Krankheit Schmerz - Thomas Hartl - E-Book

Krankheit Schmerz E-Book

Thomas Hartl

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Beschreibung

Chronische Schmerzen werden immer noch unzureichend behandelt, die Lage von Schmerzpatienten ist trist: fehlende Therapien, bürokratische Hürden, Unverständnis bis hin zu Ausgrenzung. Das Buch macht bewusst, dass Schmerzen zu einer eigenständigen Krankheit werden können. Patienten, Ärzte, Therapeuten und Selbsthilfegruppen kommen zu Wort, und alle sind sich einig: Schmerzpatienten brauchen mehr Unterstützung und auch Hilfe zur Selbsthilfe. Mit der ICD-11 der WHO, die Schmerz als Krankheit festschreibt, besteht Hoffnung auf einen Wandel. Damit können die Rahmenbedingungen für Schmerzzentren, die Vernetzung von Ärzten und Therapeuten sowie interdisziplinäre Behandlungen geschaffen werden. Der erfahrene Schmerzarzt Martin Pinsger und der Medizinjournalist Thomas Hartl beleuchten umfassend die Thematik Schmerz und verweisen auf die Notwendigkeit der Akzeptanz von Schmerz als eigene Krankheit. Ein Buch, das wachrüttelt und dem Thema Schmerz in unserer Gesellschaft einen neuen Stellenwert gibt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 309

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dr. Martin Pinsger/Dr. Thomas Hartl

Krankheit Schmerz

Endlich Hilfe für Patienten!

ENNSTHALER VERLAG STEYR

Erklärung

Die in diesem Buch angeführten Vorstellungen, Vorschläge und Therapiemethoden sind nicht als Ersatz für eine professionelle medizinische oder therapeutische Behandlung gedacht. Jede Anwendung der in diesem Buch angeführten Ratschläge geschieht nach alleinigem Gutdünken des Lesers. Autor, Verlag, Berater, Vertreiber, Händler und alle anderen Personen, die mit diesem Buch in Zusammenhang stehen, können weder Haftung noch Verantwortung für eventuelle Folgen übernehmen, die direkt oder indirekt aus den in diesem Buch gegebenen Informationen resultieren oder resultieren sollten.

Bei den namentlich genannten Medikamenten in diesem Buch handelt es sich um registrierte Markennamen. Diese werden lediglich rein beschreibend genutzt.

www.ennsthaler.at

ISBN 978-3-7095-0130-6

Dr. Martin Pinsger/ Dr. Thomas Hartl · Krankheit Schmerz

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2021 Ennsthaler Verlag, Steyr

Ennsthaler Gesellschaft m.b.H. & Co KG, 4400 Steyr, Österreich

Umschlaggestaltung: Thomas Traxl & Ennsthaler Verlag

Textur Umschlag: © Dmytro Naumenko/ iStockphoto.com

Fotos: Nadine Studeny (S. 93, 143, 148, 190, 212); Thomas Hartl (S. 72, 248);

Holger Bruckschweiger/ORF III (S. 22); Privat (S. 25, 68, 117, 121, 126)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Vorwort

Vorwort

Einleitung

Medizin im Wandel – Mit der ICD-II werden Schmerzen endlich zur Krankheit erklärt

Erster Teil – Die prekäre Situation der Patienten

Kapitel 1 Lage der Schmerzpatienten

Ignoranz gegenüber chronischen Schmerzpatienten dauert an

Leben mit chronischen Schmerzen

Leben mit Fibromyalgie – Karl Dieber

»Ich liebe das Leben« – Clemens Bukowsky

Kapitel 2 Schmerzentwicklung und Einflussfaktoren

Lebenssituation und Schmerzentwicklung

Frauen haben mehr Schmerzen als Männer

Schmerzen im Alter

Schmerzen machen Angst

Rituale geben Sicherheit

Rettungsanker Schlaf

Kapitel 3 Verloren im Ärztedschungel

Nicht ernst genommen zu werden, schmerzt doppelt – Stefanie Lindner

Neue Blase, neues Leben – Christa Rammerstorfer

Wenn die Haut brennt – Clarissa Cymbal

Kapitel 4 Leben im Gleichgewicht

Homöostase – Leben im Gleichgewicht

Spiritualität und Religion

Geborgenheit versus Traumata – Die Vergangenheit prägt den Menschen

Schmerzen habe oft einen biografischen Hintergrund – Kirsten Adler

Vom Einzeller zum empathischen Wesen

Zweiter Teil – Selbsthilfe und Therapie

Kapitel 5 Sich selbst helfen, arbeiten am Lebensstil

Wunderwaffe Bewegung

Mit Ernährung Schmerzen reduzieren

Heilfasten

Gewitter im Kopf – Caro Frauendorfer

Selbst ist die Frau – Katharina Sigl

Kapitel 6 Vielfältige Therapiemöglichkeiten

Medikamentöse Therapie

Opiate gegen starke Schmerzen

Cannabinoide schaffen Distanz und Erleichterung

Manuelle Therapie

Physiotherapie – Angst vor Bewegung nehmen

Sportwissenschaft – Patienten wieder in Bewegung bringen

Prävention, nein danke!

Kapitel 7 Operationen am Bewegungsapparat

Pro und kontra Operationen

Versteifungsoperationen – Spondylodese

Durchbeißen bis zum Umfallen – Harald Fürst

Kapitel 8 Patient und Arzt

Optimales Patient-Arzt-Verhältnis ist Balsam für die Seele

Technik allein hilft nicht gegen Schmerzen

Schwierige Kommunikation – über Schmerzen sprechen und sie verstehen

Heilung durch Nähe und Distanz

Dritter Teil – Fehler im System

Kapitel 9 Kampf um die Pension

Pensionierung aus Krankheitsgründen

Wenn Wirbel ständig brechen – Josef Seidl

Lachen, um nicht zu weinen – Frau Y

Kapitel 10 Das Gesundheitssystem

Rasche und umfassende Diagnostik und Therapie – Anspruch und Realität

Radiologie – Magnetresonanztomografie richtig umsetzen

»Der Pensions-Neurotiker« – Herr Mesut

Multimodale Therapie – Wunsch und Wirklichkeit

Anhang

Anerkennung und Danksagung

Kontaktadressen

Endnoten/Quellen

Über die Autoren

Vorwort

Das Buch, das Sie in Händen halten, ist keine lebensferne »Besserwisserei«, sondern ganz nah an der Realität geschrieben. Es zeigt die Situation von Schmerzpatienten aus zwei Perspektiven – aus der des Patienten und aus der des Arztes. Einerseits werden hier Schmerzpatienten Einblick in ihr Leben geben und erzählen, wie es ihnen ergeht und was sie unternehmen, um von den Schmerzen wegzukommen. Andererseits wird das Thema aus Sicht des erfahrenen Schmerzarztes und von anderen Experten beleuchtet.

