immer wieder erzählt, dass es die Großmütter waren, die den Glauben tradierten an die Enkelgeneration. Und das gilt gewiss auch für Großväter. Sehr schön erzählt das eine Geschichte von Rachel Naomi Remen.

Wenn ich an den Freitagnachmittagen nach der Schule zu meinem Großvater zu Besuch kam, dann war in der Küche seines Hauses bereits der Tisch zum Teetrinken gedeckt. Mein Großvater hatte seine eigene Art, Tee zu servieren. Es gab bei ihm keine Teetassen, Untertassen oder Schalen mit Zuckerstückchen oder Honig. Er füllte Teegläser direkt aus dem silbernen Samowar. Man musste zuerst einen Teelöffel in das Glas stellen, denn sonst hätte das dünne Glas springen können. Mein Großvater trank seinen Tee auch nicht so, wie es die Eltern meiner Freunde taten. Er nahm immer ein Stück Zucker zwischen die Zähne und trank dann den ungesüßten heißen Tee aus dem Glas. Und ich machte es wie er. Diese Art, Tee zu trinken, gefiel mir viel besser als die Art, auf die ich meinen Tee zu Hause trinken musste. Wenn wir unseren Tee ausgetrunken hatten, stellte mein Großvater stets zwei Kerzen auf den Tisch und zündete sie an. Dann wechselte er auf Hebräisch einige Worte mit Gott. Manchmal sprach er diese Worte laut aus, aber meist schloss er einfach die Augen und schwieg, Dann wusste ich, dass er in seinem Herzen mit Gott sprach.

Wenn Großvater damit fertig war, mit Gott zu sprechen, dann wandte er sich mir zu und sagte: »Komm her, Neshumele.« Ich baute mich dann vor ihm auf, und er legte mir sanft die Hände auf den Scheitel. Dann begann er stets, Gott dafür zu danken, dass es mich gab und dass Er ihn zum Großvater gemacht hatte. Er sprach dann immer irgendwelche Dinge an, mit denen ich mich im Verlauf der Woche herumgeschlagen hatte, und erzählte Gott etwas Echtes über mich. Jede Woche wartete ich bereits darauf, zu erfahren, was es diesmal sein würde. Wenn ich während der Woche irgendetwas angestellt hatte, dann lobte er meine Ehrlichkeit, darüber die Wahrheit gesagt zu haben. Wenn mir etwas misslungen war, dann brachte er seine Anerkennung dafür zum Ausdruck, wie sehr ich mich bemüht hatte. Wenn ich auch nur kurze Zeit ohne das Licht meiner Nachttischlampe geschlafen hatte, dann pries er meine Tapferkeit, im Dunkeln zu schlafen. Und dann gab er mir seinen Segen und bat die Frauen aus ferner Vergangenheit, die ich aus seinen Geschichten kannte – Sara, Rahel, Rebekka und Lea –, auf mich aufzupassen.

Diese kurzen Momente waren in meiner ganzen Woche die einzige Zeit, in der ich mich völlig sicher und in Frieden fühlte. In meiner Familie von Ärzten und Krankenschwestern rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen und noch mehr zu sein. Da gab es offenbar immer noch etwas mehr, das man wissen musste. Es war nie genug. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis von 98 von 100 Punkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater: »Und was ist mit den restlichen zwei Punkten?« Während meiner gesamten Kindheit rannte ich unablässig diesen zwei Punkten hinterher. Aber mein Großvater scherte sich nicht um solche Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon genug. Und wenn ich bei ihm war, dann wusste ich irgendwie mit absoluter Sicherheit, dass er recht hatte.

