Kretischer Abgrund - Nikos Milonás - E-Book
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Kretischer Abgrund E-Book

Nikos Milonás

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Beschreibung

Ein heißer Sommer auf Kreta und Kommissar Michalis Charisteas ist einem kaltblütigen Mörder auf der Spur – der zweite Band der Kreta-Krimiserie von Nikos Milonás Es ist der heißeste August seit langem. Selbst für uns Kreter, denkt Kommissar Michalis Charisteas mit einem mitleidigen Blick auf seine deutsche Freundin Hannah, die das erste Mal im Hochsommer in der Hafenstadt Chania zu Besuch ist. Bis er selbst bei 40 Grad im Schatten ermitteln muss. In der bekannten Samaria-Schlucht wurde eine junge Frau ermordet aufgefunden. Ein Eifersuchtsdrama, wie es scheint, und schnell ist ein Verdächtiger ohne Alibi verhaftet. Zu schnell für Michalis' Geschmack. Doch spätestens als es einen weiteren Toten gibt, dieses Mal im beschaulichen Paleochora, wird klar, dass sich auf der Insel etwas ganz anderes in tödlicher Gewalt entlädt. Der zweite Fall für Kommissar Michalis Charisteas.

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Seitenzahl: 458

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Nikos Milonás

Kretischer Abgrund

Ein neuer Fall für Michalis Charisteas

FISCHER E-Books

Kreta ist eine Wiege, ein Instrument, ein vibrierendes Reagenzglas, in welchem ein vulkanisches Experiment durchgeführt wurde. Kreta vermag den Geist zum Schweigen zu bringen, den Aufruhr der Gedanken zu stillen.

 

Henry Miller, Der Koloß von Maroussi

 

 

Wirf Feuer auf meinen Schmerz, um meine Tränen zu vermehren, denn die Wunde, die du geöffnet hast, wird nie verheilen.

 

Traditionelle kretische Mantinada

Personenverzeichnis

Michalis Charisteas, Mitte 30, Kommissar in Chania

Hannah Weingarten, Anfang 30, Kunsthistorikerin

 

Sotiris Charisteas, Bruder von Michalis, Wirt des Athena

Takis Charisteas, Vater von Michalis, Wirt des Athena

Loukia Charisteas, Mutter von Michalis

 

Elena Chourdakis, ältere Schwester von Michalis

Theo Chourdakis, Sohn von Elena, zehn Jahre alt

Nicola Charisteas, Frau von Sotiris

Sofia Charisteas, Tochter von Sotiris, neun Jahre alt

Loukia Charisteas, Schwester von Sofia, sieben Jahre alt

Markos Chourdakis, Schwager von Elena

 

Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission von Chania

Pavlos Koronaios, Partner von Michalis

 

Myrta Diamantakos, Assistentin in der Polizeidirektion

Ioannis Karagounis, Leitender Kriminaldirektor von Chania

Kostas Zagorakis, Chef der Spurensicherung

Dimitrios, Mitarbeiter Spurensicherung

Lambros Stournaras, Gerichtsmediziner Chania

Galatia, Nikoletta, Töchter von Koronaios, siebzehn und neunzehn Jahre alt

 

Manolis Votalakos, Ranger

Meropi Torosidis, Assistentin von Kyriakos Papasidakis, 1. Mordopfer

Teresa Kapsis, Freundin von Meropi

Jannis Dalaras, Verlobter von Meropi

Valerios Vafiadis, Geliebter von Meropi

 

Savina Galanos, Controllerin, Angestellte von Kyriakos Papasidakis

Panagiotis Galanos, Bruder von Savina

Leonidas Seitaris, Kapitän des Ausflugsboots, 2. Mordopfer

Theo Seitaris, Bruder von Leonidas

Amanta Seitaris, Ehefrau von Leonidas, Schwester von Savina

Timos Kardakis, Angestellter von Leonidas Seitaris

 

Kyriakos Papasidakis, Inhaber von Psareus, betreibt Fischfarmen

Anestis Papasidakis, jüngerer Bruder von Kyriakos, Klempner, zukünftiger Betriebsleiter

Efthalia Papasidakis, Mutter von Anestis und Kyriakos

Petros Bouchadis, Bauleiter der Fischfarm

Stavros Nikopolidis, Bauunternehmer

 

Stefanos Tsimikas, Polizeistation Paleochora

Odysseas Koutris, Bürgermeister von Paleochora

Nikos Kritselas, Chef der Mordkommission Heraklion

 

u.a.

1

Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht allein hierherzu- kommen. Vielleicht …

Vielleicht hätte sie einfach heute früh neben Valerios liegen bleiben und mit ihm frühstücken sollen. Stattdessen hatte sie stur seine Warnungen vor den Temperaturen ignoriert, hatte den ersten Bus genommen und musste sich jetzt, mitten in dieser Schlucht und bei sengender Hitze, dringend ausruhen. Ihr Top klebte ihr unter dem kleinen, rosafarbenen Wanderrucksack schweißnass am Rücken. Erschöpft trank sie ihre Wasserflasche fast leer. Am nächsten Rastplatz würde sie diese nachfüllen müssen.

Im Schatten an eine Kermeseiche gelehnt, beobachtete sie die nicht enden wollende Schlange von Menschen, die schwitzend durch die Samaria-Schlucht nach unten wanderten. In einigen Stunden würden sie alle die Küste bei Agia Roumeli erreicht haben, auf die Fähren steigen, und später zu Hause stolz von diesem Tag erzählen, an dem sie trotz der drückenden Hitze bereits morgens um sieben Uhr aufgebrochen waren.

Sie wünschte, es wäre Abend und sie wäre bereits auf der Fähre oder sogar schon zurück im Hotel bei Valerios. Und sie verfluchte ihre Sturheit, allein und an einem der heißesten Tage des Jahres durch diese Schlucht zu wandern. Doch je mehr Valerios und auch ihre Kollegin sie gedrängt hatten, diese Tour zu verschieben, desto unbeirrter hatte sie darauf beharrt. Und hatten ihr andere Wanderer nicht abends im Hotel berichtet, die Temperatur sei in der Schlucht nicht so schlimm, wenn man nur früh genug losging? Außerdem wollte sie das, was sie seit Wochen quälte, einfach mal für einen Tag hinter sich lassen. Doch natürlich hatte sie auch hier die Frage eingeholt, wie es wäre, ganz auf Kreta zu bleiben und mit Valerios ein neues Leben zu beginnen. Könnte sie wirklich alles hinter sich lassen und sich hier einen Job suchen?

War das ein völlig unsinniger Gedanke?

 

Sie erreichte ein Waldstück, doch der Schatten endete schon nach wenigen Minuten, und die gigantischen, bizarr geformten Felswände ragten erneut steil neben ihr auf. An dem letzten Rastplatz bei Nero tis Perdikas hätte es Wasser gegeben, aber dort hatten sich schon viele andere Wanderer gedrängt. Immer wieder war ihr, auch im Hotel, versichert worden, eine Wasserflasche würde auf der Wanderung ausreichen, denn sie könnte sie an jedem der zahlreichen Rastplätze mit Trinkwasser nachfüllen. Von den Schautafeln am Weg wusste sie zwar, dass noch mindestens zwei Stunden bis zum Ausgang der Schlucht vor ihr lagen, doch sie hatte sich nicht gemerkt, wann sie die nächste Wasserstelle erreichen würde.

Einige hundert Meter weiter führte links ein ausgetrocknetes Bachbett mit Steinen und Geröll nach oben. Dort standen einige Bäume und ließen sie auf Schatten und Ruhe hoffen. So schnell es ihre zitternden Beine zuließen, folgte sie dem Bach.

Unter einem Johannisbrotbaum ließ sie ihren Rucksack fallen und sackte zu Boden. Fliegen umkreisten ihre Beine, und sie spürte, wie ihr das Blut in den Ohren pochte.

 

In einem Reiseführer hatte sie gelesen, dass es in der Schlucht nur an sehr wenigen Stellen Empfang zum Telefonieren gab, doch sie wusste nicht, wo das sein könnte, und hielt ihr Handy einfach in die Luft. Immerhin wurde ein Balken angezeigt, und sie sah, dass Valerios ihr ein Herz geschickt hatte. Heute früh, als er ihr diese Wanderung ausreden wollte, hatte sie ihn ein bisschen zu schroff angefahren. Neben all seinen anderen guten Eigenschaften, dachte sie lächelnd, war Valerios also auch nicht nachtragend. Dieser Gruß des Mannes, den sie seit drei Wochen liebte, machte ihr Mut, doch plötzlich erschien auf ihrem Display auch der Name »Jannis«. Sie wusste, dass sie mit ihm reden musste, aber nicht jetzt.

Auch von ihrer Kollegin war eine Nachricht gekommen; sie wollte besorgt wissen, wie sie in der Schlucht mit der Hitze zurechtkam. Am Anfang hatte sie ihre Kollegin nicht sonderlich leiden können, doch mittlerweile war sie eine Vertraute geworden, und sie hatte ihr heute früh Fotos vom Eingang der Schlucht geschickt.

