Kretische Ehre - Nikos Milonás - E-Book
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Kretische Ehre E-Book

Nikos Milonás

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Beschreibung

Eine Tauffeier, Freudenschüsse und ein toter Musiker – Kommissar Michalis Charisteas ermittelt in seinem vierten Fall Ein langer, warmer Sommer geht auf Kreta zu Ende, jetzt bringt der Oktober kürzere, aber noch sehr angenehme Tage. An diesem Wochenende sind Michalis und Hannah ins Psiloritis-Gebirge gefahren und haben in Anoghia, dem größten  Bergdorf Kretas, eine Nacht verbracht. Am Abend findet im Dorf eine traditionelle Tauffeier statt – je wilder die Musik spielt, umso ausgelassener feiern die Gäste.  Und es dauert nicht lange, bis die ersten Schüsse fallen, die balothies, die traditionellen Freudenschüsse. Plötzlich bemerkt Michalis, dass dem eben noch umjubelten Manolis Mavropanos die Lyra aus der Hand gleitet und er nach vorn sackt. Die anderen beiden Musiker spielen noch einen Moment weiter, dann kippt Manolis vom Stuhl und prallt auf den Boden. Menschen schreien auf, die Schüsse verstummen – Manolis Mavropanos ist tot. Von hinten tödlich getroffen. Im vierten Fall für Michalis Charisteas geht es um Kretische Ehre, Wiedergutmachung und gut gehütete Geheimnisse, die niemals ans Tageslicht kommen sollen. »Ein gut inszenierter Krimi vor traumhafter Kulisse.«  01.06.2021, Tegernseer Zeitung

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Seitenzahl: 433

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Nikos Milonás

Kretische Ehre

Kriminalroman

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Inhalt

[Zitate]Die Michalis-Charisteas-Serie:Personenverzeichnis1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. KapitelDankZur Herkunft der Zitate:

Von dem Moment an, in dem man

kretischen Boden betritt, fühlt man sich frei.

 

Mikis Theodorakis

 

 

›Wie war das Leben für dich, Opa?‹, fragte ich einen alten Kreter.

›Wie ein Glas frisches Wasser‹, erwiderte er mir. 

›Und hast du noch Durst, Opa?‹

›Verflucht sei der, der keinen Durst mehr hat!‹, rief er.

 

Nikos Kazantzakis

Die Michalis-Charisteas-Serie:

1. Kretische Feindschaft

2. Kretischer Abgrund

3. Kretisches Schweigen

4. Kretische Ehre

5. Kretische Nacht (erscheint 2023)

Personenverzeichnis

Michalis Charisteas, Mitte 30, Kommissar in Chania

Hannah Weingarten, Anfang 30, Kunsthistorikerin

Pavlos Koronaios, Anfang 50, Partner von Michalis

 

Sotiris Charisteas, Bruder von Michalis, Wirt des Athena

Takis Charisteas, Vater von Michalis, Wirt des Athena

Loukia Charisteas, Mutter von Michalis

Elena Chourdakis, Schwester von Michalis

Theo Chourdakis, Sohn von Elena, 11Jahre alt

Sofia und Loukia,10 und 8Jahre alt, Töchter von Sotiris

 

Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission von Chania

Myrta Diamantakos, Assistentin in der Polizeidirektion

Ioannis Karagounis, Leitender Kriminaldirektor von Chania

Kostas Zagorakis, Chef der Spurensicherung

Lambros Stournaras, Gerichtsmediziner Chania

 

Daniela Weingarten, Hannahs Mutter, Mitte 50

Eberhard Wagner, Stiefvater von Hannah, Ende 50

 

Galatia und Nikoletta, Töchter von Koronaios, 18 und 20Jahre alt

 

Manolis Mavropanos, Musiker, Ende 20

Maria Kounalakis, seine Freundin, 27Jahre alt

Loukas Mavropanos, sein Bruder, 32Jahre alt

Pandelis Mavropanos, der Vater, Anfang 60

Lambros Mavropanos, Onkel, 62Jahre alt

Anastathios Mavropanos, Großvater von Manolis, 95Jahre alt

Soula Mavropanos, Mutter von Manolis und Loukas, Ende 50

Katerina Marinakis, Schwester von Manolis und Loukas, Mitte 30

 

Antonis Christakis, Musiker, Mitte 30

 

Vrasidas Lazaridis, Polizist in Anoghia, Mitte 30

Andreas Stamatakis, Revierleiter von Anoghia, Ende 40

Stelios Vikakis, Bürgermeister von Anoghia, Anfang 60

Melissa Padadakis, Wirtin in Anoghia, Mitte 30

Christos Stafylidis, Chef der Mordkommission Rethimnon

Nikos Kritselas, Chef der Mordkommission Heraklion

 

Markos, Kollege von Hannah

 

Aristidis Armenakis, Ziegenhirte in Kallikratis, Ende 50

Kostas Armenakis, dessen Sohn, Mitte 30

 

Spyros Tragaki, Nationalist aus Chersonissos, Anfang 20

Zabia Tragaki, seine Schwester, Mitte 20

Eva und Petros Tragaki, Eltern der beiden, Ende 40

Militos Fotiadis, Nationalist, auffällig hager, Mitte 40

Danilos Tsitselakis, Nationalist mit markantem Kopf, Ende 40

Alexandros Karabatsolis, Anführer der Nationalisten, Mitte 50

1

In der Ferne zogen die letzten Ausläufer des Gebirges vorbei. Die Sitze des Wagens waren blutverschmiert. Der Kopf des Mannes sackte zur Seite. Er schüttelte ihn.

Mühsam öffnete sein Bruder die Augen. »Ich will nicht …«, presste er leise hervor. Schweiß lief ihm über die Wangen. Sein Gesicht war fast weiß.

»Nein, du wirst nicht, wir haben es gleich geschafft …«

Hilflos sah er zu den anderen Männern, doch die wichen seinem Blick aus.

Sie näherten sich der Schnellstraße. Links ging es nach Rethimnon, dort gab es eine Klinik.

Doch der Fahrer bog nach rechts ab.

»Wo fährst du hin? Wir müssen ins Krankenhaus!«

»Wir fahren nach Heraklion! Sieh zu, dass er bis dahin durchhält!«, rief der Mann am Steuer.

»Aber das dauert fast eine Stunde! Und nach Rethimnon sind es zehn Minuten!«

»Wir müssen nach Heraklion! Und jetzt ist Ruhe«, sagte der Mann neben ihm schroff. Sein Anzug war voller Blut, seine linke Schulter mit einem Hemd notdürftig verbunden. Das Sakko hing nur noch über einem Arm.

»Aber er wird …«

Er wollte es nicht aussprechen. Doch er wusste, dass sein Bruder diese Fahrt nicht überleben würde.

2

Hannah schien regelrecht ergriffen zu sein. Konzentriert musterte sie die Ritzen in den Felsen und die kleinen Nebenkammern der Höhle. Michalis hingegen interessierte sich mehr für die große, längliche Öffnung über ihnen. Dort schien die Sonne, und es war warm und hell, und dort wäre Michalis jetzt gern gewesen. Hier unten war es ziemlich kühl.

»Und in einer dieser Kammern soll also Zeus aufgewachsen sein«, sagte Hannah.

»Eine merkwürdige Vorstellung, oder? Hier unten ein Kind zur Welt zu bringen?«, erwiderte Michalis.

»Kind. Na ja.« Hannah grinste. »Zeus war ja nun nicht gerade ein normales Kind. Sein Vater war ein Titan und Zeus ein Gott der griechischen Mythologie. Außerdem …«

Michalis legte seinen Kopf schräg und strich sich durch den dunklen Vollbart. Er wusste, dass seine deutsche Freundin sich gründlich auf diesen Besuch in der Idäischen Höhle hoch oben im Psiloritis-Gebirge vorbereitet hatte, während er sich nur noch dunkel an das erinnerte, was er in der Schule über Zeus, dessen Vater Kronos, seine Brüder Hades und Poseidon und all die anderen griechischen Götter gehört hatte.

»Angeblich ist Zeus ja gar nicht in dieser Höhle geboren worden«, fuhr Hannah fort.

»Es ist ja auch nur eine Legende.«

»Ja, klar, aber das mein ich nicht. Es gibt doch auch die Psychro-Höhle. Im Osten von Kreta. Im Dikti-Gebirge. Dort soll sich Rhea, die Mutter von Zeus, vor Kronos versteckt haben. Der hatte wohl alle Kinder, die Rhea bis dahin zur Welt gebracht hatte, aufgefressen, damit sie ihn nicht entmachten und stürzen können. Und angeblich wurde Zeus in der Höhle von Psychro geboren und erst danach hierher in Sicherheit gebracht.«

Michalis nickte und war froh, dass auch Hannah zum Eingang der Höhle blickte. Sie schien zu frösteln, doch Michalis kannte die Beharrlichkeit seiner Freundin, selbst wenn ihr kalt war. Sie hatten ihre Jacken im Wagen gelassen, und ihre hellblaue Bluse half kaum gegen die kühle Luft in der Höhle.

