Kretische Feindschaft - Nikos Milonás - E-Book
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Kretische Feindschaft E-Book

Nikos Milonás

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Beschreibung

Frühling auf Kreta – Vor der Hafenstadt Chania blühen die Olivenbäume, doch ganz in der Nähe bricht eine alte Fehde wieder auf … Wenn Kommissar Michalis Charisteas morgens vor der Arbeit seinen ersten Ellinikos trinkt und dabei den Blick auf den malerischen venezianischen Hafen seiner Heimatstadt Chania genießt, kann er sich nicht vorstellen, an einem anderen Fleck der Erde zu leben. Die Touristen schlafen noch, von den Bergen weht der Duft von Thymian, Oleander und den blühenden Olivenbäumen herüber und vom Meer der Geruch von Salz und Muscheln. Alles wäre perfekt, könnte in diesem Moment seine Freundin Hannah bei ihm sein. Aber Hannah ist Deutsche und kommt nur alle paar Monate nach Kreta, was für Michalis und seine große Familie jedes Mal ein besonderes Ereignis ist und alle in helle Vorfreude versetzt. So auch an diesem Tag Ende April. Doch noch bevor Michalis Hannah am Nachmittag am Flughafen in die Arme schließen kann, steckt er mitten in einem neuen Fall. Der Bürgermeister des Nachbarorts wird vermisst und kurz darauf tot in einem Autowrack an der Felsenküste gefunden. Ein Unfall, wie die örtliche Polizei schnell feststellt. Doch im Gegensatz zu seinen Kollegen gibt sich Michalis nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden. Bei seinen nicht immer ganz offiziellen Ermittlungen stößt er auf alte Feindschaften, die weitere Opfer fordern werden … Der erste Fall für Kommissar Michalis Charisteas

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Nikos Milonás

Kretische Feindschaft

Ein Fall für Michalis Charisteas

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoPersonenverzeichnis1234567891011121314151617181920Dank

Zwischen den herben Linien dieser kretischen Landschaft entdeckte man eine Empfindsamkeit und Zartheit, die keiner vermutet hätte – in den windgeschützten Schluchten dufteten die Zitronen- und Orangenbäume, und in der Ferne ergoss sich aus dem endlosen Meer eine grenzenlose Poesie.

»Kreta«, murmelte ich, »Kreta«, und mein Herz schlug rascher.

Nikos Kazantzakis, ›Alexis Sorbas‹

 

Ein Kreter sagte zu mir: »Wenn du vor dem Tor des Paradieses erscheinst, und es öffnet sich nicht, so greife nicht nach dem Türklopfer, um anzuklopfen. Nimm dein Gewehr von der Schulter und gib einen Schuss ab.«

Nikos Kazantzakis, ›Rechenschaft vor El Greco‹

Personenverzeichnis

Michalis Charisteas, Mitte 30, Kommissar in Chania

Hannah Weingarten, Anfang 30, Kunsthistorikerin

Sotiris Charisteas, Bruder von Michalis, Wirt des Athena

Takis Charisteas, Vater von Michalis, Wirt des Athena

Loukia Charisteas, Mutter von Michalis, Sotiris und Elena

Elena Chourdakis, Schwester von Michalis

Nicola Charisteas, Frau von Sotiris

Sofia Charisteas, Tochter von Sotiris, neun Jahre alt

Markos Chourdakis, Schwager von Elena

Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission von Chania

Pavlos Koronaios, Partner von Michalis

Myrta Diamantakos, Assistentin in der Polizeidirektion

Christos Varobiotis,IT-Spezialist, Schulfreund von Michalis

Ioannis Karagounis, Leitender Kriminaldirektor von Chania

Kostas Zagorakis, Chef der Spurensicherung

Lambros Stournaras, Gerichtsmediziner in Chania

Kalliopi Karathonos, Ehefrau von Stelios Karathonos

Pandelis Karathonos, Sohn von Kalliopi, elf Jahre alt

Stelios Karathonos, bisheriger Bürgermeister von Kolymbari

Vassilia Karathonos, Mutter von Stelios und Dimos

Panagiotis Mitsotakis, Revierleiter von Kolymbari

Sideris Katsikaki, Polizist in Kolymbari

Traianos Venizelos, Polizist in Kolymbari

Despina Stamatakis, Sekretärin von Stelios Karathonos

Dimos Karathonos, Geschäftsführer Olivenölmühle

Artemis Karathonos, Frau von Dimos

Alekos Karathonos, Onkel von Dimos und Stelios

Thanassis Delopoulou, Olivenölmühle Marathokefala

Katerina Delopoulou, Frau von Thanassis

Nikolaos Delopoulou, Vater von Thanassis und Antonis

Antonis Delopoulou, Bruder von Thanassis

Tzannis Kaminidis, Bauunternehmer

Karolos Koukolas, Bau-Ausschuss

Metaxia Lirlides, Geliebte von Stelios Karathonos

Polidefkis Flabouraris, Gouverneur von Kreta

Giannis Saringouli, Bestatter in Kolymbari

Alexis, Besitzer Ausflugsboot Chania

Vangelis Alkestis, Bootsbesitzer Kolymbari

Kostas Alkestis, Sohn von Alkestis

u.a.

1

Plötzlich waren sie wieder da, die grellen Scheinwerfer. Eben noch hatte er gehofft, dem dröhnenden Pick-up entkommen zu sein, aber jetzt näherte sich der Isuzu erneut. Dieser Pástarsos, stöhnte er, dieser verfluchte Bastard, warum können wir das nicht wie erwachsene Menschen regeln?

Er rang nach Luft und raste Richtung Felsenküste. Durch die offenen Wagenfenster zog der Duft von Thymian und Oleander ins Wageninnere. Normalerweise genoss er diese Gerüche, jetzt aber nahm er sie kaum wahr. Zu sehr war er darauf konzentriert, nicht in Panik zu geraten, denn die Lichter im Rückspiegel wurden immer größer.

Er jagte mit seinem silbergrauen SUV auf eine scharfe Linkskurve zu, bremste erst unmittelbar davor ab und beschleunigte sofort wieder. Kurz waren die Lichter des Isuzu verschwunden. Noch hundert Meter, dann die nächste scharfe Kurve und dann ein Feldweg, an dem der Pick-up mit Sicherheit vorbeifahren würde. Dann hätte er es geschafft.

An diesem Feldweg hatte er letzte Woche mit der Frau, neben der er jetzt eigentlich liegen wollte, gehalten. Sie hatten weit unten das Meer im Mondlicht glitzern und die Lichter am Ende der Bucht gesehen und sich auf der Rückbank seines Wagens geliebt. Heute wurde der Mond von schweren Wolken verdeckt, das Meer lag in tiefer Dunkelheit, und es war Regen vorhergesagt. Letzte Woche, wie lange war das her? Eine Ewigkeit, unglaublich, was seitdem passiert war. Vor einer Woche hatte er noch nicht gewusst, was er jetzt wusste.

Direkt hinter der Rechtskurve erwischte er fast ungebremst die Einfahrt zu dem Feldweg und konnte den Wagen nur mit Mühe auf dem schmalen Weg halten. Im Spiegel sah er, von seinen Rücklichtern rot angeleuchtet, den aufgewirbelten Staub.

Nach fünfzig Metern schaltete er die Scheinwerfer aus und wendete im Dunkeln. Falls der andere ihn entdecken würde, könnte er sofort wieder die Straße erreichen. Er machte den Motor aus und lauschte in die Nacht. Sein Herz raste, sein Mund war trocken vor Wut, er zitterte, und das hohe Pfeifen in seinen Ohren übertönte sogar das Meer, das weit unten gegen die Felsen der Küste brandete. Trotz der angenehm kühlen Frühlingsnacht schwitzte er.

Irgendwo auf dem Rücksitz unter dem Aktenordner mussten seine Karelia-Zigaretten liegen. Einige Unterlagen und eine Illustrierte hatte er vorhin, als der andere plötzlich aufgetaucht war, hektisch in den Fußraum geworfen. Vielleicht waren ja auch seine Karelia dort, aber er konnte sie jetzt nicht suchen. Er musste die Straße im Blick behalten.

 

Es hatte zu regnen begonnen. Mit der Feuchtigkeit mischte sich in den würzigen Thymian und den bitteren Salbei der herbe Duft der Macchia sowie der Erde, die so lange kein Wasser mehr aufgenommen hatte. Der Wind frischte vom Meer her auf, und als die ersten Regentropfen die Ledersitze trafen und der Staub auf der Windschutzscheibe erst zu runden Kratern und dann zu schmutzigen Rinnsalen wurde, fuhr er die Fenster des Wagens hoch und wartete.

 

Der Isuzu hätte längst an dem Feldweg vorbeigefahren sein müssen. Wo blieb dieser Téras, diese Missgeburt? Hatte er umgedreht? Oder ahnte der Kerl, dass er sich hier versteckte?