Ein Balken auf dem Handy, das könnte genug Empfang sein, um Valerios anzurufen. Als sie wählen wollte, war der Balken jedoch wieder verschwunden. Mühsam stand sie auf und ging ein paar Schritte nach oben, vielleicht war das Netz ja besser, je höher sie stieg. Vor ihr ragte eine imposante Steilwand auf, und rechts lag ein Geröllfeld. Sie hielt sich links, hörte hinter sich das Knacken von Zweigen und sah, dass ein dunkel gekleideter Mann an einem Feigenbaum lehnte. Sicher ein Wanderer, der wie sie Schatten und Erholung suchte, redete sie sich ein, trotzdem stieg leichte Panik in ihr auf. Sie war hier ganz allein, der Wanderweg lag fast hundert Meter entfernt. Woher kam dieser Mann so plötzlich?

Sie hielt ihr Handy nervös in die Höhe – endlich Empfang. Kaum hatte sie die Nummer von Valerios gewählt, verschwand der Balken wieder, und sie überlegte, noch weiter nach oben zu gehen. Vielleicht gab es auf einem der Berge einen Sendemast, der bis hierher reichte.

Sie hatte ihn zwar nicht zurück zum Wanderweg gehen sehen, aber der dunkel gekleidete Mann war verschwunden. Bestimmt war ihre Angst übertrieben gewesen, und Valerios würde sie liebevoll auslachen, wenn sie ihm heute Abend davon erzählte. Sie wollte jetzt unbedingt seine Stimme hören, also stieg sie, so schnell es ihre Kräfte zuließen, weiter nach oben. Sie kam an einer Tamariske vorbei und passierte einen scharfkantigen Felsrücken, der das Geröllfeld von dem ausgetrockneten Bachlauf trennte. Ein verblühter Oleanderstrauch wuchs neben einer glatten Felswand, vor der sie stehen blieb und feststellte, dass sie sogar zwei Balken auf ihrem Display hatte. Sie wählte Valerios’ Nummer, doch dann sah sie aus dem Augenwinkel plötzlich die dunkle Männergestalt oberhalb der Felswand vorbeihuschen.

Wieder raste ihr Herz. Vorhin war es die Hitze gewesen, jetzt war es aufkommende Angst. Sie wollte so schnell wie möglich zurück auf den Wanderweg, steckte ihr Handy weg und ging los. Aber bereits nach wenigen Schritten hörte sie direkt hinter sich das Knacken von Zweigen.

Sie drehte sich um und nahm noch in der Bewegung unmittelbar vor sich einen großen, kantigen Stein in einer kräftigen Männerhand wahr.

Und bevor sie hätte schreien können, traf dieser Stein hart an ihrer Schläfe auf, riss ihren Kopf zur Seite und raubte ihr die Sinne.

2

Das Meer war spiegelglatt. Nur hin und wieder hoben Wellen den Bug des kleinen offenen Motorboots etwas aus dem Wasser. Immerhin ging hier draußen ein leichter Wind, und die Luft war nicht mehr so unerträglich heiß wie an Land. Den Leuchtturm am Ende der Hafenmole von Chania konnte man im gleißenden Sommerlicht kaum noch erkennen. Das Blau des Himmels war jetzt im August einem fast unwirklichen Weiß gewichen.

Michalis sog die salzige, nach Algen, Muscheln und Fisch duftende Luft ein, schob die Sonnenbrille hoch und blickte auf die Uhr. Kurz nach elf. Gegen zwei, hatte Hannah gesagt, wollte sie fertig sein, und dann würde er sie abholen. Bis um zwei Uhr waren sie mit dem Boot auf jeden Fall zurück. Und es war gut, seine Familie bis dahin nicht sehen zu müssen.

»Da drüben! Das sind sie!« Pandelis riss Michalis aus seinen Gedanken. »Die treiben tatsächlich auf Agii Theódori zu.«

Pandelis saß, mit seinem dunkelblauen Hemd und seinem sonnengegerbten, trotz der vielen Falten jugendlich wirkenden Gesicht, an der Ruderpinne des Außenbordmotors und hatte das kleine Fischerboot lange vor Michalis entdeckt. Michalis kniff die Augen zusammen, schob die Sonnenbrille wieder runter und entdeckte, was Pandelis meinte. Im Gegenlicht trieb vor der unbewohnten Felseninsel Agii Theódori ein blau-weißes Boot mit einfacher Kajüte.

Am Steuer dieses kleinen Fischerboots, der Livada, stand Theocharis, der Vater von Pandelis. Er hatte seinen Sohn vor einer knappen Stunde angerufen, weil er manövrierunfähig auf die kleine Insel zutrieb: Eine Meeresschildkröte, eine caretta, hatte sich in seinem Netz verfangen, und da Theocharis die Schildkröte nicht verletzen und auch sein Netz nicht verlieren wollte, war er einen Bogen gefahren und hatte gehofft, das Tier könnte sich selbst befreien, sobald das Netz nicht mehr gestrafft war. Doch die Meeresschildkröte hing ebenso fest wie das Netz, das bei dem Manöver in die Schraube des Fischerbootes geraten war und sich so lange um den rotierenden Propeller gewickelt hatte, bis dieser blockierte. Und weder Theocharis noch sein Gehilfe konnten schwimmen und schon gar nicht tauchen, und deshalb konnten sie auch die Schiffsschraube nicht befreien.

 

Kurz bevor sie die Livada erreichten, drosselte Pandelis den Motor.

»Übernimmst du?«

Michalis nahm die Ruderpinne des Außenborders und steuerte langsam auf das Fischerboot zu, während Pandelis sein Hemd und seine Hose auszog. Er legte Taucherflossen und die Taucherbrille bereit und schnallte sich über seiner Badehose einen Gürtel um, an dem ein langer dünner Schaft mit einem scharfen Messer befestigt war.

 

»Diese Schildkröten werden immer mehr«, schimpfte Theocharis, als sie die Livada erreicht hatten. »Alle wollen diese Viecher schützen, aber wir haben sie jetzt immer öfter im Netz.«

Tatsächlich war Michalis zu Ohren gekommen, dass sich die Meeresschildkröten, von denen es vor einigen Jahren nur noch wenige Exemplare gegeben hatte, wieder vermehrt hatten. Und weil die Touristen davon so begeistert waren, waren es natürlich jene Kreter, die von den Touristen lebten, auch. Nur die Fischer fluchten.

 

Das Handy von Michalis klingelte. Er warf einen kurzen Blick auf das Display, las »Takis«, den Namen seines Vaters, und hob nicht ab. Bei Hannah wäre er rangegangen, doch er ahnte, was seine Familie von ihm wollte, und das konnte ruhig noch ein paar Stunden warten.

Das blaue Wasser kräuselte sich leicht, und Michalis steuerte das Boot so, dass es sich ganz langsam der Schildkröte, die im Netz hing und sich nur hin und wieder bewegte, näherte.

»Zieht das Netz vorsichtig stramm, dann komm ich besser ran!«, rief Pandelis seinem Vater zu und glitt über Bord.

Aus der Nähe war zu erkennen, dass sich lediglich die hinteren Paddeln sowie ein Teil des Panzers im Netz verfangen hatten. Die Meeresschildkröte hob den Kopf immer wieder über die Wasseroberfläche und wurde unruhig, als Pandelis vorsichtig zu ihr schwamm, sein langes, scharfes Messer aus dem Gürtel nahm und das Netz behutsam so aufschnitt, dass möglichst kein Garn an Paddeln und Panzer zurückblieb. Nach wenigen Minuten war die Schildkröte befreit, hob den Kopf noch einmal aus dem blauen Wasser und verschwand dann in der Tiefe.

 

Den Propeller des Bootes zu befreien war schwieriger, denn das dünne Garn hatte sich nicht nur um die Flügel des Propellers gewunden, sondern sich auch stramm um die Gelenkstange gewickelt. Pandelis musste mehrfach tauchen und fluchte jedes Mal, wenn er mit einem herausgeschnittenen Stück des Netzes zum Atmen an die Oberfläche kam.

Schließlich aber hatte er es geschafft. Theocharis und sein Gehilfe starteten den Motor und holten vorsichtig das Netz ein. Michalis konnte sehen, dass nur wenige Fische im Netz hingen, obwohl Theocharis einige hundert Meter Netz ausgeworfen hatte.

»Das ist nur noch ein besseres Hobby meines Vaters.« Pandelis hatte den Blick von Michalis bemerkt. »Weit draußen, da gibt es noch Fischschwärme, aber hier in Küstennähe fängt er kaum noch etwas.«

Im Netz waren kleinere Brassen und Barben sowie ein größerer Roter Knurrhahn, doch einige sehr kleine Meeräschen warf der Gehilfe sofort wieder über Bord. Immerhin hielt Theocharis winkend eine Languste hoch, als Pandelis schon wieder Kurs auf die Küste genommen hatte.