Geschrieben wurde das Buch für Patienten und Angehörige, damit sie sehen, dass sie nicht alleine sind mit ihren Problemen, es anderen ähnlich ergeht und wie diese mit ihrer Krankheit umgehen. Auch Ärzte können von der Lektüre sicherlich profitieren, um künftig besser mit ihren Schmerzpatienten umzugehen.

Wir hoffen, mit dieser Schrift auch politische Entscheider zu erreichen, damit endlich die Rahmenbedingungen für die Therapien verbessert werden und die Patienten eine menschenwürdige Behandlung im medizinischen, aber auch im sozialen Bereich erhalten. Konkret gesagt: Es müssen endlich die Voraussetzungen geschaffen werden, damit die Patienten rasche Diagnosen und bessere Therapien erhalten. Auch ist es unwürdig, dass Patienten oft um geeignete Medikamente kämpfen oder den Rechtsweg beschreiten müssen, um eine Pension zu bekommen, da sie schmerzbedingt einfach nicht mehr arbeiten können.

Schmerzen sind für die Autoren auch persönlich ein großes Thema. Dr. Martin Pinsger behandelt und begleitet nicht nur seit Jahrzehnten »seine« Patienten auf ihrem Weg, er litt selbst lang an Kopfschmerzen und hat sich nach Jahren von dieser Geißel befreien können. Auch für Dr. Thomas Hartl sind Schmerzen ein Lebensthema, er muss mit einer schwer angeschlagenen Halswirbelsäule durchs Leben gehen und so widmet er sich seit Jahren als Journalist und in mehreren Büchern diesem großen und wichtigen Thema.

Schmerz ist ein gesellschaftliches Problem – Hilfe ist überfällig

Schmerz betrifft nicht nur die einzelnen Menschen an sich, er ist auch ein gesellschaftliches Problem. Schmerzpatienten werden nur von ihresgleichen wirklich verstanden. Der Schmerz als Problem für die ganze Gesellschaft ist noch nicht wirklich angekommen.1 Wenn es uns gelingt, hier eine neue Position einzunehmen – sensibler, empathischer und ernsthafter – und dem Thema Schmerz jenen Raum zu geben, den es verdient, dann kann sich dadurch vielleicht etwas bewegen. Es benötigt eine neue Form der Kommunikation über Schmerz, eine »Schmerzkultur« muss etabliert werden.

Gezielte, lösungsorientierte Behandlungen für Schmerzpatienten zu schaffen, wäre ein entscheidender Schritt für unsere Gesellschaft. Es ist ein Zeichen der Qualität einer Gesellschaft, sich dieser Problematik anzunehmen. Man darf nicht hinnehmen, dass Millionen Menschen von nicht zu überwindenden Schmerzen fertiggemacht werden, ihnen die Lebensqualität geraubt wird und sie sich schlussendlich zurückziehen oder gar das Leben nehmen.2 Sie werden von der Gesellschaft zurückgestoßen und manchmal auch stigmatisiert.

Chronische Patienten wissen, dass vieles im Argen liegt. Viele fühlen sich alleingelassen. Auch Schmerzmediziner mit Blick auf das Ganze wissen, was zu tun wäre. Doch damit Veränderung eintreten kann, muss das Leid der großen Minderheit »Schmerzpatienten« in der restlichen Bevölkerung und bei den Entscheidungsträgern ankommen.

Politischer Druck wäre nötig. Von so einem Druck ist derzeit leider gar nichts zu spüren. Obwohl so viele Menschen unter erheblichen Schmerzzuständen leiden, gibt es keinerlei wirksame Solidarität. Offensichtlich ist Schmerz so schlecht kommunizierbar, dass ein gesellschaftlicher Diskurs schwierig, ja vielleicht überhaupt unmöglich ist. Vielleicht wird das Thema auch deshalb totgeschwiegen, weil jeder froh ist, nicht selbst betroffen zu sein und es nicht »heraufbeschwören« will, plötzlich zur Gruppe der Schmerzleidenden dazuzugehören. Wir versuchen die Lage der Patienten zu vermitteln und organisatorische Lösungen aufzuzeigen.3

Schmerzen neu bewerten

Dieses Buch soll dem Thema Schmerz in unserer Gesellschaft einen neuen Stellenwert geben. Denn Schmerzen sind mehr als ein Symptom, sie sind für allzu viele Menschen lebensbestimmend, ein dominanter Lebensbegleiter. An manchen Stellen mag das Werk wie eine Brandschrift wirken, doch die Absicht ist die beste: Der Blick soll auf die Patienten gerichtet werden – auf ihr Leid und ihre Probleme, aber auch auf Lösungsmöglichkeiten, dem Dilemma von chronischen Schmerzen zu entkommen.

Es ist nicht beabsichtigt, die etablierten Methoden der Medizin zu diskreditieren und objektiv erfolgreiche Prozesse infrage zu stellen. Dieses Buch will auch nicht Institutionen anzweifeln oder das Gesundheitssystem schlechtmachen. Es will vielmehr Anstöße liefern, wie man den Betroffenen gerecht werden kann. Multimodale Therapien und das Nicht-infrage-Stellen des Leids vieler Patienten wären erste wichtige Schritte. Sie würden das System nicht nur menschlicher, sondern auch effektiver machen.

Geschichten veranschaulichen den Prozess der Schmerzerkrankung

Dr. Martin Pinsger und sein Schmerzkompetenzzentrum Bad Vöslau befassen sich seit vielen Jahren mit der Therapie schmerzgeplagter Patienten. Im vorliegenden Buch gibt der Arzt seine Erfahrungen und sein Wissen weiter. Das Buch enthält auch eine Reihe von Erfahrungsberichten von Schmerzpatienten. Die Informationen wurden von den Autoren sorgfältig recherchiert und entstammen persönlichen Gesprächen mit den Patienten (mit dieser Formulierung sind immer Menschen beider Geschlechter gemeint).

Diese persönlichen Geschichten sollen aufzeigen, was passieren kann, wenn die medizinischen und sozialen Netzwerke – aus welchen Gründen auch immer – nicht gut funktionieren. Es handelt sich oft um dramatische »Fälle«, die Eskalationen im Schmerz aufzeigen und so in ein Dauerleiden führen. Sie sollen auch klarmachen, wann und warum Schmerz vom Signal zum Symptom und von der latenten Sensibilisierung zur Schmerzkrankheit führt. Und sie sollen darauf hinweisen, dass zu Beginn der Therapie Eile und Effizienz wichtig sind, um einer Chronifizierung entgegenzuwirken.

