Kretische Nacht - Nikos Milonás - E-Book
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Kretische Nacht E-Book

Nikos Milonás

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Beschreibung

War es ein tragischer Unfall oder ein geplanter Mord? - Der fünfte Fall für Kommissar Michalis Charisteas  Es ist Juli auf Kreta, und die Zeit der langen, warmen Nächte hat begonnen. Früh am Morgen wird Michalis Charisteas zu einem Tatort im äußersten Nordwesten Kretas, zur Lagune von Balos, gerufen. An der Spitze der unbewohnten Halbinsel Gramvousa liegt diese traumhaft schöne Lagune, die mit ihrem flachen, türkisfarbenen Wasser und dem langgezogenen feinen Sandstrand bei Touristen sehr beliebt ist. An diesem malerischen Ort ist in der Nacht eine Motorjacht gegen die Felsen gerast. Drei Menschen sind tot. Der Leiter des Polizeireviers von Kissamos geht von einem tragischen Unfall aus, vermutlich unter Alkoholeinfluss. Doch der Sohn des Bootsbesitzers, dessen Verlobte auch ums Leben kam, glaubt an einen gezielten Mordanschlag. Michalis und sein Kollege Koronaios geraten bei ihren Ermittlungen in ein Geflecht der Rache und ohnmächtiger Verzweiflung, und zum ersten Mal ist Michalis gezwungen, seine Dienstwaffe einzusetzen.

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Seitenzahl: 431

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Nikos Milonás

Kretische Nacht

Ein neuer Fall für Michalis Charisteas

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein tragischer Unfall oder ein geplanter Mord? - Der fünfte Fall für Kommissar Michalis Charisteas

 

Es ist Juli auf Kreta, und die Zeit der langen, warmen Nächte hat begonnen. Früh am Morgen wird Michalis Charisteas zu einem Tatort im äußersten Nordwesten Kretas, zur Lagune von Balos, gerufen. An der Spitze der unbewohnten Halbinsel Gramvousa liegt diese traumhaft schöne Lagune, die mit ihrem flachen, türkisfarbenen Wasser und dem langgezogenen feinen Sandstrand bei Touristen sehr beliebt ist. An diesem malerischen Ort ist in der Nacht eine Motorjacht gegen die Felsen gerast. Drei Menschen sind tot. Der Leiter des Polizeireviers von Kissamos geht von einem tragischen Unfall aus, vermutlich unter Alkoholeinfluss. Doch der Sohn des Bootsbesitzers, dessen Verlobte auch ums Leben kam, glaubt an einen gezielten Mordanschlag. Michalis und sein Kollege Koronaios geraten bei ihren Ermittlungen in ein Geflecht aus Rache und ohnmächtiger Verzweiflung, und zum ersten Mal ist Michalis gezwungen, seine Dienstwaffe einzusetzen.

 

Die Michalis-Charisteas-Reihe:

- Kretische Feindschaft

- Kretischer Abgrund

- Kretisches Schweigen

- Kretische Ehre

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Nikos Milonás alias Frank D. Müller hat sich bereits im Alter von 17 Jahren bei seiner ersten Kreta-Reise in die Mittelmeerinsel verliebt. Aus einem kühlen norddeutschen Sommer kommend, war er überwältigt, als er vom Schiff aus die Küste sehen konnte und der intensive Duft von wildem Thymian übers Meer zu ihm herüberwehte. Seither verbringt er so viel Zeit wie möglich auf Kreta und hat Land und Leute fest ins Herz geschlossen. In seinem deutschen Leben wohnt der gebürtige Hamburger in München, arbeitet als Regieassistent und Dokumentarfilmer und ist (Co-)Autor diverser TV-Sendungen (u.a. »München 7«).

Inhalt

[Widmung]

[Motti]

Personenverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Dank

Für Sandra

 

Dein kluger Rat, deine Herzenswärme, deine fordernden Anmerkungen: Ich vermisse sie, und sie werden mich immer begleiten.

Wie schön ist Kreta,

murmelte Kapitän Michalis, wie schön!

Ach, wäre ich ein Adler,

um das ganze Kreta aus luftiger Höhe zu bewundern.

 

Nikos Kazantzakis, ›Freiheit oder Tod‹

Ungeheuer ist viel,

doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.

 

Sophokles, ›Antigone‹

Personenverzeichnis

Michalis Charisteas, Mitte 30, Kommissar in Chania

Hannah Weingarten, Anfang 30, Kunsthistorikerin

Pavlos Koronaios, Anfang 50, Partner von Michalis

 

Sotiris Charisteas, Bruder von Michalis, Wirt des Athena

Nicola, Frau von Sotiris

Takis Charisteas, Vater von Michalis, Wirt des Athena

Loukia Charisteas, Mutter von Michalis

Elena Chourdakis, Schwester von Michalis

Sofia und Loukia, 11 und 9 Jahre alt, Töchter von Sotiris

 

Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission von Chania

Myrta Diamantakos, Assistentin in der Polizeidirektion

Ioannis Karagounis, leitender Kriminaldirektor von Chania

Kostas Zagorakis, Chef der Spurensicherung

Lambros Stournaras, Gerichtsmediziner Chania

 

Sokratis Samarakis, Hotelier Kissamos, Mitte 50

Stefanos Samarakis, Sohn von Sokratis, Anfang 30

Teresa Stavridis, Schwester von Stefanos, Mitte 30

 

Artemis Apostolidis, Verlobte von Stefanos Samarakis

Danilos Apostolidis, Bruder von Artemis, Mitte 30

Emilia Apostolidis, Schwester von Artemis, Mitte 20

Markos Apostolidis, Vater von Artemis, Ende 50

 