 

Je näher sie dem schlanken, sandfarbenen Leuchtturm von Chania kamen, desto stärker wurde das ungute Gefühl, das Michalis schon, seit er am Morgen ins Athena gekommen war, verspürte. Normalerweise war die Fischtaverne seiner Familie immer der Ort, an dem er sich am wohlsten fühlte, aber seit einigen Tagen verfielen seine Eltern häufig in vorwurfsvolles Schweigen, wenn er dort auftauchte. Und auch sein Bruder Sotiris, der mit dem Vater zusammen das Athena führte, schien sich wegen Hannah Sorgen zu machen.

Michalis hatte ein paarmal versucht, seiner Familie zu erklären, warum seine Freundin trotz der enormen Hitze jeden Tag arbeitete. Hannah stand unter großem Zeitdruck, denn in sechs Monaten musste sie ihre Doktorarbeit über El Greco, den berühmten, auf Kreta geborenen Maler, abgegeben haben. Ihr Doktorvater von der Berliner Humboldt-Universität brauchte Hannah aber auch dringend als Assistentin, da er an der Planung einer großen Ausstellung beteiligt war, die in drei Jahren in Berlin, Athen und im spanischen Toledo stattfinden sollte: El Greco und die Moderne. Ein riesiges Projekt, bei dem Hannah auf einen Job nach dem Abschluss ihrer Promotion hoffte und dafür sogar am Wochenende zumindest einen halben Tag arbeitete.

 

Schon vor der Hafenmole mischte sich in den Geruch von Meer und Algen der intensive Duft, der jetzt im Hochsommer über dem Land lag. Kräftiger Oregano, würziger Thymian und Salbei, und der herbe Duft der Macchia, die überall dort, wo der Boden braun und verdorrt war, wuchs. Und kaum hatten sie den Leuchtturm passiert, da schlug ihnen auch schon die heiße Luft entgegen, die nicht einmal nachts aus den Häusern wich. Trotz der Hitze waren die Uferpromenaden des wunderschönen venezianischen Hafens wie immer voller Urlauber.

Es war bereits halb eins, als Michalis auf den Anleger sprang und das kleine Motorboot vertäute. Vielleicht wäre es besser, überlegte Michalis, gar nicht erst ins Athena zu gehen, sondern gleich in ihre Wohnung in die Odos Georgiou Pezanou, bis Hannah sich meldete. Doch die Familie hatte Michalis natürlich längst bemerkt, und Sofia, die älteste Tochter seines Bruders Sotiris, kam auf ihn zugerannt.

»Dürfen wir mit, wenn ihr nachher an den Strand fahrt? Bitte!«, rief die Neunjährige schon von weitem. »Hier ist es so langweilig!«

Michalis wusste genau, was Sofia meinte. Auch für ihn waren als Kind die Sonntage oft unerträglich lang gewesen, wenn seine Eltern sich im Athena um die Touristen kümmerten und seine älteren Geschwister Sotiris und Elena ihnen dabei helfen mussten. Andererseits gab es nur noch diesen Sonntag und hoffentlich das nächste Wochenende, dann würde Hannah nach Berlin zurückfliegen und sich das nächste halbe Jahr ausschließlich mit ihrer Doktorarbeit und ihrer Zukunft als Wissenschaftlerin beschäftigen.

»Oder mag Hannah mich auch nicht mehr?« Sofia hatte bemerkt, dass Michalis nicht sofort geantwortet hatte.

»Was? Nein, wie kommst du denn auf so was?«

»Weil sie nicht mehr mit uns spielt und immer so ernst ist und kaum noch redet.«

Ja, das stimmte, und seine Familie verstand einfach nicht, warum Hannah mit ihren Gedanken oft woanders war. Für seine Eltern, seine Geschwister und die vielen Nichten und Neffen verhielt Hannah sich eigenartig und nicht so unbeschwert wie sonst. Und auch wenn es niemand direkt sagte, so spürte Michalis, dass seine Familie bezweifelte, ob er auf Dauer mit einer Deutschen, die schon jetzt immer ernster und humorloser zu werden schien, glücklich sein könnte.

»Ich frag Hannah, sobald sie mich anruft, okay?«, sagte Michalis eilig.

Sofia rannte lachend zurück zum Athena, und Michalis ahnte, dass es etwas gab, was Sofia im Gegensatz zu ihm längst wusste.

 

Als Michalis sich kurz darauf im Athena an den Tisch seines Vaters Takis setzte und sein Bruder Sotiris ihm einen Frappé hinstellte, erfuhr er, dass Sofia in der letzten Stunde so lange gequengelt hatte, bis Takis ihr sein Handy gegeben und sie dann erst Michalis, und als er auf dem Meer nicht rangegangen war, Hannah selbst angerufen hatte. Und Hannah hatte erklärt, dass Sofia Michalis fragen sollte, sie hätte nichts dagegen, wenn die Kinder mitkämen.

Michalis trank seinen Frappé und betrachtete das hektische Treiben um sich herum. Wenn siga, siga – langsam, langsam – gern als das Lebensgefühl der Kreter gepriesen wurde, so galt das nicht für seine Familie in der Hochsaison. Sotiris und die zwei Kellner konnten sich kaum mal eine Pause gönnen, und in den letzten Wochen hatte auch Michalis’ Schwester Elena immer öfter ausgeholfen.

»Nehmt ihr die Kinder nachher mit?« Elena war mit einem Tablett voller leerer Gläser kurz zu Michalis an den Tisch gekommen und tupfte sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn. »Wäre gut, dann brauchen wir uns um sie nicht auch noch kümmern.«

»Ja, machen wir«, erwiderte Michalis und sah ebenso wie Elena, dass Takis sich auf dem Weg zu einem Tisch, an dem Gäste bezahlen wollten, kurz an einem Stuhl festhalten musste.

»Unser Vater gefällt mir heute nicht«, sagte Elena leise. »Es ist einfach zu heiß für ihn. Wir lassen ihn schon keine Gerichte mehr rausbringen, aber er will sich einfach nicht ausruhen. Dabei hätte er eine Pause dringend nötig, das siehst du ja.«

Ja, das war Michalis nicht entgangen. Nach seinem Unfall vor drei Jahren war Takis nicht mehr so belastbar wie früher, und seit einigen Tagen, als es so heiß geworden war, sah er blass aus und wirkte schneller erschöpft. Als stolzer Kreter wollte er das aber natürlich nicht zugeben.

 

Eine Stunde später erreichte Michalis außerhalb von Chania das Gelände der Technischen Universität. Auf dem Rücksitz des Wagens saß nicht nur Sofia, sondern auch ihre jüngere Schwester Loukia sowie Theo, der Sohn von Elena.

Michalis hielt vor einem rot-braunen Betonbau mit seinen schlichten weißen Säulen, in dem die Bibliothek lag. Wie an den meisten der in den achtziger Jahren gebauten Gebäuden der Uni platzte auch hier der Putz ab, doch Hannah hatte herausgefunden, dass die Bibliothek eine funktionierende Klimaanlage besaß. Und da Hannah bei den hohen Temperaturen eigentlich nicht arbeiten konnte, hatte sie zu einer jungen Architektur-Dozentin Kontakt aufgenommen und durfte sich, da im Hochsommer kaum ein Student hier war, zu den Öffnungszeiten in die Bibliothek zurückziehen.

Auch das war etwas, was die Familie Charisteas beunruhigte, und wenn er ehrlich war, dann war auch Michalis irritiert, wie schnell Hannah auch ohne ihn und seine Familie auf Kreta Probleme löste. Aber Hannah war eben eine leidenschaftliche und hartnäckige Wissenschaftlerin, und Michalis liebte sie auch deshalb.

»So, das hier will ich bis morgen früh nicht mehr sehen.« Hannah legte ihre Tasche in den Kofferraum und musste schmunzeln, als sie neben den Strandsachen auch zwei riesige Kühltaschen sah.

»Deine Mutter …?«, fragte Hannah grinsend.

»Du weißt doch, meine Mutter glaubt, dass man nur an den Strand fährt, um zu essen.«

»Und sie hat bestimmt köstliche Sachen eingepackt.«

»Natürlich …«

 

Die Bucht von Stavros war für Kinder ideal zum Baden, denn sie lag, wie eine Lagune durch eine schmale Landzunge geschützt, vor dem Meer und hatte weichen Sandstrand. Hinter dieser Bucht ragten die beeindruckenden Felsen des Vardies auf, und Hannah entdeckte sofort die großen Schilder mit Schwarzweißfotos von Anthony Quinn: »This is the beach of Zorba.«

»Ist hier etwa der Film ›Alexis Sorbas‹ gedreht worden?«, fragte Hannah beeindruckt.

»Offenbar. Kann sein.« Michalis zuckte mit den Schultern. Er wusste, dass der Film auf Kreta gedreht worden war, aber er hatte nie darüber nachgedacht, wo genau.

 

Die Kinder rannten sofort ins Wasser, während Michalis erst einmal nur bis zu den Knöcheln hineinging.

»Das Meer ist für die Fische. Ich wüsste nicht, was ich auch noch da drin soll«, hatte sein Vater oft gesagt und seinen Kindern nie das Schwimmen beigebracht. Sotiris schaffte es mittlerweile immerhin, beim Baden mit den Kindern nicht unterzugehen, und auch Michalis war erst in den letzten Jahren durch Hannah zu einem passablen Schwimmer geworden. Am liebsten hätte er nur zugesehen und sich gefreut, wie ausgelassen die Kinder waren und wie erleichtert Hannah wirkte, wenn sie mal nicht an ihre Arbeit dachte.

