Kretisches Rätsel - Nikos Milonás - E-Book

Kretisches Rätsel E-Book

Nikos Milonás

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Beschreibung

Ein Toter im Palast von Knossos und ein geheimnisvoller archäologischer Fund – Kommissar Michalis Charisteas ermittelt in seinem sechsten Fall Es ist September auf Kreta, und bis zur Hochzeit von Michalis und Hannah sind es nur noch wenige Tage. Damit Michalis genug Zeit für die Vorbereitungen hat, hält sein Vorgesetzter ihn von aufwändigen Ermittlungen fern – gegen Michalis' Willen, der ohnehin keine große griechische Hochzeit wollte und nur seiner Familie zuliebe nachgegeben hat. Doch ein scheinbar harmloser Unfall in einem Kloster auf der Halbinsel Akrotiri wird plötzlich kompliziert, als das Unfallopfer, ein Archäologe, tot auf dem Palastgelände von Knossos gefunden wird. Hat sein Tod etwas mit einem geheimnisvollen archäologischen Fund zu tun? Zwischen Hochzeitsvorbereitungen und schwierigen Verwandten findet Michalis sich auf einmal in der persönlich herausforderndsten Ermittlung seiner Karriere wieder.

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Seitenzahl: 446

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Nikos Milonás

Kretisches Rätsel

Ein neuer Fall für Michalis Charisteas

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Toter im Palast von Knossos und ein geheimnisvoller archäologischer Fund – Kommissar Michalis Charisteas ermittelt in seinem sechsten Fall

 

Es ist September auf Kreta, und bis zur Hochzeit von Michalis und Hannah sind es nur noch wenige Tage. Damit Michalis genug Zeit für die Vorbereitungen hat, hält sein Vorgesetzter ihn von aufwändigen Ermittlungen fern – gegen Michalis' Willen, der ohnehin keine große griechische Hochzeit wollte und nur seiner Familie zuliebe nachgegeben hat. Doch ein scheinbar harmloser Unfall in einem Kloster auf der Halbinsel Akrotiri wird plötzlich kompliziert, als das Unfallopfer, ein Archäologe, tot auf dem Palastgelände von Knossos gefunden wird. Hat sein Tod etwas mit einem geheimnisvollen archäologischen Fund zu tun? Zwischen Hochzeitsvorbereitungen und schwierigen Verwandten findet Michalis sich auf einmal in der persönlich herausforderndsten Ermittlung seiner Karriere wieder.

 

Die Michalis-Charisteas-Reihe:

 

Kretische Feindschaft

Kretischer Abgrund

Kretisches Schweigen

Kretische Ehre

Kretische Nacht

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Nikos Milonás alias Frank D. Müller hat sich bereits im Alter von 17 Jahren bei seiner ersten Kreta-Reise in die Mittelmeerinsel verliebt. Aus einem kühlen norddeutschen Sommer kommend, war er überwältigt, als er vom Schiff aus die Küste sehen konnte und der intensive Duft von wildem Thymian übers Meer zu ihm herüberwehte. Seither verbringt er so viel Zeit wie möglich auf Kreta und hat Land und Leute fest ins Herz geschlossen. In seinem deutschen Leben wohnt der gebürtige Hamburger in München, arbeitet als Regieassistent und Dokumentarfilmer und ist (Co-)Autor diverser TV-Sendungen (u.a. »München 7«).

Inhalt

[Motti]

Personenverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Dank

Kretas Geheimnis ist tief; wer seinen Fuß auf diese Insel setzt, spürt eine seltsame Kraft in die Adern dringen und die Seele weiten.

Nikos Kazantzakis

 

Dort oben ist Phaestos.

Er hatte das Wort ausgesprochen.

Es war wie ein Zauber.

Henry Miller

Personenverzeichnis

Michalis Charisteas, Mitte 30, Kommissar in Chania

Hannah Weingarten, Anfang 30, Kunsthistorikerin

Pavlos Koronaios, Anfang 50, Partner von Michalis

Sotiris Charisteas, Bruder von Michalis, Wirt des Athena

Takis Charisteas, Vater von Michalis, Wirt des Athena

Loukia Charisteas, Mutter von Michalis

Elena Chourdakis, Schwester von Michalis

Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission von Chania, Onkel von Michalis

Ioannis Karagounis, leitender Kriminaldirektor von Chania

Kostas Zagorakis, Chef der Spurensicherung

Lambros Stournaras, Gerichtsmediziner Chania

Myrta Diamantakos, Assistentin in der Polizeidirektion

Nikos Kritselas, Chef der Mordkommission Heraklion

Daniela Weingarten, Hannahs Mutter

Eberhard Wagner, Hannahs Stiefvater

Lothar Weingarten, Hannahs Vater

Florian Weingarten, Hannahs Bruder

Galatia, Tochter von Koronaios

Marilita Koronaios, Ehefrau von Koronaios

Markos Papastamatakis, Assistent am archäologischen Museum

Roxana Bouchalakis, Verlobte von Markos Papastamatakis

Leonidas Nikolaidis, Archäologie-Professor

Apollonia Nikolaidis, Inhaberin eines Geschäfts für Kunsthandwerk

Christos Anastopoulos, Archäologie-Student

Diana Kastinakis, Archäologie-Studentin

Loukas Varidis, Archäologie-Student

Maria Petropoulou, Sekretärin Uni Rethimnon

Katerina Alexandria, Doktorandin Archäologie

Anestis Drapounakis, Inhaber einer Damen-Boutique

Artemis Kastinakis, Mutter von Diana Kastinakis

Petros Kastinakis, Vater von Diana Kastinakis

u.a.

1

Warum mussten sie die Polizei rufen? Warum konnten ihn diese Leute nicht in Ruhe lassen? Sie interessierten sich überhaupt nicht für das Leben, das in dem Palast einst geherrscht hatte. Er aber wollte in die Geheimnisse dieser untergangenen Welt eintauchen.

Sein Moped konnte er gerade noch hinter einem Felsen verstecken, dann rannte er los. Links und rechts ragten Felswände auf, darüber war der Himmel schwarz. Eine der Höhlen oben in den Felsen reizte ihn seit Tagen. Fast dreißig Meter in der Höhe und unzugänglich, würde sie ihm Schutz vor dem Unwetter und der Polizei bieten. Ein geübter Kletterer hatte eine Chance, dort hinzukommen. Solange es trocken blieb, konnte er es versuchen.

 

Die ersten Tropfen fielen. Jedes Umsetzen der Füße, jeder Griff mussten jetzt noch entschlossener und präziser sein als bisher. Innerhalb von Minuten wurde der Regen stärker, und der schwarze Himmel entlud sich. Sein rechter Fuß rutschte an einem nassen Stein ab, kurz schwang das Bein in der Luft, doch er fand wieder Halt. Tief atmete er durch und ließ die Vorstellung, zerschmettert in der Tiefe zu liegen, nicht zu. Wer beim Klettern ans Abstürzen dachte, war in Gefahr.

Zwei Meter noch bis zum Eingang der Höhle. Der Regen prasselte herab und nahm ihm die Sicht. Nerven behalten. Zweimal, vielleicht dreimal noch ein sicherer Halt für Finger und Füße, dann ein letztes Hochziehen. Er blickte in die Tiefe und lächelte. Kaum jemand, da war er sicher, war je in diese Höhe gestiegen. Archäologen hatten die anderen Höhlen des Tals untersucht und die Fundstücke in Museen gebracht. Aber nicht hier oben. Hier hätte auch niemand in der großen Zeit Kretas seine Angehörigen bestattet.

Seine Hände erreichten die Kante, doch es gab nichts, woran er sich hinaufziehen konnte. Er nahm seinen Mut zusammen, konzentrierte alle Kraft auf seine Finger und wusste: Er würde nur einen Versuch haben. Dann zog er sich so weit nach oben, dass sein rechtes Bein hochschwingen und auf dem Boden der Höhle landen konnte. Der Fuß fand an einem Felsen Halt, er spannte Bein und Arme an, holte mit dem linken Bein Schwung, und sobald es den felsigen Untergrund berührte, riss er den Oberkörper herum, schlug auf dem Rücken auf und blieb liegen. Er spürte den Schmerz, atmete schwer und wusste: Er hatte es geschafft.

Ein ohrenbetäubender Donner erschütterte das Tal, und von zwei kurz aufeinanderfolgenden Blitzen wurde der Himmel einen Augenblick lang gleißend hell. Das Unwetter war direkt über ihm.