 

Karolos Katrougalos, Malermeister, Vater von Jannis, Anfang 50

Vassilis Katrougalos, Sohn von Karolos, Ende 20

Danai Katrougalos, Ehefrau von Karolos, Anfang 50

Jannis Katrougalos, Sohn von Karolos, Bauarbeiter, Anfang 30

 

Gavrilis Tavernarakis, bester Freund von Stefanos Samarakis

Kostas Tavernarakis, Vater von Gavrilis, Ende 50

Melitta Papastasatos, Freundin von Gavrilis, Hotelmanagerin

 

Christos Minotis, Revierleiter Kissamos, Ende 40

 

Antonis Katzourakis, Hotelier Kissamos, Ende 50

Petros Katzourakis, Sohn von Antonis

 

Lemonia Kaliotsis, Archäologin, Mitte 50

Evangelis Embirikos, Archäologie-Direktor, Anfang 60

 

Stavros Tsivilikas, Bauarbeiter, Mitte 30

 

u.a.

1

Hinter sich das dunkle Meer. Über sich der sternenklare Himmel und ein Mond, der gerade erst über den Bergen aufgegangen war.

Und vor sich das wütende, überhebliche Gesicht des Mannes mit den teuren Hemden.

Ein Mann, den er unterschätzt hatte. Er war sicher gewesen, sie würden sich bei einem Spaziergang einig werden. Doch plötzlich hatte der Mann eine Waffe gezogen und ihn auf einen der beiden Felsen gedrängt, der zum Meer hin steil abfiel.

Er wollte dem Mann in den Arm fallen, doch der schlug sofort zu. Sein Kopf wurde herumgerissen, er taumelte, spürte einen Tritt. Dann verlor er den Halt.

Das Letzte, was er sah, war der Mond, dessen kaltes, helles Licht auf der Wasseroberfläche glitzerte.

Dann prallte er mit dem Kopf auf einen Felsvorsprung, und es wurde schwarz um ihn.

2

»Du versprichst mir, dass niemand davon erfährt?«, vergewisserte sich Michalis.

»Selbstverständlich. Das hab ich dir doch schon versprochen.«

Michalis nahm die Ringe aus der kleinen Schatulle, streifte sich einen über den Ringfinger und betrachtete ihn. Er hatte mit dem Juwelier einen Termin außerhalb der Öffnungszeiten ausgemacht, damit keiner mitbekam, dass er Ringe kaufte.

Aus der kleinen Werkstatt hinter dem Verkaufstresen waren Geräusche zu hören.

»Da ist doch jemand«, sagte Michalis.

»Nur meine Schwester. Aber die kann ein Geheimnis für sich behalten«, antwortete der Juwelier.

Die Schwester des Juweliers. Wenn diese Frau auch nur einen Hauch von Ähnlichkeit mit seiner eigenen Schwester hatte, dann würde sich noch heute Abend in Chania verbreiten, dass der Kriminalkommissar Michalis Charisteas heimlich Verlobungsringe kaufte, während seine zukünftige Ehefrau für ein paar Tage beruflich in London war.

Michalis betrachtete die Ringe ein letztes Mal, bevor er sie in die Schatulle zurücklegte. Er hatte Ringe ausgewählt, die grob gebürstet, kantig und ohne Stein waren. Irritiert hatte der Juwelier angemerkt, dass es sich um Herrenringe handelte, und er war regelrecht entsetzt, als er begriff, dass Michalis genau das wollte – und zwar den gleichen Ring für sich und Hannah. Er war sicher, das würde Hannah gefallen, denn die Rollenverteilung zwischen ihnen würde nicht wie in einer traditionellen kretischen Ehe sein. Hannah würde nur “Ja“ sagen, wenn sie nach der Hochzeit die gleichen Möglichkeiten wie vorher hatte und mehr als lediglich Mutter und Hausfrau sein konnte.

 

Michalis machte einen Abstecher in die Wohnung in der Odos Georgiou Pezanou, versteckte die Schatulle mit den Ringen in einem seiner Winterstiefel und ging ins Athena, die Taverne seiner Familie. Seit Tagen fiel ihm dieser Weg immer schwerer, da ihn dort fragende Gesichter und skeptische Bemerkungen erwarteten: Wann ist Hannah endlich wieder auf Kreta? Warum ist sie ständig unterwegs? Hast du heute schon mit ihr gesprochen?

 

Heute wurde Michalis jedoch fast euphorisch empfangen, obwohl das Athena am venezianischen Hafen von Chania voller Gäste war. Sein Bruder Sotiris, seine Schwester Elena und auch sein Vater Takis nahmen unentwegt Bestellungen auf und servierten Getränke und Gerichte.

»Ich komm sofort!«, rief Takis, und als seine Mutter Loukia sogar die Küche verließ, um ihren jüngsten Sohn Michalis zu begrüßen, befürchtete er: Die Schwester des Juweliers hatte nicht geschwiegen.

»Wie war dein Tag? Willst du jetzt oder später essen?«, fragte seine Mutter und strahlte ihn an.

Michalis nahm an dem Tisch Platz, an dem normalerweise Takis saß. Jetzt im Juli war die Promenade voller Menschen und im Athena jeder Tisch besetzt.