Am Himmel waren Kondensstreifen zu erkennen, und Michalis blickte zwei Flugzeugen nach, die vom nahen Flughafen gestartet waren. In einer Woche würde Hannah in so einer Maschine sitzen, doch bevor ihn der Gedanke, dass sie sich dann monatelang nicht sehen würden, wehmütig machen konnte, zerrte Sofia ihn ins Meer und wollte auf seine Schultern klettern, um von dort ins Wasser zu springen. Und das wollten natürlich auch die anderen beiden. Eigentlich war das ein großer Spaß, doch da sich Loukia gern am dunklen Vollbart von Michalis festhielt, bevor sie sprang, nutzte er die erstbeste Gelegenheit, um zurück an den Strand zu laufen.

 

Die Kühltaschen blieben heute geschlossen. Michalis und Hannah hatten noch keinen Hunger, und die Kinder bestanden darauf, von Hannah in einer Taverne Eis zu bekommen. Kaum war das Eis gegessen, rannten sie auch schon wieder ins Wasser.

Hannah lächelte Michalis an.

»Es ist toll mit den dreien«, meinte sie versonnen.

»Ja.« Michalis nickte, und beide wussten, was sie nicht aussprechen wollten: Irgendwann würden sie hier mit ihren eigenen Kindern am Strand spielen.

 

Am Abend platzte das Athena so sehr aus allen Nähten, dass nicht einmal Michalis’ Mutter Loukia etwas sagte, als Michalis und Hannah, ohne zu essen, auf seinen Roller stiegen und in ihre Wohnung in der Odos Georgiou Pezanou fuhren. Als Hannah vor drei Wochen gelandet war, war die Wohnung tatsächlich so weit fertig gewesen, dass sie einziehen konnten. Was jedoch noch nicht funktionierte, war die Klimaanlage, denn dort, wo das Steuerungselement sein sollte, hingen lose Kabel aus der Wand. Stattdessen hatte Markos zwei kleine Ventilatoren in die Wohnung gestellt.

»Früher hatte hier niemand eine Klimaanlage«, hatte Elena ihren Schwager Markos verteidigt, »und das ging auch.«

»Aber Hannah muss an einem Schreibtisch sitzen und arbeiten können«, hatte Michalis ihnen zu erklären versucht und wusste, wie recht er hatte: In der Wohnung staute sich auch jetzt am Abend trotz der tagsüber geschlossenen Fenster die Hitze.

»Hast du Hunger?«, erkundigte sich Michalis und ging zum Kühlschrank, in dem die Köstlichkeiten, die Loukia ihnen zum Strand mitgegeben hatten, jetzt lagen.

»Noch nicht …«, entgegnete Hannah, nahm ihn an der Hand und blickte Richtung Schlafzimmer.

 

Sie hatten kein Licht gemacht, und draußen war es mittlerweile fast ganz dunkel, als sie später nackt auf dem Bett lagen.

Michalis lächelte, während er Hannahs Bauch küsste.

»Ich hab so ein Glück …«, sagte er leise.

»Deine Familie sieht das aber gerade anders, oder?«, entgegnete Hannah behutsam.

»Sie kennen das einfach nicht, dass eine Frau sich so sehr um ihren Beruf kümmert.«

»Und du?«

»Ich kannte das vorher auch nicht«, antwortete Michalis zögernd und fragte sich, ob das stimmte. Vor einigen Jahren, noch vor seiner Zeit bei der Polizei in Athen, hatte er eine Affäre mit Liv Grete, einer norwegischen Touristin, gehabt, die seine Familie in helle Aufregung versetzt hatte. Liv Grete arbeitete für eine Bank in Oslo und hing zwei Wochen lang ständig am Telefon, weil Aktiendepots, die sie verwaltete, massiv an Wert verloren hatten und sie mit Fondsmanagern in Südkorea und Kalifornien verhandeln musste. Irgendwann war es Michalis zu viel geworden, und er hatte die Sache beendet. Seine Familie war damals heilfroh gewesen.

»Woran denkst du?«, wollte Hannah wissen und wuschelte ihm durch den Bart.

Michalis kniff die Augen zusammen.

»An früher. Und daran, dass meine Familie wirklich anstrengend sein kann.«

»Meine Familie ist auch nicht einfach«, entgegnete Hannah und stand auf.

Ja, das wusste Michalis, und er wusste auch, dass Hannah nur ungern über ihre Familie sprach. Ihre Eltern waren geschieden, und als Michalis sie vor zwei Jahren kennenlernen sollte, hatten sich die beiden in einem Restaurant in Wiesbaden am Ende des Abends lautstark beschimpft. Ein Abend, der Hannah ungeheuer peinlich war.

 

Als Michalis frühmorgens von den schrillen Rufen der Mauersegler geweckt wurde, die in dem alten Gemäuer eines Nachbarhauses lebten, saß Hannah schon mit Kaffee und Laptop an dem großen Tisch aus Olivenholz im Wohnzimmer.

»Hey, kali mera, guten Morgen! Gut geschlafen?« Hannah lachte, küsste Michalis und klappte ihren Laptop zu.

Wenig später saßen sie auf ihrem kleinen Balkon beim Frühstück, und es war bereits zu spüren, wie heiß auch dieser Tag werden würde. Immer noch schwirrten die Mauersegler durch die enge Gasse der Häuser, und schräg gegenüber hängte eine ältere Frau auf ihrem Balkon Wäsche auf, die in spätestens zwei Stunden trocken sein würde.

»Das mit der Klimaanlage wird diesen Sommer nichts mehr, oder?«, erkundigte sich Hannah.

»Angeblich ist das Steuerelement nicht lieferbar. Ich werde Markos noch mal fragen, aber jetzt im August funktioniert hier alles noch langsamer als sonst.«

Michalis beobachtete Hannah, die sich eine Birne in ihr Müsli schnitt. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass seine deutsche Freundin morgens so viel essen konnte, während er mit einem Frappé völlig zufrieden war und erst viel später, nachdem er Hannah mit dem Roller zur Uni-Bibliothek gebracht hatte, vielleicht ein paar Kallitsounia, mit Misithra-Käse gefüllte Teigtaschen, essen würde. Und wenn es in der Polizeidirektion auch heute so ruhig sein würde wie in den letzten Wochen, dann würde sein Partner Koronaios sicherlich darauf drängen, mittags ausgiebig essen zu gehen.

Tatsächlich war das Team der Mordkommission in den letzten Wochen fast arbeitslos gewesen, denn es hatte glücklicherweise keine Gewaltverbrechen gegeben. Doch dass sie stattdessen immer häufiger bei Bagatelldelikten in anderen Abteilungen aushelfen sollten, gefiel vor allem Koronaios nicht.

3

Auf dem Weg zur Uni-Bibliothek fuhr Michalis an dem kleinen Stadtstrand vorbei und bemerkte einen schwarzen Kormoran, der auf einem Felsen hockte und seine Flügel zum Trocknen ausgebreitet hatte. Auf dem Rückweg sah er, dass der große schwarze Vogel noch immer dort saß. Der Kormoran ließ sich auch nicht von den ersten Schwimmern stören, die sich dem Felsen näherten, sondern thronte fast höhnisch über ihnen.

Es war dieser Moment, in dem Michalis zum ersten Mal ahnte, dass dieser Tag nicht mehr so friedlich verlaufen würde wie die vergangenen Wochen.

 

Michalis folgte der Odos Apokorounou und musste lächeln, als er die Schranke zur Polizeidirektion passiert hatte. In diesem auch für kretische Verhältnisse ungewöhnlich heißen August hatte er in dem großen grauen Gebäude stets das Gefühl, eine Gruft betreten zu haben. Da die Klimaanlage nur stundenweise funktionierte, obwohl sie ständig repariert wurde, blieben alle Fenster geschlossen, ebenso die Rollos und Jalousien. Während draußen die Sonne gleißend vom wolkenlosen Himmel herabbrannte, lagen die Flure und Büros im unwirklichen Neonlicht, und die Luft roch abgestanden nach altem Staub.

Immerhin duftete es in seinem Büro bereits nach Kaffee: Koronaios hatte vor einigen Wochen entschieden, dass er damit dran sei, morgens den Frappé mitzubringen. Nach einigen Tagen hatte Michalis, dem der wachsende Bauchumfang seines Partners nicht entgangen war, den Grund bemerkt: Heimlich war Koronaios wieder dazu übergegangen, seinen Frappé nicht mehr skletos, ungesüßt, sondern glykos, mit viel Zucker, zu trinken. Und offenbar glaubte er, Michalis würde das nicht mitbekommen.

»Schönes Wochenende gehabt?«, fragte Michalis und erntete einen missmutigen Blick.

»Die eine hat Liebeskummer, und die andere ist verliebt und nicht ansprechbar«, erwiderte Koronaios und schaltete einen Ventilator an.