Der Platz, an dem vorhin der Polizeiwagen gestanden hatte, war durch den Regen kaum noch zu erkennen. Die Polizisten waren wieder gefahren, davon ging er aus. Windböen trieben den prasselnden Regen in die Höhle, und er suchte in ihrem hinteren Teil Schutz. Dort kauerte er sich auf einen Felsvorsprung, holte sein Handy aus der Hosentasche und stellte erleichtert fest, dass es den Regen und das Klettern überstanden hatte. Diana hatte angerufen, auch seine Eltern, aber er würde sie nicht zurückrufen.

Ein Teil der Höhle musste irgendwann eingestürzt sein, denn der Boden war von Felsbrocken übersät. Vielleicht führte diese Höhle noch tiefer in den Berg hinein, überlegte er und leuchtete mit dem Handy in die Dunkelheit. In einer der Ritzen fiel der Schein nicht auf Felsen, sondern verlor sich in schwarzer Tiefe.

Falls es dort einen Hohlraum gab, würde er einen Weg finden, hineinzugelangen und sich umzusehen.

2

»Da. Das ist sie doch, oder?« Michalis hatte Galatia nur für einen kurzen Moment gesehen.

»Bist du sicher?«, fragte Koronaios.

Ganz sicher war Michalis nicht. In dem Moment, als er Koronaios’ Tochter zu erkennen glaubte, hatte ihm eine der weißen Kutschen die Sicht genommen, die vom Venezianischen Hafen aus Urlauber durch die Gassen der Altstadt von Chania fuhren.

»Wenn ich Galatia hier erwisch, kann die sich auf was gefasst machen«, sagte Koronaios. Vor zwei Monaten hatte sie noch behauptet, sich ganz auf die Schule und das Abitur im nächsten Frühjahr konzentrieren zu wollen. Es hatte Koronaios misstrauisch gemacht, dass seine jüngere Tochter angeblich schulischen Ehrgeiz entwickelte, aber er hatte die Ruhe genossen, die in seiner Familie herrschte. Doch vor einer Woche hatte einer der uniformierten Kollegen behauptet, er habe Galatia vormittags in der Bar Piruni gesehen – als Bedienung. Weil Galatia das empört abstritt und mit Koronaios seitdem nicht mehr redete, verlegten Michalis und Koronaios ihren Dienst gelegentlich an den Venezianischen Hafen.

Der Sommer war bisher ruhig und in den heißen Augustwochen fast ohne Gewaltverbrechen verlaufen. Obwohl Kreta voller Urlauber war, blieb es friedlich, und wie in anderen Jahren wurden Michalis und Koronaios deshalb auch bei Verkehrsunfällen und Ladendiebstählen eingesetzt. Erst nach Wochen war Michalis aufgefallen, dass sein Vorgesetzter und Onkel Jorgos stets andere Kollegen losschickte, wenn es doch einmal Straftaten gab, bei denen Gewaltanwendung eine Rolle spielte.

Schließlich hatte Michalis begriffen: Seine Mutter steckte dahinter. Loukia Charisteas war zu ihrem Schwager Jorgos gegangen, hatte ihn unter Druck gesetzt und dafür gesorgt, dass Michalis und Koronaios von jedem Einsatz, der auch nur im Entferntesten gefährlich werden könnte, ferngehalten wurden.

»Was hätte ich denn machen sollen?« Jorgos stöhnte, als Michalis sich wütend bei ihm beschwerte. »Erst die Schüsse auf dich, und jetzt deine Hochzeit … deine Mutter hat mir die Hölle heißgemacht.«

»Sobald sie die Ringe an unseren Fingern sehen, haben wir keine ruhige Minute mehr«, hatten Michalis und Hannah schon direkt nach dem Heiratsantrag befürchtet und sich vorgenommen, ihre Hochzeitspläne erst einmal für sich zu behalten. Drei Tage hatten sie es durchgehalten, den immer drängenderen Fragen der Familie auszuweichen, dann hatten sie aufgegeben.

»Ja, wir werden heiraten. Aber … wir wollen so heiraten, wie wir uns das vorstellen!«, hatten Michalis und Hannah sagen wollen, doch sie kamen nicht zu Wort. Die Familie bestürmte sie, und nach unendlich vielen Umarmungen und Glückwünschen erfuhren sie, dass Michalis’ Mutter und seine Schwester Elena die Hochzeit längst organisiert hatten. Seit sich vor gut zwei Monaten in Chania die Gerüchte verbreitet hatten, Kommissar Michalis Charisteas habe Ringe für seine deutsche Lebensgefährtin gekauft, liefen hinter seinem Rücken die Vorbereitungen, und zwar sehr konkret. An einem Samstag im September würde die Hochzeit mit mindestens neunhundert, eher tausend Gästen stattfinden – und in zwölf Tagen würde es so weit sein.

Sobald Michalis und Hannah dem Termin zugestimmt hatten, war Loukia heimlich zu Michalis’ Onkel Jorgos in die Polizeidirektion marschiert und hatte ihn so lange bearbeitet, bis er versprach, Michalis und Koronaios bis zur Hochzeit von allen Gewaltverbrechen fernzuhalten. Und davon ließ Jorgos sich nicht mehr abbringen, denn er wusste, dass Michalis’ Mutter es ihm niemals verzeihen würde, sollte er sein Versprechen brechen.

 

»Da. Galatia steht drinnen hinter der Scheibe. Ich glaube, sie hat uns gesehen.« Koronaios warf einen Blick über den Venezianischen Hafen, dessen türkisfarbenes Wasser im warmen Licht des Vormittags funkelte. »Ich geh zum Hinterausgang. Wenn ich auf Position bin, ruf ich dich an, und du gehst vorn rein. Und dann werden wir ja sehen, was meine Tochter zu sagen hat.«

Michalis wollte Koronaios gerade darauf hinweisen, dass es um eine achtzehnjährige, mögliche Schulschwänzerin und nicht um eine Kriminelle ging, als dessen Handy klingelte.

Koronaios blickte auf sein Display. »Der Hotelier von gestern. Gibt wohl wieder Ärger.«

Gestern Nachmittag waren sie in das kleine Hotel Parnass gerufen worden, weil zwei angetrunkene britische Urlauber zwei Italiener bedroht hatten. Koronaios hatte dem Hotelier seine Telefonnummer gegeben, falls die Briten wieder auftauchen sollten.

»Diesmal ist schon Mobiliar zu Bruch gegangen«, sagte Koronaios, nachdem er aufgelegt hatte.

Der Dienstwagen stand noch am Hafenrand in der Chalidou. Da die Wege und Gassen der Altstadt voller Touristen waren, liefen Michalis und Koronaios die wenigen hundert Meter zu Fuß, bogen in die Zambeliouein und erreichten das Hotel Parnass, in dessen Foyer sich ihnen ein Bild der Verwüstung bot. Der Boden war mit Broschüren übersät, eine Scheibe zum Frühstücksraum war eingeschlagen und ein Holzregal umgerissen. Die zwei kräftigen Briten lagen mit hochroten Köpfen auf dem Boden und wurden von Hotelangestellten und einigen Männern, die aus der Nachbarschaft zu Hilfe geeilt waren, festgehalten. Der Hotelier kümmerte sich um die beiden Italiener, die an Lippen und Augenbrauen bluteten.

»Gut, dass Sie in der Nähe waren«, sagte der Hotelier kopfschüttelnd. »Diese Typen kamen rein, und innerhalb von Sekunden war die Hölle los. Mein Nachbar hat sofort die Polizei gerufen, Ihre Kollegen werden auch gleich hier sein.«

Von draußen, von der Chalidou, war ein Martinshorn zu hören, das auch die Briten wahrnahmen. Sie bäumten sich plötzlich auf, schüttelten ihre überraschten Bewacher ab und rannten zur Tür. Dort stand Koronaios, aber der größere der Briten, der ein pinkfarbenes Poloshirt trug, stieß ihn zur Seite.

»Stehen bleiben!«, rief Koronaios und lief auf die Zambeliou, doch die Briten flüchteten bereits durch das enge Gewirr der Gassen. Michalis und Koronaios hörten die Rufe einer Frau, die von den Männern angerempelt worden war.

»Da sind sie lang!«, rief die rüstige ältere Dame und wies in Richtung Theotokopoulou. Michalis erkannte das pinkfarbene Poloshirt und sah, dass die Briten in die winzige Chelidonaki nach rechts einbogen.