Endlich fuhr ein Wagen auf der Straße an dem Feldweg vorbei. Irritierend langsam. Aber vielleicht hatte der andere für heute auch einfach aufgegeben. Und morgen, da würde er ihm klarmachen, dass er sich mit ihm nicht hätte anlegen sollen.

Der Regen prasselte auf die Scheiben und hörte abrupt wieder auf. Ein kurzer Schauer, viel zu wenig für die ausgetrockneten Böden. Den ganzen Winter über hatte es kaum geregnet und oben in den Bergen, in den Lefka Ori, auch kaum geschneit. Für die Olivenblüte waren die Böden jetzt im April noch feucht genug, aber demnächst, wenn die Oliven wachsen sollten, würden die Olivenbauern ihre Bäume stärker bewässern müssen als in den vergangenen Jahren.

 

Er wollte nicht länger warten, obwohl ihm ein Gefühl sagte, der anderekönnte darauf lauern, dass er wieder auftauchte. Doch er ignorierte diese Befürchtung und fuhr ohne Licht langsam zur Straße zurück. Bevor er einbog, zögerte er kurz, dann gab er Gas, seine Reifen drehten auf dem staubigen Weg durch, fanden auf der Straße aber sofort wieder Halt. Er schaltete das Licht ein, bremste erst vor der nächsten Kurve und bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass sein Wagen auf dem nassen Asphalt ins Schleudern geriet.

Im Rückspiegel tauchten die grellen Scheinwerfer auf. Ilísios, fluchte er über sich selbst, Trottel, und spürte, dass ihm der kalte Schweiß in den Augen brannte. Der Fahrer des Isuzu musste ihn von oben beobachtet haben, als er in den Feldweg eingebogen war.

 

Die Scheinwerfer kamen immer näher. Wie konnte der andere so schnell sein? Rechts Felsen, links die Steilküste, er musste ihn abhängen, aber der massige, immer größer werdende Isuzu war plötzlich hinter ihm und setzte zum Überholen an. Während er versuchte, das Äußerste aus seinem SUV herauszuholen, spürte er hinten links den ersten Stoß des bulligen Pick-up. Kurz kam er ins Schlingern und schrammte an einem Felsen entlang, bekam einen zweiten Stoß, fing sich aber wieder und raste weiter.

Vor ihnen lag eine extrem scharfe Rechtskurve, das wusste er, und das wusste offenbar auch sein Verfolger, denn der wurde langsamer. Er aber blieb auf dem Gaspedal. Erst im allerletzten Moment würde er bremsen.

2

Noch mit geschlossenen Augen spürte Michalis Charisteas, dass ein leichter, vom Hafen kommender Wind die Vorhänge am Fenster bewegte. Von unten aus der Taverne waren das Lachen seiner Mutter und die Rufe seines Bruders und seines Vaters zu hören, die sich jeden Morgen aufs Neue lautstark darüber unterhielten, was auf die Speisekarte kommen sollte.

Michalis war vor dem Klingeln des Weckers aufgewacht. Das kam nicht oft vor, nur an besonderen Tagen, und heute war der Tag, auf den er sich seit Wochen freute. Am Nachmittag würde Hannah landen, und wenn im Kommissariat nichts Ungewöhnliches passierte, dann würde er sich freinehmen und die Frau, die er seit zwei Monaten jeden Tag vermisste, am Flughafen von Chania abholen. Und im Kommissariat passierte im Moment nur selten etwas Ungewöhnliches.

 

Schon als Kind war Michalis morgens nie sofort aus dem Bett gesprungen, sondern hatte immer erst gelauscht, welche Geräusche vom Hafen kamen. Elena, seine Schwester, war schon zwölf Jahre alt, als Michalis in dieses Zimmer zog, und auch Sotiris war mit seinen zehn Jahren viel zu groß, um sein schmales Bett mit dem kleinen Brüderchen zu teilen. Also war mit Michalis ein winziges drittes Bett in das enge Kinderzimmer eingezogen und hatte bis zu Elenas Auszug verhindert, dass sich die Zimmertür ganz öffnen ließ.

Die Eltern hatten erwartet, dass vor allem Elena in den kleinen Michalis vernarrt sein würde, aber noch mehr war es sein Bruder Sotiris, der den Nachzügler Michalis liebte. Und so kroch Michalis oft nachts in das Bett seines großen Bruders, um besser schlafen zu können, und morgens, wenn sie eigentlich längst aufstehen mussten, versuchten sie zu erraten, wer draußen gerade mit seinem Boot am Hafen anlegte.

»Theokratis?«, hatte Michalis oft mit seiner hellen Kinderstimme geflüstert und Sotiris erwartungsvoll angesehen.

»Nein. Anastas«, hatte Sotiris dann mit Bestimmtheit geantwortet. Elena hatte dieses morgendliche Ritual ihrer Brüder meistens nur spöttisch belächelt.

 

Lange Zeit waren es nur diese beiden gewesen, Theokratis und Anastas, die so früh am Morgen mit ihren kleinen weiß-blauen Booten vom Meer zurück in den alten Fischerhafen fuhren. Die beiden hatten ihre Liegeplätze direkt vor der Fischtaverne, und mit ihnen wehte der Geruch von Salz, Meerestieren und Algen in die Häuser.

Der alte Theokratis hatte oft über Nacht einige Meeräschen und Calamari gefangen, und er trank morgens als Erstes mit dem Großvater von Michalis einen griechischen Mokka, seinen Elliniko. Erst danach knetete er seine Calamari so lange behutsam auf der Kaimauer, bis ihr Fleisch weich genug geworden war, um den Gästen serviert zu werden.

Anastas hingegen hatte früh das kleine Boot seines Vaters übernehmen müssen und brachte jeden Tag Touristen zu einem der Strände westlich von Chania. Auf ein Plakat, mit dem er am Hafen für seine Ausfahrten warb und das er ungelenk selbst gestaltet hatte, hatte er ein Foto mit Delphinen geklebt. Viele Urlauber fuhren nur deshalb mit ihm, weil sie hofften, auf der Fahrt durch die Bucht von Chania Delphine zu sehen. Tatsächlich aber hatte Anastas in seinem Leben erst ein Mal welche gesehen, und diese hatte er aus einer Illustrierten ausgeschnitten.

 

Michalis stand mit einem Lächeln auf, duschte und ging über die enge Holztreppe nach unten. Groß, wie er war, musste er auf der Treppe immer den Kopf ein wenig einziehen, und er fragte sich oft, ob die Menschen früher wirklich so viel kleiner gewesen waren. Wie alle Männer der Familie waren auch sein Vater und sein Großvater, die als Kinder ebenfalls in dem kleinen Zimmer im ersten Stock gewohnt hatten, nicht nur über einen Meter neunzig groß, sondern sie hatten auch wie Michalis volles, leicht gewelltes dunkles und später graues Haar und behielten es bis ins hohe Alter. Und wie alle Männer der Familie Charisteas trugen sie einen Vollbart, über den sie sich beim Nachdenken gern strichen.

 

Michalis wollte sich in der Küche der Taverne schnell selbst einen Elliniko machen, aber seine Mutter, die morgens sehr energisch war, weil sie alles für den Tag vorbereiten wollte, schob ihn lächelnd, aber entschlossen zur Seite. Er gab ihr einen Kuss und setzte sich draußen zu seinem Vater an einen der Holztische, die später von Einheimischen und Urlaubern bevölkert werden würden. Noch waren die großen Sonnenschirme zusammengeklappt, und viele der in hellem Blau und Gelb gestrichenen Holzstühle mit Bastgeflecht standen noch auf den Tischen.

Sein Vater hatte seine Füße auf die Streben eines Stuhls gestützt und saß mit angestrengtem Gesichtsausdruck vor seinem Tablet-PC, studierte Aktienkurse und kratzte sich den Bart. Seit er die Fischtaverne nicht mehr allein führte und mehr freie Zeit hatte, wollte er allen beweisen, dass er mit dieser Zeit auch etwas anfangen konnte. Deshalb hatte er sich vor einem Jahr von einem Yachtbesitzer aus Athen, der wochenlang jeden Abend ins Athena zum Essen gekommen war, davon überzeugen lassen, norwegische Staatsanleihen zu kaufen. Angeblich eine todsichere Sache, und tatsächlich verdiente der Vater damit wohl auch ein wenig Geld, aber es war nicht seine Welt. Seine kräftigen, braungebrannten Finger, mit denen er in seinem Leben bisher immer angepackt hatte, gehörten einfach nicht auf die Tastatur eines Computers.

»Und? Schon wieder gestiegen?« Michalis legte seine graue Lederjacke über die Stuhllehne und setzte sich. Sein Vater richtete sich auf und schob die Ärmel seines dunkelbraunen Hemdes hoch.

»4,2 Prozent! Seit letzter Woche!«, sagte er triumphierend.

»Nicht schlecht.«

»Irgendwann verdien ich damit mehr als du mit deinen Verbrechern«, sagte der Vater, lehnte sich zurück und blickte zum Leuchtturm am Ende der Hafenmole, auf dessen helle, einfarbige Steine die ersten warmen Strahlen der Morgensonne fielen.