»Wollen wir wieder hoch?«, fragte Michalis. »Ich find es ziemlich frisch hier unten.«

»Das bisschen Kälte … stell dich nicht so an.« Hannah lachte.

»Sollte es dir nicht zu denken geben, dass wir die einzigen Besucher sind? Wahrscheinlich sind alle anderen schon erfroren.« Michalis grinste.

»Zeus ist hier ja auch nicht erfroren. Sonst gäb es doch eure ganze Mythologie nicht.« Hannah nahm Michalis’ Hand und gab ihm einen Kuss. »Ja, wir gehen gleich. Aber da oben …« Sie deutete auf ein dunkles Loch in zehn Metern Höhe. »Irgendwo da gibt es eine Kammer, in der im neunzehnten Jahrhundert kultische Gegenstände entdeckt wurden.«

Hannahs Blick wanderte über die feuchten, glatten Felsen. Am liebsten wäre sie zu dem dunklen Loch hinaufgeklettert, doch im Gegenlicht des Höhleneingangs tauchte die Frau vom Kassenhäuschen auf. Vermutlich gab es immer wieder Besucher, die unerlaubt in die verborgenen Bereiche der Höhle steigen wollten, dachte Michalis.

 

Von der Höhle aus nahmen sie den Wanderweg hinunter zu ihrem Wagen. Vor ihnen breitete sich das beeindruckende Plateau der Nida-Hochebene aus. Über mehrere Kilometer erstreckten sich Weiden, umgeben von einigen der höchsten Berge Kretas.

»Bald fällt der erste Schnee«, sagte Michalis. »Manchmal schneit es hier oben schon im November.«

Hannah deutete zu den Tieren, die in dem satten Grün der Hochebene grasten. »Aber die Ziegen und Schafe werden vorher in die Täler gebracht, oder?«, erkundigte sie sich.

»Ja, natürlich. Ab Ende Oktober werden sie auf LKWs oder Pick-ups geladen und nach unten gefahren.«

 

Mit der Fernbedienung ließ Hannah die Lichter ihres kleinen, braunen Toyota aufblinken. Seit sie fast jeden Tag zum Archäologischen Museum nach Heraklion fahren musste, hatte sie einen eigenen Wagen. So ganz hatte Michalis sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass jetzt meistens er der Beifahrer war.

»Wollen wir direkt nach Chania? Oder in Anoghia noch etwas essen?«, fragte Hannah.

»Lass uns lieber hier essen. Meine Familie ist gerade so anstrengend«, antwortete Michalis.

Hannah nickte. Ja, Michalis’ Familie war im Moment nicht einfach, und es tat gut, am Wochenende unterwegs zu sein.

Die letzte Nacht hatten sie in einer Pension in dem Ort Anoghia verbracht und abends in einer der Tavernen an der Platia Perachori gegessen. Später hatte vor einem Kafenion der Vater der Wirtin auf einer Laute kretische Lieder gespielt. Auch wenn der schnelle Rhythmus der Musik in Hannahs Ohren fremd klang, war sie beeindruckt gewesen.

 

Sie folgten der schmalen Straße, deren Asphalt an einigen Stellen weggebrochen und in die Tiefe gerutscht war. Keine zwei Wagen durften sich hier begegnen. An kargen, zerklüfteten Felswänden vorbei schlängelte sich die Straße in engen Serpentinenkurven nach unten. Nach einer halben Stunde lag, von der tief stehenden Sonne angestrahlt, der höchstgelegene Ort Kretas mit seinen knapp zweitausend Einwohnern vor ihnen: Anoghia.

»Vier Tage noch«, sagte Hannah unvermittelt.

Ja, vier Tage noch. Dann würde mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zum ersten Mal ein Teil von Hannahs Familie nach Kreta kommen. Hannah hatte sich diesen Besuch, wie sie in den letzten Wochen begriffen hatte, zu einfach vorgestellt. Denn was für eine pragmatische Deutsche einfach nur ein Besuch war, war für eine kretische Familie im Grunde ein Heiratsversprechen. Seit Hannah vor einigen Wochen erwähnt hatte, dass ihre Mutter mit ihrem zweiten Ehemann nach Chania kommen würde, stand für die Familie Charisteas fest: Michalis und Hannah würden, sobald die deutsche Familie eingetroffen war, ihre Hochzeit ankündigen.

»Ich hab das unterschätzt. Sonst hätte ich meiner Mutter ausgeredet, nach Kreta zu kommen«, erklärte Hannah.

»Wenigstens mein Vater ist nicht ganz so überzeugt, dass wir jetzt heiraten werden. Er glaubt erst dann an eine Hochzeit, wenn auch dein Vater in Chania auftaucht«, sagte Michalis.

Für Takis, Michalis’ Vater, war eine Hochzeit noch immer etwas, bei dem die Väter vorher gefragt werden und ihr Einverständnis geben mussten. Und da Takis bisher kaum Scheidungen erlebt hatte, konnte er mit der Tatsache, dass lediglich Hannahs Stiefvater auftauchte, nicht viel anfangen. Heiraten, das musste mit den richtigen Vätern besprochen werden.

»Es sei denn, wir wollen doch …«, meinte Michalis.

»Wenn wir beide heiraten, dann, weil wir es wollen! Und nicht weil deine Familie uns drängt«, sagte Hannah schnell.

Auch wenn Michalis nicht sonderlich traditionell dachte, so war es für ihn doch selbstverständlich, dass er es war, der einen Heiratsantrag machen würde. Dass Hannah so offen darüber sprach, irritierte ihn. Vielleicht hätte er ihr sonst längst einen Antrag gemacht.

 

In Anoghia bemerkten sie schnell, dass etwas anders war als am Tag zuvor. Der obere Teil des Ortes war menschenleer, und es fuhren auch keine jungen Männer mit ihren Pick-ups oder auf ihren Motorrädern die Hauptstraße auf und ab. Im unteren Teil mussten sie viel weiter von der Platiaentfernt parken als gestern.

»Wollen wir lieber weiterfahren?«, fragte Hannah.

»Bis Chania sind es mehr als zwei Stunden. Wir probieren es hier, und wenn es zu voll ist, fahren wir zur Küste und suchen uns da etwas.«

Vor allem wollte Michalis am Abend nicht imAthenaauf seine Familie stoßen und wieder endlos über den Besuch von Hannahs Mutter und des Stiefvaters reden müssen.

Während sie an einer kleinen, geschlossenen Taverne vorbeigingen und von der Platia Perachori immer lauteres Stimmengewirr zu ihnen drang, beschlich Michalis das Gefühl, es wäre vielleicht doch besser gewesen, weiterzufahren.

Doch noch deutete nichts darauf hin, dass ihn das, was sie heute Nacht erleben würden, in seinen bisher schwierigsten Fall verwickeln würde.

3

Nach der zweiten engen Kurve, als die Kirche an der Platiaauftauchte, fielen ihnen Kinder in festlicher Kleidung auf. Erst dann bemerkten sie, was anders war als gestern: Die kleinen Straßen waren gesperrt, und der Platz stand voller Reihen mit Tischen und Stühlen. Ein großes Fest wurde gefeiert, und Hunderte Menschen aßen und tranken, lachten und riefen laut durcheinander.

»Lass uns zur Küste fahren und irgendwo am Meer essen«, sagte Hannah, doch im selben Moment wurden sie von Kindern umringt und Richtung Platiagezogen. Michalis wusste, wie beeindruckt kretische Kinder von der großen Hannah mit ihren langen blonden Haaren waren. Und schon tauchten zwei Männer auf und führten Michalis und Hannah zu einem der festlich gedeckten Tische. Ohne dass die beiden lange gefragt wurden, saßen sie plötzlich inmitten der Feiernden und bekamen voll beladene Teller gereicht. Michalis bemerkte, dass viele Gäste kleine Ansteckkreuze trugen, und begriff: Sie waren in eine Tauffeier geraten.

Die Tische waren übersät mit orektika, den Vorspeisen, und dem tsigariasto, im Topf gebratenen Rippchen vom Lamm. Gerade wurde der Hauptgang aufgetragen, das pilafi, Lamm- und Ziegenfleisch mit vrasto, Reis, der im Saft des Fleisches gekocht worden war. Kaum leerte sich einer der Teller von Michalis und Hannah, wurde sofort nachgefüllt.