Michalis war klar, dass Koronaios von seinen beiden Töchtern sprach, und er wusste, dass Galatia und Nikoletta, siebzehn und neunzehn Jahre alt, schon in normalen Zeiten überaus anstrengend sein konnten.

»Als sie klein waren, da waren sie wirklich niedlich. Und vermutlich werden sie auch wieder ganz reizend sein, wenn sie verheiratet sind und Kinder haben. Aber bis dahin …«

Michalis lächelte mitfühlend, nahm einen Frappé-Becher und schaltete seine Schreibtischlampe ein. Die heruntergelassene Jalousie ließ nur wenig Licht in das Büro fallen.

»Liegt denn etwas an für heute?«, fragte Michalis, und Koronaios zuckte nur mit den Schultern.

»Es ist der seit Jahren friedlichste Sommer in der Präfektur Chania. Vermutlich werden bald Stellen gestrichen, wenn das so bleibt. Oder wir müssen mit den Kollegen aus Rethimno oder schlimmstenfalls sogar aus Heraklion zusammenarbeiten.«

Für jemanden wie Koronaios, der sein ganzes Leben in Chania verbracht hatte, war das eine überaus bedrohliche Vorstellung, doch bevor sie dieses Thema vertiefen konnten, klingelte Michalis’ Handy.

»Deine Familie? So früh am Morgen?«, spottete Koronaios.

»Jorgos. Wieso ruft der auf dem Handy an? Ist er nicht im Haus?«, sagte Michalis mehr zu sich selbst.

Jorgos Charisteas, Chef der Mordkommission und Onkel von Michalis, saß eigentlich nur ein Stockwerk über ihnen.

»Parakalo? Bitte?«, meldete sich Michalis.

»Jorgos hier.« Michalis musste sein Handy ans Ohr pressen, denn sein Onkel flüsterte. »Komm mal bitte hoch. Nur du.«

»Was Privates?«

»Komm einfach rauf, dann sag ich es dir.« Damit legte Jorgos auf. Michalis war irritiert.

»Und? Familie?«, fragte Koronaios.

»Keine Ahnung. Klang aber nicht so, als ob das privat wäre.«

»Oh … vielleicht wirst du nach Heraklion versetzt, und es soll niemand wissen.« Koronaios war selbst zu irritiert, um über seinen Scherz zu lachen.

 

Michalis musste die Augen zusammenkneifen, als er das Büro von Jorgos betrat. Anders als im übrigen Haus schien die Sonne direkt in den Raum, und es war stickig und heiß, obwohl zwei Ventilatoren liefen.

»Ja, ich weiß«, sagte Jorgos schnell, »die Handwerker hätten letzte Woche schon da sein sollen. Seit fünf Tagen kann ich die Jalousien nicht mehr runterlassen. Und die Vorhänge« – Jorgos blickte zu den Fenstern – »sind letztes Jahr zum Waschen abgeholt und nie zurückgebracht worden.«

»Hast du mich deswegen angerufen?« Die Augen von Michalis gewöhnten sich langsam an die Helligkeit.

»Nein. Setz dich.«

»Ist etwas mit meinem Vater?«

»Wieso, was soll mit ihm sein?«

Michalis zuckte mit den Schultern. »Er wirkt erschöpft. Elena und meine Mutter machen sich Sorgen.«

»Ja, seit seinem Unfall … Aber er kann einfach nicht kürzertreten.« Auch Jorgos schien besorgt zu sein.

»Willst du mal mit ihm reden? Er sah gestern wirklich nicht gut aus«, bat Michalis.

»Ja. Werde ich machen.« Jorgos blickte Michalis an. »Hör zu, das Polizeirevier aus Paleochora hat angerufen.«

Paleochora, das war eine kleine Stadt im äußersten Südwesten von Kreta. Michalis war vor vielen Jahren mal dort am Strand gewesen.

»Einer der Ranger aus der Samaria-Schlucht hat sich gemeldet. Sie haben dort eine Frauenleiche gefunden.«

Michalis sah Jorgos überrascht an.

»Eine Leiche? Gibt es Hinweise auf ein Verbrechen?«

Michalis wusste, dass es in der Samaria-Schlucht in jedem Jahr Tote gab, weil Wanderer sich überschätzten und kollabierten, manchmal sogar verdursteten.

»Die Ranger haben Kopfverletzungen entdeckt. Und es sieht wohl nicht nach einem Unfall aus.«

Michalis nickte. »Gut, dann fahr ich mit Koronaios dahin.«

Er sah, dass Jorgos ihn skeptisch anblickte.

»Ist etwas?«

Jorgos atmete tief ein.

»Das ist nicht so einfach. Die Frauenleiche liegt mitten in der Schlucht, und die ist ein Nationalpark. Deshalb auch die Ranger. Es ist unmöglich, mit Fahrzeugen dorthin zu kommen.«

»Dann nehmen wir eben einen Hubschrauber«, entgegnete Michalis.

»Es gibt dort nur einen Landeplatz. Bei dem früheren Ort Samaria. Die Schlucht ist größtenteils sehr eng, Starten und Landen ist zu gefährlich.«

»Und wie weit ist dieser Landeplatz vom Fundort der Leiche entfernt?«, wollte Michalis wissen.

»Etwa anderthalb Stunden«, sagte Jorgos gedehnt, »zu Fuß. Sonst etwa zwei Stunden.«

»Was heißt sonst?« Michalis war irritiert, weil Jorgos so ein Geheimnis daraus zu machen schien.

»›Sonst‹ heißt per Maulesel. Verletzte werden in der Schlucht auf Mauleseln transportiert. Die Ranger haben angeboten, dass ihr auch welche nehmen könntet.«

»Maulesel? Wir? Das meinst du nicht ernst.«

»Deshalb wollte ich erst mit dir allein sprechen. Weil ich keine Lust habe, dass Koronaios sich hier wieder aufführt«, gestand Jorgos.

»Was ist mit mir?«

Koronaios stand in der Tür. Er musste Michalis gefolgt sein und gelauscht haben.

»Ich hatte darum gebeten, mit Michalis allein zu sprechen!«, fuhr Jorgos Koronaios an.

»Aber es scheint hier ja nicht um etwas Privates zu gehen. Und Michalis ist mein Partner. Also geht mich das auch etwas an!«, antwortete Koronaios verärgert. »Oder willst du einen von uns loswerden? Dann sag das lieber gleich. Nach Heraklion lasse ich mich jedenfalls nicht versetzen, das kannst du vergessen.«

»Niemand will hier einen von euch loswerden!« Jorgos schnaufte, ihm lief der Schweiß übers Gesicht. Auch das Hemd von Koronaios zeigte bereits dunkle Stellen.

»Es gibt eine Tote. In der Samaria-Schlucht«, erklärte Jorgos dann mit einem Seufzen.

»Und was ist das Problem? Darf ich jetzt nur noch in Chania ermitteln?«, polterte Koronaios.

»Nein, nein«, entgegnete Jorgos. Dann sah er Michalis an. »Sag du es ihm. Wenn ich es ihm sage, dann hab ich hier wieder zehn Minuten Gezeter.«

Und wenn ich es ihm sage, dann muss ich mir sicherlich die ganze Fahrt über das Gemaule anhören, dachte Michalis. Er hatte noch den Fall von vor vier Monaten in Erinnerung, als Koronaios sich schon aufgeregt hatte, weil sie in das zwanzig Kilometer entfernte Kolymbari fahren mussten.

»In der Schlucht gibt es zwar einen Hubschrauberlandeplatz, aber von da aus müssen wir zu Fuß weiter«, erklärte Michalis.

»Zur Not auch auf Mauleseln«, ergänzte Jorgos schnell.

»Und, worauf warten wir dann noch? Weiß Zagorakis Bescheid?«, fragte Koronaios nur und ging zur Tür.

»Die Spurensicherung ist informiert, ja«, erwiderte Jorgos und schien darauf zu warten, dass Koronaios sich weigern oder zumindest aufbrausen würde. Aber nichts dergleichen geschah.

»Bei den Temperaturen sollte eine Leiche nicht zu lange dort liegen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann gibt es dort auch Geier, oder?«, drängte Koronaios.

»Ja, Geier gibt es da wohl auch«, bestätigte Jorgos.

»Und wo genau liegt die Leiche?«

»Unterhalb von dem früheren Ort Samaria. Richtung Küste. Kennst du dich dort etwa aus?«

»Seh ich aus wie ein Tourist?« Koronaios lächelte spöttisch, und Michalis ahnte, dass er im Grunde tiefgekränkt war, weil Jorgos versucht hatte, ihn von einem Einsatz fernzuhalten.

»Ich sage den Kollegen von der Hubschrauber-Bereitschaft Bescheid. Zagorakis und sein Assistent fliegen mit euch. An dem Landeplatz in der Samaria-Schlucht erwarten euch dann die drei Ranger«, erklärte Jorgos sachlich.

»Und da stehen dann auch die Maulesel bereit?«, fragte Koronaios spöttisch. »Bekommt Zagorakis wenigstens einen eigenen, oder müssen wir unsere mit ihm teilen?«

»Ich weiß, dass das kein Einsatz ist, über den ihr euch freut. Michalis könnte aber auch allein fahren«, bot Jorgos an.