An dieser Stelle muss klar gesagt werden, dass es oft viel zu lange dauert, bis Schmerzen und deren Auswirkungen geklärt und entschärft werden. Dabei ist vor allem die Sensibilisierung der Bevölkerung notwendig, auf sich und auf andere aufzupassen. Mehr Achtsamkeit, Zeit für Sport und Ausgleich sowie wertschätzende, beruhigende Kommunikation sind wichtige Akzente in einer aus dem Lot gekommenen Zeit.

Patienten mit Selbstverantwortung

Chronische Erkrankungen benötigen ganzheitliche4 Maßnahmen und neben einer effektiven medizinischen Behandlung immer auch eine große Portion an Eigenaktivität der Patienten. Durch die Übernahme von Eigenverantwortung stellt der Patient Selbstwirksamkeit her, er kann also selbst an seiner Genesung mitwirken und bestimmt diese in großem Ausmaß. Die Behandlung des Arztes und anderer Therapeuten wird erst durch die Mitwirkung und die Umsetzung der Maßnahmen durch den Patienten zum Erfolg gebracht. Kurzum: Der Weg in die Gesundheit kann vom Arzt oder Therapeuten unterstützt werden, immer aber ist auch der »innere Arzt« des Patienten gefordert, die Eigenverantwortung bleibt bestehen.

Niemand sollte seinen Körper dem medizinischen System überantworten, sich selbst passiv verhalten und abwarten, was dabei herauskommt. Der Versuch, Gesundheit ohne eigenverantwortliches Handeln zu erreichen, ist bei chronischen Schmerzen meist der falsche, weil erfolglose Weg, der auch in einer gesundheitlichen Katastrophe enden kann.

Mit Schmerzen leben

Dieses Buch mit seinen Patientengeschichten soll nicht nur aufrütteln, sondern auch aufzeigen, dass man sich nach vielen Jahren mit Schmerzen nicht plötzlich der Illusion der völligen Schmerzfreiheit hingeben sollte. Besserung ist immer möglich, völlige Schmerzfreiheit leider nicht.5 Die Integration von Schmerzen in das Leben ist jedoch möglich.

Nicht »weg mit den Schmerzen« soll bei chronischen Verläufen in Zukunft die Devise sein, sondern vielmehr: »Was sagt mir mein Schmerz? Wo stehe ich an? Sollte ich meinen Weg ändern oder gar neue Wege suchen?«

Bei jahrelangen Schmerzen ist eine völlige Befreiung von diesem Wegbegleiter oft nicht mehr oder nur teilweise möglich, doch wesentliche Verbesserungen des Lebens und Wohlfühlens sind selbst nach dreißig oder vierzig Jahren mit Schmerzen immer noch realistisch. Es gilt daher einerseits zu lernen, wie man mit Schmerzen umgehen kann, und andererseits dafür zu sorgen, dass sie sich in Grenzen halten.

Einleitung

Medizin im Wandel – Mit der ICD-11 werden Schmerzen endlich zur Krankheit erklärt6

Schmerz kann Menschen an ihre Grenzen bringen und sie schwer invalidisieren. Das bedeutet auch große finanzielle Belastungen für die Gesellschaft und Probleme für die Volkswirtschaft. Eine neue Positionierung von Schmerzerkrankungen ist eine notwendige und sinnvolle Aufgabe.

Unser medizinisches System ist vor allem darauf ausgelegt, Schaden zu beheben, statt ihm vorzubeugen.7 Dieses Vorgehen funktioniert bei chronischen Erkrankungen und speziell bei Schmerzerkrankungen nicht wirklich. Die auf vielen Gebieten so erfolgreiche Spezialisierung in der Medizin kann bei Schmerzerkrankungen, die Jahre und Jahrzehnte andauern, oft nicht helfen. In diesem Bereich sind ganzheitliche und umfassende Therapiekonzepte die einzig sinnvolle Alternative.

Schmerz braucht eine Diagnose

Jede Krankheit benötigt eine Diagnose – Schmerz hat bisher keine. Schmerz gilt bis heute in Österreich lediglich als Signal oder Symptom, jedoch nicht als Krankheit. Nach dem Lesen dieses Buchs sollte diese Betrachtungsweise der Vergangenheit angehören. Denn Schmerz kann uns Menschen sehr wohl im Sinn einer Krankheit befallen, das steht zweifelsfrei fest. Diese Tatsache wurde bisher nicht gebührend berücksichtigt. Dies dürfte sich mit der Einführung der ICD-11 hoffentlich ändern, die voraussichtlich 2022 in Kraft tritt.8 Sie wird erstmals Schmerzen einer Diagnose zugänglich machen und diese somit zur Krankheit erklären.9

ICD steht als Abkürzung für »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitszustände«. Sie ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Die derzeitige Begutachtung von Patienten zum Zweck der Diagnose baut auf der veralteten und massiv reformbedürftigen ICD-10 auf, die von 1983 bis 1992 entwickelt wurde und nun fast dreißig Jahre alt ist.

Erstmals Schmerzdiagnosen möglich

Ein Manko der ICD-10 ist, dass sie keine Schmerzdiagnosen enthält. Das hat für Patienten zur Folge, dass ihre Schmerzen bei jeglicher medizinischer oder behördlicher Begutachtung (zum Beispiel, ob sie berufsfähig sind) keine Relevanz besitzen.10

Anders wird die Situation bei der ICD-11 sein. Darin wird erstmals die Möglichkeit zu Schmerzdiagnosen eröffnet. Diese werden im Rahmen eines Funktionsscores die tatsächlichen Beeinträchtigungen des Patienten dokumentieren.

Mit der ICD-11 werden künftig der speziellen Schmerzerkrankung zusätzlich die konkreten Probleme und Beeinträchtigungen des Betroffenen hinzugefügt werden können. Das betrifft zum Beispiel Schlafstörungen, Bewegungseinschränkungen, Depressionen, Angst oder Arbeitsunfähigkeit. Dadurch erhält die Diagnose eine neue Qualität und Quantität. Diese Zusätze sind für eine sinnvolle Erfassung und Statistik von höchster Priorität. Daraus kann abgelesen werden, wie groß der Aufwand an Behandlung sein wird oder wie viele präventive Maßnahmen zu berücksichtigen sind, um eine effektive Schmerzbehandlung auch zu realisieren.11

Erster Teil – Die prekäre Situation der Patienten

Kapitel 1

Lage der Schmerzpatienten

Ignoranz gegenüber chronischen Schmerzpatienten dauert an

Jeder chronische Schmerzpatient weiß es, jeder Angehörige weiß es, jeder Schmerzarzt weiß es: Chronische Schmerzen werden immer noch unzureichend behandelt. Das war vor zwanzig Jahren schon so, vor zehn, vor fünf, und bis heute hat sich an dieser Tatsache nichts geändert.