Hannah wurde vor allem von den Frauen in Gespräche verwickelt. Sie waren begeistert, dass eine Deutsche griechisch sprach und sich auf Kreta auskannte. Für Hannah war die Unterhaltung nicht einfach, denn hier in den Bergen um Anoghia war der kretische Dialekt besonders ausgeprägt. Eine Frau, die mehr als die anderen den Umgang mit Fremden gewohnt war, erklärte Hannah einige ungewohnte Ausdrücke. Sie trug ein festliches schwarz-weißes Gewand und einen roten Umhang und hatte ihre Haare mit einem Kopftuch kunstvoll hochgebunden.

Während Hannah es genoss, von den Frauen und einigen Kindern umringt zu sein, sah Michalis sich um. Auf der Platia standen große Maulbeerbäume, die im Sommer Schatten spendeten. In vier Richtungen führten schmale Straßen weg. Am Eingang einer Gasse wuchs eine von einer hüfthohen Mauer umgebene Platane. Neben der Kirche gab es ein kleines Eckgebäude, in dem ein winziges Museum an den legendären, sehr jung verstorbenen Musiker Nikos Xylouris erinnerte.

Auf den Tischen entdeckte Michalis viele Bomboniera, jene mit Zuckerguss überzogenen Mandeln,die die Gäste einer Taufe noch in der Kirche als Geschenk bekamen. Eine Taufe wurde auf Kreta aufwendig gefeiert und war auch entsprechend teuer. Daher wurde mit so einem Fest gern gewartet, bis mehrere Kinder geboren waren und gleichzeitig getauft werden konnten, dann musste nur ein Mal ein Fest ausgerichtet werden. Heute hatten sich zwei Brüder zusammengetan, um die Taufe von insgesamt fünf Kindern zu feiern.

Michalis hatte schon oft an solchen großen Familienfesten teilgenommen. Hannah hingegen erlebte es zum ersten Mal und war von der Gastfreundschaft fasziniert.

Die Sonne stand inzwischen so tief, dass die Platia im Schatten lag. Es war zu spüren, dass die warme Jahreszeit vorüber war und es jetzt im Oktober hier in den Bergen abends schnell kühl wurde. Vor einem Kafenion auf der gegenüberliegenden Seite der Platiagingen Lichter an, und drei Musiker nahmen auf Stühlen nebeneinander Platz. An der Hauswand dieses Kafenions saßen zwei jüngere Frauen. Eine von ihnen schien die Wirtin zu sein, die andere bekam von einem der Musiker einen Kuss, bevor er sich auf den mittleren Stuhl setzte und eine Lyra, die kretische Stehgeige, sowie einen Bogen aus einem Koffer nahm. Rechts von ihm stimmte ein Musiker seine laouto, seine Laute, während der dritte eine askomandoura, einen kretischen Dudelsack, auspackte und eine mandoura, eine kleine Flöte, zurechtlegte. Zwei der Musiker hatten lange, gelockte dunkle Haare.

Michalis beugte sich zu Hannah. »Der in der Mitte, das ist Manolis Mavropanos«, sagte er leise.

»Kennst du ihn?«, fragte Hannah.

»Jeder auf Kreta kennt Manolis Mavropanos. Er ist einer der besten und berühmtesten Musiker der Insel. Ich war schon auf zwei seiner Konzerte.«

»Und der spielt hier bei einer Taufe?«

»Alle Musiker lieben es, auf Festen zu spielen. Andernfalls würden sie nicht respektiert werden, selbst wenn sie phantastisch sind«, antwortete Michalis.

»Und der andere, der auch dunkle Locken hat …«

»Das ist sein Bruder. Loukas. Auch ein guter Musiker. Aber Manolis ist unvergleichlich.«

Hannah kniff belustigt ihre Augen zusammen.

»Du klingst ja richtig stolz«, sagte sie.

»Manolis Mavropanos ist einer von uns, und er gibt Konzerte in ganz Europa«, erwiderte Michalis. Ja, er war stolz, dass Manolis Mavropanos zu Kreta gehörte und etwas von dem, das die Seele dieser Insel ausmachte, in die Welt trug.

Noch während die Musiker ihre Instrumente stimmten, wurde ihnen bereits applaudiert. Als sie dann zu spielen begannen, sprangen viele Menschen auf, klatschten und sangen die Lieder mit. In Hannahs Ohren klang diese traditionelle Musik rau, wild und fremd, doch sie spürte ihre Faszination. Ganz eindeutig hing das mit Manolis Mavropanos zusammen, denn der charismatische Lyraspieler begeisterte die Menschen mit seinem Spiel und seinem Gesang am meisten. Seine Finger glitten an den drei Saiten der Lyra entlang, während der Bogen mal wild und ekstatisch und mal sanft und behutsam den unverwechselbaren rauen und harten Klang erzeugte.

Schon bald wurden Tische zur Seite geräumt, und einige Männer in kretischer Tracht und mit hohen weißen Stiefeln stellten sich im Halbkreis auf, um einen pentazolis, einen Tanz mit kunstvollen Sprüngen, vorzuführen.

»Den Sirtaki, den Anthony Quinn in dem Film Alexis Sorbas tanzt, gab es vorher auf Kreta gar nicht«, sagte Michalis. »Anthony Quinn hatte sich bei den Dreharbeiten angeblich einen Fuß gebrochen, aber die kretischen Tänze wären für ihn wohl ohnehin zu kompliziert gewesen. Diese Männer brauchen Jahre, um sie zu lernen. Anthony Quinn hat einige langsame Schritte anderer Tänze kombiniert, und jetzt glaubt alle Welt, auf Kreta wurde schon immer Sirtaki getanzt.«

»Unglaublich«, erwiderte Hannah beeindruckt, obwohl sie Michalis nur halb zugehört hatte. Denn das, was die Männer zeigten, war atemberaubend. Sie hielten sich an den Händen, und immer wieder setzte einer der Tänzer zu akrobatischen Sprüngen an. Kurz darauf versuchte dann der Nächste, ihn zu übertrumpfen.

Auch wenn die Aufmerksamkeit jetzt bei den Tänzern lag, so wurde nach jedem Stück doch Manolis Mavropanos umjubelt. Es schien ihm unangenehm zu sein, dass nicht den Tänzern die Begeisterung galt – aber er war der bewunderte Mittelpunkt dieser Tauffeier.

 

Die Sonne war untergegangen, und die Tänzer hatten den Musikern und den Feiernden wieder das Feld überlassen. Im Dunkeln tanzten jetzt viele der Dorfbewohner, auch kleine Kinder, und die Stücke schienen immer wilder und leidenschaftlicher zu werden. Der dritte Musiker spielte nun eine defi, eine Trommel, mit der er den Rhythmus vorantrieb. Manolis Mavropanos sang mit geschlossenen Augen und mit mal weicher, mal rauer und schneidender Stimme. Immer wieder schob er eine mantinada ein, gesungene und gesprochene Reime, von denen die Gäste einige kannten, während andere improvisiert waren und begeistert aufgenommen wurden.

Michalis legte Hannah seine graue Lederjacke über die Schultern, begann dann allerdings selbst zu frösteln. Während er noch überlegte, aus dem Wagen warme Sachen zu holen, klingelte sein Smartphone. Seine Mutter.

»Kommt ihr heute Abend noch zum Essen?«, fragte Loukia.

»Wir sind noch in den Bergen, es wird spät!«, rief Michalis und entfernte sich ein paar Meter von den Feiernden.

»Wo seid ihr denn? Was ist das für ein Lärm bei euch?«

»Hier ist eine Taufe. In Anoghia. Manolis Mavropanos spielt!«, sagte Michalis.

»Manolis Mavropanos? Der Manolis Mavropanos?«, fragte Loukia.

»Ja genau. Hannah ist total begeistert.«

»Na gut. Aber morgen Abend kommt ihr ins Athena!«

Loukia legte auf, und Michalis lächelte. Manolis Mavropanos war auf Kreta so beliebt, dass es sogar seine Mutter besänftigte, wenn sie deshalb erst spät nach Chania zurückkamen.

Michalis wollte zum Tisch zurückgehen, als er etwas sah, das ihm nicht gefiel. Etliche junge Männer liefen in der Nähe der Musiker mit Pistolen, Revolvern und einige sogar mit Gewehren herum. Er wusste, was demnächst passieren würde: Balothies, Freudenschüsse in die Luft. Für kretische Männer, vor allem, wenn sie jung waren und in kleinen Orten lebten, waren diese Schüsse ein Teil ihrer Kultur. Keine Hochzeit, keine Taufe und auch kein anderes großes Fest fand auf Kreta statt, ohne dass irgendwann minutenlang geschossen wurde. Da es dabei durch Querschläger immer wieder zu Verletzten und sogar Toten gekommen war, waren die Balothies seit Jahren verboten – aber so ein Verbot brachte viele kretische Männer erst recht dazu, es als ihre Pflicht zu betrachten, diese Tradition am Leben zu erhalten.