»Ich würde meinen Partner nie im Stich lassen. Nie. Und das weißt du genau«, erwiderte Koronaios kühl.

»Ja. Ja, das weiß ich.« Jorgos nickte.

Michalis hatte den Eindruck, es sei erst einmal alles gesagt, stand auf und ging Richtung Tür. Koronaios folgte ihm, bis Jorgos seufzte und »Koronaios, bleib doch bitte noch kurz hier« sagte.

Auch Michalis drehte sich um, doch Jorgos warf ihm einen Blick zu, der ihn eindeutig aufforderte, ihn mit Koronaios allein zu lassen.

 

Michalis blieb auf dem Flur stehen und musste sich erst wieder an das trübe Licht gewöhnen. Wenigstens war es hier deutlich kühler.

Nach einigen Minuten kam Koronaios mit einem grimmigen Lächeln aus dem Büro. Hinter ihm tauchte Jorgos auf.

»Was hast du eigentlich vorhin mit Heraklion gemeint?«, rief er Koronaios nach.

Der blieb stehen.

»Es gibt Gerüchte, dass Stellen eingespart und einige von uns nach Heraklion versetzt werden sollen, weil wir seit Monaten so wenig zu tun haben«, sagte Koronaios leise und sah sich auf dem Flur um, ob jemand ihn hören konnte.

Jorgos kam näher und senkte ebenfalls die Stimme.

»Ich kenne die Gerüchte. Und ich verspreche euch, dass ich alles dafür tun werde, damit das nicht passiert.«

»Und wenn es gegen deinen Willen geschieht?«

Jorgos fuhr sich übers Kinn. Dann nickte er Koronaios zu. Michalis bemerkte, dass Jorgos es vermied, ihn anzusehen.

»Unser verehrter Kriminaldirektor Ioannis Karagounis hat mir versichert, dass niemand davon betroffen sein wird, der verheiratet ist und Kinder hat. Niemand mit Familie soll Gefahr laufen, umziehen zu müssen.«

Koronaios nickte und sah Michalis an. »Wenn du hier wegmusst, bloß weil du zu blöd warst, deine Hannah zu heiraten, dann werde ich sauer. Darauf kannst du dich verlassen. Und ich kann unangenehmer werden als deine Schwester und deine Mutter zusammen!«

Damit drehte Koronaios sich um, ging auf den Fahrstuhl zu und stieg sofort ein, als die Tür sich öffnete.

»In den letzten Monaten war es bei uns sehr ruhig, das wissen wir alle. Das spricht für unsere gute Arbeit, aber trotzdem ist der Gouverneur in Heraklion wohl nervös geworden, weil Athen wissen will, wo hier Geld gespart werden kann«, sagte Jorgos und musterte Michalis. »Ich will mich nicht so anhören wie deine Schwester und deine Mutter. Aber wenn du verheiratet wärst …« Jorgos nickte und ging zurück in sein Büro.

Michalis schüttelte den Kopf. Die Vorstellung, er würde Hannah einen Heiratsantrag nicht aus Liebe machen, sondern um nicht versetzt zu werden, war für ihn undenkbar.

 

Michalis näherte sich dem Fahrstuhl, als ein Kollege keuchend die Treppen heraufkam.

»Der Aufzug ist schon wieder kaputt«, stöhnte er. »Wäre ja auch zu schön, wenn der mal länger als einen Tag funktionieren würde.«

»Aber vor fünf Minuten ging er doch noch!«, sagte Michalis beunruhigt.

»Kann sein. Aber jetzt ist unten schon wieder ein Kollege stecken geblieben. Die Techniker sind unterwegs. Wenn es nach mir ginge«, erklärte der Kollege und schrammte mit einem Schlüssel an der Wand entlang, wo der Putz ohnehin schon bröckelte, »dann würde ich dieses ganze Gebäude abreißen und neu bauen. Das hat doch einfach keinen Sinn. Aber nach mir geht es ja nicht«, fügte er schulterzuckend hinzu und stieg weiter die Treppe nach oben.

»Weißt du denn, wer mit dem Fahrstuhl stecken geblieben ist? Koronaios?«, rief Michalis dem Kollegen nach.

»Keine Ahnung!«

Koronaios saß nicht an seinem Schreibtisch. Besorgt ging Michalis zwei Türen weiter zu Myrta Diamantakis, ihrer Assistentin.

»Weißt du, ob Koronaios im Fahrstuhl …«, erkundigte sich Michalis, als der Kopf seines Partners hinter Myrtas großem Computer-Bildschirm auftauchte.

»Was ist mit mir?«

Michalis hatte Koronaios nicht bemerkt, denn auch in diesem Büro waren die Jalousien heruntergelassen und die Vorhänge zugezogen, und das einzig Helle im Raum war das kalte blaue Licht des Monitors, auf dem Myrta Koronaios gerade etwas zeigte. Trotz der sommerlichen Hitze trug Myrta dunkle Kleidung und hatte ihre langen dunkelbraunen Haare nachlässig hochgebunden, so dass sie im Luftzug zweier großer Ventilatoren wehten.

»Es sitzt wieder jemand im Fahrstuhl fest, und ich hatte Angst, dass du …«

»Das hätte dir wohl so gepasst, oder? Damit du deinen Maulesel in der Schlucht nicht mit mir teilen musst?«

Koronaios wandte sich wieder dem Rechner zu.

»Schau mal.« Er winkte Michalis zu sich, und der entdeckte auf dem Monitor eine Wanderkarte der Samaria-Schlucht.

»Hat alles Myrta gemacht.« Koronaios lächelte. Er schätzte Myrta und ihren unermüdlichen Eifer genauso wie Michalis. Myrta war bei Recherchen einfach sensationell.

»Ich habe euren Kollegen Tsimikas aus Paleochora angerufen. Die Leiche scheint etwa hier zu liegen.« Myrta deutete auf eine Stelle auf der Karte. Michalis fand sich zwischen den Symbolen und Linien nicht so schnell zurecht.

»Moment. Samaria, also dieser Ort, wo auch der Hubschrauberlandeplatz ist, der ist wo?«

»Der ist hier.« Myrta deutete auf eine Ansammlung rechteckiger Punkte. »Und hier« – sie zeigte auf eine Stelle unterhalb davon –, »hier liegt wohl die Leiche.«

»Das Braune, also diese braunen Linien, das sind Höhenlinien«, fügte Koronaios wie selbstverständlich hinzu, dabei war Michalis sicher, dass sein Partner das auch erst seit wenigen Minuten wusste. »Die dicken braunen Linien bedeuten jeweils hundert Meter Höhenunterschied.«

»Und das heißt was?«, wollte Michalis wissen und sah, dass Koronaios Myrta einen kurzen fragenden Blick zuwarf.

»Die gute Nachricht für euch ist«, erwiderte Myrta schnell, »dass es auf der Strecke, die ihr zurücklegen müsst, nicht mehr stark rauf und runter geht. Die schlechte Nachricht ist, dass der Teil weitgehend in der Sonne liegen wird. Schatten gibt es nur da, wo die Felsen eng genug stehen.«

»Die Ranger werden ja wohl Wasser dabeihaben«, fügte Koronaios hinzu.

Michalis warf Koronaios einen prüfenden Blick zu. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sein Kollege ernsthaft vorhatte, diese Wanderung bei der glühenden Hitze mitzumachen.

 

»Papa? Papa!« Vom Flur her drang die genervte Stimme einer Jugendlichen.

»Gala? Hier!« Koronaios stand auf und ging zur Bürotür, wo wenige Sekunden später die siebzehnjährige Galatia mit ihren langen braunen Haaren und einem kurzen engen Rock auftauchte und ihrem Vater eine Plastiktüte, in der ein kleiner Karton zu sein schien, entgegenhielt.

»Dafür bin ich extra hergefahren!«, rief Galatia empört.

»Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn du auch mal was für deinen Vater tust!«, fauchte Koronaios und blickte entschuldigend zu Michalis und Myrta. Es war ihm unangenehm, dass die beiden diesen Auftritt seiner Tochter mitbekamen.

»Gibst du mir jetzt wenigstens das Geld für das Taxi?«

»Taxi? Spinnst du?«

»Ja glaubst du, bei der Hitze fahr ich mit dem bekloppten Bus?«

Koronaios riss seiner Tochter die Plastiktüte aus der Hand und schob sie dann ins Treppenhaus, so dass Michalis und Myrta sie nicht mehr sehen konnten. Eine Minute verging, in der vom Treppenhaus her gedämpfte, aber aufgebrachte Stimmen zu hören waren. Dann kam Koronaios zurück, schob verschämt sein Portemonnaie in die hintere Hosentasche, legte die Plastiktüte auf den Tisch und setzte sich wieder auf den Stuhl hinter dem Monitor. Er war schweißgebadet, und Myrta reichte ihm wortlos einige Kosmetiktücher. Ebenso wie Michalis war Myrta klug genug, den Besuch von Galatia nicht zu kommentieren.