Oder täuscht dieser Eindruck? Mitnichten. Man muss sich nur einschlägige Pressemeldungen aus der Vergangenheit ansehen. So titelte beispielsweise die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) in einer Aussendung vom 6. Mai 2013: »Chronische Schmerzen unzureichend behandelt. Hunderte Millionen Euro für ineffiziente Therapien ausgegeben«. In dem Bericht hieß es unter anderem: »Allein in Österreich leiden 1,5 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen, wobei jeder Zweite mehr als zehn Ärzte konsultieren muss, um eine korrekte schmerzmedizinische Behandlung zu bekommen. Eine ineffiziente Therapie bedeutet zudem nicht nur für Betroffene längeres Leid, sondern kostet die Gesellschaft hunderte Millionen Euro jährlich. Neben dem unzulänglichen Zugang zu multidisziplinären Einrichtungen beruht die Unzufriedenheit in Bezug auf Schmerztherapien auf deren defizitäre Qualitäts- und Erfolgskontrolle sowie schmerzmedizinische Ausbildung der Ärzte.« Weiters hieß es: »19 Prozent aller europäischen chronischen Schmerzpatienten haben durch ihr Leiden den Arbeitsplatz verloren. Das Risiko, den Beruf aufgrund von chronischen Schmerzen aufzugeben, ist um sieben Mal höher als bei gesunden Menschen.«

Ein Jahr später, im Mai 2014, stellte der damalige ÖSG-Präsident Prof. Christian Lampl in einer Aussendung wieder einmal fest: »Gesundheitspolitik ignoriert Bedürfnisse von Schmerzpatienten.« Inhaltlich wurden erhebliche Defizite in der schmerzmedizinischen Versorgung angeprangert, diese sei nicht ansatzweise gewährleistet. Chronisch Schmerzkranke würden ausgegrenzt, obwohl Therapiemöglichkeiten vorhanden wären. Die Allgemeinheit würde die Schmerzkranken kaum wahrnehmen. Schmerzen wären »Privatsache«, ihr Aushalten würde erwartet. Die Gesundheitspolitik habe Schmerzkranke und Schmerzärzte bisher im Stich gelassen. Es gäbe einen Unwillen der Politik, nachhaltig Veränderungen zuzulassen und zu unterstützen.

Jahr für Jahr werden in zahlreichen Aussendungen die Missstände in der Schmerzbetreuung aufgezeigt und angeprangert. Offenbar ohne den geringsten Erfolg. Im Gegenteil, die Zustände scheinen sich in manchen Bereichen verschlechtert zu haben. Schmerzambulanzen wurde geschlossen, eine flächendeckende Versorgung mit schmerztherapeutischen Einrichtungen inklusive Schmerzrehabilitation scheint in immer weitere Ferne zu rücken. Weder das persönliche Leid von Millionen Patienten und Angehörigen noch die immensen volkswirtschaftlichen Kosten, die durch chronische Schmerzen und deren Folgen verursacht werden, scheinen Anlass genug zu sein, das System grundlegend zu verbessern. Die Gründe dafür sind spekulativ. Ist es Ignoranz gegenüber den Patienten, von denen einfach erwartet wird, die Schmerzen auszuhalten, oder verhalten sich die Interessen von Ärztefunktionären, Kassenvertretern und Gesundheitspolitikern gegenüber dem menschlichen Leid der Betroffenen und dem ökonomischen Aspekt umgekehrt proportional?

Mangelhafte Versorgung der Schmerzpatienten in Deutschland

In Deutschland leiden laut Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. rund 23 Millionen (!) Menschen an chronischen Schmerzen. Die Unterversorgung dieser Patienten wird als besorgniserregend beschrieben. Aktuell versorgen bloß 1200 ambulant tätige Schmerzmediziner die zunehmende Zahl an Patienten. Es wären aber allein für eine flächendeckende Versorgung der schwerstgradig Schmerzkranken (3,4 Millionen, Stand: 2019) mindestens 10.000 ausgebildete Schmerzmediziner nötig.

Schmerzerkrankungen bedingen einen enormen volkswirtschaftlichen Schaden. Allein die durch Rückenschmerzen in Deutschland verursachten jährlichen Kosten und Folgekosten (Arbeitsunfähigkeit, Krankentagegeld, vorzeitige Berentung etc.) dürften nach Berechnungen von Experten jährlich rund 60 Milliarden Euro betragen.

Auch die Deutsche Schmerzliga e.V. kritisiert die mangelhafte Versorgung von Schmerzpatienten. Eine flächendeckende Versorgung von besonders schwer betroffenen Kranken sei in Deutschland nicht gewährleistet. Laut Deutscher Schmerzliga dauert es Untersuchungen zufolge im Schnitt zehn Jahre, bis Schmerzpatienten in die richtigen Hände kommen und eine geeignete Therapie erhalten. Dadurch geht wertvolle Zeit verloren, weil sich währenddessen Chronifizierungsprozesse abspielen, die durch eine frühzeitige Schmerzbehandlung vermeidbar gewesen wären.

Viele Patienten mit chronischen Schmerzen könnten besser versorgt werden, wenn Ärzte ein ausreichendes Wissen über Schmerztherapie und Chronifizierungsrisiken hätten. Dieses Wissen ist in den vergangenen Jahren zwar gestiegen, da Schmerztherapie seit 2016 Pflicht- und Prüfungsfach im Medizinstudium ist, nichtsdestotrotz ist eine ausreichende flächendeckende Versorgung von besonders schwer betroffenen Patienten trotz aller Bemühungen immer noch nicht gewährleistet.

Die Versorgung der Schmerzpatienten in Deutschland dürfte dennoch besser sein als in Österreich. Im Gegensatz zu Österreich existieren immerhin Schmerzkliniken (wenn auch zu wenige) und Schmerztherapie gibt es auf Kasse.

Lage der Schmerzpatienten und Therapiemöglichkeiten in der Schweiz

Der folgende Text befasst sich mit der Lage der Schmerzpatienten und den Therapiemöglichkeiten in der Schweiz und basiert auf Informationen von Dr. André Ljutow, Chefarzt des Zentrums für Schmerzmedizin in Nottwil.