»Ich verdiene immer das Gleiche. Ob es viele Verbrecher gibt oder wenig.«

»Ja! Solang er zahlt, der Staat.«

»Das Schlimmste ist doch vorbei«, erwiderte Michalis und wusste, wie froh vor allem seine Mutter war, dass die Finanzkrise den Tourismus auf Kreta nicht ruiniert hatte.

Der Vater musterte Michalis mit seinen braunen Augen, die sich seit einigen Jahren immer stärker von seinen grau werdenden Haaren abhoben.

»Ich trau denen aus Athen nicht«, erwiderte er.

Michalis verkniff es sich zu sagen, dass sein Vater sowieso niemandem traute, der nicht von Kreta kam. Und im Grunde traute er sogar auch nur denen, die direkt aus Chania stammten und die er seit Kindertagen kannte. Aber das sagte Michalis lieber nicht, sonst hätte es nur wieder Diskussionen gegeben.

 

Der Vater legte sein Tablet zur Seite und schaute zu Sotiris hinüber, der in fast dem gleichen braunen Hemd, wie es der Vater trug, aus dem Lagerraum kam und sich Notizen machte. Michalis kannte diesen etwas wehmütigen Blick seines Vaters. Früher hatte er all das, was jetzt Sotiris machte, selbst erledigt. Aber vor drei Jahren hatte er nach einem Autounfall zwei Monate im Krankenhaus gelegen, und Sotiris hatte in dieser Zeit das Athena, das seit über hundert Jahren in Familienbesitz war, allein geführt, und das sehr erfolgreich. Als der Vater wieder gesund war, waren er und Sotiris plötzlich gleichberechtigt, auch wenn der Vater das lange nicht zugeben wollte. Aber spätestens, als Sotiris behutsam begann, die Speisekarte und den Service gegen den Willen des Vaters nach und nach zu modernisieren, war nicht mehr zu übersehen, wer hier in Zukunft das Sagen haben würde. Zumal die Mutter eher zu ihrem Sohn hielt. Für Takis Charisteas, Familienoberhaupt und Wirt der Fischtaverne Athena, in der fast jeder Bewohner Chanias schon mal gegessen hatte, wie Takis gern behauptete, war das nicht einfach. Er kannte hier jeden, jeder kannte ihn – und plötzlich war er nicht mehr der Chef?

 

»Wann fährst du uns endlich mal im Polizeiauto zur Schule?« Sofia, Michalis’ jüngste Nichte, stellte ihre rosa Schultasche auf den Tisch und sah Michalis herausfordernd an.

»Du weißt, dass das nicht erlaubt ist.«

»Aber dann wissen alle, dass sie mich nicht ärgern dürfen. Weil sonst die Polizei kommt.«

Michalis lächelte. Sofia war mit ihren neun Jahren die frechste der Töchter seines Bruders, und sie wollte unbedingt Polizistin werden. Allerdings nur wie ihr Onkel bei der Kriminalpolizei, damit sie keine Uniform tragen musste. Uniformen fand sie blöd, vor allem bei Frauen. Die weißen Hemden, die Michalis meistens im Dienst trug, gefielen Sofia zwar auch nicht, aber Michalis hatte ihr versichert, dass er so ziemlich der einzige Kriminalpolizist in ganz Chania war, der solche Hemden trug.

 

Hinter Sofia tauchte Nicola auf, seine Schwägerin, die Frau von Sotiris und Mutter seiner drei Töchter. Eine tatkräftige, immer gutgekleidete Frau mit langen braunen Haaren, die genauso war, wie die Mutter von Michalis sich eine Schwiegertochter vorstellte.

»Sofia! Wir kommen zu spät!«, rief sie energisch.

»Aber morgen!« Sofia hob den Zeigefinger, als wollte sie Michalis drohen, gab ihrem Opa einen Kuss, grinste und rannte los, um vor ihrer Mutter am Auto zu sein.

Michalis’ Vater sah ihr nach.

»Sie mag dich.«

»Ich sie auch.«

»Du solltest selbst Kinder haben. Das würde auch deine Mutter freuen.«

Michalis verzog das Gesicht. Ob und wann Hannah und er Kinder bekommen würden, das ging nur sie beide etwas an. Zumal Sotiris drei Töchter hatte, und Elena, ihre Schwester, zwei Söhne. Enkelkinder gab es also genug.

Auch darüber, ob Michalis und Hannah irgendwann heiraten würden, wollte er nicht reden. Nicht mit seinen Eltern. Aber sie waren der Meinung, dass sie das durchaus etwas anging, und gerade Takis – obwohl er Hannah sehr mochte – fragte Michalis manchmal, wenn sie allein waren: »Bist du sicher, dass du mit einer deutschen Frau glücklich wirst?« Er hätte gehört, die wollten immer alles ganz genau planen, und alles sollte immer funktionieren. Und vor allem seien sie meistens davon überzeugt, recht zu haben.

Vielleicht stimmte davon sogar etwas. Aber er und Hannah waren glücklich, und es war Michalis völlig egal, ob sie Deutsche war, Engländerin, vom Nordpol oder sonst woher. Oder ob sie von Kreta kam, was seinem Vater natürlich am liebsten gewesen wäre.

 

Sotiris brachte Michalis den Elliniko, balancierte gleichzeitig auf seinen kräftigen Unterarmen zwei Teller mit Kourabiedes und setzte sich zu ihnen.

»Hier. Noch warm«, sagte er und deutete auf das Mandelgebäck auf dem Teller.

Der Stuhl knarrte, als Sotiris sich zurücklehnte, und der Vater sah den Stuhl verärgert an.

»Den bring ich gleich zu Nikos, er soll ihn reparieren«, sagte Takis und stand auf.

»Wann genau landet Hannah denn?«, fragte Sotiris, während der Vater mit dem Stuhl im Lager verschwand.

»Um drei. Kurz nach drei«, antwortete Michalis und nahm sich von dem Gebäck, das Sotiris ihm hingestellt und das ihre Mutter bereits heute früh gebacken hatte.

»Schaffst du das?«

»Ja … wenn nichts ist.«

»Was soll denn sein?«

 

Ja, was sollte schon sein? Der letzte Mord in der Präfektur Chania war zwei Monate her, und Michalis und seine Kollegen von der Mordkommission halfen zurzeit oft bei den anderen Abteilungen der Kripo aus und kümmerten sich um Betrügereien oder Handgreiflichkeiten unter Touristen. Da war es kein Problem, sich nach dem Mittag mal freizunehmen.

»Aber du weißt« – Sotiris beugte sich vor –, »letztes Mal war Hannah enttäuscht, weil du nicht am Flughafen warst.«

Ja, das wusste Michalis noch gut, und er hatte Hannah fest versprochen, sie diesmal selbst abzuholen, und zwar pünktlich.

»Ich werd es schaffen, ganz sicher. Wird schon nicht ausgerechnet heute in Chania jemand durchdrehen«, meinte Michalis zuversichtlich.

»Hoffentlich.« Sotiris seufzte, denn er wusste, dass Michalis seine Fälle manchmal zu ernst nahm. »Falls doch was ist, dann meld dich. Dann fahr ich und hol Hannah ab.«

»Danke«, sagte Michalis. Es war großartig, sich auf seinen großen Bruder verlassen zu können, auch wenn man schon über dreißig war.

Der Vater kam vom Lager zurück, blieb neben dem Tisch stehen und blickte zur Hafeneinfahrt, wo sich das blaue Wasser kräuselte.

»Heute kommt Wind.« Er lächelte. »Das ist gut. Mit dem Wind kommen die Fische.«

Sotiris stand grinsend auf. »Als ob du jemals zum Fischen rausgefahren wärst.«

»Natürlich!«, antwortete der Vater mit leichter Empörung. »Früher. Mit eurem Großvater!«

Michalis und Sotiris sahen sich an und sagten lieber nichts. Ihr Vater behauptete gern, dass er früher mit seinem Vater, der tatsächlich ein winziges blaues Fischerboot gehabt hatte, zum Fischen rausgefahren war. Sotiris war es aber vor einigen Jahren gelungen, dem Großvater nach vielen Gläsern Raki die Wahrheit zu entlocken: Ihr Vater war als Zehnjähriger genau zweimal mit aufs Meer gefahren und jedes Mal seekrank geworden.

»Ich muss los. Zur Markthalle«, sagte Sotiris und nahm zwei grüne Gemüsekisten.

»Was Besonderes heute?«, wollte Michalis wissen.

»Meeräschen, Brassen, Anchovis … und unsere Mutter will Lachanodolmades machen.«

Die mit Fenchel, Reis und Minze gefüllten Weißkohlblätter waren eine Spezialität ihrer Mutter. Manche Gäste des Athena kamen tatsächlich nur deshalb, weil die Lachanodolmades hier so gut waren wie nirgends sonst.