»Setz dich schon mal, wir beide spielen eine Runde Tavli. Nicola kommt gleich und hilft, dann werd ich nicht mehr gebraucht.«

Auch das verstärkte Michalis’ Eindruck, seine Familie könnte von den Verlobungsringen wissen. Nicola, die Frau seines Bruders Sotiris, kam nur dann zur Unterstützung, wenn jemand ausfiel. Und heute sollte Takis wohl Zeit haben, um im Auftrag der Familie etwas über die Hochzeit mit Hannah zu erfahren.

Takis war ein herausragender Tavli-Spieler und Michalis kein ebenbürtiger Gegner. Auch deshalb war er sicher, dass sein Vater nur mit ihm spielte, um ihn dabei aushorchen zu können. Vielleicht war er auch von den Frauen der Familie dazu gedrängt worden, denn Takis spielte schlechter als sonst, da er sich eher auf das Thema Hannah und die Zukunftsplanung konzentrierte als auf die Spielsteine. Er erwähnte einen Bekannten, dessen Sohn zur Hochzeit außerhalb von Chania ein Haus geschenkt bekommen hatte.

»Ist euch eure Wohnung nicht langsam zu klein? Ihr habt doch nur das Wohnzimmer mit Küche sowie das Schlafzimmer. Viel ist das nicht«, sagte Takis.

»Die Wohnung ist völlig ausreichend«, entgegnete Michalis.

»Ja, jetzt noch. Aber vielleicht braucht ihr ja mal mehr Platz. Und da schadet es nicht, sich rechtzeitig umzusehen.«

»Wenn wir irgendwann mehr Platz brauchen sollten, werden wir eine Lösung finden«, erwiderte Michalis.

Während Takis noch darüber nachdachte, wie er das Thema Hochzeit diskret ansprechen könnte, wurde ihm plötzlich klar, dass es auf dem Spielbrett schlecht für ihn stand. Michalis hatte die Unkonzentriertheit seines Vaters genutzt und war kurz davor, auch seine letzten Steine vom Spielfeld zu würfeln und die erste der drei Runden im Tavli, die Portes,zu gewinnen. Takis ärgerte sich, konnte aber seine Niederlage in dieser Runde nicht mehr verhindern. Michalis lächelte, denn so leicht hatte es ihm sein Vater nicht mehr gemacht, seit er Kind gewesen war. Und er war sicher, dass Takis ihn heute nicht wie früher absichtlich gewinnen ließ, was sich in der nächsten Runde, dem Plakoto, bestätigte. Takis war hochkonzentriert, stellte keinerlei Fragen mehr Richtung Hochzeit und ließ Michalis keine Chance. Doch als er gerade alle Steine in sein Zielfeld gewürfelt hatte und mit dem Aussteigen beginnen wollte, klingelte Michalis’ Smartphone. Hannahs Gesicht erschien auf dem Display, und er ging sofort ran.

»Hey!«

»Wo bist du gerade? Ich hätte jetzt eine Stunde Zeit. Danach muss ich mit dem Kollegen aus Athen und dem Londoner Assistenten essen gehen. Hab zwar wenig Lust, aber da muss ich durch. Wie sieht es bei dir aus?«, fragte Hannah.

Michalis blickte seinen Vater an.

»Ich muss leider nach Hause. Hannah kann nur jetzt.«

»Aber wir sind mitten im Spiel, und du hast auch noch nichts gegessen.«

»Wir spielen ein anderes Mal weiter. Hannah? Ich klingel in zehn Minuten bei dir durch, okay?«

»Gern. Super!«

Michalis legte auf. »Tut mir leid. Aber das ist im Moment die einzige Chance, Hannah zu sehen und mit ihr zu reden«, sagte er, stand auf und ging los. Er hatte den letzten Tisch des Athena noch nicht ganz erreicht, da kamen seine Mutter Loukia und seine Schwester Elena bereits auf Takis zu. Der zuckte mit den Schulter, sah in die vorwurfsvollen Gesichter der beiden und konnte nicht bestätigen, was sie so gern wissen wollten.

 

»Hey!«

»Hey!«

Sie begrüßten sich noch immer wie ganz am Anfang, und noch immer strahlten sie, wenn sie sich nach fast einem Tag wiedersahen. Auch wenn es nur am Computerbildschirm war und Michalis sich nicht daran gewöhnen konnte, alle paar Tage neue Hotelzimmer kennenzulernen, in denen Hannah wohnte.

»Wie war dein Tag?«, fragte Hannah.

»Es ist gerade ruhig. Zum Glück. Und bei dir?«

»Manchmal ist es schwer, zu durchschauen, ob die Kollegen hier in London an der Ausstellung wirklich interessiert sind oder ob sie ihre griechischen Kollegen für Schlitzohren halten, die die britischen Exponate nicht wieder rausrücken.« Hannah stöhnte. »Wenn es in dem Tempo weitergeht, bekommen wir die Ausstellung in diesem Jahrzehnt nicht mehr organisiert.« Sie grinste. »Du siehst: Es ist wie all die letzten Tage. Morgen verhandeln wir weiter, und übermorgen fliegen wir endlich zurück nach Heraklion. Dann habe ich noch einige Termine, aber abends bin ich wieder in Chania.«

Michalis hörte, dass jemand bei Hannah klopfte. Sie stand auf, und Michalis konnte sehen, wie sie an der Tür mit einem jungen Mann sprach und dann zurück zum Computer kam.