Mein Großvater starb, als ich sieben Jahre alt war. Ich hatte bis dahin nie in einer Welt gelebt, in der es ihn nicht gab, und es war schwer für mich, ohne ihn zu leben. Er hatte mich auf eine Weise angesehen, wie es sonst niemand tat, und er hatte mich bei einem ganz besonderen Namen genannt – »Neshumele«, was »geliebte kleine Seele« bedeutet. Jetzt war niemand mehr da, der mich so nannte. Zuerst hatte ich Angst, dass ich, wenn er mich nicht mehr sehen und Gott erzählen würde, wer ich war, einfach verschwinden würde. Aber mit der Zeit begann ich zu begreifen, dass ich auf irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt hatte, mich durch seine Augen zu sehen. Und dass einmal gesegnet worden zu sein heißt, für immer gesegnet zu sein.4

 

Ich habe diese Geschichte manches Mal vorgelesen. Und immer waren alle, auch ich selbst, gerührt. Das liegt gewiss daran, dass auf so wunderbare Weise die Rolle des Großvaters beschrieben wird. Er macht keinen Druck, die kleine Enkelin muss keine Erwartungen erfüllen. Für ihn ist sie schlicht ein Segen. Und er segnet sie. Das Kind fühlt sich vollkommen angenommen und geliebt, ganz gleich, welche Noten es hat, welche Punkte es erreicht. Für den Großvater ist sie ein Geschenk Gottes, völlig unabhängig davon, ob sie irgendeine Leistung erbringt, irgendein Soll erfüllt. Sie fühlt sich durch die religiöse Tradition des Großvaters auch hineingenommen in die Erzählungen des jüdischen Glaubens, in die Reihe der großen biblischen Frauengestalten, in die Rituale. Der Großvater spricht ganz vertraut mit Gott. Und das Kind erlebt eine Gottesbeziehung der Gnade: Gott sieht, wer sie wirklich ist, ganz gleich, was andere in ihr sehen. In dieser Geschichte ist eine Großeltern-Enkel-Beziehung auf sehr sensible, anrührende Weise, ja geradezu zärtlich beschrieben.

Die Weitergabe des Glaubens wird in der Bibel an einer Stelle als Anliegen des Großvaters beschrieben, und zwar im Buch Tobit (14,1ff.): Am Sterbebett holt Tobias seinen Sohn und die sieben Enkel zusammen. Tobias bittet seinen Sohn, die Enkel fromm und gottesfürchtig zu erziehen. Und im ersten Timotheusbrief, der viele Regeln für das Zusammenleben im christlichen Haushalt weitergibt, heißt es: »Wenn aber eine Witwe Kinder oder Enkel hat, so sollen diese lernen, zuerst im eigenen Hause fromm zu leben …«. Warum das nur bei Witwen der Fall ist, erschließt sich mir nicht.

Werden also im 16./17. Jahrhundert die Großeltern überhaupt in einer eigenen Rolle entdeckt, rückt im 19. Jahrhundert ein neues Ideal der Großmutter in den Vordergrund, gefühlsbetont und fürsorglich. Juliane Haubold-Stolle beschreibt das in ihrer Studie so: »Die weißhaarige Oma, auf dem Kopf eine Haube oder ein Kopftuch, eine Brille auf der Nase, die ihre Enkelkinder auf dem Schoß hält und ihnen erzählt oder vorliest.«5 Zeitgleich entstehen damals Märchen wie das von Rotkäppchen, das die kranke und gebrechliche Großmutter besucht. Es entwickeln sich viele Geschichten rund um Großmütter und Großväter. Dargestellt werden romantisierende Bilder von alten Großmütterchen auch in der Dichtung. Ein Beispiel von Julius Sturm:

Bei der Großmutter

 

Wie traulich ist’s im stillen Zimmer,Die Uhr tickt heimlich auf dem Schrank,Um Blumen spielt der Sonne Schimmer,Und Tisch und Bank sind spiegelblank.Im weichen Lehnstuhl sitzt das alte,Schier achtzigjährige Mütterlein,Auf welker Stirne Falt’ an Falte,Doch in den Augen Sonnenschein!Vertraulich schmiegt sich ihrem SchoßeEin blühend Kinderpärchen an,Dem sie das Bilderbuch, das große,Auf vieles Bitten aufgetan.Nun blühen Märchen aus dem Munde,Wie Rosen aus dem Dorn erblüh’n,Die Kleinen lauschen still der Kunde,Und ihre vollen Wangen glüh’n.’s ist nur ein Bild, doch füllt es immerDie Augen mir mit Tränentau,Mir ist, als kennt ich dieses Zimmer,Die Kinder und die alte Frau.6

 