 

Michalis blickte Sotiris nach, als der in seinen Pick-up stieg und zur Markthalle fuhr. Schon als Kind hatte Michalis seinen älteren Bruder bewundert, und er tat es immer noch. Der großgewachsene, kräftige Sotiris mit dem fein geschnittenen Gesicht war der heiterste und ausgeglichenste Mensch, den er kannte. Sotiris hatte nie etwas anderes gewollt, als sein Leben mit seiner Familie in Chania und im Athena zu verbringen, und genau das tat er. Beneidenswert.

 

Die Mutter kam aus der Küche, und Michalis und auch Takis grinsten: Loukia hatte wie jeden Tag für ihren Sohn ein kleines Lunchpaket gemacht. Auch wenn Michalis mittlerweile erwachsen war, so sollte er doch immer etwas Gutes zu essen dabeihaben und nicht in die Kantine der Polizeidirektion gehen müssen.

»Bitte sehr«, sagte Loukia und stellte eine liebevoll verschlossene Papiertüte auf den Tisch. »Und sei heute ja pünktlich am Flughafen! Lass Hannah nicht wieder warten! Frauen warten nämlich nicht gern. Und schon gar nicht deutsche Frauen!«

»Nein, kein Problem, das schaff ich heute«, sagte Michalis und sah seine Mutter amüsiert an. Noch trug die große, schlanke Loukia das, was sie beim Arbeiten in der Küche meistens trug: Jeans und T-Shirt. Aber Michalis hätte wetten können, dass sie später, wenn er mit Hannah zurückkam, umgezogen sein würde. Zum einen, weil Hannahs Ankunft für die Mutter immer etwas Besonderes war, aber auch, um zu zeigen, dass nicht nur Frauen aus der deutschen Hauptstadt attraktiv sein konnten.

Einige Verwandte von Loukia lebten in Athen, und manchmal träumte sie davon, elegant gekleidet über die Boulevards und den Syntagma-Platz zu schlendern und abends ins Theater zu gehen. Und alle ein, zwei Jahre besuchte sie tatsächlich für eine Woche ihre Verwandten in Athen, hatte es aber noch nie geschafft, Takis zum Mitkommen zu überreden. Und nach einer Woche war die Mutter dann auch jedes Mal wieder froh, zurück am Fischerhafen von Chania bei ihrer Familie und dem Athena zu sein.

Loukia betrachtete ihren jüngsten Sohn prüfend. »Hättest dich ruhig mal wieder rasieren können, bevor Hannah kommt«, sagte sie vorwurfsvoll.

Michalis fuhr sich über seinen dunklen Vollbart, den er wegen Hannah vor einer Woche tatsächlich etwas gestutzt hatte. Hannah nannte ihn wegen des Barts manchmal »Mein Zeus«, und eigentlich mochte sie den Vollbart auch – aber nicht, wenn er zu lang wurde.

Loukia fuhr ihrem Mann kurz durch die Haare und ging wieder Richtung Küche. Takis stand auf und folgte ihr. Michalis sah den beiden nach und lächelte. Über vierzig Jahre waren sie verheiratet und unübersehbar glücklich. Und seit der Zeit, als der Vater im Krankenhaus gewesen war, war ihnen noch stärker bewusst, dass sie dieses Glück genießen wollten.

 

Michalis trank seinen Elliniko und sah über den Fischerhafen hinüber zum alten venezianischen Hafen. Links die ehemaligen Arsenale, die jetzt als Trockendocks und Lagerhallen dienten, hinten rechts der sandfarbene Leuchtturm am Ende der langen Hafenmole. Und auf der anderen Seite die alten, buntgestrichenen venezianischen Häuser mit den Hotels und Restaurants, in denen sich abends die Touristen drängelten. Die Wirte dieser Restaurants, die jeden flanierenden Touristen aufdringlich ansprachen und an ihre Tische zu ziehen versuchten, verdienten sicherlich mehr als sie hier im Athena, aber bei denen ließen sich dafür auch nie Einheimische blicken. Wenn es wegen der Touristen Wiener Schnitzel und Hamburger gab, mieden die Kreter eine Taverne. Es sei denn, sie gehörte Verwandten.

 

Michalis ging vor zur Kaimauer, schaute zu den Fischen im klaren Wasser des Hafenbeckens und warf einen Blick in den strahlend blauen Himmel. Eigentlich sprach alles dafür, dass es ein großartiger Tag werden würde, aber ein Gefühl sagte Michalis, dass dieser Tag anders verlaufen könnte, als er dachte. Woher diese Ahnung kam, wusste er nicht.

 

Michalis ging zu seinem Motorroller, der in der kleinen Gasse neben dem Athena stand, und zog die dunkelgraue Lederjacke an, die Hannah vor einem Jahr in Berlin für ihn gekauft hatte. Später würde er sie wohl nicht mehr brauchen, aber so früh am Morgen war es jetzt im April noch kühl. Er stellte das Lunchpaket zu seinem Helm in den kleinen Koffer hinter den Sitz und fuhr los. Eigentlich sollte wenigstens er als Polizist einen Helm tragen, aber in Chania machte das fast niemand, und Michalis wäre sich damit lächerlich vorgekommen. Er setzte den Helm immer erst einige hundert Meter vor der Polizeidirektion auf, damit er dort wenigstens vorschriftsmäßig ankam.

 

Michalis fuhr an der alten Stadtmauer entlang, bog in die Nikiforou Foka ein und musste an der Platia Sofoukli Venizelou bei Rot an der Ampel warten. Er sah rüber zur Markthalle, die mit ihrer klassizistischen Fassade aus hellem Stein fast majestätisch wirkte. Durch ihre riesigen bogenförmigen Eingänge strömten schon morgens um kurz nach sieben Uhr viele Händler und Kunden, und nebenan auf dem Parkplatz entdeckte Michalis seinen Bruder Sotiris, der an der offenen Tür seines Pick-up lehnte und mit zwei anderen Tavernenbetreibern redete.

An der Markou Botsari musste Michalis wieder halten und sah, dass einige Autos, die in die Apokoronou einbogen, auf der Kreuzung um etwas herumzufahren schienen. Er bemerkte ein zerfleddertes gelbes Schulbuch, das auf der Straße lag, am Straßenrand gegenüber ein zweites, und auf dem Bürgersteig ein roteingeschlagenes Schulheft. Michalis stellte seinen Roller ab, sammelte die beiden Schulbücher und das Schulheft ein und sah sich um. An einer Hauswand ganz in der Nähe lagen mehrere bunte Stifte auf den hellen Platten des Gehwegs.

Dreißig Meter weiter stand vor einem Zaun ein noch geschlossener Kiosk, und Michalis glaubte, von dort aufgeregte Stimmen zu hören. Er näherte sich, blickte vorsichtig hinter den Kiosk und entdeckte drei etwa elfjährige Jungs, die einen größeren, vielleicht vierzehnjährigen Jungen in die Enge getrieben hatten und ihn beschimpften. Der Ältere konnte wegen des Zauns und einiger Mülltonnen nicht weiter zurückweichen, hielt seine offene Schultasche umklammert und wirkte ziemlich eingeschüchtert. Auf dem Boden lagen noch mehr Schulsachen.

Plötzlich versuchte dieser Junge wegzurennen und wurde dabei von den anderen zu Fall gebracht. Als einer der Jüngeren nach dem am Boden Liegenden trat, reichte es Michalis.

»Hey! Was soll das?«

Die Jungs drehten sich nach ihm um. Der Ältere rappelte sich auf und drückte sich an den Zaun, die Jüngeren sahen sich an und liefen los, mussten dabei aber an Michalis vorbei. Michalis ließ die Schulsachen fallen und packte zwei der Jungs am Arm.

»Hiergeblieben!«

Der dritte Junge rannte an Michalis vorbei und wandte sich in sicherer Entfernung um.

»Lassen Sie uns los!«, rief einer der beiden Jungs, darum bemüht, entschlossen zu klingen. Michalis sah, dass er Angst hatte und seine blonden Haare schweißnass an seiner Stirn klebten.

»Sagt mir erst, was hier los war«, erwiderte Michalis.

»Lassen Sie uns los!«, bettelte der zweite, dunkelhaarige Junge und klang dabei ziemlich verzweifelt.

Die beiden Jungs versuchten, sich loszureißen, aber Michalis hatte nicht vor, sie gehen zu lassen. Als sie anfingen, nach ihm zu treten, kam ihm seine Größe zugute: Er hielt die Jungs so weit von sich weg, dass sie ihn nicht erreichen konnten. Sie zappelten, und als sie sich ein wenig beruhigt hatten, schob Michalis sie gegen den Zaun. Die beiden waren, ebenso wie der Ältere, von Michalis’ Größe und Kraft eingeschüchtert.