»Du nimmst die Angelou. Wir kreisen sie ein.«

Nach fünfzig Metern erreichte Michalis die Angelou und entdeckte die Briten. Der Mann im pinkfarbenen Poloshirt deutete in die Richtung, aus der sich Koronaios näherte. Die zwei wollten flüchten, rannten dabei jedoch auf Michalis zu, drehten um, stießen fast mit Koronaios zusammen und rannten in die nächste Gasse. Zu spät bemerkten sie, dass sie in einer Sackgasse gelandet waren, und suchten nach einer Möglichkeit, zu entkommen, doch Koronaios schob seinen dünnen Blouson zur Seite und deutete auf seine Dienstwaffe.

»Drehen Sie sich zur Wand und legen Sie Ihre Hände auf den Rücken«, sagte er.

»Fuckin’ bastards!«, zischte der Brite im pinkfarbenen Shirt und reagierte nicht. Koronaios zog seine Dienstwaffe, während sich Michalis mit den Handschellen näherte.

»Hände auf den Rücken!«, rief Michalis energisch, und der andere Brite gehorchte. Michalis legte ihm Handschellen an, doch der Mann im pinkfarbenen Poloshirt holte plötzlich aus. Michalis wich dem Schlag aus, packte den Arm, drehte ihn auf den Rücken und drückte den Mann gegen die Mauer. Seine Alkoholfahne war mehr als deutlich, und er wehrte sich, doch Michalis war größer und kräftiger und fixierte ihn, bis Koronaios ihm Handschellen angelegt hatte.

Vor dem Parnass stand eine Gruppe Schaulustiger. Zwei Streifenpolizisten und ein Notarzt waren eingetroffen.

»Wir bringen die beiden in die Polizeidirektion, und ihr nehmt bitte alles auf. Körperverletzung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, da kommt einiges zusammen«, sagte Koronaios zu den Kollegen.

Michalis wandte sich an den Notarzt, der sich um die verletzten Italiener kümmerte. Ihre Gesichter und Hemden waren blutverschmiert, und einer von ihnen blutete stark an der linken Augenbraue. Die Ehefrauen standen fassungslos bei ihren Männern. Um diese zwei Italienerinnen Anfang dreißig war es schon gestern gegangen, denn die Briten hatten sie am Strand belästigt und waren von den Ehemännern mit Hilfe einiger Einheimischer vertrieben worden. Daraufhin hatten die Briten die Italiener bis zum Hotel Parnass verfolgt und ihnen Prügel angedroht.

»Wir brauchen noch die Aussagen der Männer, aber das machen die Kollegen«, sagte Michalis zu dem Notarzt. »Sag ihnen bitte, welche Verletzungen es genau gab.«

3

Hinter der Schranke der Polizeidirektion ließen sie die Briten aussteigen und erreichten die Eingangsstufen, als Michalis ein älterer Pick-up auffiel. Auch Koronaios bemerkte den Wagen, der üblicherweise neben dem Athena, der Taverne der Familie Charisteas, stand.

»Dein Vater?«, fragte Koronaios.

»Meine Mutter. Nehme ich an. Und wenn sie gerade das tut, was ich denke, dann werde ich ihr mal die Meinung sagen«, erwiderte Michalis. »Ich ruf Jorgos an. Und ich schwör dir, meine Mutter taucht spätestens in fünf Minuten hier auf.«

Jorgos hob sofort ab.

»Wir sind in einer Viertelstunde mit den Briten da, die sich gestern schon prügeln wollten. Bis gleich.« Michalis legte auf, grinste und versteckte sich hinter dem Pick-up.

Koronaios schob die Männer zur Eingangstür, und es dauerte keine vier Minuten, bis Loukia, Michalis’ Mutter, aus dem Gebäude kam, sich vorsichtig umsah und zum Pick-up ging. Sie musste direkt von der Küche des Athena hierhergekommen sein, denn sie trug wie bei der Arbeit Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Als sie die Tür des Pick-ups öffnete, richtete sich Michalis hinter der Motorhaube auf.

»Du hast sicher einen guten Grund, vormittags hier zu sein. Ist im Athena eingebrochen worden? Hat ein Gast die Zeche geprellt?«, fragte Michalis spöttisch.

»Du …? Was machst du hier? Ich denke, ihr kommt erst …«, stammelte Loukia.

»… ich arbeite hier und würde wirklich gern wissen, was du schon wieder bei Jorgos zu suchen hast.«

Loukia schnappte kurz nach Luft. Dann legte sie los.

»Michalis. Wenn du Vernunft annehmen würdest, dann müsste ich nicht hier sein. In zwölf Tagen ist deine Hochzeit! Und was tust du? Lässt dich auf eine Verfolgungsjagd mit zwei gefährlichen Schlägern ein!«

»Woher weißt du das?«, fragte Michalis verärgert.

»So was spricht sich am Hafen sofort herum. Alle wissen doch, dass du vor zwei Monaten fast gestorben wärst. Denkst du auch mal an Hannah? Oder an uns?«

»Mama! Ich bin Polizist!«

»Aber du heiratest in zwölf Tagen! Und Jorgos hat mir versprochen …«

»Was hat er dir versprochen?«

»Ach, nichts.«

»Ich weiß, dass du Jorgos so lange bearbeitet hast, bis Koronaios und ich keine Fälle mehr bekommen haben. Wir mussten zu Verkehrsunfällen und Ladendiebstählen! Mama! Ich arbeite in der Mordkommission. Und nur weil du …«

»Sag mal, wie redest du eigentlich mit deiner Mutter?« Loukia wurde laut, und Michalis wusste, dass er sie an einem empfindlichen Punkt erwischt hatte. »Seit Jahren warten wir darauf, dass du und Hannah endlich heiraten. Und ich will nicht, dass dir vorher etwas passiert!«

»Koronaios und ich sind erfahrene Polizisten und bewaffnet. Wenn wir zwei Betrunkene festnehmen, dann sind wir nicht in Gefahr. Und vor allem ist das kein Grund, zu meinem Onkel zu rennen!«, erklärte Michalis energisch.

Loukia sah ihn fassungslos an. »Wenn du selbst Kinder hast, wirst du das verstehen. Wie kannst du nur deine Hochzeit aufs Spiel setzen!«

»Ich setz nichts aufs Spiel! Ich hab jetzt noch drei Tage Dienst, und dann hab ich Urlaub.«

»Du hättest schon längst im Urlaub sein sollen. Dann müsste ich mir keine Sorgen machen.«

Michalis schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, mit seiner Mutter darüber zu reden.

»Mit zwei Betrunkenen werden Koronaios und ich gerade noch fertig. Und ich will nicht zum Gespött meiner Kollegen werden. Wenn das so weitergeht, schickt Jorgos uns morgen los, um Strafzettel für Falschparker auszustellen.«

Michalis bemerkte, dass seine Mutter kurz den Mund verzog. »Oder hast du ihm das etwa vorgeschlagen?«, fragte er.

»Ich muss ins Athena. Da kocht sich ja nichts von allein. Und du kommst früh nach Hause. Es gibt viel zu besprechen.«

Michalis verdrehte die Augen. Seit Hannah und er verkündet hatten, dass sie heiraten wollten, gab es jeden Tag unendlich viel zu besprechen. Wobei die Gespräche in der Regel darin bestanden, dass Loukia ihn und Hannah bearbeitete, damit die Hochzeitsvorbereitungen so verliefen, wie sie es sich vorstellte – und zwar genau so, wie seit Jahrhunderten auf Kreta geheiratet wurde. Obwohl Michalis und Hannah das eigentlich nicht wollten.

Loukia stieg in den Pick-up. »Bis nachher. Und pass bitte auf dich auf!«

Michalis seufzte. Dass er und Hannah keine traditionelle kretische Ehe führen würden, musste seine Familie akzeptieren. Doch die Hochzeit musste so gefeiert werden, wie es auf Kreta üblich war. Alles andere war unvorstellbar.

 

Michalis ging in den zweiten Stock zu seinem Büro. Koronaios war dabei, mit der Assistentin Myrta die Personalien der beiden Briten aufzunehmen sowie mit einem altmodischen blauen Stempelkissen deren Fingerabdrücke auf ein Formular zu drücken. Seit fünf Jahren warteten sie auf das Gerät zur digitalen Erfassung von Fingerabdrücken, doch bis dieses Gerät endlich eintraf, mussten sie wie im letzten Jahrhundert arbeiten. Immerhin würde Myrta später die Formulare mit den Abdrücken scannen und im Computer speichern.

»Braucht ihr mich?«, fragte Michalis. Die Briten schienen friedlich zu sein und trugen keine Handschellen mehr.

»Nein, aber …«, antwortete Myrta.