Das Bild ist nach unserem Empfinden kitschig. Es entspricht nicht unserer Zeit, in der viele Großmütter keine Mütterchen im Lehnstuhl, sondern sportlich und agil sind, Jeans und Sneaker tragen. Aber es zeigt, wie das Großmuttersein zunehmend Bedeutung mit sich brachte. Das »blühend Kinderpärchen« freut sich so sehr über das Vorlesen der Märchen, dass ihnen die Wangen glühen. Die Kinder sind glücklich und die Großeltern auch. Es vermittelt sich ein entspanntes Gefühl, eine Anmutung von ruhiger Geborgenheit. Und der fiktive Beobachter ist gerührt von dieser Beziehung. Darum geht es, denke ich: um eine Beziehung über Generationen hinweg, die voller Vertrauen daherkommt.

Besonders schön kommt das in einem der weltweit wohl bekanntesten Kinderbücher zum Ausdruck: Heidis Lehr- und Wanderjahre. Johanna Spyri beschreibt in dem 1880 erschienen Buch, wie die zur Waise gewordene Heidi von ihrer Tante zum einsiedlerischen, ja grimmigen Großvater in seine Hütte auf der Alp gebracht wird. Die Tante weiß nicht, wohin mit dem Kind. Es ist eltern- und heimatlos. Der ruppige Alpöhi kümmert sich zunächst widerwillig um das Mädchen. Nach und nach aber fängt er an, sich an ihr zu freuen. Der Alte lebt geradezu auf angesichts der Unbefangenheit und Spontaneität des Kindes, freut sich an dessen Begeisterung über die Natur. Heidi lernt auch die Großmutter von ihrem Freund, dem Geissenpeter kennen. Sie ist erblindet, und die Kinder sind für sie wie Licht in ihrer dunklen Welt. Ohne auf die Details des Romans einzugehen: Hier entspinnt sich zwischen der Großeltern- und der Enkelgeneration eine liebevolle und alle gemeinsam bereichernde Beziehung über die Elterngeneration hinweg. Die Toleranz beider Seiten, die Freude aneinander sind anrührend geschildert. Kein Wunder, dass das Buch weltbekannt ist, von der Türkei bis Japan, und heute sogar in Computertrickfilmen vermarktet wird.

Sehen wir also, dass im Mittelalter die Großeltern Bedeutung gewinnen, sie im 19. und 20. Jahrhundert stilisiert werden, verändert sich der Blick auf sie im 21. Jahrhundert erneut. Heute geht es nicht darum, dass Frauen allzu früh sterben, um überhaupt Großmutter zu werden. Vielmehr bringen Frauen in Deutschland immer später im Leben Kinder zur Welt. Die Wahrscheinlichkeit dann noch als relativ »fitte« Großeltern die Enkel zu erleben, sinkt auf andere Weise als im 16. Jahrhundert, als die geringe Lebenserwartung ausschlaggebend war. Ist die Mutter bei der Geburt 42 und war es die Großmutter auch, ist Letztere 84 bei der Geburt des Enkelkindes und hat meist nicht mehr die Kraft, intensiv präsent zu sein.

Gleichzeitig ist inzwischen die Mehrheit der Frauen in unserem Land berufstätig. So können sie, falls sie früh Großmutter werden – ebenso wie berufstätige Großväter –, nicht allzu viele Großelternpflichten übernehmen, solange sie das Rentenalter noch nicht erreicht haben. Die Rollenzuschreibung funktioniert nicht mehr. Und auch das hat sich verändert: Viele Familien wohnen nicht mehr am selben Ort, sondern sind durch Mobilität und berufliche Herausforderungen »multilokale Großfamilien«. Das erschwert regelmäßigen Kontakt zwischen den Generationen.

In unserer Zeit ist es somit schwieriger geworden, als Großeltern für Enkelkinder präsent zu sein. Und doch ist erwiesen: Die Beziehungen zwischen Großeltern, Eltern und Kindern waren vermutlich zu keiner Zeit so vielfältig, ja vielleicht auch noch nie so intensiv wie heute. Viele Großeltern leben ein eigenständiges Leben. Aber die Liebe zu den Enkelkindern, der Wunsch, kostbare Zeit mit ihnen zu verbringen, ist bei allen, die ich kenne, sehr präsent. Da geht es nicht mehr um das Weitergeben von Hof und Gut, um einen »Stammhalter«, sondern es ist eine neue Freiheit entstanden, sich schlicht an den Kindern und deren Nachkommen zu freuen.