»Also.« Michalis sah die Jungs drohend an. »Was ist das Problem? Drei gegen einen?«

Er musterte die Jungs. Ihm fiel auf, dass die Jüngeren teure und neue Sachen anhatten, während der Ältere schmächtig wirkte und ein abgetragenes, schmutziges Hemd trug, das ihm aus der Hose hing. Keiner von ihnen schien reden zu wollen.

»Also? Ich kann auch die Polizei holen.«

Noch einmal versuchte der Blonde mit den schweißnassen Haaren abzuhauen. Michalis packte ihn fester, und er jaulte kurz auf. Michalis lockerte seinen Griff und sah ihn an.

»Wie heißt du?«

»Der hat mein Handy geklaut!«

»Stimmt das?«

Michalis sah den Älteren an, dessen kurzrasierte dunkelblonden Haare, zusammen mit einem scheuen, nervösen Blick, das Schmächtige noch betonten.

»Die lügen! Ich muss zur Schule!«

»Er hat’s gestern aus meiner Tasche gestohlen! Ich hab ihn gesehen, und dann ist er weggerannt!«, rief der Blonde aufgebracht.

Michalis blickte zwischen dem Blonden und dem Älteren hin und her.

»Okay. Aber jetzt sagst du mir erst mal, wie du heißt.«

Michalis sah den Jungen, der behauptete, sein Handy sei gestohlen worden, aufmerksam an und wartete. Der Ältere machte Anstalten, an ihm vorbei abhauen zu wollen. Michalis warf ihm verärgert einen Blick zu.

»Du bleibst hier«, sagte er streng. Der schmächtige Junge zuckte zusammen und gehorchte. Michalis sah wieder den Blonden an. Dem war klar, dass er hier nicht wegkommen würde.

»Also. Wie heißt du?«

»Philippos«, sagte der Blonde leise.

»Und du?«, fragte er den Älteren.

»Kyriakos.«

Michalis sah die beiden Jüngeren, die er immer noch festhielt, streng an.

»Ich werde jetzt mit Kyriakos reden. Und ihr beide bewegt euch hier nicht einen Meter weg.«

»Wir müssen aber zur Schule!«, rief der Dritte, der immer noch in sicherer Entfernung stand. Michalis ignorierte ihn.

»Du kommst mit. Glaub ja nicht, dass du abhauen kannst«, sagte er zu Kyriakos.

Kyriakos ging langsam an den beiden Jüngeren vorbei und folgte Michalis. Der drehte sich noch einmal zu den Jüngeren um.

»Wann fängt die Schule an?«

Der blonde Philippos sah auf die Uhr.

»In dreißig Minuten.«

»Wie lang braucht ihr da hin?«, fragte Michalis.

»’ne Viertelstunde«, sagte er und klang etwas vorwurfsvoll.

Michalis ging weiter, gefolgt von Kyriakos. Als die anderen sie nicht mehr hören konnten, blieb Michalis stehen.

»Kyriakos. Hast du sein Handy?«

»Nein!«

Michalis sah ihn aufmerksam an.

»Was war eben los?«

»Haben Sie doch gesehen! Die waren zu dritt!« Kyriakos klang aggressiv.

»Wo ist sein Handy?«

Kyriakos senkte den Blick, dann sah er zu den drei Jungs.

»Weiß ich doch nicht!«

»Wenn jetzt die Polizei hier wäre, würdest du dann dasselbe sagen?«

Der Blick des Jungen wurde unruhig. Michalis sah ihn einfach nur an.

»Was ist? Ich muss zur Schule!«, sagte Kyriakos.

Michalis wartete. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, dass die Jüngeren unruhig wurden. Kyriakos biss sich auf die Lippe.

»Kyriakos. Wir können das so regeln. Unter uns. Oder die Polizei regelt es.«

»Aber ich hab sein scheiß Handy nicht.«

»Okay.« Michalis griff in seine graue Lederjacke und zeigte Kyriakos seine Polizeimarke. Kyriakos wischte sich nervös übers Gesicht und hinterließ dabei schmutzige Flecken. Michalis sah, wie dreckig seine Finger waren.

»Ich bin noch nicht im Dienst. Noch können wir das ohne Polizei regeln.«

Kyriakos überlegte. »Woher weiß ich, dass ich Ihnen trauen kann?«

»Wenn ich du wäre, würde ich mir trauen. Alles andere wäre schlechter.«

Der ältere Junge sah schuldbewusst zu Boden.

»Kyriakos. Sieh mich an. Ich mach dir ’nen Vorschlag.«

Der Junge hob langsam den Kopf.

»Hast du sein Handy bei dir zu Hause?«, fragte Michalis.

Kyriakos sagte nichts, aber Michalis nahm ein kurzes Nicken wahr.

»Die drei Jungs.« Michalis sah zu ihnen rüber. »Die wissen nicht, dass ich Polizist bin. Da drüben steht mein Roller. Wir fahren zu dir, holen das Handy, du gibst es zurück, und die Sache ist aus der Welt. Okay?«

»Und wenn die mich dann wieder …?«

Michalis sah den schmächtigen Jungen fragend an. Der senkte erneut den Blick.

»Die haben mehr Freunde als ich …« Kyriakos hatte das sehr traurig gesagt. Michalis musste nicht weiter nachfragen, um zu wissen, dass er der Außenseiter war.

»Das werden die nicht. Sonst rufst du mich an.«

Kyriakos sah Michalis kurz ungläubig an. Dann nickte er.

 

Michalis trat zu den drei Jungs und forderte sie auf, vor dem Haupteingang ihrer Schule auf ihn zu warten, und ging mit Kyriakos über die Straße zu seinem Roller. Dort öffnete er den kleinen Koffer hinter dem Sitz, in dem auch sein Lunchpaket lag, nahm den Helm heraus und reichte ihn dem Jungen.

»Hier. Schultasche kannst du da rein tun.« Er deutete auf den kleinen Koffer.

»Und Sie?« Kyriakos sah den Helm unsicher an.

»Ich hab nur einen. Du bist wichtiger.«

Der Junge setzte den Helm auf.

 

Kyriakos wohnte mit seinen Eltern außerhalb des Zentrums in einem ziemlich heruntergekommenen Betonbau, der nie Farbe gesehen hatte. Vor dem Gebäude standen zahlreiche große Mülltonnen, auf denen streunende Katzen lagen und an Essensresten nagten. Michalis parkte so weit entfernt, dass Kyriakos’ Eltern ihn auch bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster nicht hätten sehen können.

»Übrigens«, sagte er, als der schmächtige Junge losgehen wollte. »Denk gar nicht erst daran, abzuhauen oder so was. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Kyriakos nickte, die Lippen zusammengepresst, ging auf das Haus zu und verschwand im Eingang.

Michalis sah sich in der Straße um, in der er noch nie gewesen war, was ihm in Chania mit seinen knapp sechzigtausend Einwohnern nicht oft passierte. Er zog sein Smartphone aus der Tasche und wählte eine Nummer. Ein Foto von Hannah erschien, und er lächelte. Hannah ging ran und rief nur hektisch, sie sei noch am Packen und würde sich später melden. Michalis legte auf und schmunzelte. Er wusste, dass seine Familie Hannah für gutorganisiert und pragmatisch hielt, aber die hatten Hannah auch noch nie erlebt, wenn sie für eine Reise packen musste.

Michalis wunderte sich, wo Kyriakos so lange blieb. Da klingelte sein Handy. Es war aber nicht Hannah, sondern seine Schwester Elena. Michalis stöhnte und ging ran.

»Ja?«, fragte er nur und wusste genau, warum Elena anrief.

»Du denkst dran, pünktlich am Flughafen zu sein?«, hörte er Elena rufen. »Und du hast Hannah gesagt, dass sie nicht wieder Geschenke mitbringen soll, ja? Und wenn sie noch etwas braucht, dann …«

Michalis sah, dass Kyriakos wieder aus dem Haus kam. »Elena, ich bin schon bei der Arbeit und werde nachher pünktlich am Flughafen sein. Danke!« Damit legte er schnell auf, bevor seine große Schwester ihn mit weiteren guten Ratschlägen und Anweisungen bombardieren konnte.

 

Kyriakos kam auf Michalis zu. Er hatte ein sauberes blaues Hemd angezogen und sich offenbar auch das Gesicht gewaschen.

»Und?«

Der Junge holte ein Handy aus seiner Tasche und hielt es hoch.

»Okay. Haben deine Eltern was gesagt?«

»Die sind nicht da.« Kyriakos warf einen leeren Blick zu dem Haus. »Die sind fast nie da.« Er zögerte. »Mein Vater sowieso nicht mehr.«

Entschlossen nahm er den Helm und setzte sich hinter Michalis auf die Sitzbank des Rollers.

 

Als sie sich der Venizelos-Schule näherten, standen Philippos und seine zwei Freunde nervös vor dem Eingang. Nachdem sie Michalis und Kyriakos auf dem Roller entdeckt hatten, gingen sie ihnen entgegen, so als wollten sie nicht mit ihnen gesehen werden. Michalis bremste am Bordstein einige Meter vom Eingang der Schule entfernt, Kyriakos stieg ab und gab ihm den Helm zurück.