Chronischer Schmerz ist weltweit eine häufige, komplexe und therapieresistente Erkrankung. Diese Erkenntnis setzt sich aber sowohl bei den Betroffenen als auch bei Ärzten und Therapeuten auch in der Schweiz nur zögerlich durch. Die nationale wissenschaftliche Schmerzgesellschaft (Swiss Pain Society, SPS) bemüht sich um eine Verbreitung dieses Wissens.

So sind gemäß der Studie von Breivik, Pain in Europe, in der Schweiz 16 Prozent der Wohnbevölkerung von chronischen Schmerzen betroffen. Dies bedeutet, dass 32 Prozent der Schweizer Haushalte ein Mitglied haben, das von akuten oder chronischen Schmerzen betroffen ist. Dabei sind Frauen mit 55 Prozent etwas häufiger vertreten als Männer. Das Durchschnittsalter der Betroffenen beträgt 48 Jahre.

Die Daten des Gesundheitsberichts 2015 bestätigen erneut die hohe Schmerzprävalenz in der Schweiz. Dabei gehören Rücken-und Kopfschmerzen zu den am weitesten verbreiteten Schmerzen. Rückenschmerzen sind bei Erwachsenen ein häufiger Grund für einen Arztbesuch sowie für Arbeitsunfähigkeit bis hin zu Invalidisierung, sie verursachen somit auch erhebliche volkswirtschaftliche Kosten. Dies konnte in der Studie zu den Kosten der nicht übertragbaren Krankheiten in der Schweiz von Simon Wieser im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit dargestellt werden.12

Eine aktuellere Studie aus der Allgemeinmedizin belegt, dass Schmerz in Zusammenhang mit muskuloskelettalen (die Muskulatur und das Skelett betreffend) sowie psychologischen Veränderungen zu den vier häufigsten Symptomkomplexen chronischer Erkrankungen in der hausärztlichen Praxis zählt. Dabei wurden über 22 Prozent Schmerzen in der gesamten Stichprobe und über 29 Prozent Schmerzen bei Patienten über 66 Jahren gefunden.13

In der Schweiz existiert eine Vielzahl von Praxen, in denen eine interventionelle Schmerzbehandlung (vorwiegend Injektionstechniken) angeboten wird. Dies ist bedingt durch die Anerkennung dieser Therapie mit eigenständigen Leistungsziffern im Vergütungssystem.

Interdisziplinäre Versorgungsstrukturen sind hingegen seltener und setzen sich oft auch an den großen Universitätskliniken nur zögernd durch. Seit Jahren bestehen solche Einrichtungen am Kantonsspital in St. Gallen, an den Universitätsspitälern in Genf und Lausanne sowie im Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, einer Spezialklinik für Querschnittgelähmte. Die anderen Kantonsspitäler und Universitätskliniken unterhalten vorwiegend monodisziplinäre Schmerzambulanzen von unterschiedlichen Fachrichtungen. Stationäre multimodale und interdisziplinäre Behandlungsprogramme etablieren sich erst zögerlich und sind an strenge Vorgaben bezüglich ihrer Leistungsdichte gebunden.

Das Zentrum für Schmerzmedizin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil entspricht bezüglich personeller und apparativer Ausstattung einem Schmerzzentrum mit der Möglichkeit einer umfassenden interdisziplinären Diagnostik sowie einem breiten Angebot von Therapieformen aller Art bis hin zu operativen Maßnahmen und stationären Behandlungsprogrammen.

Ein Hemmschuh für die weitere Entwicklung der Schmerzmedizin sind die bisher fehlende Anerkennung für chronische Schmerzen als eigenständige Erkrankung und die fehlende Anerkennung der Swiss Pain Society seitens der FMH, des Berufsverbands der Schweizer Ärzte.

Leben mit chronischen Schmerzen

Täglich, 365 Tage im Jahr, Schmerzen zu haben – das kann sich wohl niemand auch nur annähernd vorstellen, der dies nicht selbst durchleben muss.

Sicher, Schmerz ist ein subjektives Empfinden, jeder Mensch erlebt Schmerz anders. Manche werden damit leichter fertig als andere und können auch mehr aushalten, sind belastbarer und vielleicht auch »dickhäutiger«. Das hängt nie nur von einem einzigen Faktor ab, sondern hier spielen sehr viele Faktoren eine Rolle.

Für viele chronische Schmerzpatienten ist jeder Tag ein Kampf, der schon mit erheblichen Schwierigkeiten beim Aufstehen beginnt. Es ist zermürbend, wenn man sich jeden Tag »zusammenreißen« und »funktionieren« muss, um nur die notwendigsten alltäglichen Dinge erledigen zu können.

Man kann und will auch den Partner, die Familie und Freunde nicht ständig mit seinen Problemen und Ängsten belasten. Für Partner, Angehörige und Freunde ist es oft nur schwer zu ertragen, dass es da jemanden gibt, der leidet und dem sie nicht helfen können – eben darum konfrontieren viele Patienten diese nach Möglichkeit nicht mit ihren Nöten und versuchen, so gut es geht, allein damit fertig zu werden.

Viele Patienten wollen einfach niemandem »auf die Nerven gehen«, was sehr leicht der Fall sein kann, wenn man häufig darüber spricht. Das Nicht-miteinander-Sprechen erfordert viel Disziplin und macht einsam, es führt zu Distanz und Rückzug. Freundschaften gehen zu Ende und auch Beziehungen verlieren an Halt und können zerbrechen.

Absagen oder durchbeißen?

Susanne Fiala, Gründerin und Leiterin der Selbsthilfegruppe Schmerz in Wien sowie selbst seit vielen Jahren schmerzgeplagt, berichtet im Folgenden über den Alltag von chronischen Schmerzpatienten:

Das Leben eines Schmerzpatienten ist geprägt von Unsicherheit. Man weiß nie, wie es einem morgen oder übermorgen gehen wird, wie schlimm die Schmerzen sein werden. Mittel, schlimm oder ganz schlimm? Man fragt sich: Wie wird es mir gehen, wenn man ein Treffen vereinbart und dieses dann wegen zu starker Schmerzen doch wieder absagen muss? Wenn jeder Kino-, Theater- oder Konzertbesuch im Vorfeld von der Angst überschattet ist, dass gerade dann wieder ein »schlimmer« Tag sein könnte und man – wieder einmal – absagen muss, das erzeugt Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verlust. Wenn man trotz starker Schmerzen und schweißgebadet dann doch diesen Anlass wahrnimmt – und diesen natürlich nur wenig genießen kann, obwohl man sich schon so lange darauf gefreut hat –, auch das ist ein Trauerspiel.