 

Viele warten aber auch vergeblich auf Enkelkinder. Die selbst ernannte »Letzte Generation« etwa erklärt, sie wolle keine Kinder bekommen, da die Welt ja ohnehin untergehe. Das erinnert mich an die Erzählungen meiner Großmutter, der im letzten Jahrhundert erklärt wurde, sie könne doch nach den Ersten Weltkrieg keine Kinder in die Welt »setzen«. Meine Mutter hat diese Argumente nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls gehört. Mir selbst wurde das in den 80er-Jahren angesichts der atomaren Bedrohung gesagt. Kinder aber sind doch immer ein Zeichen der Hoffnung, dass wir diese Erde bewahren können und wollen – um ihretwillen! Martin Luther wird der Satz zugeschrieben: »Wenn du ein Kind siehst, hast du Gott auf frischer Tat ertappt.« Ein wunderbarer Blick auf Kinder, der auch etwas davon vermittelt, dass ein Ja zum Kind etwas mit Gottvertrauen zu tun hat.

Und doch sollte der Wunsch nach Enkeln nicht zu einer Art Kampfplatz werden. So hat in Indien allen Ernstes ein Ehepaar Sohn und Schwiegertochter verklagt, weil beide nach sechs Jahren Ehe noch immer kein Kind bekommen haben. Das Ausbleiben des Enkelkindes sei eine »seelische Grausamkeit«.7 Sollte nicht binnen eines Jahres ein Enkelkind zur Welt kommen, verlangen sie 50 Millionen Rupien Schadensersatz (ca. 600 000 Euro), denn sonst habe das Paar niemanden, der sich um sie kümmere, und der Familienname würde nicht weitergegeben. Ich finde, das ist eine durch und durch traurige Geschichte. Vor allem scheint es den Klagenden gar nicht um ihre Kinder und Enkel zu gehen, sondern um sich selbst, den eigenen Ruf, den Familiennamen, die Versorgung im Alter. Die Geschichte ist gewiss extrem, zeigt jedoch, welchen Druck manche jungen Paare spüren. Wenn sich ein Paar ein Kind wünscht, ist das wunderbar. Aber erzwingen kann und sollte das niemand wollen. Jeder Druck ist da absolut unangebracht. Ich kann mir vorstellen, dass das junge indische Paar, sollte es doch noch ein Kind bekommen, keinen Kontakt zu den Großeltern möglich macht, nachdem diese sie öffentlich derart bloßgestellt haben. Vielleicht gibt es ja auch einen Kinderwunsch, der sich aber einfach nicht erfüllt. Viele Paare leiden darunter. Es ist eben auch im 21. Jahrhundert nicht alles einfach »machbar«. Und selbst wenn das Paar bewusst entscheidet, keine oder jetzt noch keine Kinder zu bekommen, haben die Eltern das schlicht und einfach zu akzeptieren.

 

Mich irritiert parallel dazu, dass viele das Rollenbild »Oma« oder »Opa« als negativ empfinden. »Dann bin ich alt, auf dem Abstellgleis«, meinte eine Freundin. Das ist ein Rollenbild, das ich selbst so überhaupt nicht empfinde. Warum nur ist Altwerden derart negativ konnotiert in unserer Gesellschaft? In anderen Regionen der Welt werden alte Menschen gewürdigt, respektiert, mit Ehrentiteln versehen. In unserem Land gibt es weiterhin Jugendwahn. Alle wollen alt werden, aber niemand will alt aussehen. Falten erscheinen wie eine Disqualifikation. Dabei verurteile ich niemanden, der oder die sich etwas verjüngen lässt. Aber ich plädiere dafür, dem Alter seine Bedeutung zurückzugeben. Wer alt wird, ist in der Regel auch gelassener, ruhiger, weniger bedrängt davon, sich und anderen etwas beweisen zu wollen.