»Ich geh zum Wagen und hol meine Jacke und einen Pullover«, sagte Hannah, als Michalis an den Tisch trat.

»Das kann ich gern machen«, bot Michalis an.

»Ich muss auch noch meine Mutter anrufen. Das hatte ich ihr versprochen.«

Michalis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ja, du bist nicht der Einzige, der mit seiner Familie telefonieren muss!«, rief Hannah und stand auf. Michalis sah ihr nach, bis sie an einer Ecke aus seinem Blickfeld verschwand.

Manolis Mavropanos schien seine Lyra wie in Trance zu spielen, während die anderen beiden Musiker den Rhythmus immer mehr beschleunigten. Mitten in dem Stück setzte das ein, was Michalis befürchtet hatte: Die jungen Männer schossen mit lauten Freudenschreien in die Luft. Michalis blickte sich besorgt um und hoffte, dass Hannah erst zurückkommen würde, wenn es wieder ruhig war.

Für Manolis Mavropanos und seine Musiker schienen diese Schüsse wie ein weiterer frenetischer Applaus zu sein, der sie anfeuerte – bis Manolis Mavropanos mitten im Stück plötzlich zu spielen aufhörte. Sein Bruder und der dritte Musiker behielten noch einen Moment den Rhythmus bei, während der Bogen, der eben noch über die Saiten der Lyra gesprungen war, hilflos in der Luft zu schweben schien.

Manolis Mavropanos kippte langsam nach vorn und sackte zu Boden. Schlagartig verstummte die Musik, und auch die letzten Schüsse verhallten. Die junge Frau, die an der Hauswand gesessen hatte, stürzte zu dem am Boden Liegenden und schrie nach Hilfe. Die Wirtin kam aus dem Kafenion gerannt.

Um den eben noch umjubelten Manolis Mavropanos breitete sich eine Blutlache aus.

 

Die anderen beiden Musiker sprangen auf. Einen Moment lang war nichts zu hören außer den Schreien der jungen Frau. Loukas, der Bruder von Manolis Mavropanos, hielt plötzlich eine Pistole in der Hand und sah sich in alle Richtungen um. Michalis beobachtete, dass er auch in die Gasse hinter dem Kafenion blickte, in der es keine Tische und keine Feiernden gab. Der dritte Musiker stürzte zu dem Verletzten und zerrte eine Decke von einem Tisch, um sie auf die Wunde zu pressen.

Zwei Männer liefen zu den Musikern, gaben Anweisungen und wollten offenbar verhindern, dass eine Panik ausbrach. Einer von ihnen, ein Mann Mitte sechzig mit Halbglatze, rief in die Menge, dass jemand den Arzt alarmieren sollte. Eltern schnappten sich ihre Kinder und verschwanden mit ihnen in der Dunkelheit der Gassen.

Michalis nahm sein Smartphone und machte von den jungen Männern, die eben noch Freudenschüsse abgegeben hatten, schnell einige Fotos. Da Hannah noch nicht wieder aufgetaucht war, eilte er zu dem Kafenion und den Menschen, die um den stark blutenden Manolis Mavropanos herumstanden. Einer der beiden Männer, die Kommandos gegeben hatten, versperrte Michalis den Weg.

»Bitte bleiben Sie zurück«, sagte der Mann. Er war Ende vierzig, stämmig, und trug einen kräftigen Schnauzbart. »Es gab einen Unfall.«

»Ich war unter den Gästen, als die Freudenschüsse losgingen«, erwiderte Michalis. »Ich bin Polizist.«

Der Mann mit dem Schnauzbart musterte ihn.

»Polizist? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

»Mordkommission. Chania.«

»Ah. Chania.« Der Mann wirkte beunruhigt und sprach den Ort Chania gedehnt aus. Dies hier war die Präfektur Rethimnon, und da hatte jemand aus Chania nichts zu sagen. Dennoch trat er einen Schritt zur Seite.

»Ein bedauerlicher Unfall. Ein Querschläger. Unverzeihlich, aber …«, fügte er hinzu.

Ein Wagen hielt vor der Kirche. Ein Mann stieg aus, kam mit einer Arzttasche angelaufen und wurde durchgelassen. Michalis musterte den reglosen und blassen Schwerverletzten, um dessen Körper sich die Blutlache immer weiter ausbreitete. Ein Blick auf die Miene des Arztes genügte Michalis, um zu wissen: Manolis Mavropanos, der trotz seiner jungen Jahre bereits eine kretische Legende war, würde vor ihren Augen verbluten.

»Gibt es eine Polizeistation in Anoghia?«, fragte Michalis den Mann mit dem Schnauzer.

»Ich bin der Revierleiter«, erwiderte der Mann.

»Dann gehe ich davon aus, dass Sie dasselbe sehen wie ich. Sorgen Sie dafür, dass die Namen der jungen Männer, die eben in die Luft geschossen haben, erfasst und ihre Waffen eingesammelt werden«, sagte Michalis eindringlich.

Der Revierleiter zog eine Augenbraue hoch und sah Michalis verärgert an.

»Erteilen Sie jetzt hier die Befehle?«, erwiderte er herablassend.

»Sie wissen, was die Aufgabe der Polizei bei einer schweren Schussverletzung ist. Und wenn Sie es nicht tun, werden Sie sich dafür verantworten müssen. Spätestens, wenn die Mordkommission aus Rethimnon hier sein wird«, sagte Michalis streng.

Der Revierleiter warf dem älteren Mann mit Halbglatze einen Blick zu. Der trat zu ihnen.

»Ja?«, fragte er.

»Michalis Charisteas. Mordkommission Chania«, stellte sich Michalis vor.

»Stelios Vikakis. Ich bin der Bürgermeister«, antwortete er.

»Ich habe dem Revierleiter geraten, die Namen der Männer, die geschossen haben, aufzunehmen und ihre Waffen einzusammeln«, sagte Michalis.

Der Bürgermeister wirkte ebenso wie der Revierleiter besorgt. Sie alle sahen dann, wie der Kopf von Manolis Mavropanos zur Seite sank und der Arzt die Halsschlagader ertastete. Die junge Frau, die nicht von der Seite des Verblutenden gewichen war, schrie verzweifelt auf und war nicht zu beruhigen. Loukas Mavropanos, der Bruder, ließ seine Pistole sinken und starrte ungläubig auf den vor wenigen Minuten noch gefeierten Lyraspieler.

Manolis Mavropanos war tot.

 

»Das war ein Unfall, das war …«, stammelte der Revierleiter.

»Nehmen Sie jetzt die Namen der Schützen auf und sammeln Sie die Waffen ein«, ermahnte Michalis den Mann energisch.

»Tu, was er sagt«, forderte der Bürgermeister den Revierleiter auf. Der riss sich zusammen und sah sich um.

»Lazaridis!«, rief er unvermittelt mit kräftiger Stimme.

Ein Mann Mitte dreißig mit dunklem Haar und kurzem Vollbart näherte sich.

»Wir brauchen die Namen derer, die geschossen haben«, ordnete der Revierleiter an.

»Und vor allem ihre Waffen. Alle«, ergänzte Michalis.

»Ja, auch die Waffen«, bestätigte der Revierleiter.

Der sportlich wirkende Lazaridis machte sich an die Arbeit. Michalis ging davon aus, dass er ein örtlicher Polizist war.

»Sie sollten die Mordkommission in Rethimnon informieren«, sagte Michalis.

»Die Mordkommission? Wegen eines tragischen Unfalls? Ich kümmere mich jetzt erst mal um die Waffen. Die sind Ihnen ja so wichtig«, erwiderte der Revierleiter und folgte Lazaridis.

Hannah war noch immer nicht wieder zurückgekommen. Beunruhigt wollte Michalis nach ihr suchen, als ihm auffiel, dass sich zwei junge Frauen mit ihren Handys näherten und von dem Toten Fotos machen wollten. Sofort ging Michalis zu ihnen und versperrte ihnen die Sicht auf den Leichnam.

»Hören Sie auf damit«, forderte er sie auf.

Die beiden jungen Frauen musterten ihn herablassend. Von einem Fremden wollten sie sich nichts sagen lassen.

»Warum?«, fragte eine von ihnen spöttisch.

»Weil es geschmacklos ist. Und weil ich Polizist bin und es hiermit anordne«, entgegnete Michalis.