»Es tut mir leid, wir müssen aufbrechen. Bevor wir gleich mit den Briten essen, haben wir noch eine Video-Konferenz mit unserem Boss in Athen.« Hannah schüttelte den Kopf. »Es ist eine verrückte Phase. In den nächsten Tagen könnte sich entscheiden, ob die ganze Arbeit womöglich umsonst war.«

Dieses Projekt war längst eine Herzensangelegenheit für Hannah. Die archäologischen Sammlungen von Athen, Rom, Madrid, London und Berlin wollten mit herausragenden Exponaten ihres Bestands eine Wanderausstellung zusammenstellen, die über mehrere Jahre weltweit zu sehen sein würde. Ursprünglich hatte Hannah für die Griechen vor allem mit der deutschen Seite verhandeln sollen, doch inzwischen war sie in alle Besprechungen eingebunden. Und sie hatte schnell festgestellt, dass Berlin von allen Beteiligten der komplizierteste Partner war.

Michalis und Hannah warfen sich am Monitor Küsse zu, lächelten wehmütig und beendeten wie immer bei ihren Videotelefonaten gleichzeitig die Sitzung. Michalis starrte noch einen Moment auf den leeren Monitor, dann riss er sich los und ging auf den Balkon. Die Hitze des Sommers war jetzt am Abend gewichen, und die Dämmerung hatte eingesetzt. In einer Stunde würde es dunkel sein.

 

»Michalis!«

Michalis hörte die Stimme seines Bruders und beugte sich über die Balkonbrüstung. Unten auf der Gasse stand Sotiris mit einer Tasche, in der eindeutig etwas zu essen war.

»Ich mach dir auf!«, rief Michalis, und kurz danach betrat Sotiris die Wohnung.

»Ich hab mir gedacht, dass du nicht mehr kommst. Nicola hat etwas eingepackt, als unsere Mutter nicht in der Küche war.«

Für einen Moment befürchtete Michalis, Sotiris hätte sich dazu drängen lassen, ihn wegen der möglichen Hochzeit auszuhorchen. Doch dieser Verdacht war unbegründet.

»Ich kann mir vorstellen, dass es für dich nicht einfach ist, wenn Hannah unterwegs ist. Aber ständig ausgefragt werden macht es ja nicht besser. Ich hab unseren Eltern und Elena gesagt, sie sollen dir nicht auf die Nerven gehen«, erklärte Sotiris.

Der Satz Wenn du über etwas reden willst, kannst du es mir gern sagen lagin der Luft, und Michalis rechnete es Sotiris hoch an, dass er ihn nicht aussprach. Wenn Michalis mit jemandem aus der Familie reden wollte, dann wäre es sowieso Sotiris, das wussten beide.

Sotiris verabschiedete sich. Michalis war hungrig und setzte sich mit der großartig duftenden Moussaka sowie weißen Bohnen mit Salbeiauf den Balkon. Einige Mausersegler schwirrten umher, und im Hintergrund war das Meer zu hören. So schön der Moment sein mochte – Michalis würde sich nie daran gewöhnen, allein zu essen. Er wusste durch Hannah, dass in Deutschland viele Menschen nicht nur allein aßen, sondern auch allein wohnten. Für einen Kreter war diese Vorstellung schwer zu ertragen.

Michalis überlegte, später ins Athena zu gehen, auch wenn er dort wieder ausgefragt werden würde. Doch dann klingelte sein Smartphone. Kurz hoffte er, es sei noch einmal Hannah, aber es war sein Partner Koronaios.

»Wir müssen nach Balos. Dort hat es ein schweres Unglück gegeben. Vermutlich drei Tote. Eine Motoryacht ist gegen Felsen gerast und dann ausgebrannt. Die Lage ist sehr unübersichtlich, sagt die Polizei vor Ort. Ich wollte gerade ins Bett gehen, als Jorgos angerufen hat. Ich bin in zehn Minuten bei dir, okay?«

»Ja klar. Ich komm runter.«

Michalis war vor Jahren einmal in Balos gewesen. Es war eine traumhaft schöne Lagune mit türkisfarbenem Wasser auf der im äußersten Nordwesten gelegenen Halbinsel Gramvousa. Diese Lagune war nur über eine acht Kilometer lange, holperige Schotterpiste voller Schlaglöcher und einer kleinen Wanderung oder aber vom Wasser aus zu erreichen. Und ausgerechnet in diesem kleinen Paradies hatte es ein Unglück mit mehreren Toten gegeben. Vermutlich ein tragischer Unfall, bei dem die Kriminalpolizei routinemäßig eingeschaltet wurde, um ein Verbrechen ausschließen zu können.

Während Michalis am Ende der Gasse auf Koronaios wartete, hörte er von überallher Stimmengewirr. Im Hochsommer ging in Chania niemand früh ins Bett, und auch die Kinder spielten bis spät in der Nacht.

 

Koronaios hielt neben Michalis. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte sein Partner ihn schimpfend begrüßt, wenn sie spätabends zu einem Einsatz an einem schwer erreichbaren Tatort gerufen worden wären. Doch seit einigen Wochen war Koronaios bemerkenswert gut gelaunt. Seine jüngste Tochter Galatia hatte sich nicht nur von ihrem Freund getrennt, den Koronaios für einen Taugenichts und ein Großmaul gehalten hatte, sondern konzentrierte sich seit Monaten auf das Abitur im nächsten Frühjahr und behauptete, sie müsse an ihre Zukunft denken. Koronaios befürchtete zwar, es könnte etwas anderes dahinterstecken, aber er hatte bisher nicht herausgefunden, was es war. Also genoss er die friedliche Stimmung zu Hause und war ausgeglichen wie lange nicht.

»Was hat Jorgos sonst noch gesagt?«, wollte Michalis wissen, nachdem sie losgefahren waren. Jorgos Charisteas, sein Onkel, war der Chef der Mordkommission.