»Haben Sie eigentlich auch ’ne Uniform? Oder ziehen Sie die erst an, wenn Sie im Dienst sind?«, fragte Kyriakos.

Michalis warf kurz einen Blick auf seine dunkelgraue Lederjacke, sein weißes Hemd und die schwarze Hose, die er im Dienst fast immer trug. Für ihn war das wie eine Uniform.

»Ich bin bei der Kripo. Bei der Mordkommission. Wir sind immer in Zivil.«

»Ah.« Kyriakos nickte. Das Wort Mordkommission beeindruckte ihn erkennbar. »Mordkommission? So richtig mit Mördern?«

»Auch. Ja. Manchmal. Auf Kreta zum Glück nur selten.«

»Wow.« Kyriakos musterte Michalis und sah ihn zum ersten Mal direkt an. »Dafür sind Sie ganz schön jung. So mit Mördern und so.«

»Ich versuch, auch eher zu verhindern, dass jemand zum Mörder wird.«

»Ah.« Der schmale Junge nickte nachdenklich.

Die anderen Jungs waren bei ihnen angekommen. Michalis sah Philippos an, dessen blonde Haare wieder trocken und gekämmt waren.

»Du bekommst jetzt gleich dein Handy zurück.«

Philippos lächelte ein wenig überheblich.

Michalis sah ihn streng an.

»Vorher reicht ihr euch die Hand. Und versöhnt euch. Klar?«

Philippos blickte kurz zu seinen Freunden und musterte dann Kyriakos und sein frisches Hemd abfällig von oben bis unten.

»Ob das klar ist?«, wiederholte Michalis.

»Ja …«

»Gut. Dann gib ihm jetzt die Hand.«

Philippos zögerte, dann reichte er Kyriakos die Hand. Der ergriff sie, aber beide ließen so schnell wie möglich wieder los.

»Okay. Das Handy.«

Kyriakos nahm das Handy aus seiner Tasche. Ein edles iPhone, offenbar neu.

»Ist das deins?«

Philippos gab den Code ein und nickte.

»Ja. Meins. Ist noch alles drauf. Geknackt hat er es also nicht.«

Michalis holte aus dem kleinen Koffer zwei Visitenkarten der Polizei von Chania und reichte Philippos und Kyriakos jeweils eine.

»Da steht meine Nummer. Also kein Stress mehr. Und wenn doch, ruft mich einer von euch an. Dann komm ich, und es gibt Ärger. Gilt für alle hier.«

Michalis sah, dass Philippos überrascht und beeindruckt war. Von der Schule war die Glocke für den Schulbeginn zu hören. Michalis setzte den Helm auf und stieg auf den Roller.

»Rein mit euch. Und ich will nie wieder was von euch hören.«

Philippos und seine Freunde rannten sofort los. Kyriakos zögerte noch.

»Du kommst zu spät«, sagte Michalis eindringlich und bemerkte, dass der Junge ihn unsicher musterte. »Ist noch was?«

»Darf ich Sie was fragen?«, sagte Kyriakos leise.

»Ja. Klar.«

»Warum machen Sie das? Warum haben Sie mich nicht einfach mit zur Polizei genommen, damit ich eine Anzeige kriege?«

»Weil …« Michalis überlegte, was er sagen sollte. »Als ich in deinem Alter war, ein paar Jahre älter, da hatte ich einen Freund. Und ich hätte mir damals gewünscht, dass ihm jemand hilft.«

Michalis stockte. Kyriakos sah ihn überrascht an.

»Und? Hat ihm jemand geholfen«, fragte er.

»Nein«, sagte Michalis schnell. »Zumindest nicht genug.«

Die Schulglocke erklang wieder. Kyriakos nickte. Michalis ebenfalls.

»Aber jetzt rein mit dir. Und wie gesagt, ich will nie wieder was von euch hören. Wäre ein gutes Zeichen.«

»Danke«, sagte Kyriakos nachdenklich und lief schnell zur Schule.

Michalis sah ihm nach. Philippos und seine Freunde standen noch an der Eingangstür. Kyriakos ging an ihnen vorbei, und es wirkte, als würden sie einfach nur zur Schule gehen.

3

Auf dem Weg zur Polizeidirektion hielt Michalis am kleinen Kafenion von Lefterisund holte drei Frappé: zwei metrios, mittelsüß, für sich und die Assistentin Myrta, und einen sketos, ohne Zucker, für seinen Partner Pavlos Koronaios. Bis vor einigen Wochen hatte Koronaios seinen Frappé glykos genommen, sehr süß, aber dann hatte ihm seine siebzehnjährige Tochter Galatía gesagt, er würde zu dick werden, und seitdem verbot er sich Zucker. Die drei Frappés stellte Michalis in dem Koffer des Rollers in eine Halterung, die er extra hatte einbauen lassen, und rollte an die Schranke vor der Polizeidirektion. Er wechselte ein paar Worte mit dem Wachmann, bevor der die Schranke öffnete.

Es hatte Michalis einige Wochen Hartnäckigkeit gekostet, bis dieser Wachmann morgens überhaupt mit ihm geredet hatte. Als Michalis sich vor einem Jahr von Athen nach Chania hatte versetzen lassen, waren viele Kollegen misstrauisch gewesen. Konnten sie einem vertrauen, der Neffe des Chefs der Mordkommission und obendrein noch vier Jahre bei der Athener Polizei gewesen war? Oder war er eine Art Spitzel, der die stolzen und eigenwilligen kretischen Polizisten aushorchen und dann an die oberste Polizeiführung in Athen berichten sollte? Und was wollte der Sohn einer Fischtavernen-Familie, der jeden Morgen mit Blick auf den alten venezianischen Hafen aufwachte, überhaupt bei der Polizei?

Aber nach einigen Monaten hatten die meisten seiner Kollegen begriffen, wie ernst Michalis seine Arbeit nahm. Und viele fanden mittlerweile, dass er diesen Beruf oft zu ernst nahm.

 

Als Michalis am Wachmann vorbei auf die kleine Rampe vor der Polizeidirektion rollte, kamen ihm einige mürrisch blickende Kollegen in ihren dunkelblauen Uniformen entgegen. Die wenigsten trauten sich, die steifen Uniformjacken auszuziehen und nur in den hellblauen Hemden Dienst zu machen. Jetzt im April konnte Michalis das noch verstehen, aber spätestens im August war er bei der Hitze heilfroh, ohne Uniform und manchmal sogar in leichten Turnschuhen seinen Dienst tun zu können.

Nach diesem ersten Jahr in der Polizeidirektion von Chania kannte Michalis zwar halbwegs alle Gesichter, aber noch lange nicht die Namen aller gut zweihundert Kollegen. Er grüßte diejenigen, die an ihm vorbeigingen, aber die wenigsten grüßten zurück, sondern stiegen nur wortlos in einen Kleinbus. Vermutlich mussten sie zu einem Einsatz, der wenig Freude versprach. Einen Politiker, der aus Athen am Flughafen ankam, bewachen oder eine Razzia durchführen. Razzien waren für die Kollegen immer eine gefürchtete Angelegenheit, weil in Chania letztlich jeder jeden kannte und man immer auf Verbindungen stoßen konnte, die unangenehme Konsequenzen nach sich zogen.

 

Michalis parkte seinen Roller auf dem Vorplatz der Polizeidirektion und wollte gerade die Frappés und das Lunchpaket nehmen, als sein Smartphone eine Nachricht meldete. Bin unterwegs hatte Hannah geschrieben und ein Selfie mit ihrem Gepäck vor dem Flughafen in Berlin geschickt. Unübersehbar hatte sie einen Rollkoffer, zwei große Reisetaschen, einen riesigen Rucksack und Handgepäck dabei. Michalis freute sich und schrieb Könnte es sein, dass du etwas viel Gepäck hast? zurück und schickte einige Smileys mit. Dann nahm er die Frappés und das Lunchpaket, ging auf den Haupteingang zu und wartete mit seinen vollen Händen, bis ihm ein Kollege die Tür öffnete.

 

Das vierstöckige graue Haus der Polizeidirektion bestand eigentlich aus zwei einzelnen Gebäuden mit einem Verbindungstrakt. Gebaut worden war es Mitte der 1970er Jahre, als Chania noch hoffte, das ungeliebte Heraklion ausstechen und wieder Kretas Inselhauptstadt werden zu können. Diese Hoffnung war längst begraben, und wohl auch deshalb war das Gebäude nie modernisiert worden, obwohl dies dringend nötig wäre. Michalis’ Büro lag im zweiten Stock, und er nahm, obwohl er Treppensteigen hasste, seit einigen Wochen sicherheitshalber die Treppe – der Fahrstuhl war einfach ein zu großes Risiko. Sein Vorgesetzter Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission, war erst vor drei Wochen auf dem Weg zum Polizeidirektor zwei Stunden lang mit dem Aufzug stecken geblieben. Seitdem wurde immerhin etwas getan, was die Zuverlässigkeit aber nicht erhöht, sondern lediglich dazu geführt hatte, dass die Fahrstühle nun abwechselnd gesperrt waren. Manche Kollegen fuhren mittlerweile im Südgebäude in den vierten Stock, um dann durch den Zwischentrakt in den dritten Stock des Nordgebäudes zu laufen. Etwas, worüber Michalis nur den Kopf schütteln konnte. Da ging er wirklich lieber gleich zu Fuß.