Wir Patienten wollen doch auch nur ein bisschen Normalität in unserem Leben! Wir bemühen uns deshalb sehr, dass man uns nicht gleich ansieht, wie schlecht es uns geht – weil wir kein Mitleid wollen, und wir wollen auch nicht in ein Spiegelbild sehen, vor dem sogar wir selbst zurückschrecken. Wir wollen nicht den Eindruck eines leidenden Menschen erwecken, obwohl wir das natürlich sind.

Glaubt uns doch!

Wir Patienten leiden häufig daran, nicht ernst genommen zu werden. Dass sich Menschen – Ärzte nicht ausgenommen – meist schon nach dem ersten Eindruck ein Urteil bilden, ist bekannt und hat leider nicht selten zur Folge, dass wir auf sie daher nicht glaubwürdig wirken. Selbst wenn wir deutlich sagen, dass wir starke Schmerzen haben, ändert das nichts. Der zweifelnde Blick des Arztes bedarf keiner Worte. Wenn er dann noch betont, dass wir aber »gut aussehen«, dann wissen wir, was das bedeutet. Kompliment ist es sicher keines.

Wie müssen wir denn aussehen und uns verhalten, damit man uns glaubt? Damit man uns glaubt, dass wir ständig, jeden Tag, Schmerzen haben und Hilfe benötigen? Reicht es nicht, dies deutlich zu sagen? Wie sollen wir denn Schmerzen »beweisen«? In einer von uns initiierten Umfrage unter Patienten wurde mit Abstand als größter Wunsch angeführt, dass Ärzte den Patienten besser zuhören und ihnen vor allem auch glauben und sie ernst nehmen sollten.

Aussprechen hilft

Viele von uns Patienten haben Phasen, in denen die Schmerzen so heftig sind, dass sie nicht mehr leben wollen, nämlich dann, wenn die Schmerzmittel nicht ausreichend wirken und sie auch die Angst vor der Zukunft fest im Griff hat. Man hofft nur noch, dass dieser Tag irgendwie vorübergeht und der nächste Tag dann wieder ein – wenigstens etwas – besserer Tag sein wird. In dieser verzweifelten Situation fühlt man sich unglaublich einsam und alleingelassen, denn mit wem kann man über diese Gefühle und Ängste reden? Doch nur mit jemandem, der diese Situation auch kennt und genau weiß, wie gut es tut, wenn man all diese Gefühle und Ängste aussprechen kann.

Hier kann eine Selbsthilfegruppe, eine Gruppe betroffener Menschen, helfen. Hier können Patienten einander zuhören, weil sie verstehen und weil sie diese Situationen auch ganz genau kennen. Die Ratschläge mancher »Fachleute«, doch Musik zu hören oder ein gutes Buch zu lesen, sind wohl gut gemeint, aber es ist unmöglich, dies zu tun, wenn man sehr starke Schmerzen hat. Der Schmerz beherrscht uns – leider nicht umgekehrt.

Wir freuen uns schon über kleine Dinge: wenn wir ein paar Tage etwas weniger Schmerzen haben, wenn die Schmerzen erträglich sind.

Auf Augenhöhe

Wir Patienten wollen auch von den Ärzten als gleichwertige Partner angesehen werden und die Gespräche sollten auf Augenhöhe stattfinden. Wir sind die Fachleute und Spezialisten, wenn es um unsere eigene Erkrankung, unseren eigenen Körper geht. Niemand sonst kann beurteilen, was uns guttut und hilft und was nicht. Natürlich brauchen wir Ärzte, gute Ärzte, die uns als Menschen wahrnehmen und nicht als Drei-Minuten-Gespräch. Auch wenn sie nicht in der Überzahl sind, es gibt solche Ärzte, zum Glück.

Leben mit Fibromyalgie – Karl Dieber

Fibromyalgie ist ein Krankheitsbild14 mit vielen Gesichtern und Fragezeichen. Die Art der Erkrankung sowie die Ursachen sind nicht eindeutig geklärt. Eine wirksame Therapie ist unbekannt. Oft vergehen viele Jahre bis zur Diagnose. Die Leiden der Patienten sind meist groß. Schmerzen, Schlaflosigkeit und sozialer Rückzug drängen die Betroffenen an den Rand des Erträglichen. Darüber hinaus werden sie oft nicht ernst genommen und fallweise als psychisch krank abgestempelt.

Die Fibromyalgie15 (Faser-Muskel-Schmerz) ist eine chronische Erkrankung, bei der körperliche Schmerzen am ganzen Körper und Erschöpfung im Vordergrund stehen. Der Grazer Karl Dieber leidet an dieser heimtückischen Erkrankung. Auch wenn nicht klar ist, mit wie vielen Menschen er dieses Los teilt, eines ist klar: es sind mehr, als man ahnt. Die Dunkelziffer16 dürfte hoch sein, auch weil der Weg zur Diagnose ein langer ist und sich die Erkrankung im Grunde nicht oder nur sehr schwer beweisen lässt. Dieses Nebulöse, schwer Greifbare führt auch dazu, dass den Betroffenen oft nicht geglaubt wird und sie mit ihrem Leiden alleingelassen werden.

Anstrengender als Spitzensport

»Im Vergleich zu dieser Erkrankung war der Spitzensport bloß ein Aufwärmtraining«, sagt Karl Dieber, 17-facher Staatsmeister im Kunst- und Turmspringen und Leiter einer Selbsthilfegruppe für Fibromyalgie-Erkrankte in Graz (www.fibromyalgie-graz.com). Er will damit sagen, dass die Erkrankung nicht nur unheimliche Schmerzen bereitet, sondern ein permanenter Krafträuber ist.

Diese beiden Symptome sind auch das einzig Charakteristische, das alle Betroffenen eint. Die konkrete Ausformung dagegen ist individuell sehr verschieden, weswegen man häufig auch von einem Syndrom spricht. Weitere mögliche Begleitsymptome17 sind Schlafstörungen, vegetative Beschwerden, Reizmagen, Kopfschmerzen und vieles mehr. Bis zu 100 Begleiterkrankungen werden mit Fibromyalgie assoziiert.

Die Fibromyalgie vollzieht sich meist schleichend. Schmerzen »wandern« vor allem am Anfang und treten an unterschiedlichen Stellen auf. »Jahrelang weiß man nicht, was einem fehlt. Man weiß nur, dass man ein großes, undefinierbares Problem hat. Alles tut weh und die Erschöpfung nimmt zu. Es ist so, wie wenn bei einem Ventil eines Fahrrads langsam die Luft entweicht. Man wird schwächer und schwächer, bis schließlich gar nichts mehr geht. An schlechten Tagen kann man nicht einmal ein Buch lesen. Mit dieser Krankheit zu leben, ist eine Knochenarbeit«, erklärt Dieber.