»Die Motoryacht gehört wohl einem Hotelier aus Kissamos, der selbst aber nicht an Bord war. Die drei Toten sind Bekannte von ihm. Das Boot liegt unzugänglich an den Felsen, andere Bootsbesitzer haben versucht, das Feuer zu löschen. Aber es gab nichts mehr zu retten.«

Michalis nickte. Dieses Drama würde sich in Windeseile auf Kreta herumsprechen.

»Wie kommen wir nach Balos?«, fragte er.

»Hast du Angst, dass wir die Schlaglochpiste nehmen und im Dunkeln eine halbe Stunde über den Berg wandern müssen? Keine Sorge. Wir steigen in Kissamos am Fährhafen auf ein Boot der Wasserschutzpolizei, und die bringen uns direkt zu dem Unfallort.«

Draußen zog die nächtliche Landschaft an ihnen vorüber. Im Mondlicht war der Oleander zu erkennen, der die Schnellstraße säumte und dessen rote und weiße Blüten auch jetzt im Juli noch nicht ganz verblüht waren. Michalis öffnete sein Fenster, und der Duft von Oregano und Thymian zog in den Wagen.

Sein Smartphone klingelte. Michalis warf einen Blick auf das Display. Jorgos.

»Ja?« Michalis stellte auf laut, damit Koronaios mithören konnte.

»Zagorakis und Stournaras sind ebenfalls auf dem Weg nach Balos. Ich habe inzwischen erfahren, dass der Sohn des Bootsbesitzers behauptet, das Unglück sei kein Unfall, sondern ein Anschlag gewesen. Unter den Toten ist sein bester Freund und auch seine Verlobte. Ich muss euch nicht sagen, dass wir so schnell wie möglich Erkenntnisse brauchen.«

Trotzdem würde Zagorakis, der Chef der Spurensicherung, bei einem ausgebrannten Wrack einige Zeit brauchen, um Hinweise auf einen Anschlag zu finden. Stournaras, der Gerichtsmediziner, würde ihnen schneller sagen können, ob Anzeichen auf Fahruntauglichkeit wegen Alkohol oder Drogen vorlagen.

»Und die Kollegen aus Kissamos sind vor Ort, nehme ich an?«, fragte Michalis.

»Ja, der Kollege Minotis ist in Balos«, antwortete Jorgos.

»Du kennst ihn?«, warf Koronaios ein.

»Ja. Er war mal ein richtig guter Polizist«, entgegnete Jorgos vorsichtig.

»Er war?«, hakte Koronaios nach. »Das heißt …«

»Ihr werdet es nachher sehen. Tut mir den Gefallen und vertraut ihm. Dann kann es funktionieren.« Jorgos machte eine Pause. »Die Wasserschutz bringt euch von Kissamos direkt zur Unfallstelle. Die Felsen sind schroff und schwer zu erreichen, ihr werdet euch also wohl erst einmal nur vom Wasser aus einen Eindruck verschaffen können.«

3

Vor Kissamos endete der Teil der Strecke, der zur Schnellstraße ausgebaut war. Vor ihnen breitete sich eine weitläufige Bucht aus, und keine hundert Meter vom Strand entfernt war im Mondlicht das Wrack eines Frachtschiffs zu erkennen, das dort im letzten Winter bei starkem Sturm auf Grund gelaufen war. Die Besatzung hatte gerettet werden können, doch das Schiff war auseinandergebrochen. Die Bergung wäre sehr aufwendig, vermutlich würde das Wrack in einigen Jahrzehnten immer noch dort vor sich hin verrotten.

Über die kilometerlange Hauptstraße dieser größten Stadt der Region erreichten sie den Fährhafen, der am anderen Ende außerhalb von Kissamos lag. Der Kapitän der Küstenwache begrüßte Michalis und Koronaios, nachdem sie aus dem Wagen ausgestiegen waren.

»Wir kommen gerade von der Unfallstelle. Ein furchtbarer Anblick. Aber das werden Sie ja gleich sehen«, sagte er.

 

Das Schiff legte sofort ab und fuhr nah an der schmalen, langgestreckten Halbinsel entlang. Gramvousa zog sich über etwa fünfzehn Kilometer hin und bestand weitgehend aus unbewachsenen Felsen und Geröll. Wer lediglich diesen kargen und abweisenden Teil der Halbinsel kannte, wäre nie auf die Idee gekommen, dass auf der anderen Seite eine karibisch anmutende Lagune lag.

Hinter der Nordspitze nahm das Schiff Kurs Richtung Westen und passierte die kleine Insel Imera Gramvousa. Die Überreste eines mächtigen Kastells aus venezianischer Zeit waren gut zu erkennen. Nachdem die Venezianer vor etwa dreihundert Jahren vertrieben worden waren, hatten mal Piraten und später, im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht, auch kretische Rebellen diese Festung als Posten genutzt.

Ein runder, mehrere hundert Meter breiter Felsenhügel war der Lagune vorgelagert, an dessen Ausläufer die Unglücksstelle lag. Bevor sie sich ihr genähert hatten, hob am Strand ein Rettungshubschrauber ab und verschwand.

»Sofort nach dem Unglück ist aus Chania eine Ärztin hierhergeflogen worden. Nachdem die letzten Flammen gelöscht waren, haben wir die Frau mit einem Beiboot zum Wrack gebracht. Ein Betreten war unmöglich, aber im Licht unserer Suchscheinwerfer hat sie drei Leichen ausgemacht. Es gab keine Hoffnung mehr, jemanden zu retten.«

Michalis und Koronaios nickten.