Die beiden richteten ihre Handys noch immer auf das Kafenion.

»Wenn Sie dieser Anordnung nicht Folge leisten, werde ich Ihre Handys konfiszieren«, drohte Michalis.

Die beiden Frauen schüttelten verächtlich den Kopf und gingen.

Michalis nahm sein Smartphone, wählte Hannahs Nummer und war erleichtert, als sie ranging.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er.

»Ja, alles gut …«, erwiderte Hannah, doch ihr Zögern sagte Michalis, dass etwas nicht stimmte.

»Wo bist du? Soll ich dir entgegenkommen?«, schlug er vor.

»Nein, ich bin gleich da. Ich hab die Schüsse gehört und im Wagen gewartet, bis Ruhe war«, sagte Hannah.

»Gut. Ich stehe vor dem Kafenion«, erwiderte Michalis und war verblüfft, weil Hannah wortlos auflegte. Das tat sie selten.

 

Michalis überlegte, wie er jetzt vorgehen sollte. Einer der berühmtesten Musiker Kretas war erschossen worden, doch die örtliche Polizei schien sich kaum dafür zu interessieren, den Schützen zu ermitteln. Vermutlich war der Todesschütze einer der jungen Männer aus Anoghia, und seine Familie und seine Freunde würden versuchen zu verhindern, dass er als Täter vor Gericht kam. Deshalb war es wichtig, dass die Mordkommission aus Rethimnon schnell hier vor Ort ermittelte. Bis dahin mussten möglichst viele Spuren gesichert und vor allem durften keine vernichtet werden. Immerhin sprach der Revierleiter jetzt mit den Männern, die eben noch Freudenschüsse in den Himmel gejagt hatten. Einige schienen sich zu weigern, ihre Waffen auszuhändigen, doch andere legten ihre Waffen auf die Ladefläche eines Pick-ups. Lazaridis hatte ein kleines Heft und notierte sich die Angaben, sobald eine Waffe übergeben worden war.

Michalis machte von der Situation um das Kafenion Fotos, die vielleicht später helfen könnten, den Tod aufzuklären. Die junge Frau war über Manolis Mavropanos gebeugt und hatte die Lyra, die ihm aus der Hand geglitten war, auf seine Brust gelegt.

Michalis suchte nach dem Bürgermeister und entdeckte ihn im Gespräch mit dem Arzt.

»Ich komme später wegen des Totenscheins zurück«, sagte der Arzt zu Michalis und stieg in seinen Wagen.

»Der Bereich um das Kafenion muss abgesperrt werden. Könnten Sie das organisieren?«, bat Michalis den Bürgermeister.

»Ja, ich werde es veranlassen«, erwiderte er.

»Es muss verhindert werden, dass Fotos oder Videos von dem Toten gemacht werden. Sonst steht alles im Internet, bevor die Kollegen den Tod untersucht haben und die Angehörigen informiert sind«, fügte Michalis hinzu.

Der Bürgermeister nickte, winkte eine Gruppe Männer zu sich und sprach leise mit ihnen. Diese Männer kippten einige Tische um und errichteten so eine provisorische Absperrung um das Kafenion.

Die junge Frau saß schluchzend neben dem Toten. Der dritte Musiker hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Loukas Mavropanos, der Bruder, hielt den Kopf des Toten. Immer wieder küsste er dessen Gesicht und redete verzweifelt auf ihn ein.

Michalis sah sich um. Hannah war noch nicht aufgetaucht.

Loukas Mavropanos riss sich von seinem toten Bruder los. In einer Hand hielt er seine Pistole, mit der anderen nahm er ein Handy und wählte eine Nummer. Michalis ging davon aus, dass er seine Familie informierte. Die würde sich sicherlich sofort auf den Weg machen und bald in Anoghia eintreffen, und dann würde die Lage hier unübersichtlich werden. Es wurde Zeit, die Kollegen aus Rethimnon zu informieren.

 

In der Zentrale der Polizeidirektion ging ein müde klingender Mann ans Telefon und stellte zur Mordkommission durch. Michalis wollte dem Kollegen beschreiben, was in Anoghia passiert war, doch der wusste bereits Bescheid. Die Nachricht, dass Manolis Mavropanos bei Freudenschüssen gestorben war, hatte sich längst bis Rethimnon herumgesprochen.

»Dann sind die Kollegen also auf dem Weg hierher?«, fragte Michalis.

»Nein. Warum? Bei einem Unfall? Das wird doch der Kollege vor Ort regeln können«, erwiderte der Polizist.

Für einen Moment war Michalis sprachlos.

»Hier ist ein Mann durch einen Schuss getötet worden. Das ist eine Angelegenheit für die Mordkommission und nicht für den Revierleiter eines kleinen Ortes. Außerdem würde ich empfehlen, auch die Spurensicherung und die Rechtsmedizin sofort loszuschicken.«

»Ich werde mit unserem Vorgesetzten reden«, sagte der Mann und legte auf. Michalis konnte kaum fassen, dass der Tod von Manolis Mavropanos anscheinend nicht sonderlich ernst genommen wurde.

 

Hannah näherte sich und begriff sofort, was passiert war. Michalis wollte zu ihr gehen, wurde jedoch aufgehalten.

»Wenn Sie Unterstützung benötigen, stehe ich zu Ihrer Verfügung«, hörte Michalis jemanden hinter sich sagen. Er drehte sich um blickte in das Gesicht des Polizisten, den der Revierleiter eben herumkommandiert hatte.

»Mein Name ist Vrasidas Lazaridis«, stellte sich der Mann vor. »Ich bin Polizist. Hier in Anoghia. Jetzt in Zivil.«

»Ah«, meinte Michalis, streckte ihm die Hand entgegen und musterte den Mann kurz. Er machte einen zuverlässigen Eindruck. »Michalis Charisteas, Mordkommission Chania. Könnten Sie bitte dafür sorgen, dass niemand fotografiert oder in den abgesperrten Bereich eindringt?«

»Sie können sich auf mich verlassen«, erwiderte Vrasidas Lazaridis.

»Vermutlich muss ich es Ihnen nicht sagen, aber gehen Sie bitte rücksichtsvoll vor«, fügte Michalis hinzu, denn er war nicht sicher, ob der Mann im Umgang mit den Angehörigen von Todesopfern Erfahrung hatte. Doch Lazaridis nickte, als sei das selbstverständlich.

»Ich bin gleich zurück«, sagte Michalis und trat zu Hannah.

»Wie ist das passiert?«, fragte Hannah.

»Die Balothies hast du ja sicherlich gehört.«

»Ja. Ich war am Wagen, als das losging. Sogar bei geschlossenen Fenstern war es furchtbar laut.«

»Es ist laut, es ist gefährlich, und es ist verboten. Und jetzt haben diese sinnlosen Schüsse ein neues Opfer gefordert.«

»Manolis Mavropanos?« Hannah blickte zu dem Kafenion.

»Ja. Plötzlich hörte er auf zu spielen und kippte vom Stuhl. Wenige Minuten später war er tot.«

In dem Moment fuhr der Pick-up mit den eingesammelten Waffen an ihnen vorbei. Der Revierleiter saß auf dem Beifahrersitz, und ein junger Mann, der vermutlich unter den Schützen gewesen war, fuhr den Wagen.

»Wirst du hier gebraucht? Also, bist du jetzt dienstlich hier?«, wollte Hannah wissen.

»Ich hab die Kripo in Rethimnon informiert. Es gibt hier in Anoghia zwar eine Polizeistation, aber der Revierleiter würde wohl lieber auf Ermittlungen verzichten. Bis die Kollegen aus Rethimnon eingetroffen sind, würde ich gern dafür sorgen, dass keine Spuren oder sonstige Hinweise vernichtet werden.«

»Okay, dann …« Hannah sah sich um. »Vielleicht ist es am besten, wenn ich mich ins Auto setze?«

»Es gibt einen Polizisten, der vernünftig zu sein scheint. Ich kläre mit ihm, ob du irgendwo in Ruhe warten kannst, bis wir aufbrechen.«

 

Michalis wandte sich an Vrasidas Lazaridis. Der dachte kurz nach und kam nach wenigen Minuten mit einer Frau zurück, die bei Michalis und Hannah am Tisch gesessen hatte. Michalis erkannte sie nicht sofort, da sie ihr festliches Gewand bereits abgelegt hatte. Jetzt trug sie Alltagskleidung, und ihre grauen Haare, die zuvor mit einem Kopftuch nach oben gebunden waren, fielen ihr offen auf die Schultern.