»Jorgos war eben hier, und ich hab ihn zur Rede gestellt«, sagte Koronaios. »Er hat mich gebeten, beruhigend auf dich einzuwirken. Das habe ich hiermit getan.«

Koronaios grinste, und Michalis ging ein Stockwerk höher zu seinem Onkel, der auch sein Vorgesetzter war.

 

»Setz dich«, sagte Jorgos und stöhnte. Obwohl es nicht sehr heiß war, lief der Ventilator. Michalis’ Mutter musste Jorgos sehr zugesetzt haben.

»Was soll ich denn machen?«, sagte er. »Du bist nun mal genauso stur wie deine Mutter. Geh doch einfach in Urlaub, und zwar ab sofort. Dann muss ich mir auch nichts mehr ausdenken, womit ich euch beschäftige. Nächste Woche hast du sowieso frei.«

»Wenn ich meiner Mutter jetzt nachgebe, dann geht das die ganzen nächsten Jahre so weiter. Stell dir vor, Hannah und ich bekommen Kinder. Dann …«

»Ist es denn schon so weit?«, unterbrach Jorgos, und seine Augen leuchteten.

»Nein!« Michalis musste lachen, und auch sein Onkel lachte. »Und ich dachte schon, ich bin der Erste, der es erfährt. Das würde Loukia mir nie verzeihen«, sagte Jorgos.

»Mir auch nicht. Keine Sorge. Das würde ich nicht wagen.«

Jorgos musterte Michalis und wurde ernst.

»Wie schätzt du diese zwei Briten ein? Werden sie noch mal Ärger machen?«

»Wenn sie betrunken sind, würde ich ihnen nicht über den Weg trauen. Wir sollten ihnen Platzverbot für die Altstadt erteilen und androhen, sie in den nächsten Flieger zu setzen, wenn sie sich den Italienern nähern.«

»Ja, das habe ich auch schon überlegt«, sagte Jorgos.

»Und wir sollten zwei Kollegen in der Nähe des Hotels Streife gehen lassen.« Michalis sah Jorgos an. »Aber komm nicht auf die Idee, mich und Koronaios dafür einzuteilen.«

»Nein, keine Sorge.«

»Übrigens …«, sagte Michalis. »Hat meine Mutter womöglich vorgeschlagen, Koronaios und ich könnten bis zu meinem Urlaub Strafzettel für Falschparker ausstellen?«

Jorgos hob die Hände und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Dazu sag ich nur so viel: Ich werde meine beiden besten Männer nicht lächerlich machen. Darauf kannst du dich verlassen.«

4

Michalis stieg neben dem Athena vom Roller und sah, dass Hannah hinter einigen Fischerbooten an der Mole lehnte und winkte. Er überquerte den Platz vor dem kleinen Museum für historische Segelschiffe, neben der Bar des Yachtclubs, und lächelte. Hannah trug ein blaues Sommerkleid, und ihre langen blonden Haare wehten leicht im Wind. Die Sonnenbrille hatte sie in die Haare hinaufgeschoben, weil sie videotelefonierte und ihr Gegenüber ihr Gesicht sehen sollte. Sie kniff dabei die Augen zu, denn der Himmel war strahlend blau, und das helle Sonnenlicht, das auf dem Wasser des Hafens glitzerte, blendete sie.

Acht Jahre kannten sie sich jetzt, und noch immer war Michalis jedes Mal glücklich, in Hannahs Nähe zu sein. Er wusste, dass er mit ihr sein Leben verbringen wollte, aber es würde anders sein, als es auf Kreta üblich war. Hannah würde weiterhin am Archäologischen Museum in Heraklion arbeiten, auch wenn seine Mutter und seine Schwester das nicht verstanden. Der Gedanke, Eltern könnten sich die Betreuung der Kinder teilen, war ihnen fremd.

»Wir werden es anders machen«, hatten Michalis und Hannah immer wieder erklären müssen, und Hannah war zunehmend verärgert gewesen, weil Loukia und Elena ständig davon anfingen, dass Hannah nach dem ersten Kind doch wohl zu Hause bleiben würde. Erst als Michalis drohte, die Hochzeit abzusagen, hörten die Fragen auf, und Hannah wurde wieder so entspannt und heiter, wie er sie kannte und liebte. Viele ihrer deutschen Freundinnen und Freunde reisten nächste Woche an, um bei dem größten Fest, das sie wohl jemals erleben würden, dabei zu sein. Und schon in fünfTagen würden Hannahs Mutter, ihr zweiter Ehemann und, vor allem, Hannahs jüngerer Bruder Florian eintreffen.

EinenTag später würde dann ein Gast eintreffen, auf den Hannah lieber verzichtet hätte: ihr Vater Lothar Weingarten. Nur bei Anrufen zu Geburtstagen und Weihnachten hatten Hannah und ihr Bruder Kontakt zu ihm, denn nach dem Scheitern der Ehe mit Hannahs Mutter war im neuen Leben ihres Vaters kaum Platz für die Kinder gewesen. Selbst die seltenen gemeinsamen Wochenenden verliefen enttäuschend und hinterließen bei Hannah und ihrem Bruder Florian das Gefühl, ihr Vater interessiere sich nicht für sie. Doch seit dem Scheitern seiner zweiten Ehe suchte er plötzlich wieder Kontakt.

Michalis hatte Hannah fast erreicht, als sie das Handy auf ihn richtete.

»Und hier kommt er, mein zukünftiger kretischer Göttergatte. Sieht er nicht wirklich ein bisschen aus wie Zeus?«, sagte Hannah gut gelaunt, und Michalis begriff, dass sie mit ihrer besten Freundin und Trauzeugin Nele sprach. »Zum Glück ist er groß und kräftig, denn er muss mich ja nach der Trauung zwei Stockwerke hoch in die Wohnung tragen. Und ich muss ihm bei der Trauung auf den Fuß treten, das ist so auf Kreta.«

Hannah lachte und hielt das Handy so, dass ihre Freundin das Athena sehen konnte, und sie deutete nicht nur zur Taverne der Familie Charisteas, sondern auch zum Platz vor dem Museum historischer Segelschiffe und dem Yachtclub.

»Dort drüben werden lange Reihen mit Tischen stehen. Es kommen an die tausend Leute, und wie ich meine zukünftige Schwiegermutter kenne, werden alle nach ein paar Stunden so viel gegessen haben, dass sie sich kaum noch rühren können.«

»Deshalb wird dann ja getanzt! Bis in den frühen Morgen!«, rief Michalis.

»O ja, es wird stundenlang getanzt! Michalis’ reizende, aber manchmal etwas anstrengende Schwester wollte mir schon Tanzunterricht geben. Aber Michalis’ Mutter hat dafür gesorgt, dass ich zweimal die Woche abends zu einer Tanzgruppe gehe. Zehn kretische Frauen, und alle wild entschlossen, mir den Syrtos chaniotis und den Sousta beizubringen, damit ich mich bei der Hochzeit nicht blamier.«

Michalis hätte gern bei den Proben dieser Tanzgruppe zugesehen, doch das hatten ihm die Frauen kategorisch verboten. Er war sicher, Hannah würde beim Tanzen eine sehr gute Figur abgeben, und machte sich größere Sorgen, weil auch er tanzen musste. Nächste Woche würde er zur Sicherheit Nachhilfe im Pentazolis und vor allem im Sousta, dem Tanz der Liebenden, nehmen. Den schnellen Malevisiotis, bei dem die Männer akrobatische Sprünge vollführten, würde er hingegen den routinierten Tänzern überlassen.

Michalis’ Vater hatte nicht nur ein, sondern gleich zwei Trios engagiert, die die ganze Nacht spielen und die Gäste mitreißen würden. Diese traditionellen Rituale hatten Michalis und Hannah akzeptiert, auch wenn sie selbst lieber ruhiger und in einem kleineren Kreis gefeiert hätten. Auf einer einzigen Bedingung hatten sie jedoch bestanden: Es würde keine Balothies, Freudenschüsse, geben. Bei jeder großen Feier schossen junge Männer nachts wie besessen in die Luft, und nicht nur, weil es verboten war, hatte Michalis sich diese Schüsse verbeten. Immer wieder kam es bei Festen durch Querschläger zu Verletzten und sogar Toten. Vor einem Jahr waren Michalis und Hannah in den Bergen zufällig Gäste einer Tauffeier gewesen, bei der spätabends minutenlang Freudenschüsse in den dunklen Himmel gejagt wurden, bis einer der Musiker tödlich getroffen zusammenbrach.