Bei der Umrundung des Felsenhügels hing bereits eine unangenehme Mischung aus Brandgeruch, Benzin und Chemikalien, mit denen das Feuer gelöscht worden war, in der Luft. »Weitere Unterstützung ist auf dem Weg«, sagte der Kapitän, als die Unglücksstelle in Sicht kam. Auf dem Wasser war eine schwimmende Barriere ausgelegt worden, die verhindern sollte, dass Benzin und die Löschmittel in die Lagune trieben.

»Von Heraklion ist ein Spezialschiff aufgebrochen, um das ausgelaufene Benzin und die Chemikalien abzusaugen. Aber das dauert natürlich, bis es hier ankommt. Zeitgleich ist in Chania ein LKW mit Material beladen worden, um die Barriere zu verstärken. Sollten das Benzin und das Löschwasser in die Lagune treiben, wäre sie für den Tourismus auf Jahre verloren. Von den Auswirkungen auf die Natur ganz zu schweigen.«

 

Je näher sie dem ausgebrannten Wrack kamen, desto mehr wurde Michalis und Koronaios klar, wie kompliziert die Suche nach der Ursache sein würde. Die Motoryacht war auf der Meeresseite des Felsenhügels gegen dessen Ausläufer gerast. Zwei kleinere Motorboote ankerten in der Nähe und hatten ihre Suchscheinwerfer auf das zerstörte Boot gerichtet. Einige Teile der Aufbauten und des Rumpfes waren durch den Aufprall abgesplittert. Mehrere Beamte in Uniform suchten mit kleinen Motorbooten das Wasser nach diesen Wrackteilen ab. In der Nähe hockten zwei Gestalten auf den Felsen und hatten von dort sowohl das Wrack als auch die Lagune im Blick.

Auf der dem Land zugewandten Seite des Felsenhügels, Richtung Lagune, führte ein schmaler Sandstreifen zum eigentlichen Strand. Auf diesem Streifen konnte Michalis einzelne kleine Gruppen ausmachen und ging davon aus, dass es sich bei ihnen um die Familien der Toten handelte. Dort, wo der Sandstreifen endete und zum Hauptstrand wurde, hatte die Polizei eine Absperrung errichtet, um Schaulustige zurückzuhalten. Der Felsen, an dem die Motoryacht zerschellt war, lag etwa fünfhundert Meter von dem Hauptstrand entfernt.

Die Lagune war voller kleiner Motorboote. Auf einem dieser Boote stand ein Mann in Uniform und starrte in die Nacht. Michalis vermutete, dass es sich um den Revierleiter von Kissamos handelte.

Das Schiff der Küstenwache hatte den Motor gedrosselt, und der Kapitän ließ zwei starke Suchscheinwerfer auf das Wrack sowie die Felsen richten. Die schwarz verkohlten Überreste des Rumpfes lagen quer zu den Felsen, und es war eindeutig, dass auf dem Boot niemand überlebt haben konnte. Es war allerdings nicht frontal mit dem Bug, sondern mit der Backbordseite aufgeprallt. Michalis überlegte, ob jemand noch versucht haben könnte, das Ruder herumzureißen. Vermutlich hatte er in der Dunkelheit den Felsen erst im letzten Moment bemerkt, und es war nicht einmal Zeit geblieben, sich mit einem Sprung über Bord zu retten.

»Kurz nach dem Aufprall hat es wohl eine Explosion gegeben«, sagte der Kapitän. »Obwohl das Boot in Flammen stand, sind einige Leute zu Fuß über die Felsen oder vom Wasser aus gekommen, um zu helfen. Einige Motorboote hatten Feuerlöscher an Bord, aber sie konnten sich dem Wrack erst nähern, als es schon fast ausgebrannt war.«

Der Kapitän blickte zu dem Mann in Uniform, der noch immer reglos am Bug eines Motorboots stand.

»Zu den Details müssen sie Christos Minotis befragen. Der Revierleiter hat die Polizeiarbeit bisher koordiniert.«

Michalis und Koronaios warfen sich einen Blick zu.

»Dann würden wir den Kollegen jetzt gern sprechen«, sagte Koronaios.

»Christos! Du wirst hier gebraucht!«, rief der Kapitän Richtung Motorboot.

Der Uniformierte löste sich aus seiner Erstarrung, und das kleine Boot setzte sich in Bewegung. Keine Minute später betrat er das Schiff der Küstenwache und sah sich mürrisch um.

Der Mann war großgewachsen, hatte volles, kräftiges Haar und einen gestutzten Vollbart, und beides war bereits schlohweiß. Als ihn das Licht eines Suchscheinwerfers von hinten erfasste, schien dieser Kopf regelrecht zu leuchten. Das von Falten durchzogene, markante Gesicht zeigte kaum eine Regung.

»Christos, das sind die Kommissare aus Chania. Sie werden das Unglück untersuchen«, sagte der Kapitän.

»Gut.« Der Revierleiter strich sich mit einer mechanischen Geste durch das weiße Haar.

Koronaios ging auf den Mann zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Pavlos Koronaios. Kriminalkommissar. Und das ist mein Kollege Michalis Charisteas«, sagte er.

Der Revierleiter ergriff die Hand.

»Christos Minotis. Revierleiter von Kissamos.«

»Uns interessiert, was Sie hier vorgefunden und bereits veranlasst haben«, sagte Koronaios.

Der Revierleiter blickte Koronaios skeptisch an.

»Wir sind wenige Minuten nach dem Unglück alarmiert worden. Als wir ankamen, schlugen noch Flammen aus dem Boot. Einige Männer hatten versucht, mit ihren Feuerlöschern den Brand zu löschen. Aber retten konnten sie niemanden mehr«, erwiderte er dann.