Diese Frau betrieb mit ihrer Familie eine kleine Taverne in der Nähe der Straße, an der Hannahs Wagen stand. Sie bot Hannah an, mit ihr dorthin zu gehen, bis Michalis hier fertig wäre. Hannah war froh, diese Platia, die vor einer Stunde noch der Ort einer ausgelassenen Feier gewesen war, verlassen zu können.

 

Michalis näherte sich wieder dem Kafenion, wo Vrasidas Lazaridis, der Polizist in Zivil, seinen Posten bezogen hatte. Der Platz war, abgesehen von den trauernden Angehörigen, einigen Wirten und wenigen Bewohnern fast menschenleer. Michalis war klar, dass er jetzt, obwohl er nicht offiziell zuständig war, die Angehörigen darüber informieren sollte, dass diese Platia ein Tatort war, der in den nächsten Stunden gründlich untersucht werden würde.

»Können Sie mir sagen, wann Ihr Vorgesetzter wieder hier sein wird?«, fragte er Lazaridis.

»Er ist mit den Waffen, die er eingesammelt hat, zur Polizeistation gefahren«, erwiderte Lazaridis.

»Ja, das hab ich gesehen. Aber er wird gleich wieder zurückkommen, nehme ich an«, sagte Michalis.

Lazaridis zuckte mit den Schultern.

»Der Revierleiter weiht mich nur selten in seine Pläne ein«, antwortete Lazaridis, und Michalis ahnte, dass das Verhältnis der beiden schwierig war.

 

Michalis betrat den abgesperrten Bereich vor dem Kafenion. Die junge Frau kniete schluchzend neben dem toten Manolis Mavropanos. Der dritte Musiker starrte ungläubig in die Nacht. Loukas Mavropanos, der Bruder, hockte vorgebeugt auf einem Stuhl. Zu ihm ging Michalis als Erstes.

»Herr Mavropanos?«

Loukas Mavropanos richtete sich langsam auf. Er hatte ähnlich lange, wilde Locken wie sein toter Bruder, doch seine zeigten bereits ein erstes Grau. Außerdem trug er einen wilden Vollbart, während Manolis lediglich einen Schnauzbart hatte.

»Ja?«

»Michalis Charisteas«, stellte Michalis sich vor. »Kommissar der Mordkommission von Chania.«

»Was wollen Sie?« Er klang verärgert.

Michalis fragte sich, ob dieser Mann einfach in Ruhe gelassen werden wollte oder ob ihm klar war, dass ein Polizist aus Chania in der Präfektur Rethimnon nicht zuständig war.

»Mein aufrichtiges Beileid. Ich war zufällig unter den Gästen und habe gesehen, was passiert ist.«

Loukas Mavropanos setzte eine verächtliche Miene auf, die signalisierte: Sie haben keine Ahnung, was hier passiert ist.

»Die Polizei wird den Tod Ihres Bruders aufklären«, sagte Michalis sachlich. »Meine Kollegen aus Rethimnon sind informiert und werden so schnell wie möglich hier sein.«

Loukas Mavropanos starrte vor sich hin und ließ den Kopf sinken.

Michalis ging zu der Frau, die am Türrahmen lehnte und das Geschehen skeptisch beobachtete. Mit seiner Einschätzung, sie sei die Wirtin des Kafenions, lag er richtig.

»Ich hasse dieses Rumgeballer der jungen Männer«, sagte sie, nachdem sie sich als Melissa Papadakis vorgestellt hatte. »Meistens geht es ja gut. Aber meine Kinder bringe ich immer nach Hause, bevor die Balothies anfangen. Die Kleinen weinen sonst stundenlang. Aber trotzdem wird mein Jüngster in fünfzehn Jahren genauso sinnlos in die Luft schießen wollen.«

»Es ist ja nicht grundlos seit einigen Jahren verboten«, erwiderte Michalis.

»Die Polizei hier kümmert das nicht. Die haben Angst vor den Männern.« Die Wirtin sah Michalis prüfend an. »Oder glauben Sie etwa, Sie werden herausfinden, wer den Schuss abgefeuert hat?«

»Ich habe dafür gesorgt, dass die Waffen eingesammelt und die Namen der Männer notiert werden«, antwortete Michalis.

»Auf die Liste bin ich ja mal gespannt«, sagte Melissa Papadakis bitter. »Sie erwarten hoffentlich nicht, dass unser Revierleiter Ihnen nachher eine Liste überreichen wird, die Ihnen weiterhilft.«

Auch Michalis befürchtete, dass der Revierleiter zwar einige Pistolen und Gewehre einkassiert hatte, vermutlich aber später zu seinem Bedauern nicht genau wissen würde, wem welche Schusswaffe gehörte.

Michalis wollte die Wirtin fragen, warum sie der Arbeit des Revierleiters misstraute, doch da klingelte sein Handy. Überrascht sah er die Nummer von Jorgos Charisteas, seinem Onkel und direkten Vorgesetzten.

»Du bist mit Hannah in Anoghia?«, fragte Jorgos.

»Ja. Wir waren oben im Gebirge. Hannah wollte die Höhle sehen, in der Zeus aufgewachsen sein soll.«

Jorgos schien darauf zu warten, dass Michalis weitersprach.

»Du weißt, was in Anoghia passiert ist?«, fragte Michalis.

»Ja. Die Nachricht, dass Manolis Mavropanos tot ist, hat sich sofort verbreitet. Wie ist im Moment die Lage?«, erkundigte sich Jorgos.

»Ich war dabei, als die Freudenschüsse losgingen und Manolis Mavropanos zusammengebrochen ist. Der Tatort wurde provisorisch gesichert. Der örtliche Revierleiter ist keine große Hilfe, einer seiner Polizisten scheint jedoch in Ordnung zu sein. Ich habe die Kollegen in Rethimnon informiert und hoffe, dass sie auf dem Weg sind.«

»Deshalb rufe ich an.« Jorgos zögerte. Michalis ahnte, was jetzt kommen würde.

»Ich hatte eben einen Anruf meines Kollegen Christos Stafylidis aus Rethimnon. Ein guter Mann, ich schätze ihn. Er hat mich um Amtshilfe gebeten. Er meint, es handelt sich ja vermutlich um einen tragischen Unfall«, erklärte Jorgos.

»Und das will der Hauptkommissar Christos Stafylidis von Rethimnon aus beurteilen. Vermutlich von einem sehr bequemen Sofa aus.« Michalis war verärgert.

Jorgos schwieg einen Moment.

»Du hast natürlich recht. Und wenn ich die Amtshilfe verweigere, muss Stafylidis ein Team zusammenstellen und losschicken. Aber er hat Personalengpässe und mich vorgewarnt. Es könnte bis morgen früh dauern, bis das Team eintrifft.«

»Behandelt Stafylidis alle Gewalttaten in seiner Präfektur so nachlässig?«, fragte Michalis spöttisch.

»Wie gesagt, er ist eigentlich ein Guter. Wir kennen uns schon lange. Und mit dir ist ein Mordkommissar bereits vor Ort. Du warst sogar dabei, als die Schüsse fielen.«

»Aber ich bin privat hier. Ich hab kein Team, keine Ausrüstung, keine Waffe. Nichts. Nur einen widerspenstigen Revierleiter«, erwiderte Michalis.

»Ich habe Stournaras und Zagorakis bereits informiert. Sie werden sich auf den Weg machen, sobald ich das anordne.«

»Die beiden haben sich bestimmt wahnsinnig gefreut, zweieinhalb Stunden in die Berge fahren zu dürfen, weil die Kollegen aus Rethimnon an einem Sonntagabend zufällig keine Zeit haben«, spottete Michalis.

Jorgos schwieg. Michalis schüttelte den Kopf. Sein Onkel kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemals einen Tatort verlassen würde, ohne alles für die Aufklärung des Verbrechens getan zu haben.

»Gut, dann schick Stournaras und Zagorakis los. Die Fahrt von Chania nach Anoghia dauert lange genug, vielleicht ist ihre Laune ja wieder erträglich, wenn sie hier eintreffen«, sagte Michalis.

»Koronaios werde ich auch informieren, damit er sich auf den Weg macht.«

Michalis überlegte. Natürlich war es wichtig, seinen vertrauten Partner vor Ort zu haben. Aber sollte er Koronaios wirklich Sonntagnacht anfordern, obwohl einiges für einen tragischen Unfall sprach?

»Es wäre natürlich gut, Koronaios hier zu haben. Aber vielleicht würde ein junger Kollege ausreichen, dem eine lange Nacht weniger ausmacht.«

»Ich werde Koronaios anrufen«, sagte Jorgos. »Und ich werde das Handy immer bei mir haben. Du kannst mich jederzeit erreichen.«

»Denkst du, dass hier bald Presse und Fernsehen oder Schaulustige auftauchen?«

»Das ist zu befürchten. Meine Kinder meinen, der Tod von Manolis Mavropanos sei im Internet ein riesiges Thema. Aber es gibt wohl keine Aufnahmen von dem Toten. Nur aus einiger Entfernung ein paar Fotos«, antwortete Jorgos.