 

»Nele ist viel aufgeregter als ich«, sagte Hannah und küsste Michalis. »Sie hat Angst, in einem fremden Land nicht zu wissen, was sie als Trauzeugin machen muss. Aber das wird sie schon hinbekommen.«

»Auf jeden Fall. Sie muss sich nur an meine Schwester halten. Damit unsere Trauung perfekt wird, wird Elena Nele nicht von der Seite weichen und ihr jeden Handgriff erklären«, erwiderte Michalis.

Hannah blinzelte in die tief stehende Sonne. »Wir müssen rüber, oder? Und zum tausendsten Mal durchkauen, wer wann anreist, wer dann womit beschäftigt wird und wer wo sitzt.«

»Ja, ich fürchte, das müssen wir noch ein paar Tage aushalten. Aber danach …«

»Chryssoulakis hat mich heute zu sich ins Büro gebeten«, sagte Hannah nachdenklich. »Er kann mich noch beschäftigen, bis unsere Wanderausstellung in Athen eröffnet ist, aber danach wird es schwieriger. Der Verwaltungsrat setzt ihn unter Druck, weil ich schon so lange als freie Mitarbeiterin für ihn arbeite. Vielleicht findet Chryssoulakis ein neues Projekt, sonst muss ich hoffen, dass es mit der Stelle in der Presseabteilung klappt.«

In der Presseabteilung war die Stelle einer Assistenz frei geworden, und Orestis Chryssoulakis, der Direktor des Archäologischen Museums in Heraklion, hatte Hannah geraten, sich zu bewerben. Als Direktor ließ er seinen Einfluss spielen und empfahl Hannah nachdrücklich, doch es gab einen Mitbewerber, den das Museum nicht ignorieren konnte: Markos Papastamatakis, den bisherigen Assistenten des Direktors.

»Chryssoulakis hat mir zu verstehen gegeben, dass er Markos loswerden will«, sagte Hannah. »Als Markos vor einigen Jahren bei ihm anfing, war er sehr engagiert und hat sich um alles gekümmert. Aber mit der Zeit ist er eitel und träge geworden, sagt Chryssoulakis. Er will versuchen, mich zu seiner neuen Assistentin zu machen, aber er fürchtet, das in den Gremien nicht durchsetzen zu können.«

Von Anfang an waren im Museum einige Leute skeptisch gewesen, weil Hannah keine Archäologin, sondern Kunsthistorikerin war.

»Wir werden sehen«, fuhr Hannah fort. »Heute hat mir wieder eine Kollegin erzählt, dass Markos im Museum über mich herzieht und Gerüchte verbreitet. Am Anfang haben wir gut zusammengearbeitet, aber inzwischen bin ich froh, wenn ich ihn nicht sehen muss.« Hannah blickte zum Athena. »Wir müssen rüber, oder? Könnte mein Zeus nicht heute mal die Braut entführen und ihr die Schwiegereltern ersparen?«

»Nichts lieber als das«, sagte Michalis und strich sich über den Bart. »Aber dein Zeus weiß leider auch, was dann dort drüben im Olymp los wäre …«

»O ja«, sagte Hannah und grinste.

 

Das Athena war bis auf den letzten Platz besetzt. Sobald mit dem August die große Hitze vorbei war, strömten die Mitteleuropäer nach Kreta, denen es im Hochsommer zu heiß war. Ein volles Athena ließ Michalis hoffen, Loukia und Elena könnten wenig Zeit haben, sie mit den Details der Vorbereitungen zu bestürmen. Wobei Michalis und Hannah durchaus zu schätzen wussten, dass vor allem Loukia ihnen ungeheuer viel Arbeit abnahm.

»Hannah, können wir denn wenigstens deine Tante und deinen Onkel mit ins Akropolis buchen? Da sind bisher nur deine Freunde, und das Akropolis hat uns ein sehr gutes Angebot gemacht«, sagte Loukia, nachdem sie sich zu Michalis’ Vater Takis gesetzt hatten. Sein Tisch an der Tür zum Innenraum war immer für ihn und die Familie reserviert.

Hannah seufzte. Das Akropolis war ein schönes Hotel mit Blick über den Venezianischen Hafen, und ihre Freunde würden sich dort wohlfühlen. Doch im Akropolis war auch ihr Vater untergebracht, weil sich ihre Mutter und ihr Bruder Florian weigerten, mit ihm unter einem Dach zu wohnen.

»Im Akropolis sollte wirklich nur mein Vater sein«, sagte Hannah. »Alle anderen hatten mit ihm schon Streit, und das könnte Probleme geben. Gibt es nicht doch noch ein Zimmer im Thalassa?« Dort würden ihre Mutter, ihr Stiefvater, ihr Bruder und auch ihre Trauzeugin Nele mit ihrem Freund und ihrer kleinen Tochter wohnen.

»Ich werde mit Stavros reden. Er kann bestimmt noch etwas machen«, sagte Takis, und Michalis war sicher, dass das Problem damit gelöst war, denn sein Vater kannte den Hotelier des Thalassa seit Jahrzehnten.

Michalis und Hannah bekamen von Loukia Arnaki me stamnagathi avgolemono, Lamm mit Stamnagathi-Gemüse in Ei-Zitronensauce, sowie Manitaria stifado, geschmorte Pilze mit Zwiebeln, serviert. Es war köstlich, und da immer neue Gäste eintrafen fiel es kaum auf, dass sie sich früh verabschiedeten.

5

»Bist du sicher, dass du uns zu einem derart gefährlichen Einsatz schicken willst?«, fragte Koronaios am nächsten Morgen spöttisch und sah Jorgos an, der zu ihm und Michalis ins Büro gekommen war.

»Ich kann euch auch gern hier versauern lassen, bis jemand einen Ladendiebstahl meldet. Also bewegt euch, bevor ich es mir anders überlege«, sagte Jorgos und grinste.

Im Kloster Aghia Triada, knapp zwanzig Kilometer von Chania entfernt auf der Halbinsel Akrotiri, hatten die Mönche einen Mann gefunden, der bewusstlos und mit einer stark blutenden Platzwunde am Kopf im Innenhof lag. Inzwischen war der Mann wieder bei Bewusstsein und behauptete, einem herabfallenden Stein ausgewichen, gestolpert und gegen eine Steinkante geprallt zu sein. Ein herbeigerufener Arzt hatte jedoch die Polizei informiert.

»Dann sehen wir uns das an«, sagte Michalis und stand auf. »Besser, als Falschparker aufzuschreiben, ist es auf jeden Fall.«

 

Sie folgten der Odos Apokoronou Richtung Souda, dem Fährhafen von Chania, und bogen hinter Aroni zum Flughafen ab.

»Kennst du Aghia Triada?«, fragte Koronaios.

»Ich war mit Hannah mal da. Sie wollte unbedingt hin, weil in dem Kloster für den Film Alexis Zorbas gedreht worden ist«, erwiderte Michalis.

»Und das wusste deine Freundin natürlich.«

»Natürlich«, erwiderte Michalis und blickte zu einem Flugzeug, das rechts von der Straße zum Landeanflug angesetzt hatte.

»In den nächsten Tagen werde ich ziemlich oft hier sein, wenn Hannahs Familie und ihre Freundinnen eintreffen«, sagte Michalis. »Einige kommen mit derselben Maschine, aber alle haben darauf geachtet, nicht mit Hannahs Vater im Flugzeug zu sitzen. Unglaublich, wie der es geschafft hat, derartig unbeliebt zu sein.«

»Du hast ihn noch nicht kennengelernt, oder?«

»Das wollte Hannah nicht. Er ist ihr etwas peinlich.«

»Was ist denn das Problem mit Hannahs Vater?«, fragte Koronaios.

Michalis zögerte.

»Ich hab ihn ja noch nicht selbst erlebt«, sagte er dann. »Er war wohl immer ein sehr erfolgreicher Architekt, und das war ihm wichtiger als die Familie. Zumindest war das früher so, Hannah hat ja wenig Kontakt zu ihm. Er kann wohl auch charmant und mitreißend sein, aber es musste immer alles so laufen, wie er es wollte. Hannah und ihr Bruder haben als Kinder schlimme Streits der Eltern mitbekommen.«

Koronaios nickte. »Dann reißt er sich auf Kreta hoffentlich zusammen. Immerhin heiratet seine einzige Tochter.«

»Ja … Hannah hat vor kurzem mit ihm telefoniert, und da hat er sich wohl gewundert, dass er in einem anderen Hotel untergebracht wurde als die Familie. Hannah hatte den Eindruck, dass ihn das verunsichert. So kennt sie ihn eigentlich nicht.«

 

Das letzte Stück zum Kloster führte durch eine Allee, die von hohen Zypressen und einigen Platanen gesäumt war. Am Ende dieses Weges erhob sich die monumentale, in rötlichem Ocker gehaltene Frontseite des Klosters mit einer imposanten Freitreppe, die zum Haupteingang in etwa sechs Metern Höhe führte. Vermutlich, dachte Michalis, war das Kloster dadurch früher leichter gegen Angreifer zu verteidigen gewesen. Oberhalb der Treppe ragte ein Glockenturm auf, links und rechts davon wehten die griechische sowie die gelbschwarze Fahne der orthodoxen Kirche im Wind.