»Hat jemand versucht, an Bord zu gehen?«, wollte Koronaios wissen.

»Der Eigentümer des Bootes. Sokratis Samarakis. Sie finden ihn und seinen Sohn Stefanos dort drüben.« Christos Minotis deutete auf die beiden Personen auf dem Sandstreifen. »Aber es war unmöglich, an Bord zu gelangen. Auf dem Boot hat auch niemand mehr auf Rufe reagiert. Samarakis war sicher, dass keiner der Insassen noch lebte. Das hat wenig später auch die Rettungsärztin bestätigt.« Christos Minotis stockte.

»Wie viele Personen waren an Bord gewesen?«, fragte Michalis.

»Drei. Da sind sich Vater und Sohn Samarakis sicher.«

»Wer sind diese drei?«, hakte Koronaios nach.

»Einer ist Gavrilis Tavernarakis, der beste Freund von Stefanos. Er wollte mit den dreien in der Lagune feiern, und deshalb hatten sie mit Stefanos’ Vater und dessen Boot einen Ausflug hierher gemacht. Die Tavernarakis betreiben in Kissamos eine Autovermietung. Gavrilis wollte wohl eine Spritztour mit dem Boot machen, während Stefanos bei einer der Strandbars Getränke besorgt. Tja.« Der Revierleiter schüttelte den Kopf. »Gavrilis hatte vor kurzem eine Frau kennengelernt und wollte sie beeindrucken. Ich schätze, er hat dabei die Kontrolle über das Boot verloren. Jetzt sind er und die Frau tot.«

»Wer ist diese Frau?«,

»Eine Melitta Papastasatos. Sie hat als Managerin im Hotel Orizontas gearbeitet. In Kissamos, in der Nähe der Promenade.«

»Und der dritte Tote?«, fragte Koronaios.

»Die dritte … das ist Artemis Apostolidis. Sie ist … sie war die Verlobte von Stefanos Samarakis. Warum sie an Bord und nicht bei Stefanos war … ich weiß es nicht.« Christos Minotis sah Michalis und Koronaios an. »Aber das werden Sie sicherlich herausfinden.«

»Und was haben Sie und Ihre Leute bisher unternommen?«, erkundigte sich Koronaios.

»Einige meiner Männer versuchen, Wrackteile zu sichern. Und einige« – er deutete zur schmalen Landzunge, die zum Sandstrand führte – »halten Schaulustige ab.« Er schüttelte den Kopf. »Sie können sich nicht vorstellen, wie viele malakes, Idioten, es gibt, die so ein Unglück aus nächster Nähe sehen wollen. Und die haben alle ihre Handys dabei. Wenn wir die nicht zurückhalten, würden sie hier über die Felsen klettern und Videos machen. Und keine zehn Minuten später wären die Aufnahmen im Netz.«

Michalis deutete auf die beiden Männern, die in der Nähe des Wracks auf den Felsen kauerten.

»Wer sind die zwei?«

»Der Bruder und ein Cousin der toten Artemis, der Verlobten. Sie sind mit ihren Motorrädern hierhergerast und über den Bergrücken gestiegen, sobald sie von dem Unglück gehört hatten. Und da drüben« – Christos Minotis deutete auf die zwei Personen am Beginn des Sandstreifens – »sind Vater und Sohn Samarakis. Ihnen gehört das Boot. Sokratis Samarakis, der Vater, hat vor ein paar Jahren ein großes Hotel an der Promenade in Kissamos gebaut. In der Nähe der beiden stehen die Eltern und die Schwester der Verlobten. Die Apostolidis. Sie betreiben in Kissamos mehrere Supermärkte. Und kurz vor der Absperrung, das ist die Familie von Gavrilis, dem besten Freund von Stefanos Samarakis.«

»Die Freundin von Gavrilis Tavernarakis … sind deren Angehörigen nicht hier?«, fragte Koronaios.

»Melitta Papastasatos stammt von Rhodos. Ihre Familie lebt auch dort. Der Vater von Gavrilis hat mir die Adresse gegeben. Bisher bin ich nicht dazu gekommen, mich mit ihnen in Verbindung zu setzen.«

»Das übernehmen wir«, sagte Koronaios.

»Gern.« Christos Minotis nahm sein Handy. »Ich kann Ihnen die Adresse schicken, wenn Sie mir Ihre Nummer geben. Oder ich schicke sie an Jorgos, und er gibt sie Ihnen.«

»Nein, das machen wir lieber direkt«, entgegnete Koronaios und bekam die Angaben.

Christos Minotis hatte also die Handynummer von Jorgos, dachte Michalis. Das bedeutete, dass die beiden sich näher kannten.

Der Revierleiter deutete zu der Absperrung. »Da hinten wartet ein Pärchen aus Schweden. Denen ist angeblich vor der Explosion ein Mann bei den Motorbooten aufgefallen. Ich glaube nicht, dass das viel zu bedeuten hat.« Der Revierleiter kratzte sich kurz am Hinterkopf. »Ich habe angeordnet, dass die beiden sich für eine Aussage zur Verfügung halten sollen.«

Michalis blickte in die Richtung der Angehörigen.

»Behauptet einer von ihnen, das hier sei kein Unfall gewesen?«, fragte Michalis.

»Stefanos Samarakis hat heute Abend seine Verlobte und seinen besten Freund verloren. Ich kann verstehen, dass er an etwas anderes glauben will als an einen Fahrfehler. Es ist schwer, zu akzeptieren, dass das hier ein Unfall gewesen sein soll«, sagte der Revierleiter grimmig. Er machte auf Michalis den Eindruck, als würde er so etwas nicht zum ersten Mal erleben.