4

Als Michalis nach dem Telefonat mit Jorgos zu dem Kafenion zurückging, wusste er: Das war jetzt sein Fall. Er würde den Tod von Manolis Mavropanos, diesem charismatischen, verehrten Musiker, untersuchen. Und ihm war klar, was das bedeutete. Schon jetzt fühlte er sich dafür verantwortlich, dem Toten und seinen Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Täter zu ermitteln. Michalis befürchtete jedoch, das könnte in diesem Fall besonders schwierig werden. Nicht einmal der Revierleiter schien Interesse daran zu haben, den Schützen zu finden. Und dass Loukas Mavropanos sich vorhin mit einer Pistole in der Hand nach dem Täter umgesehen hatte, war ebenfalls kein gutes Zeichen.

 

Der Polizist Lazaridis stand genau dort, wo er schon vor einigen Minuten gestanden hatte.

»Ich habe drei Jugendliche vertrieben, die Fotos machen wollten. Vermutlich für irgendwas im Internet«, informierte Lazaridis, ohne dass Michalis fragen musste.

»Ist es nicht ungewöhnlich, dass es nach so einem tragischen Tod so ruhig ist?«

»Wenn der Tote aus Anoghia stammen würde, wäre das anders. Außerdem …« Lazaridis beugte sich zu Michalis vor und fuhr leise fort: »Der Familie, die die Taufe ausgerichtet hat, gehören zwei der Tavernen.« Er deutete zu einigen leeren Tischen. »Die Familie hat Einfluss hier im Ort und sorgt dafür, dass Ruhe herrscht.«

Michalis nickte. Er war sicher, dass es noch mehr gab, was Lazaridis ihm sagen könnte.

»Die Mordkommission von Chania ist von den Kollegen aus Rethimnon um Amtshilfe gebeten worden. Ich bin jetzt offiziell zuständig. Meine Kollegen sind auf dem Weg hierher«, erklärte Michalis.

»Ja, das vereinfacht die Dinge sicherlich«, entgegnete Lazaridis und stockte. Michalis folgte seinem Blick. Neben dem kleinen Museum zu Ehren des früh verstorbenen Nikos Xylouris war der Revierleiter aufgetaucht. Er telefonierte, hatte allerdings seinen Untergebenen im Gespräch mit Michalis bemerkt und verzog verärgert das Gesicht. Sofort trat Lazaridis zwei Schritte von Michalis zurück.

»Es ist damit zu rechnen, dass Kamerateams und Schaulustige hier auftauchen. Manolis Mavropanos war berühmt, und die Nachricht von seinem Tod hat sich wohl bereits verbreitet«, sagte Michalis.

Lazaridis überlegte. »Sie könnten mit dem Revierleiter klären, dass er die Zufahrtstraßen sperren lässt. Es gibt nur drei. Eine davon führt aus den Bergen hierher, von dort kommt nachts niemand. Allerdings« – Lazaridis senkte die Stimme – »sollte mein Chef nicht erfahren, dass dieser Vorschlag von mir stammt.«

Michalis lächelte. »Ich weiß diesen Hinweis zu schätzen.«

»Um den Platz zu sperren, müsste ich Material besorgen. Ich wäre in zehn Minuten zurück«, sagte Lazaridis.

»Kein Problem. Ich bleibe hier«, erwiderte Michalis und blickte zu dem Revierleiter, der immer noch telefonierte und hinter einer Hausecke verschwand.

»Kann es eine Verbindung zwischen Manolis Mavropanos und dem Ort Anoghia geben?«, fragte Michalis.

Lazaridis dachte nach.

»Eine Verbindung … Manolis Mavropanos hat schon oft hier in Anoghia gespielt. Ebenso wie sein Bruder und der dritte Musiker. In unterschiedlichen Besetzungen, aber in den letzten Jahren immer mindestens ein Mal.« Er deutete zu dem kleinen Museum auf der anderen Seite der Platia. »Sie wissen ja sicherlich, dass Anoghia ein Zentrum kretischer Musik ist. Für viele sogar das Zentrum überhaupt. Wenn Nikos Xylouris nicht so früh gestorben wäre, wäre er jetzt vielleicht weltweit bekannt. Immerhin ist sein jüngerer Bruder Psarantonis berühmt geworden.«

Auch von Psarantonis hatte Michalis bereits Konzerte besucht. Mit langem grauem Haar, einem wild wuchernden Bart und einer stets mürrischen, strengen Miene war er eine faszinierende Erscheinung und wirkte wie aus der Zeit gefallen. Sein rauer Gesang klang, als habe er schon zu Urzeiten für den Göttervater Zeus gesungen.

Michalis’ Smartphone klingelte, und er sah die Nummer des Athena, der Taverne seiner Familie in Chania. Vielleicht hatten auch sie von Manolis Mavropanos’ Tod gehört, doch Michalis hatte jetzt keine Zeit für private Telefonate.

Lazaridis machte sich auf den Weg, um Absperrmaterial zu holen, und Michalis beugte sich zu der Frau hinab, die apathisch neben dem Leichnam kauerte.

»Michalis Charisteas. Ich untersuche jetzt offiziell die Umstände der tödlichen Schüsse«, sagte Michalis. Die Frau blickte ihn nicht an, sondern starrte vor sich hin.

»Mein Beileid«, fuhr Michalis fort. Die Frau reagierte nicht. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Zum ersten Mal hob sie den Kopf, sagte jedoch nichts.

»Können Sie uns nicht in Ruhe trauern lassen?«, fragte stattdessen Loukas Mavropanos.

»Ich will herausfinden, wer der Schütze war. Deshalb ist es wichtig, zu wissen, ob Ihnen vor den Schüssen etwas aufgefallen ist«, erwiderte Michalis.

»Was soll uns aufgefallen sein? Wir haben gespielt«, sagte Loukas Mavropanos.

»Ich weiß«, entgegnete Michalis. »Heute war ich nur zufällig hier, aber ich habe in den letzten Jahren mehrere Konzerte Ihres Bruders besucht.« Michalis sah, dass Loukas Mavropanos verächtlich nickte. »Auch Sie habe ich bereits mehrfach spielen sehen«, fügte Michalis hinzu.

Die junge Frau war etwa Ende zwanzig, hatte ein schmales Gesicht und lange, dunkelbraune Haare. Auf ihren Wangen waren Streifen verschmierter Wimperntusche. Ihre dunklen Augen blieben an Michalis haften. Aus der Nähe glaubte Michalis, in ihren Augen nicht nur Trauer, sondern auch Wut und Entschlossenheit zu lesen.

»Dürfte ich Ihren Namen erfahren?«, fragte Michalis.

»Maria. Maria Kounalakis«, antwortete sie.

»Sie haben während des Auftritts am Tisch vor dem Kafenion gesessen. Ist Ihnen kurz vor den Schüssen etwas aufgefallen? Oder danach?«, fragte Michalis.

»Nein …«, sagte die Frau.

Michalis blickte zwischen ihr und Loukas Mavropanos hin und her. »Wenn ich mich richtig erinnere, stammt Manolis Mavropanos aus Asi Gonia. Leben Sie beide auch dort?«

»Unsere Familie lebt in Asi Gonia. Die Familie von Maria lebt in Argiroupolis«, erwiderte Loukas Mavropanos.

Asi Gonia und Argiroupolis waren Dörfer in den Weißen Bergen, den Lefka Ori. InArgiroupolis, einem der wasserreichsten Orte Kretas, entsprangen mehrere Quellen direkt aus den Felsen.

»Sie haben vorhin telefoniert«, sagte Michalis zu Loukas Mavropanos. »Ich gehe davon aus, dass Ihre Familie in ein oder zwei Stunden hier sein wird.«

Loukas Mavropanos strich seine langen Locken zurück und nickte.

»Unsere Spurensicherung ist ebenfalls auf dem Weg hierher«, erklärte Michalis. »Und auch wenn es für Sie und Ihre Familie schwer sein wird: Um denjenigen, dessen Kugel Ihren Bruder getötet hat, zu ermitteln, darf an diesem Tatort nichts verändert werden, bis er von unseren Spezialisten untersucht worden ist.«

Loukas Mavropanos schüttelte höhnisch den Kopf. Michalis wusste, wie aussichtslos es war, eine trauernde Familie von einem Tatort fernzuhalten. Er würde lieber den Ärger mit den Kollegen von der Spurensicherung in Kauf nehmen, als verzweifelte Angehörige daran hindern, sich dem Toten zu nähern.