»Wir sollten darauf vorbereitet sein, dass die Maulesel uns nicht die ganze Zeit tragen können«, sagte Koronaios gedehnt, während er sich die Stirn abwischte und Michalis einen Blick zuwarf. »Du hast doch Wanderschuhe, oder?«

»Ja …«

»Dann holen wir die und brechen auf.«

»Und du?«

Koronaios lächelte vielsagend.

4

Eine Stunde später hob der Hubschrauber ab. Michalis und Koronaios waren in der Bucht von Souda auf das Militärgelände gefahren, denn die Polizei hatte auf Kreta keine eigenen Hubschrauber und kooperierte bei Bedarf mit dem Militär. Auf dem Weg dorthin hatte Michalis tatsächlich seine Wanderschuhe aus der Odos Georgiou Pezanou geholt und versucht, Hannah anzurufen, aber sie ging wie so oft nicht ans Telefon, wenn sie in der Bibliothek arbeitete. Stattdessen rief sie zurück, als Michalis mit den nagelneuen, ungetragenen Wanderstiefeln an den Füßen schon vor dem Hubschrauber stand.

Eigentlich hatten Michalis und Hannah im Frühjahr zusammen durch die Samaria-Schlucht wandern wollen, aber dann war etwas passiert, worüber in der Familie Charisteas nicht gesprochen wurde: Hannah war morgens am Hafen joggen gewesen, hatte zwei Anglern ausweichen müssen, war gestrauchelt und hatte sich den linken Knöchel verstaucht. Natürlich hatten alle Hannah bedauert, aber insgeheim waren sie froh, dass dieses für sie so peinliche Joggen dadurch aufgehört hatte. Auch wenn niemand das offen zugeben würde.

»Du bist noch nie mit den Wanderschuhen gelaufen, oder?«, wollte Hannah vorsichtig wissen.

»Nein, nur mal ganz kurz. Weißt du doch.«

»Solche Schuhe müssen eingelaufen werden. Das ist keine gute Idee, mit denen gleich so eine lange Tour zu machen. Nimm Tape mit und mach sofort Pflaster drauf, wenn sie scheuern oder drücken.«

»Ja, werd ich machen. Außerdem, wenn ich nicht mehr laufen kann, dann haben wir die Maulesel dabei.«

Hannah musste bei der Vorstellung, Michalis würde tatsächlich auf einem Maulesel reiten, lachen.

»Dann pass aber auf, dass Koronaios dir nicht den Maulesel wegschnappt!«

 

Der Polizeihubschrauber hatte den ganzen Vormittag in der Sonne gestanden, und erst als sie Chania hinter sich gelassen hatten und sich den Lefka Ori, den Weißen Bergen, näherten, wurde die stickige Luft in der Kabine erträglicher. Michalis hatte in der Colibri H120 vorn neben dem Piloten Platz genommen, während Koronaios mit Kostas Zagorakis und dessen Assistenten, den beiden Männern von der Spurensicherung, in der hinteren Sitzreihe saß. Die Plastiktüte, die seine Tochter Galatia ihm gebracht hatte, hielt Koronaios in den Händen und tat so, als sei die bevorstehende Wanderung in der Samaria-Schlucht ein normaler Einsatz. Zagorakis hingegen gab sich keine Mühe, seinen Unmut über das, was ihn in der Schlucht erwarten würde, zu verbergen. Immer wieder hatte er bei Jorgos nachgefragt, ob auch wirklich genügend Maulesel vorhanden sein würden, um seine Ausrüstung zu transportieren.

»Wenn nicht«, hatte Zagorakis gedroht und war sich mit einer Hand kurz durch seine frisch frisierten, halblangen Haare gefahren, »dann flieg ich da gar nicht erst mit. Sen sa jino resiili! Ich mach mich doch nicht lächerlich! Ohne mein Equipment kann ich keinen Tatort untersuchen, dann genügen ein paar Fotos, und die kann auch Michalis machen!«

Alle wussten, dass Zagorakis Flugangst hatte, und Jorgos hatte ihm deshalb vorgeschlagen, nur seinen Assistenten mitzuschicken.

»Das wäre ja noch schöner!«, hatte Zagorakis geschimpft, »wenn ich in dieser Schlucht nicht wirklich gebraucht werde, dann wird es mein Assistent schon dreimal nicht!«

 

Fast während des gesamten Fluges massierte der sonst so selbstbewusste und manchmal arrogant wirkende Zagorakis seine Hände und krallte sich am Sitz fest. Gelegentlich warf er einen Blick zu dem Zinksarg in dem kleinen Frachtbereich, als wolle er sich vergewissern, dass dies ein ganz regulärer Einsatz war, dessen Ergebnisse er später im Labor völlig normal auswerten würde.

 

Für Michalis war es immer wieder beeindruckend, Kreta von oben zu sehen. Überall dort, wo das Land nicht bewirtschaftet wurde, war es jetzt im Hochsommer braun und verbrannt. Während sie sich den imposanten Gipfeln der Weißen Berge näherten, konnte Michalis rechts unten das riesige grüne Apfelsinenanbaugebiet um das Dorf Alikianos herum erkennen. Die Gegend war eine der fruchtbarsten Kretas und führte fast das ganze Jahr über Wasser. Vereinzelt wurden hier, weil die Touristen sie so gern aßen, sogar Mangos angebaut. Vor allem aber wurden Orangen produziert, die in dem Ruf standen, die besten Griechenlands zu sein.

 

Der Colibri H120 flog sehr stabil und überquerte die Hochebene von Omalos. Links von ihnen, fast bedrohlich, ragte der mit seinen etwa zweieinhalbtausend Metern zweithöchste Berg Kretas, der Pachnes, auf. Der Pilot folgte der Samaria-Schlucht, die in diesem oberen Teil stark bewaldet war, Richtung Meer. Im Westen wurde die Schlucht von den Ausläufern des Gigilos und des Volakias begrenzt. Beide Berge waren nicht ganz so hoch wie der Pachnes, aber mit ihren über zweitausend Metern beeindruckend genug. Und sogar von hier oben waren die vielen Wanderer zu erkennen, die sich wie eine lange, lockere Perlenkette durch die Schlucht Richtung Meer bewegten.

Als der Pilot zum Landen ansetzte, verfielen Michalis’ Kollegen in ehrfurchtsvolles Schweigen, denn der Landeplatz war erst im allerletzten Moment als solcher auszumachen. Bei dem früheren Dorf Samaria gab es eine kleine Wiese, auf der in das vertrocknete Gras mit weißer Farbe ein »H« auf den Boden gesprüht worden war. Die Rotorblätter wirbelten vertrocknetes Gras und viele kleine Steine auf. Als sie landeten, waren keine Wanderer zu sehen, und zunächst kam nur ein Ranger auf den Helikopter zu.

»Manolis Votalakos«, stellte er sich vor, als die Polizisten ausgestiegen waren. Votalakos hatte halblange, wegen der Hitze feuchte, schwarze Haare und einen Vollbart. Das dunkle Shirt mit dem Wappen der Samaria-Schlucht sowie seine olivgrüne Hose, an der ein Funkgerät und ein Messer hingen, betonten die raue, wilde Ausstrahlung dieses Mannes, der Mitte vierzig sein mochte. Vor allem aber waren es seine dunklen, entschlossen blickenden Augen, die jeden Wanderer, der sich nicht an die Regeln des Nationalparks halten wollte, beeindrucken mussten, dachte Michalis.

 

Manolis Votalakos war der Chef der Ranger, seine Kollegen hielten sich im Hintergrund. Zwei von ihnen sperrten für die Zeit des Anflugs und der Landung an der oberen Seite den Wanderweg in beide Richtungen ab. Jeder von ihnen hielt einen Maulesel an einem Seil und versuchte, sein Tier zu beruhigen, denn die Landung des Hubschraubers hatte sie nervös gemacht. Hinter ihnen stauten sich bereits die Wanderer. Auf ein Zeichen von Votalakos gaben die Ranger den Wanderweg frei, und sofort strömten hunderte Wanderer, viele mit von der Hitze hochroten Gesichtern, nach unten in die Schlucht.

 

Votalakos hatte Michalis und Koronaios mit einem kräftigen Händedruck begrüßt. Zagorakis und sein Assistent waren im Schatten des Helikopters geblieben, wo Zagorakis sich Luft zufächelte.

Koronaios nickte Michalis zu. Dein Fall, besagte dieser Blick.

»Haben Sie die Leiche gefunden?«, wandte Michalis sich an Votalakos.

»Nein«, erwiderte dieser, »das war ein Kollege von mir. Er wartet am Fundort mit zwei Rangern auf uns.«

»Wie weit ist es bis zur Fundstelle?« Michalis schwitzte schon jetzt enorm, obwohl die Hitze hier erträglicher war als im aufgeheizten Chania.

Votalakos musterte die Polizisten und registrierte, dass Michalis feste Wanderstiefel, Zagorakis immerhin stabile Lederschuhe, Koronaios hingegen nur leichte schwarze Straßenschuhe mit abgelaufenen Sohlen trug.