Unmittelbar vor der Treppe stand ein Notarztwagen. Ein junger Mann hantierte an einem Medizinkoffer.

»Kripo Chania«, stellte Michalis sich vor. »Sie haben uns gerufen?«

»Ja, beziehungsweise mein Chef. Er ist drinnen«, erwiderte der Mann und deutete auf die hohe Treppe.

»Wie geht es dem Verletzten?«, fragte Koronaios.

»Als wir ankamen, war er benommen und hat stark geblutet. Eigentlich wollten wir ihn ins Krankenhaus bringen, aber er hat sich geweigert. Mittlerweile ist er stabil.«

 

Hinter einem Portal mit einem imposanten Torbogen öffnete sich der große Innenhof des Klosters, in dessen Zentrum eine mächtige Klosterkirche mit drei runden Kuppeln stand. Die Wände, ebenfalls in rötlichem Ocker gestrichen, leuchteten warm und einladend. Überall blühten in großen Tongefäßen Pflanzen, und in Hochbeeten wuchsen Sträucher und kleine Bäume. Rechts neben der Klosterkirche führte der Überrest eines Kreuzgangs in die Tiefe und endete an einer Treppe, über die man zu den Gemächern der Mönche gelangte, deren Betreten allerdings verboten war. An diesem Kreuzgang saß ein Mann Mitte dreißig. Um den Kopf trug er einen Verband, sein weißes Hemd war voller Blut, und über der linken Augenbraue klebte ein großes, blutgetränktes Pflaster. Vor ihm stand der Notarzt und machte sich Notizen. Drei Mönche beobachteten die beiden. Die wenigen Besucher mieden diesen Bereich des Klosters.

Der Notarzt ging auf Michalis und Koronaios zu.

»Wahrscheinlich ist das hier keine Aufgabe für euch, aber die Situation war eigenartig«, erklärte er.

»Was war eigenartig?«, fragte Michalis.

»Der Mann behauptet, von oben sei ein Stein herabgefallen, er sei ausgewichen, gestrauchelt und mit dem Kopf gegen die Kante des Kreuzgangs geprallt.« Der Notarzt blickte zu dem Verletzten, der die Polizisten finster musterte. »Ich wüsste aber nicht, woher dieser Stein gekommen sein soll. Über dem Mann ist blauer Himmel, und ich habe auch keine Steinkante gefunden, an der Blut klebt. Vielleicht findet ihr ja was. Aber vor allem …« Der Notarzt sprach leise und deutete auf die Mönche, die in der Nähe standen. »Der Jüngste von ihnen glaubt, einen Streit gehört zu haben. Und bevor er den Bewusstlosen entdeckt hat, soll jemand weggerannt sein. Ein Mann. Das bestreitet der Verletzte aber.«

Der Mann, der bisher am Kreuzgang gesessen hatte, richtete sich auf.

»Kann ich jetzt endlich gehen?«, rief er dem Notarzt zu.

»Du hast alle Angaben?«, fragte Koronaios den Notarzt.

»Ich hab seinen Ausweis fotografiert. Zwischendurch wollte der Kerl schon abhauen. Den Mönchen wäre das wohl ganz recht gewesen. Die wollen ihre Ruhe.«

Michalis ging auf den Verletzten zu. Der hatte ein fülliges Gesicht, gewellte kurze dunkle Haare, und er trug einen etwas zu engen Anzug, dessen Sakko er ausgezogen hatte. Nicht nur sein Hemd, auch die Hose war voller Flecken. Seine Miene wirkte hochmütig, als würde er hier zu Unrecht festgehalten. Während Michalis sich ihm näherte, wich die Verärgerung des Mannes einer Irritation, als würde er Michalis kennen. Und auch Michalis hatte den Eindruck, ihn schon mal gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, wo oder wann.

»Kripo Chania«, sagte Michalis. »Wir würden gern erfahren, was hier passiert ist.«

»Das habe ich dem Arzt schon alles erzählt. Ich bin gestolpert und mit dem Kopf gegen eine Kante geprallt. Muss wohl kurz weg gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam, standen die Mönche um mich herum«, erwiderte der Mann herablassend.

»Und warum sind Sie gestolpert?«

»Da kam was von oben, wohl ein Stein, und ich wollte ausweichen. Kann ja passieren.«

»Natürlich. Und wo ist die Steinkante, auf die Sie gestürzt sind?«, fragte Michalis.

»Irgendwo hier«, erwiderte der Mann.

»Genauer wissen Sie das nicht?«

»Ich war bewusstlos. Wie soll ich mich denn da erinnern!«

Er wird wissen, dass an der Steinkante Blut sein müsste, wir aber keines finden werden, dachte Michalis.

»Die Mönche haben einen Streit gehört?«

»Keine Ahnung. Kann sein, dass hier jemand gestritten hat, ich war es jedenfalls nicht. War’s das? Oder gibt es Gründe, wieso mich die Polizei festhält?«

»Einen Moment noch, bitte«, antwortete Michalis. »Ich spreche kurz mit den Mönchen. Wenn die Ihre Angaben bestätigen, können Sie gehen.«

 

Die drei Mönche waren jedoch keine Hilfe. Der Jüngere, ein hagerer Mann, dessen braune Mönchskutte zu groß zu sein schien, hatte kurz geschorene dunkle Haare und einen scheuen Blick. Er hatte einen Mann weglaufen sehen, konnte sich angeblich aber nicht genauer erinnern. Weder wusste er, ob der Mann jung oder alt gewesen war, noch, ob er kurze, lange, helle oder dunkle Haare hatte. Zu dem angeblichen Streit sagte er nur, er habe laute Stimmen gehört. Je mehr Michalis nachfragte, desto unsicherer wurde der junge Mönch. An den strengen Blicken der zwei älteren, vollbärtigen Mönche erkannte Michalis, dass der junge Mönch nur sagen durfte, was sie genehmigt hatten. Im Kloster, auf dem Boden der orthodoxen Kirche, war die staatliche Macht unerwünscht, und die grauhaarigen Mönche wollten die Polizei so schnell wie möglich loswerden. Es war aussichtslos, mehr zu erfahren. Michalis bedankte sich und ging zurück zu Koronaios und dem Notarzt.

»Die Mönche werden uns nichts sagen.«

»Das war auch mein Eindruck«, erwiderte der Notarzt. »Der Jüngere hat am Anfang mit mir geredet, aber dann haben die anderen ihm das wohl verboten. Auch deshalb hab ich euch gerufen. Irgendetwas ist komisch an der Sache.«

»Vielleicht war es ja auch ein Ehestreit. Vermutlich hören wir nie wieder etwas davon«, sagte Koronaios. »Lassen wir ihn gehen? Der Herr ist ungeduldig.«

Der Mann hatte die letzten Sätze gehört, kam näher und sah den Notarzt an.

»Ich weiß ja nicht, was Ihre Aufgaben genau sind«, sagte er arrogant. »Aber Sie sollten es sich gut überlegen, ob Sie wegen so etwas die Polizei rufen. Das ist lächerlich.«

»Vielen Dank für den Hinweis. Ich werde daran denken, wenn ich das nächste Mal zu einem Bewusstlosen gerufen werde, der stark blutet«, erwiderte der Notarzt sarkastisch.

Verärgert ging der Mann Richtung Ausgang. Seine Schritte wirkten unsicher.

»Ich schick euch nachher alle Infos per Mail in die Polizeidirektion. Auch wenn ihr sie vermutlich nicht brauchen werdet«, erklärte der Notarzt und packte seine Sachen.

 

»Mir kam der Mann bekannt vor«, sagte Michalis, als sie im Dienstwagen die Allee mit den Zypressen passierten, deren harziger Duft die Luft erfüllte. »Ich kann mich allerdings nicht erinnern, wo ich ihn schon mal gesehen habe.«

»Geht mir ähnlich. Aber ich hab nie mit dem Mann gesprochen, da bin ich sicher. Ich hab schon überlegt, ob Galatia mit ihm zu tun hatte. Doch wenn du das Gesicht auch kennst, kann das ja nicht sein«, erwiderte Koronaios.