Unsichtbare Krankheit

Über die Ursachen und Auslöser von Fibromyalgie gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Diskutiert werden beispielsweise Traumata in frühen Lebensjahren, eine gestörte Schmerzverarbeitung und genetische Ursachen.

Die Diagnose ist schwierig, weil sich Fibromyalgie weder in Blutwerten18, Röntgen oder Magnetresonanz zeigt. Bevor es zu einer Diagnose kommen kann, müssen alle anderen möglichen Erkrankungen ausgeschlossen werden. »Ich habe eine fast 20-jährige Ärzte-Odyssee hinter mir. Keiner konnte mir sagen, was mir fehlt. Wenn man schließlich doch eine Diagnose bekommt, ist man anfangs erleichtert, denn irgendwann beginnt man an sich selbst zu zweifeln, ob man sich alles vielleicht bloß einbildet oder vielleicht verrückt geworden ist vor Schmerzen«, sagt der 52-Jährige.

Operation als Auslöser?

Bei Karl Dieber gab es im Unterschied zu vielen anderen Betroffenen einen klar definierbaren Zeitpunkt, an dem sich die Fibromyalgie erstmals in all ihrer Heftigkeit bemerkbar machte. »2007 hatte ich eine Schulter-OP. Sie bescherte mir einen massiven Schmerzpegel. Zehn Tage nach der Operation geschah plötzlich eine für undenkbar gehaltene weitere Verschlimmerung meiner schon bestehenden Schmerzen. Die OP war eine schlechte Entscheidung. Die Probleme an der Schulter blieben und zudem hatte ich nun auch noch Ganzkörperschmerzen, die sich manifestierten und nicht mehr weggingen.« Diese Schmerzen gingen mit einer massiven Erschöpfung einher. Die bleierne Müdigkeit war in gewisser Weise das noch schlimmere Problem, denn um Schmerzen auszuhalten, braucht man Kraft, und ohne Kraft ist man den Schmerzen ausgeliefert. Hinzu kamen Schlafprobleme, die erst mit dem Cannabinoid Dronabinol19 behoben werden konnten.

Im Ärztedschungel

Nicht nur der Weg zur Diagnose ist für viele Patienten lang und beschwerlich, auch danach wird es nicht einfacher. »Da die Krankheit so schwer greifbar ist und es unter den Ärzten keine klaren Zuständigkeiten gibt, wandern viele von einem Facharzt zum nächsten.20 Orthopäden, Rheumatologen, Neurologen und sogar Psychiater mischen mit. Und natürlich auch Physiotherapeuten, Osteopathen, Akupunkteure etc. Ein jeder sieht aber nur sein Fach, weiß nichts von den anderen involvierten Ärzten und Therapeuten oder interessiert sich wenig für die Behandlungen der Kollegen in den anderen Fächern. Es bräuchte eine einzige Anlaufstelle, eine Art Generalarzt, vergleichbar mit einem Generalunternehmer, wenn man ein Haus baut. Nötig wäre ein Ansprechpartner, der dafür sorgt, dass die Ärzte untereinander sprechen und sich abstimmen. Ein Hausarzt könnte das übernehmen, aber der hat im jetzigen System ja keine Zeit für Patienten, da Zeit nicht bezahlt wird. Momentan ist es leider so, dass jeder Facharzt sein Süppchen kocht, der Patient viel Geld bezahlt und letztendlich kaum etwas hilft. Das zermürbt viele dermaßen, dass sie schließlich gar nicht mehr zum Arzt gehen und zu Hause resignieren«, sagt Dieber.

Hokuspokus und Geschäftemacherei

Andere Betroffene klammern sich nach einem erfolglosen Ärztemarathon an mehr oder weniger seriöse Heilsversprechen. »Immer wieder tauchen im Internet und in Zeitungen Behauptungen auf, wonach man nur ein bestimmtes Produkt kaufen und nehmen müsse und schon seien die Schmerzen weniger oder ganz weg. Man sollte solche Aussagen ignorieren, denn sie schüren Hoffnungen, die letztendlich bitter enttäuscht werden. Das führt zu noch mehr Verzweiflung und noch mehr Schmerzen. Hier wird mit dem Leid der Patienten Profit gemacht. Denn natürlich sind viele Patienten bereit, alles zu geben, was sie haben, wenn man ihnen nur Hoffnung macht«, sagt Karl Dieber.

Stille Helden

Da der Leidensweg meist kein Ende nimmt, werden die sozialen Kontakte immer weniger, Freunde verabschieden sich, Ehen gehen zu Bruch, und auch die Arbeit geht verloren, da man nicht mehr in der Lage ist, diese durchzuhalten.

Da die Krankheit weder äußerlich zu sehen noch medizinisch schwer nachzuweisen ist, werden Betroffene oft nicht ernst genommen. Manche werden als Simulanten betrachtet, andere als übertrieben wehleidig, wieder andere als möglicherweise psychisch krank. »Wer den Krebs besiegt, ist ein Held, wer im Rollstuhl sein Leben meistert, ebenso. Wir Fibromyalgie-Patienten können nur innerlich, jeder für sich selbst, ein Held sein, denn Heilung ist einfach nicht in Aussicht. Die Verzweiflung und das Leid sind oft größer, als die Angehörigen ahnen«, sagt Karl Dieber, der vor zehn Jahren seinen guten Job als IT-Techniker aufgeben musste und sich in Invaliditätspension befindet.21, 22

Therapie meist unwirksam

Da man die Ursachen der Erkrankung nicht kennt, beschränkt sich die Therapie auf die Linderung der Symptome. »Dennoch gibt es mitunter Berichte von Heilungen. Ob sie echt sind, weiß niemand, möglicherweise war die Diagnose falsch, das kommt oft vor«, sagt Dieber.

Bislang gibt es kein spezifisches Medikament für diese Erkrankung.23 Herkömmliche Schmerzmittel wie die nicht-steroidalen Entzündungshemmer Paracetamol, Ibuprofen und Acetylsalicylsäure wirken kaum oder gar nicht. Auch Opiate wirken nur kurz, zu wenig oder gar nicht. »Schwere und schwerste Schmerzmittel wirken selten, führen aber sehr oft zu einer Abhängigkeit. Antidepressiva (Amitriptylin) können eine gewisse Erleichterung bewirken, sind aber keine Dauerlösung. Ich habe alles ausprobiert, nichts half wirklich. Am Schluss war ich opiatsüchtig. Der Einstieg erfolgte mit Tramal, dann Morphium, am Schluss Fentanylpflaster. Der Ausstieg, also der Entzug, war extrem schlimm. Das Einzige, was mir wirklich hilft, ist das Cannabinoid Dronabinol. Allerdings musste ich jahrelang um die Kostenübernahme prozessieren«, berichtet Karl Dieber.