»Das hängt von Ihnen ab«, sagte Votalakos gedehnt, »ich und meine Kollegen wären in etwa anderthalb Stunden dort.«

»Zu Fuß?«, fragte Zagorakis schnell, drängte sich neben Michalis, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schien die Maulesel zu zählen. Drei. Drei Maulesel waren zu sehen.

»Ja, wir gehen hier zu Fuß. Das tun wir alle«, erwiderte Votalakos, und Michalis sah, dass er die Mundwinkel spöttisch verzog.

»Dimi!«, rief Zagorakis laut seinem Assistenten zu, der noch neben dem Helikopter stand. Dimitrios ließ vom Piloten die Klappe hinter den Sitzen öffnen und holte vier große Alukoffer heraus.

»Das muss mit.« Zagorakis klang fast triumphierend. »Das ist nur das Nötigste. Sonst hätte ich gar nicht herkommen brauchen.«

Votalakos musterte Zagorakis und grinste.

»Wie schwer?«, fragte er.

Zagorakis brauchte einen Moment, um die Frage zu verstehen.

»Dimi? Wie schwer?«, brüllte er dann zu seinem Assistenten hinüber.

»Zwanzig Kilo!«

»Jeder?«, fragte Votalakos und musterte Zagorakis.

»Ja. Natürlich. Haben Sie genug Maulesel dafür?«

Votalakos sah zu seinen Tieren und nickte.

»Jedes unserer Tiere könnte zwei Ihrer Koffer tragen.« Es erschien ihm offensichtlich absurd, dass die Polizei mit so viel Material anrückte. »Sie werden schon wissen, was Sie tun«, fügte er dann hinzu.

»Das ist Material für die Spurensicherung.« Koronaios hielt den Zeitpunkt für gekommen, sich einzumischen. »Sollte es sich um ein Gewaltverbrechen handeln, befindet sich in diesen Koffern die Ausrüstung, um den Täter zu überführen.«

Votalakos musterte die Polizisten. »Dann werden zwei Maultiere diese Ausrüstung übernehmen. Bleibt noch eins der Tiere, falls einer von Ihnen …«

»Mehr Maulesel gibt es nicht?« Zagorakis klang empört.

»Zwei sind bei meinen Rangern bei der Leiche«, erwiderte Votalakos sachlich. »Zwei weitere Maultiere sind ganz oben beim Einstieg in Xyloskalo, dort passieren die meisten Unfälle. Und ein Tier ist auf dem Weg nach unten zur Fähre, weil eine Frau beim Überqueren des Baches schwer gestürzt ist und keinen Schritt mehr machen kann.«

Votalakos sah Michalis und Koronaios an. »Haben Sie etwas dabei, um den Leichnam später zu transportieren?«, erkundigte er sich.

»Wir haben einen Zinksarg dabei. Und einen Leichensack«, erwiderte Michalis.

Votalakos nickte. »Den Zinksarg können wir nicht über eine so lange Strecke transportieren.«

»Also den Leichensack«, schlussfolgerte Koronaios.

»Ja, das wird die einzige Möglichkeit sein«, entgegnete Votalakos bedrückt.

»Dann sollten wir alles bereitmachen und aufbrechen«, sagte Koronaios ruhig.

Votalakos schaute erneut auf die ausgetretenen Schuhe von Koronaios. Der ignorierte den Blick.

 

Gelegentlich strich ein Windhauch durch die Schlucht, brachte jedoch keine Abkühlung, sondern nur neue heiße Luft. Michalis war davon ausgegangen, dass Koronaios spätestens jetzt einen Grund finden würde, nicht zum Fundort der Leiche durch die Schlucht wandern zu müssen. Doch obwohl er bereits schwer atmete, tat sein Partner weiterhin so, als sei dies ein normaler Einsatz.

 

Fünfzehn Minuten später waren sie zum Aufbruch bereit. Die Maulesel hatten sich kaum gerührt, als ihnen die schweren Alukoffer aufgeladen worden waren. Der Einzige, der sich immer wieder lautstark aufgeregt hatte, war Zagorakis gewesen, bis Koronaios ihn zur Seite genommen und eindringlich auf ihn eingeredet hatte. Seitdem schwieg er.

Koronaios hingegen bemühte sich, betont guter Stimmung zu sein. Vielleicht, überlegte Michalis, war er tatsächlich froh, wieder einen Fall bearbeiten und nicht über drohende Versetzungen nachdenken zu müssen.

»Da drüben haben früher die Bewohner der Schlucht gewohnt«, sagte Koronaios plötzlich und deutete auf den nahegelegenen Rastplatz, wo sich zwischen den Ruinen des einstigen Dorfs Samaria zahlreiche Wanderer im Schatten von Zypressen, Kiefern, Kermeseichen und einigen Olivenbäumen ausruhten. »Eine abgeschottete Welt mit eigenen Gesetzen. Wenn es Probleme gab, haben sie die selbst geregelt. Die Türken haben jahrhundertelang versucht, hier reinzukommen, sind aber immer gescheitert.«

Michalis musterte Koronaios überrascht und ahnte, dass dieses Wissen über die Schlucht vermutlich erst vor wenigen Stunden frisch von Myrta erworben worden war.

 

Bevor sie losgingen, hatte Michalis endlich erfahren, was sich in der Plastiktüte, die Koronaios’ Tochter Galatia ihm vorhin so unwillig in die Polizeidirektion gebracht hatte, befand: nagelneue Laufschuhe im Originalkarton.

»Die haben mir meine Töchter letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt«, hatte Koronaios spöttisch berichtet, »damit ich immer ein fitter und fröhlicher Papa bleibe, haben sie gesagt! Als ob ich mit solchen Dingern freiwillig irgendwo rumlaufen würde.«

Koronaios betrachtete missmutig die strahlend blau-weißen Laufschuhe mit neon-orangenen Schnürsenkeln.

»Peinlich«, raunte er kopfschüttelnd. »Aber wenigstens kann ich die dann heute Abend wegschmeißen und behaupten, ich hätte es versucht.«

 

Das erste Stück der Strecke war ein fester Wanderweg und führte mal durch einen hellen Pinienwald und mal, abgetrennt durch eine alte Steinmauer, an einem Olivenhain vorbei. Noch war die Schlucht breit und die beeindruckenden Berge und Felsen weit entfernt. Während Koronaios mit seinen vom Staub nicht mehr ganz so strahlend weiß-blauen Laufschuhen problemlos voranzukommen schien, bemerkte Michalis, dass seine Wanderschuhe schon jetzt drückten.

Kurz nach dem für längere Zeit letzten Rastplatz Nero tis Perdikas wurde die Schlucht enger, und der ebene Weg wich einem Meer von Steinen, Geröll und Felsen, auf dem die Maulesel besser zurechtkamen als Zagorakis und Koronaios. Ein paarmal musste Koronaios auf glatten Steinen mühsam nach Halt suchen, und scharfe Kanten drückten durch die Sohlen seiner Laufschuhe. Michalis stellte beunruhigt fest, dass dieser Fußmarsch Koronaios mehr anstrengte, als er zugeben wollte. Bisher hatte es immer wieder schattige Bereiche gegeben, doch damit war es, solange die Sonne fast senkrecht am Himmel stand, erst einmal vorbei.

Während sie nur mühsam vorankamen, überlegte Michalis, was er über diese Schlucht wusste. Sie war früher ein Rückzugsort für die Andarten, die kretischen Freiheitskämpfer, gewesen, aber was war später?

»Sie wissen, dass einer der letzten griechischen Könige durch diese Schlucht flüchten musste?«, fragte Votalakos, der Michalis’ Gedanken zu erraten schien.

»Ein König? Auf einem Maulesel?«

»Nein«, erwiderte Votalakos und lachte. »Auch der König musste laufen. Wie alle. Es war schließlich Krieg, da ging es auch für den König ums Überleben.«

»Georg der Zweite? Als die Deutschen hier waren?«

»Ja. Georg der Zweite und fast die gesamte griechische Regierung. Die Wehrmacht hatte Griechenland besetzt, und der König war nach Kreta geflohen. Nachdem die deutschen Fallschirmspringer massenhaft auf der Insel gelandet waren, gab es Ende Mai 1941 nur noch diese Schlucht als sicheren Fluchtweg.«

»Nicht mal die deutsche Wehrmacht kam hier rein?«, fragte Michalis überrascht.

»Nein. Hier kam noch nie jemand rein. Vor allem die Türken nicht. Nur unsere Freiheitskämpfer.« Votalakos grinste, und Michalis ahnte, dass er ein Nachfahre jener Familien war, die jahrhundertelang diese Schlucht besiedelt hatten, und dass in ihm noch etwas von der Unerschrockenheit seiner Vorfahren lebte.

»Die Touristen sind die Ersten, die wir hier nicht vertreiben.« Votalakos deutete schmunzelnd mit dem Kopf nach oben in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Aber auch nur, weil wir hier nicht mehr leben dürfen, seit die Schlucht Nationalpark wurde. Bis 1962 hat meine Familie in Samaria gewohnt.«

»Und der König? Was war mit dem?«, wollte Michalis wissen.