»Hast du den Namen des Mannes?«, fragte Michalis.

»Nein, aber der Notarzt schickt gleich alle Daten.«

Michalis nickte. Bisher war dieser Einsatz eine der Belanglosigkeiten, mit denen er und Koronaios seit Wochen von Jorgos beschäftigt wurden.

»Hast du deine Tochter gestern noch gesehen?«, erkundigte sich Michalis, als sie Richtung Flughafen abbogen. An den Straßenrändern blühte roter und weißer Oleander.

»O ja. Als ich nach Hause kam, hat Galatia so getan, als würde sie brav lernen. Ich hab sie zur Rede gestellt und ihr gesagt, dass wir sie vormittags im Piruni gesehen haben. Sie hat mich beschimpft und behauptet, ich würde lügen, und wie ich dazu käme, ihr nachzuspionieren. Das ganze Programm.« Koronaios schüttelte den Kopf. »Meine Frau war dann auch sauer, aber auf mich. Kannst dir vorstellen, was ich für einen Abend hatte. Ich bin froh, wenn Galatia nächstes Jahr das Abitur schafft und zum Studieren weit weg geht. Aber wahrscheinlich hab ich das Pech, dass meine reizende Tochter entweder durch die Prüfungen fällt und wiederholen muss oder dass sie in Chania oder Rethimnon studiert und uns als Hotel betrachtet. Da kann sie aber was erleben.«

Michalis bemühte sich, nicht zu grinsen, denn er wusste, wie sehr Koronaios seine Töchter liebte. Er hatte es kaum verkraftet, als Nikoletta, die Ältere, vor über einem Jahr wegen des Studiums nach Thessaloniki gezogen war, und wahrscheinlich würde es ihm in einem Jahr mit Galatia genauso gehen.

»Es ist jetzt kurz vor eins«, sagte Koronaios. »Vermutlich entlässt Jorgos uns wieder früh in den Feierabend, also können wir meinetwegen auf eine Mittagspause verzichten. Wir schreiben das Protokoll und hoffen, dass unser Chef uns nicht noch zu einem Taschendiebstahl schickt.«

»Ja, das machen wir«, stimmte Michalis zu, obwohl er unzufrieden war. Der verletzte Mann verheimlichte ihnen etwas, da war Michalis sicher, und normalerweise hätte er nicht lockergelassen. Doch die Wochen, in denen Jorgos ihn und Koronaios von allen ernsthaften Ermittlungen ferngehalten hatte, hinterließen langsam Spuren.

 

»Gab es im Kloster etwas Auffälliges?«, fragte Jorgos.

»Die Sache ist eigenartig«, erwiderte Koronaios. »Angeblich ist der Mann einem herabfallenden Stein ausgewichen und gestolpert. Aber über ihm war freier Himmel, und wir können uns nicht erklären, woher ein Stein gekommen sein soll. Und wir haben auch keine Stelle gefunden, gegen die er geprallt seine könnte.«

»Denkt sich der Verletzte das aus?«, fragte Jorgos.

»Ein junger Mönch hat einen Streit gehört und einen Mann wegrennen sehen. Das hatte er dem Notarzt noch erzählt, aber als wir da waren, hatten die anderen Mönche ihm wohl vorgeschrieben, was er sagen darf«, sagte Michalis.

»Das Schweigen hinter Klostermauern. Die orthodoxe Kirche hält nicht viel von unserer weltlichen Rechtsprechung. Was für uns die Vertuschung von Verbrechen wäre, kann für die Kirche das Bewahren der religiösen Ordnung sein«, erwiderte Jorgos. »Auf dem Gelände der Kirche haben wir kaum Befugnisse.«

»Der Notarzt schickt uns gleich alle Angaben. Ich hoffe, dass es nicht doch eine größere Sache ist und wir irgendwann feststellen, dass wir mehr hätten tun müssen«, sagte Michalis.

»Wenn die Mönche nicht wollen, dass wir ermitteln, erfahren wir auch nichts. Selbst bei einem konkreten Verdacht«, sagte Jorgos und ging zur Tür. »Dass ihr heute früh Feierabend macht, muss ich wohl nicht extra erwähnen.«

 

»Gut, fangen wir an.« Michalis öffnete am Computer die Datei, die der Arzt ihnen geschickt hatte, warf einen Blick auf den Ausweis des verletzten Mannes und stutzte.

»Was ist?«, fragte Koronaios.

»Der Mann war in Falassarna. Deshalb kommt er uns beiden bekannt vor. Das ist der Assistent von Hannahs Direktor«, sagte Michalis irritiert.

Vor zwei Monaten, bevor Michalis angeschossen worden war, hatten sie in dem Küstenort Falassarna im Nordwesten Kretas ermittelt. Nach einem anonymen Anruf hatten dort Archäologen den Bau eines Hotels gestoppt und dann Hinweise auf einen antiken Friedhof entdeckt. Aus ganz Kreta waren deshalb Archäologen nach Falassarna geströmt – darunter dieser Mann. Markos Papastamatakis. Jener Assistent am Archäologischen Museum, der gegen Hannah intrigierte und der ihr Konkurrent um die Stelle in der Presseabteilung war.

Auch Koronaios sah sich den Ausweis genauer an.

»Stimmt«, sagte er, »der war in Falassarna. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Hannah Probleme mit ihm, oder?«

»Ja, hat sie«, erwiderte Michalis. Es gefiel ihm nicht, dass sie heute auf einen unter unklaren Umständen verletzten Mann getroffen waren, der mit Hannah zu tun hatte.

Sie waren noch mit dem Protokoll beschäftigt, als auf Michalis’ Smartphone zweimal die Nummer seiner Mutter und dann die Nummer seines Bruders Sotiris aufleuchtete. Anders als Loukia rief Sotiris nur an, wenn es wirklich wichtig war, deshalb ging Michalis bei ihm ran.

»In einer Stunde kommt Vassilis, der Schwiegersohn des Onkels von Elenas Schwager«, sagte Sotiris. »Es geht um den Platz vor dem kleinen Museum und dem Yachthafen, und was wo stehen soll. Wäre gut, wenn du dabei bist.«

»Ich werde da sein«, sagte Michalis. Der Schwiegersohn des Onkels von Elenas Schwager betrieb in Athen einen Catering-Service und hatte angeboten, Tische und Stühle für die Hochzeitsgäste auf einen LKW zu laden und mit der Fähre nach Chania zu transportieren. Ein viel zu großer Aufwand, fand Michalis, aber dieser Schwiegersohn des Onkels von Elenas Schwager behauptete, das sei eine Frage der Ehre, und er wollte es auch umsonst machen. Vermutlich war er jemandem einen Gefallen schuldig.

»Hannah ist wohl noch in Heraklion?«, fragte Sotiris.

»Ich ruf sie an. Vielleicht kann sie ja früher gehen.«

»Ja, ich weiß, Loukia hat mich angerufen, ich bin schon auf dem Weg, kurz vor Rethimnon«, sagte Hannah, und Michalis hörte die Fahrgeräusche. »Ich bring eine Kollegin zum neuen Archäologischen Museum in Chania und komm von da aus direkt zum Athena.«

»Gut, bis nachher!«

6

Obwohl der Platz vor dem Athena mit dem kleinen Museum für historische Segelschiffe sowie der Bar des Yachthafens groß war, hatte Michalis befürchtet, dass er für fast tausend Gäste nicht groß genug sein könnte. Und Vassilis, der beleibte Schwiegersohn des Onkels von Elenas Schwager, war derselben Meinung.

»Ganz ehrlich«, sagte Vassilis, »das wird eng. Fast tausend Gäste. Das sind zwanzig Tischreihen mit je fünfzig Stühlen. Die passen so gerade hier hin, aber dann braucht ihr ja auch noch Platz zum Tanzen und für die Musik.«

Während Vassilis den Platz mehrfach abschritt, folgte ihm ein Pulk von Mitgliedern der Familie Charisteas sowie von Wirten der umliegenden Tavernen und Bars. Zahlreiche Touristen blieben stehen, um diese Prozession zu bewundern. Michalis stand in der Nähe des Athena und sah, wie Hannah aus dem Wagen stieg. Sie beobachtete das Treiben eine Zeitlang versonnen, ging dann zu Michalis, gab ihm einen Kuss und griff nach seiner Hand.