 

Der Revierleiter kam zurück. Der Polizist Lazaridis folgte ihm mit gesenktem Kopf und einem Absperrband in der Hand. Da Michalis von Maria Kounalakis und Loukas Mavropanos nichts mehr erfahren würde, ging er dem Revierleiter entgegen.

»Die Mordkommission aus Rethimnon hat …«, begann Michalis und wurde sofort unterbrochen.

»Ich weiß, ich weiß! Christos Stafylides hat mich eben informiert. Ich und meine Männer werden Sie mit all unseren Kräften unterstützen.« Der Revierleiter strahlte, als hätte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als der Mordkommission aus Chania zuzuarbeiten. Er streckte Michalis die rechte Hand entgegen.

»Andreas Stamatakis, Leiter des Polizeireviers von Anoghia. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.«

Michalis schüttelte Stamatakis die Hand, obwohl er sicher war, dass der Revierleiter sich nur aufgrund der Anweisungen aus Rethimnon so jovial und fast unterwürfig gab.

»Ich freue mich ebenfalls auf die Zusammenarbeit«, erwiderte Michalis höflich. »Es gibt zwei Dinge, die mir Sorgen bereiten und bei denen Sie mir vielleicht helfen können.«

»Sehr gern. Worum geht es?«, fragte Stamatakis.

»Der Tatort vor dem Kafenion darf nicht verändert werden, bevor die Spurensicherung eingetroffen ist.«

Der Revierleiter sah Lazaridis fast vorwurfsvoll an.

»Ja, was ist? Fang an!«

Lazaridis nickte und begann, das Absperrband anzubringen.

»Was noch?«, fragte der Revierleiter.

»Mein Vorgesetzter hat mich gewarnt, dass wahrscheinlich die Presse und Schaulustige auf dem Weg nach Anoghia sind. Manolis Mavropanos war eine berühmte Person auf Kreta.«

Andreas Stamatakis strich sich über den Schnauzbart und schien zu überlegen, was Michalis damit sagen wollte.

»Auch die Familie des Toten ist auf dem Weg hierher. Sie dürfen nicht von Neugierigen und von Kameras bedrängt werden, und wir müssen verhindern, dass mögliche Spuren zerstört werden.«

Der stämmige Revierleiter schien angestrengt nachzudenken.

»Es wäre ein erheblicher Aufwand, aber …«, sagte Stamatakis dann.

»Ja?«

»Ich könnte …« Er kratzte sich am Kopf. »Es führen nur zwei Straßen nach Anoghia. Eine aus Richtung Rethimnon, eine aus Richtung Heraklion. Eine dritte aus den Bergen, aber von dort kommt nachts niemand. Ich könnte die beiden Straßen sperren lassen.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Dafür müsste ich meine Männer am Sonntagabend aus dem Feierabend holen. Aber wenn es wichtig ist …«

»Das ist eine sehr gute Idee«, stimmte Michalis ihm zu. »Holen Sie Ihre Männer und sperren Sie die Straßen.«

Der Revierleiter führte zwei Telefonate und wandte sich an Michalis. »Meine Männer werden gleich unterwegs sein. Was kann ich noch tun?«

»Die Waffen der jungen Männer, die vorhin geschossen haben … haben Sie die vollständig eingesammelt?«, fragte Michalis.

»Selbstverständlich. Sie liegen jetzt in der Polizeistation.«

»Gut. Unsere Spurensicherung wird diese Waffen untersuchen, sobald sie am Tatort fertig ist«, erklärte Michalis. »Wir brauchen dann die Liste derjenigen, die diese Waffen benutzt haben.«

»Ja …«, sagte Stamatakis gedehnt.

»Ich gehe davon aus, dass jede Waffe einem Schützen zugeordnet werden kann?«

»Selbstverständlich«, antwortete der Revierleiter schnell, und Michalis war klar, dass genau das nicht möglich sein würde.

»Gut«, sagte Michalis. »Sorgen Sie dafür, dass niemand den abgesperrten Bereich betritt. Ich bin gleich zurück. Sobald hier etwas passiert, rufen Sie mich bitte an.«

 

Michalis tauschte mit Andreas Stamatakis die Handynummern aus, überquerte die Platiaund blieb in einer dunklen Ecke neben dem kleinen Museum zu Ehren von Nikos Xylouris stehen. Es gab nichts, was er hier hätte tun müssen, er wollte nur den Platz beobachten, dessen ungeheure Stille ihn irritierte. Vor einer Taverne saßen zwei Wirte und tranken schweigend Raki. Der Revierleiter hatte sich vor dem Kafenion aufgebaut, in dem die Wirtin beinahe geräuschlos aufräumte. Loukas Mavropanos und Maria Kounalakis kauerten neben dem Toten. Der dritte Musiker saß auf einem Stuhl vor dem Kafenion. Michalis nahm sich vor, ihn als Nächsten zu befragen.

Überall auf der Platiastanden noch die gedeckten Tische mit Tellern, Gläsern, Besteck und den Überresten des großen Festes. Doch niemand kümmerte sich darum. Der Einzige, der sich bewegte, war der Polizist Lazaridis, der das Absperrband an Bäumen, Schildern und Stühlen um das Kafenion herum befestigte.

Ein paarmal war ein Vogel zu hören, und kurz weinte in einem Haus ein Kind. Hin und wieder bellte in der Ferne ein Hund. In einer anderen herbstlichen Sonntagnacht wäre es in diesem Ort hoch oben in den Bergen vielleicht normal gewesen, so wenig Geräusche zu hören. Doch nach den tödlichen Schüssen war es ungewöhnlich. Michalis fragte sich, was diese eigenartige Stille zu bedeuten hatte. Waren es wirklich, wie Lazaridis vorhin gesagt hatte, einflussreiche Wirte, die dafür sorgten, dass die Einwohner sich nicht mehr blicken ließen? Oder wussten die Dorfbewohner womöglich, durch wessen Waffe Manolis Mavropanos getötet worden war, und blieben deshalb in ihren Häusern?

Michalis’ Smartphone klingelte. Auf dem Display erschien Hannahs Gesicht.

»Du hast bestimmt noch länger zu tun, oder?«, fragte sie.

»Ja. Sicherlich noch einige Stunden. Jorgos hat mich angerufen, ich leite hier jetzt die Ermittlungen. Unsere Spurensicherung und die Gerichtsmedizin sind auf dem Weg hierher«, antwortete Michalis.

»Und Koronaios?«

»Ich habe Jorgos gesagt, dass es nicht unbedingt nötig ist, dass Koronaios kommt. Aber wie ich die beiden kenne, ist er längst auf dem Weg hierher«, sagte Michalis.

»Dann bleibst du ja ohnehin die ganze Nacht hier.« Hannah klang, als hätte sie damit gerechnet. »Die Wirtin hat mir angeboten, hier in einem Zimmer zu schlafen. Es ist eigentlich das Zimmer ihrer Tochter, aber die ist nicht da. Du könntest dich irgendwann einfach dazulegen.«

Michalis warf einen Blick auf die Platia. »Ich komm kurz bei dir vorbei. Dann könnt ihr mir zeigen, wo ich dich finde.«

»Das ist gut. Ich wollte dir sowieso noch etwas sagen. Vielleicht ist es wichtig«, sagte Hannah.

»Etwas, das mit den Schüssen zu tun hat?«

»Eventuell. Ich bin nicht sicher«, antwortete Hannah.

 

Michalis machte sich auf den Weg zu der Taverne. Erneut klingelte sein Smartphone, und er sah die Nummer des Athena in Chania. Michalis befürchtete, es könnte seine Mutter oder seine Schwester sein, und schaltete den Klingelton aus. Dann rief er Sotiris, seinen Bruder, an.

»Hat unsere Mutter gerade angerufen?«, erkundigte sich Michalis.

»Nein, das war ich. Ist es wahr, dass Manolis Mavropanos in Anoghia erschossen worden ist?«, fragte Sotiris.

»Ja. Hannah und ich waren bei der Tauffeier dabei, als die Balothies losgingen. Und weil ich ohnehin vor Ort bin, leite ich jetzt die Ermittlungen«, antwortete Michalis.

Sotiris schwieg. Michalis kannte seinen älteren Bruder gut genug, um zu wissen, dass ihn der Tod von Manolis Mavropanos berührte.

»Wahrscheinlich war es ein tragischer Unfall, aber wir müssen trotzdem sorgfältig ermitteln«, fuhr Michalis fort.

»Pass auf dich auf«, sagte Sotiris zum Abschied.