 

Michalis kam die Treppe herauf und sah, dass die Tür zu seinem Büro offen stand. Normalerweise machte sein Partner Koronaios die Tür zu, damit ihn keiner der Kollegen unnötig mit Fragen oder gar Arbeit behelligen konnte. Michalis schlich sich schnell vorbei, weil er Myrta, der Assistentin, ihren Frappé bringen wollte. Myrta Diamantakis saß zwei Türen weiter, war Ende zwanzig und eine großartige Mitarbeiterin, wobei sie im Sommer mehr arbeitete als im Winter. Myrta hatte mit Anfang zwanzig geheiratet, und Michalis hatte den Eindruck, dass sie das mittlerweile bereute. Zwar liebte sie ihren Mann, doch er war ein sehr traditioneller Grieche und verlangte, dass seine Frau den Haushalt erledigte und für ihn kochte. Dass Myrta arbeiten wollte, nahm er hin, solange es abends etwas zu essen gab. In der Saison arbeitete Myrtas Mann auf einer der Fähren, die im Süden Kretas zwischen Palaiochora und Chora Sfakion verkehrten, und kam oft erst spät zurück. Doch von November bis April ruhte der Fährverkehr, dann war er viel zu Hause und hatte Zeit, sich über alles zu beschweren. Während der Saison hingegen arbeitete Myrta so lange in der Polizeidirektion, wie sie wollte. Michalis hatte schnell begriffen, dass sie fast alles, was er brauchte, herausfinden konnte. Und wenn es ihr nicht gelang, dann fragte sie in der IT-Abteilung bei Christos nach.

Michalis wollte Myrta nur ihren Frappé hinstellen und musste grinsen, als er ins Büro kam, denn Christos saß ebenfalls hier.

»Hi«, sagte Michalis, »ich bin spät dran.«

»Ich weiß«, sagte Myrta. »Koronaios hat schon gefragt, wo du bleibst.«

»Ich habe gearbeitet«, erwiderte Michalis schnell.

»Mir könntest du langsam morgens auch einen Frappé mitbringen«, sagte Christos etwas schnippisch.

»Kann ja niemand ahnen, dass du neuerdings so oft hier oben bist«, erwiderte Michalis. Christos Varobiotis war wie Michalis Anfang dreißig, und sie kannten sich noch aus der Schulzeit, hatten sich danach aber aus den Augen verloren. Sein Arbeitsplatz war unten im Keller in der IT-Abteilung, doch in letzter Zeit war er immer öfter hier oben anzutreffen, und Michalis war sicher, dass es keine beruflichen Gründe gab, die ihn nach oben trieben, sondern Myrtas schöne Augen und ihre langen braunen Haare. Vermutlich war Christos klar, dass er bei der verheirateten Myrta keine Chance hatte, aber er genoss ihre Gegenwart. Durch seine Jahre vor Computern hatte er zugenommen und eine ungesunde blasse Hautfarbe bekommen, trotzdem war er ein fröhlicher Kerl, über den geraunt wurde, dass er während seines Informatikstudiums in Thessaloniki einigen Ärger mit den Sicherheitsbehörden gehabt hatte. Er hatte wohl mit zwei anderen Studenten getestet, wer am besten an geheime und geschützte Daten herankam. Und Christos, so wurde behauptet, hatte es bis in die Rechner des Außenministeriums geschafft, war dann aber aufgeflogen. Nach drei Wochen Haft waren die Behörden auf die Idee gekommen, seine Fähigkeiten zu nutzen, und irgendwann war er im Polizeidienst gelandet.

»Wo bleibst du denn?«, dröhnte es auf einmal über den Flur. Es war unverkennbar die durchdringende Stimme von Michalis’ Partner Koronaios.

»Ihr hört, ich muss«, sagte Michalis bedauernd und ging schnell mit den beiden Frappés und seinem Lunchpaket in sein Büro.

 

Koronaios saß hinter seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch und blickte auf die Uhr, als Michalis hereinkam.

»Bist spät. Brauchst dich gar nicht erst hinsetzen«, sagte er leicht verärgert. »Wir sollen zu deinem Onkel hoch. Sofort.«

Wenn Koronaios »dein Onkel« sagte, dann gefiel ihm etwas ganz und gar nicht. Jorgos Charisteas war in der Tat nicht nur der Leiter der Mordkommission, sondern auch der Bruder von Michalis’ Vater Takis. Und ohne seinen Onkel Jorgos wäre Michalis wohl nicht mehr bei der Polizei oder noch immer bei den ungeliebten Kollegen in Athen. Oder vielleicht sogar schon bei Hannah in Berlin.

»Warum, was gibt es?«, fragte Michalis, legte sein Lunchpaket auf einem Aktenschrank ab und stellte die beiden Frappésauf den Schreibtisch von Koronaios.

»Wollte er am Telefon nicht sagen. Klang aber eher unangenehm.«

Die Schreibtische von Michalis und Koronaios waren die einzigen in dem kleinen Raum, und sie sahen völlig unterschiedlich aus. Da Michalis sich so selten wie irgend möglich im Büro aufhielt, ließ er immer alles stehen und liegen. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, hier zu arbeiten, breitete er gern alle Notizen und Unterlagen auf seinem Tisch aus, um Zusammenhänge zu erkennen. Koronaios hingegen brauchte das Gefühl, die Probleme seien gelöst, und deshalb hatten sie auf seinem Schreibtisch auch nichts zu suchen. Ohnehin mochte Koronaios Probleme nicht und fand fast alle unnötig, besonders die, die andere Leute ihm bereiteten.

Der Schreibtisch von Koronaios stand vor dem Fenster, er hatte also die Tür im Blick. Michalis hingegen konnte, wenn er auf einen Stuhl stieg, im Süden die höchsten Gipfel der Lefka Ori, der Weißen Berge, erkennen. Ansonsten war ihr Büro von grauer Trostlosigkeit, und spätestens im Juli wurde es hier trotz Klimaanlage unerträglich stickig. Zumal die Klimaanlage ähnlich zuverlässig funktionierte wie die Fahrstühle.

»Sofort, hat er gesagt. Und es klang ernst.« Koronaios stand auf und ging zur Tür. Michalis schüttelte den Kopf, nahm die beiden Frappés und folgte ihm. Er holte seinen Kollegen ein, als der vor dem Aufzug langsamer wurde.

»Ist damit heute schon jemand gefahren?«, spottete Michalis und ging Richtung Treppenhaus.

»Hoffentlich ist das Ding bald repariert«, schimpfte Koronaios, holte Michalis ein und deutete kopfschüttelnd auf kleine Betonstücke, die dort, wo früher Hinweisschilder gehangen hatten, aus der Wand bröckelten. Überall platzte die graue Farbe ab, und das Treppenhaus hätte schon vor Jahren renoviert werden sollen. Aber dann war die Finanzkrise gekommen, und die Gelder für die Sanierung waren woanders gebraucht worden. Wo, das hatte nie jemand von ihnen erfahren.

 

Wortlos und ohne stehen zu bleiben, hielt Michalis den Frappé sketos in Koronaios’ Richtung.Koronaios nahm ihn ebenso wortlos, trank im Gehen davon und überholte Michalis. Offenbar wollte er vor Michalis bei Jorgos ankommen und zeigen, dass er den jüngeren Kollegen führte und nicht umgekehrt.

Michalis musste lächeln, als er Koronaios an die Tür des Vorzimmers klopfen sah. Seinem Partner waren früh die Haare ausgegangen, und er versuchte, mit den wenigen verbliebenen Haaren Fülle vorzutäuschen. Einige Kollegen hatten Michalis im Vertrauen berichtet, dass Koronaios vor einigen Jahren wochenlang eine Perücke getragen, aber den Spott darüber dann doch nicht ausgehalten hatte. Seitdem akzeptierte er mit Würde sein schütteres Haar, was an seinem Selbstbewusstsein aber ebenso nagte wie sein langsam zunehmender Bauchumfang – auch wenn Michalis fand, dass seine Tochter Galatía übertrieb. Koronaios hatte eine Frau, die gut, viel und kretisch kochte, er konnte jedoch kaum widerstehen, wenn es auf Wunsch der beiden Töchter »internationale Küche« gab, wie Koronaios Hamburger und Pizza bezeichnete. Ohnehin, das hatte Michalis schnell begriffen, spielten die siebzehn- und neunzehnjährigen Töchter eine zentrale Rolle im Leben seines Partners.