»Ich kann noch immer kaum glauben, was für ein riesiges Fest das wird«, sagte sie leise. »In Deutschland wäre es unvorstellbar, dass die Bar des Yachthafens dafür einfach schließt.«

Während Vassilis den Platz abschritt und im Geist Tischreihen aufbaute, wandte Michalis’ Vater sich an die Wirte der beiden Tavernen neben dem Athena und sprach leise mit ihnen. Nach einigen Minuten präsentierte er dann die Lösung.

»Das Poseidon und das Limani werden an dem Abend ebenfalls schließen. Also haben wir weitere hundert Meter Platz am Hafen entlang. Die beiden unterstützen uns auch mit dem Essen, ihre Küchen werden nur für uns da sein.«

Michalis beobachtete seine Mutter, die normalerweise sofort protestiert hätte. Doch auch ihr war klar, dass die Kapazitäten der Küche des Athena nicht ausreichen würden, um das Fest auszurichten.

»Das ist doch wunderbar!«, rief Vassilis und klatschte in die Hände. »Um die Bühne kümmert ihr euch ja«, sagte er, an Elena gewandt. »Ich muss nur wissen, wo sie genau steht.«

Damit sprach er einen Punkt an, über den in der Familie Charisteas bereits hartnäckig gestritten worden war. Takis und Loukia wünschten sich, die Musiker direkt vor dem Athena zu postieren, weil das der Mittelpunkt der Familie Charisteas und im Lauf des Abends dann auch der Mittelpunkt der Hochzeitsfeier sein würde. Elena hingegen wollte die Bühne am Ende des Platzes vor der Mole aufbauen lassen. So war es bei ihrer Hochzeit gewesen, und es hatte sich bewährt. Und obwohl Michalis seiner großen Schwester nur ungern recht gab, erschien das auch ihm sinnvoll, denn viele Gäste würden sonst sehr weit vom Hochzeitspaar und ihren Familien entfernt sitzen. Außerdem bot sich der Platz vor der Bar des Yachthafens zum Tanzen an. Es gab jedoch einen Grund, warum seine Eltern es sich anders wünschten: Vor fast fünfzig Jahren, als Loukia und Takis hier geheiratet hatten, hatten die Musiker direkt vor dem Athena gestanden. Bei den Hochzeiten von Elena und Sotiris hatte Loukia sich nicht durchsetzen können, und die Hochzeit von Michalis war ihre letzte Möglichkeit als Mutter, es noch einmal so wie damals zu erleben.

Hannah zog Michalis zur Seite.

»Wollen wir Loukia einfach den Gefallen tun? Die Musik im Mittelpunkt der Feier, das passt doch auch zu Kreta«, flüsterte sie Michalis zu.

Bisher war Michalis hin- und hergerissen gewesen. Doch wenn jetzt auch seine zukünftige Ehefrau dafür war, dann würden die Musiker eben direkt vor dem Athena spielen.

»Aber das ist unpraktisch!«, rief Elena, als Michalis verkündete, was er und Hannah entschieden hatten. Er sah, wie sehr die Augen seiner Mutter strahlten, und da wusste er, dass nur diese Entscheidung richtig sein konnte.

Vassilis, der Schwiegersohn des Onkels von Elenas Schwager, war davon ausgegangen, noch am Abend nach Athen zurückzufliegen, doch da hatte er die Gastfreundschaft der Familie Charisteas unterschätzt. Für Takis und Loukia war es undenkbar, dass dieser Mann, den sie bisher nur bei Hochzeiten gesehen hatten, abreiste, ohne ausgiebig bewirtet worden zu sein. Takis holte seinen besten Raki aus dem Keller, und nach sehr viel Essen und sehr viel Raki war es Vassilis nur recht, dass Sotiris in der Zwischenzeit ein Hotelzimmer für ihn reserviert hatte.

 

So schön diese kleine Feier auch war, Michalis war den ganzen Abend nicht mit Hannah allein und konnte sie deshalb auch nicht nach Markos Papastamatakis fragen. Erst als sie später nach Hause gingen, erzählte er ihr, was in Aghia Triada passiert war.

»Markos war bewusstlos und voller Blut?«, fragte Hannah ungläubig. »Und ihr glaubt, es war kein Unfall?«

»Für mich klingt es, als hätte er in Aghia Triada einen Streit gehabt, von dem niemand etwas wissen soll.«

»Ich hab Markos heute im Museum nicht mehr gesehen, aber das heißt nichts. Ich bin ja froh, wenn ich ihm nicht begegnen muss«, sagte Hannah nachdenklich.

»Könnte er dienstlich im Kloster zu tun gehabt haben?«

»Das Museum hat in drei Wochen eine Veranstaltung dort, unser Direktor hält einen Vortrag. Kann sein, dass Markos das vorbereitet hat.«

»Könnte er auch etwas anderes in Aghia Triada gewollt haben?«, fragte Michalis.

»Keine Ahnung. Es gibt Gerüchte, dass er manchmal mit Studentinnen oder Urlauberinnen abends zu antiken Stätten fährt, um sie zu beeindrucken. Angeblich hat ihn der Freund einer Urlauberin deshalb mal verprügelt. Aber das sind Gerüchte, und dafür würde er ja nicht in ein Kloster gehen«, erwiderte Hannah und blieb stehen. Sie hatten die Odos Epimenidou erreicht und konnten von hier bis zum nächtlichen Meer blicken. Der Himmel war sternenklar, und das Licht des dreiviertelvollen Mondes glitzerte auf dem ruhigen Wasser.

Hannah zog Michalis zu sich und küsste ihn.

»So etwas wie heute Abend … Ich hab ja immer gewusst, wie wichtig die Familie auf Kreta ist. Und allmählich begreif ich so richtig, was das bedeutet. Aus ganz Griechenland kommen Verwandte, Freunde und Bekannte. Wegen uns beiden.Für einen einzigen Tag. Und bald bin ich dann auch eine von euch.« Michalis sah, wie gerührt Hannah war. »Mein Leben wird danach nie mehr so sein wie bisher. Manchmal macht mir das Angst.«

»Unser Leben wird so sein, wie wir es wollen. Und nicht, wie meine Familie es will. Das habe ich dir versprochen, das verspreche ich dir auch noch tausendmal.«

»Ja«, sagte Hannah, »aber dann gibt es ja auch noch meine buckelige Verwandtschaft. Je näher das Fest rückt, desto absurder erscheint es mir, dass mein Vater unbedingt kommen will. Manchmal hoff ich, dass er noch absagt. Ich kann nur beten, dass es nicht fürchterlich peinlich wird mit ihm.«

»Darum wird sich mein Vater kümmern«, sagte Michalis ernst. »Er hat dich gedrängt, deinen Vater einzuladen. Wenn es Probleme gibt, wird Takis das in die Hand nehmen. Und er ist gut mit so etwas.«

»Du meinst, er wird meinen Vater so lange mit Raki abfüllen, bis er friedlich ist?«, sagte Hannah und lachte.

»Ja, das wohl auch. Aber er wird vor allem versuchen, ihm das kretische Leben zu zeigen. Siga, siga – ganz langsam. Dein Vater wäre nicht der Erste, der nach ein paar Tagen Kreta entspannter ist.«

»Wollen wir es hoffen. Aber unterschätz meinen Vater nicht. Lothar Weingarten kann sehr lustig sein, aber er war auch schon immer eigensinnig und gefällt sich darin, unberechenbar zu sein. Es kann passieren, dass er sich am ersten Abend zusammenreißt und am nächsten Tag unerträglich ist. Oder umgekehrt«, erwiderte Hannah und schüttelte sich kurz.

7

»Was ist passiert?«

Michalis saß im Büro und starrte ungläubig auf sein Smartphone. Es war noch früher Morgen, und er hatte nicht damit gerechnet, dass es einen Todesfall geben würde – bis Hannah ihn anrief.

»Markos ist tot«, sagte Hannah am Handy. Sie war heute schon sehr früh nach Heraklion aufgebrochen. »Er lag tot in Knossos. Im Palast.«

Michalis winkte Koronaios aufgeregt zu sich, der auf dem Flur mit Myrta sprach. »Markos Papastamatakis ist tot!«, rief er, und Koronaios kam sofort zu ihm.

»Und wie ist das passiert?«, fragte Michalis.

»Viel weiß ich nicht. Er ist wohl von den Restauratoren gefunden worden, unten im Großen Treppenhaus. Das ist seit Jahren wegen Renovierung geschlossen, deshalb wurde er nicht früher entdeckt«, sagte Hannah.

»Und hast du etwas gehört, gibt es Hinweise auf einen Kampf, Schüsse oder Messerstiche oder was anderes?«, fragte Michalis.

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass seine Leiche gefunden wurde. Mehr nicht.«