Aktiv sein trotz Erschöpfung

Die vielleicht wichtigste Maßnahme im Kampf gegen Fibromyalgie ist Bewegung. Man sollte sich körperlich und seelisch so viel bewegen wie nur möglich. Egal was, Hauptsache man ist aktiv und rührt sich. Natürlich ist es für Betroffene extrem hart, sich körperlich zu bewegen oder sogar Sport zu treiben, einfach weil alles wehtut und vor allem wegen der Erschöpfung. Viele Betroffene kostet es schon enorm viel Kraft, bloß aufzustehen. »Ich selbst erledige alle meine Wege mit dem Fahrrad und trainiere in einem Fitnesscenter. Auch wenn das Training die Schmerzen noch erhöht, so lasse ich mich davon nicht abhalten, denn am Abend bin ich dann zufrieden, mich überwunden und alles gegeben zu haben, was mir möglich ist«, sagt der ehemalige Spitzensportler Dieber.

Auch die Ernährung spielt eine gewisse Rolle. Patienten wird häufig empfohlen, sich überwiegend pflanzlich zu ernähren. »Viele Betroffene sind sich sicher, dass die richtige Ernährung ihnen weiterhilft. Das Weglassen von Zucker und Mehl und generell von Fertiggerichten dürfte jedenfalls sinnvoll sein«, sagt Karl Dieber.

Lernen, mit der Krankheit umzugehen

Das Wichtigste für Patienten ist, mit der Erkrankung umgehen zu lernen. Man muss sich auf die Schmerzen und die Erschöpfung einstellen und trotz der massiven Einschränkungen dankbar sein für das, was noch geht, und nicht das bejammern, was nicht mehr geht.24

Karl Dieber erzählt, wie er es schafft, möglichst positiv zu bleiben: »Einerseits dadurch, dass ich mich ablenke und in Achtsamkeit lebe. Wenn ich etwa als Seelsorger arbeite, gilt meine Aufmerksamkeit einem anderen und nicht mir. Diese Aufmerksamkeit fordert mich völlig und ich verliere mich selbst aus den Augen. Ich bin trotz allem dankbar für mein Leben. Demut und der Glaube an etwas Höheres sind auch hilfreich. Generell ist es wichtig, einen Sinn im Leben zu finden und dann das zu machen, was sich richtig anfühlt. Vielleicht hilft diese Einstellung dabei, dass sich auch langfristig alles zum Besseren wendet.«

Wichtig sei, die Krankheit als solche anzunehmen und nicht gegen sie anzukämpfen. Sie ist einfach da. Dieber: »Man muss sie nicht mögen, man darf sie auch zurechtweisen, wie einen Hund, dem man befiehlt, sich auf seinen Platz zu legen und Ruhe zu geben.«

Schmerztagebücher sollten nur gezielt, bewusst und meistens am Beginn eingesetzt werden. Sie führen dazu, dass man sich ständig mit seinem schmerzenden Körper beschäftigt. Am Beginn der Erkrankung ist das vielleicht noch hilfreich, um zu sehen, was einem guttut und was nicht, später dann wird es kontraproduktiv.

Kälte verstärkt bei Fibromyalgie die Schmerzen, Wärme lindert sie. Eine heiße Dusche, ein heißes Bad, Infrarot oder die Biosauna sind meist hilfreich, denn sie nehmen die Spannung aus dem Körper. Vielen Leidenden hilft der Heilstollen in Bad Gastein. Die Kosten dafür werden österreichweit aber nur von bestimmten Kassen übernommen.

»Ich liebe das Leben« – Clemens Bukowsky

Man schmiedet Pläne, kleine und supergroße, träumt von den Dingen, die sich erfüllen mögen, ist jung, verliebt, das Leben flirrt und man hat keine Ahnung, was Gott oder wer auch immer für einen tatsächlich parat hält im Leben. Vielen ergeht es so, und mir ganz bestimmt. Denn dass ich in »den besten Jahren« meines Lebens im Auto sitze, mit verschleiertem Blick und nassen Augen, gewürgt von Selbstmitleid und dem verfluchten Schmerz, der mir im Nacken sitzt, das hätte ich nicht kommen sehen können.

Dass man einmal mit durchgedrücktem Gaspedal auf der Suche nach einem kräftigen Baum, der die Erlösung bringen soll, in der Gegend herumfahren wird, wer kann an solche Szenarien denken, solange er noch jung ist, solange das Leben aus Annehmlichkeiten wie Tennis, Fußball und Partys besteht?

Gesund sein, dieser Begriff existierte in der Jugend nicht, Gesundheit war einfach ein selbstverständlicher und daher unbeachteter Teil der Existenz. Der Körper sah gut aus, braun gebrannt und etwas muskulös, um den Mädchen zu gefallen, er war Ort des Vergnügens und sonst nichts. Schmerzen? Die hatte man im Hals, ab und zu, oder im Bauch, wenn man vor einer Prüfung die Hosen voll hatte, aber sonst? Was waren Schmerzen? Nicht existent, nicht einmal abstrakt als Begriff.

Das Grün am Straßenrand

Nächste Woche werde ich ein halbes Jahrhundert alt. Im Moment suche ich nach einem in etwa gleichaltrigen Baum. Einem mit mächtigem Stamm, tief verwurzelt, einem Prellbock am Straßenrand. Ein einziger würde mir genügen, um mit allem Schluss zu machen. Gas geben, darauf zusteuern, finito. Mein Problem wäre gelöst und die Familie bekäme immerhin das Geld aus der Lebensversicherung.

Also, wo ist der mächtige Baum? Ich lache kurz auf, denn kein einziges dieser Exemplare lässt sich blicken. Überall stehen nur junge Bäumchen, deren Stämme zwar das teure Auto verbeulen, mir aber bloß ein weiteres Schleudertrauma verursachen würden. Jetzt, im mittleren Alter, weiß ich, was ein Schleudertrauma ist. 15 Jahre liegt es zurück, als ein Autofahrer nicht aufgepasst hatte und mir in die Motorhaube gekracht ist. Damals habe ich mich über die 3000 Euro Schmerzensgeld gefreut, die mein Verfahrensanwalt herausgeholt hat. Heute weiß ich, diese Flasche von Anwalt hat mir verschwiegen, dass ich vielleicht jahrelang Physiotherapien und vieles mehr vor mir haben könnte. Musste er das nicht wissen?