Koronaios war Ende vierzig, also etwa fünfzehn Jahre älter als Michalis, und Jorgos hatte ihm, als Michalis vor einem Jahr hier anfing, den Auftrag gegeben, sich um den Jüngeren zu kümmern. Koronaios sollte verhindern, dass Michalis – so wie in seiner Athener Zeit – auch hier in Chania mit den Kollegen Probleme bekam. Koronaios galt als souverän und erfahren, aber Jorgos wusste auch, dass er schnell explodierte, wenn ihm etwas auf die Nerven ging. Und deshalb schien er bestens geeignet zu sein, um Michalis im Griff zu haben, ohne ihm seine Stärken zu nehmen.

Michalis hatte zunächst den Eindruck gehabt, dass sein neuer Partner vor allem wenig arbeiten wollte und bei Ermittlungen einen möglichst geringen Aufwand betrieb. Darüber hatten sie zu Beginn ein paarmal gestritten, aber ziemlich schnell hatte Michalis festgestellt, dass Koronaios es zwar gern ruhig angehen ließ, dass er aber auch einschüchternd laut werden konnte, wenn Leute sich ihm in den Weg stellten und Probleme machten. Vor allem aber hatte Michalis verstanden, dass er sich auf Koronaios, wenn es mal ernst wurde, absolut verlassen konnte. Umgekehrt wusste er, dass noch einige Zeit ins Land gehen würde, bevor sein Partner ihm wirklich vertraute. Aber das kannte er schon, so etwas dauerte bei den Kretern auch gern mal ein halbes Leben.

 

Jorgos telefonierte, als seine Sekretärin die beiden ins Büro führte. Er deutete auf zwei zerschlissene Bürostühle. Sie setzten sich, tranken von ihren Frappés und warteten.

Das Büro von Jorgos war in einem etwas besseren Zustand als die meisten Büros im Haus, schließlich war er der Leiter der Mordkommission. Allerdings hatte er keinerlei Interesse daran, sein Büro anders als zweckmäßig einzurichten. Auf der Fensterbank stand eine halbvertrocknete Zimmerpalme, die er zu seinem dreißigsten Dienstjubiläum bekommen hatte und die nur überlebte, weil die Putzleute ihr hin und wieder etwas Wasser gaben. Der einzige Schmuck im Büro war ein glänzender silberner Bilderrahmen mit einem Foto seiner Frau und seiner Kinder, der auf dem abgeschabten Schreibtisch stand. Das Büro lag allerdings im dritten Stock, und von hier aus waren die Gipfel der Weißen Berge im Süden wesentlich besser zu erkennen als von Michalis’ Arbeitsplatz aus. Im Winter hatte Michalis von hier aus sogar einmal sehen können, wie es oben auf den Lefka ori schneite.

 

Jorgos hatte ihnen den Rücken zugewandt, und Michalis war sicher, dass er die Berge betrachtete, während er versuchte, das offenbar unangenehme Telefonat zu beenden. Michalis war immer wieder überrascht, wie ähnlich sich sein Vater Takis und dessen Bruder Jorgos – trotz ihrer unterschiedlichen Berufe – waren. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren war Jorgos ein noch ziemlich attraktiver Mann mit vollem Haar, Bart und dem markanten, von der kretischen Sonne gegerbten Gesicht, das auch Michalis’ Vater und sein Bruder Sotiris hatten. Michalis hingegen kam mehr nach seiner Mutter, deren Brüder wie Michalis groß, kräftig und etwas runder im Gesicht waren. Und, wenn sie nicht aufpassten, auch an den Hüften.

Jorgos legte auf. Kurz blieb sein Blick missbilligend an den beiden Frappé-Bechern hängen.

»Ihr zwei werdet einen Ausflug nach Kolymbari machen«, sagte er.

»Kolymbari? Muss das sein?« Koronaios stöhnte.

»Ist irgendwas einzuwenden gegen Kolymbari?«, fragte Jorgos unwirsch. Sosehr er Koronaios schätzte, sosehr nervten ihn dessen oft erst mal ablehnende Reaktionen.

»Nein. Nein.« Koronaios konnte nur schlecht verbergen, dass ihn die Aussicht auf eine Fahrt nach Kolymbari nicht unbedingt reizte.

Michalis überlegte und kratzte sich dabei am Bart. Kolymbari, das war ein Küstenort, etwa zwanzig Kilometer westlich von Chania. Ungefähr fünftausend Einwohner, wenn er sich richtig erinnerte, und mit einem netten kleinen Hafen.

»Worum geht’s denn?«, fragte er.

»Der Bürgermeister ist verschwunden. Mit seinem Wagen.«

»Seit wann?«, wollte Michalis wissen.

»Seit gestern«, antwortete Jorgos.

»Seit gestern?« Koronaios schnaubte und lachte kurz auf. »Und deshalb wird die Mordkommission aus Chania losgejagt? Sind die Kollegen aus Kolymbari alle in Rente, oder was ist da los?«

»Jetzt reg dich ab.« Jorgos sah Koronaios verärgert an. Er mochte es nicht, wenn Koronaios seinen Unmut so offen zeigte. Immerhin ging es hier um einen Einsatz, und den hatte auch Koronaios gefälligst ernst zu nehmen.

»Was haben die Kollegen denn bisher unternommen?«, fragte Michalis, und Jorgos war froh, dass wenigstens er sich für die Sache interessierte.

»Die Frau des Bürgermeisters von Kolymbari hat eine Schwester. Und diese Schwester ist die Frau des Gouverneurs.« Jorgos hatte das Wort Gouverneur betont, und Michalis und Koronaios wussten, was er meinte: Der Gouverneur war der höchste Repräsentant Kretas, und er saß in Heraklion, der Inselhauptstadt. Chania und Heraklion verband eine alte Rivalität, und die Bewohner in Chania ließen sich nur sehr ungern von Leuten aus der Inselhauptstadt etwas vorschreiben.

»Und unser Gouverneur, der verehrte Herr Polidefkis Flabouraris, hat heute früh unseren Herrn Polizeidirektor persönlich angerufen. Und der hat mich vorhin in sein Büro gebeten.«

»Und unser Herr Gouverneur hat darum gebeten, dass die Mordkommission wegen eines Ehemannes ermittelt, der mal eine Nacht nicht nach Hause kommt.« Koronaios war noch immer ungehalten.

»Nicht direkt«, sagte Jorgos und sah Koronaios streng an. »Offenbar soll vor allem die Frau des Bürgermeisters beruhigt werden.«

»Und warum müssen wir das machen und nicht die Kollegen in Kolymbari?«

Michalis hatte das sehr sachlich gefragt. Auch ohne Koronaios anzusehen, wusste er, dass dieser genervt den Kopf schüttelte.

»Stelios Karathonos, der Bürgermeister, hatte gestern Abend wohl noch Termine im Rathaus von Kolymbari. Seine Frau hat um zehn mit ihm telefoniert, und er wollte gleich nach Hause kommen. Dort ist er aber nie angekommen.«

»Der wird eine Geliebte haben, dieser Stelios Karathonos«, warf Koronaios ein.

Jorgos ignorierte ihn verärgert. »Wie der Gouverneur mir berichtete, hat die Frau des Bürgermeisters die ganze Nacht kein Auge zugemacht und heute früh sofort die Polizei in Kolymbari angerufen.«

»Ja. Dann kümmern die sich doch«, sagte Koronaios schnell.

»Nein, tun sie nicht!«, erwiderte Jorgos ungehalten. »Die Kollegen in Kolymbari müssen sich Frau Karathonos gegenüber etwas ungeschickt verhalten haben. Jedenfalls hatte sie wohl den Eindruck, dass sie nicht ernst genommen wird, und hat daraufhin ihren Schwager angerufen.«

»Hat sie den Gouverneur direkt angerufen oder erst ihre Schwester?«, wollte Michalis wissen.

Die beiden sahen ihn verwundert an.

»Ist das wichtig?«, fragte Jorgos irritiert. Er war immer wieder erstaunt darüber, dass Michalis Fragen stellte, auf die keiner seiner Kollegen kommen würde.

»Offenbar vermutet diese Frau Karathonos, dass ihr Mann in Gefahr ist, sonst wäre sie ja nicht so beunruhigt. Das heißt, vielleicht weiß sie etwas. Und dann könnte es aufschlussreich sein, wie sie vorgegangen ist.«

»Oder sie möchte an seine Pension ran und ihn loswerden und hat gestern die Radmuttern seines Wagens gelockert. Und will jetzt von sich ablenken«, sagte Koronaios sarkastisch.

»Pavlos!«, rief Jorgos ihn zur Ordnung. Auch Michalis war immer wieder überrascht, wenn es in dem oft unbeteiligt wirkenden Koronaios zu brodeln begann.

»Ist doch wahr! Bei Vermissten ermitteln wir doch immer erst nach vierundzwanzig Stunden. Weil fast alle Vermissten bis dahin wieder aufgetaucht sind«, sagte Koronaios verärgert.