Der Kapitän wurde an den Funk gerufen. Kurz darauf kam er zurück.

»Wir sind gebeten worden, sofort nach Kissamos aufzubrechen. Dort steht« – er sah Michalis und Koronaios an – »ein Kollege von Ihnen mit zwei Kleintransportern. Wir sollen sein Equipment hierhertransportieren.«

»Das wird Kostas Zagorakis sein, der Chef unserer Spurensicherung. Er ist in den nächsten Stunden der wichtigste Mann, um etwas über die Ursache dieses Unglücks herauszufinden.« Koronaios sah den Kapitän an. »Dies hier ist sogar für unseren Kollegen Zagorakis ein ungewöhnlicher und aufwendiger Einsatz. Sehen Sie es ihm nach, wenn er etwas … ungeduldig ist.«

Der Kapitän nickte. »Ich nehme an, dass Sie hier vor Ort bleiben. Ich würde Sie beide und unseren Revierleiter mit einem Beiboot an Land bringen lassen, bevor wir aufbrechen.«

 

Einige Minuten später betrat Minotis als Erster den Sandstreifen und ging zu den uniformierten Beamten, die die Schaulustigen zurückhielten. Michalis und Koronaios folgten ihm und sahen sich um. Obwohl der Hauptstrand noch voller Menschen war, war es gespenstisch ruhig. Keine Musik war zu hören, und nur gelegentlich leise Stimmen und aus der Ferne zirpende Grillen. Da es windstill und die Lagune durch den Felsrücken geschützt war, machten auch die Wellen keine Geräusche. Statt lautem Wehklagen von Angehörigen schien stummes Entsetzen über der Bucht zu liegen.

»Mit wem reden wir als Erstes?«, fragte Koronaios.

»Mit dem Bootsbesitzer und seinem Sohn, würde ich vorschlagen. Vor allem, da der Sohn behauptet, es könnte etwas anderes als ein Unfall gewesen sein«, erwiderte Michalis. »Außerdem würde mich interessieren, warum keiner der beiden bei dem Unglück an Bord war.«

 

Vater und Sohn Samarakis hockten schweigend am Strand. Der Vater saß in einem Campingstuhl, den ihm jemand besorgt haben musste. Der Sohn kauerte im Sand. Im Halbdunkel des Mondlichts und der Suchscheinwerfer fiel Michalis auf, dass Sokratis Samarakis, der Vater, einen Anzug trug. Für einen Ausflug in die Lagune war das ungewöhnlich, und aus der Nähe war zu erkennen, dass der Anzug durchnässt und zum Teil zerrissen war. Das hellblaue Hemd zeigte dunkle Flecken, die Blut sein konnten. Der Mann hatte offensichtlich seine Kleidung anbehalten, als er zu seinem ausgebrannten Boot gelangen wollte. Um seinen Hals hing an einer Schnur eine getönte Brille.

Der Sohn, Stefanos Samarakis, trug ein elegantes Hemd und eine Stoffhose, die eindeutig teuer war. Michalis schätzte ihn auf Anfang dreißig. Beide Männer waren schlank, groß und glatt rasiert.

»Wir sind von der Kriminalpolizei aus Chania«, begann Koronaios. »Mein Name ist Pavlos Koronaios, und das ist mein Kollege Michalis Charisteas. Wir werden die Ermittlungen zu diesem Unglück leiten. Und wir möchten Ihnen unser Mitgefühl aussprechen.«

»Finden Sie den Schuldigen. Finden Sie ihn. Mehr müssen Sie nicht tun«, sagte Stefanos leise.

»Sie gehen von einem gezielten Anschlag aus?«, hakte Koronaios nach.

»Jemand hat den Motor manipuliert, damit das Boot außer Kontrolle gerät«, erwiderte Stefanos fast drohend.

Sein Vater richtete sich in dem Stuhl auf.

»Wir waren drüben am Strand«, sagte Sokratis Samarakis leise. Seine Stimme hatte einen tiefen, harten Klang. »Stefanos wollte Getränke besorgen. Wir haben gehört, dass mit dem Motor etwas nicht stimmte. Er drehte ungewöhnlich hoch, als würde Gavrilis permanent Vollgas geben. Dabei wollte er mit den beiden Frauen ja nur eine Spazierfahrt machen.«

»Haben Sie eine Erklärung dafür?«, fragte Koronaios.

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass jemand den Motor manipuliert haben muss«, fauchte Stefanos.

»Wir konnten das Boot nicht sehen. Die drei waren hinter den Felsen. Draußen auf dem Meer.« Sokratis Samarakis schüttelte fassungslos den Kopf. »Plötzlich hörten wir, dass sich das Boot wieder näherte. Immer noch unter Vollgas. Und dann ein Aufprall, und dann …« Dem Vater versagte die Stimme. »Ein Feuerball, der auch noch über den Felsen zu sehen war«, fügte er tonlos hinzu.

»Wir sind losgerannt, aber das war sinnlos. Mein Vater wollte sogar über die Felsen steigen. Sie sehen ja, wie er aussieht.« Stefanos schüttelte den Kopf. »Als das Feuer runtergebrannt war, haben sich andere Boote mit Feuerlöschern genähert. Aber es gab nichts mehr zu retten.«

»Gavrilis war ein erfahrener Mann. Er war mit diesem Boot, und auch mit anderen Booten, schon oft unterwegs gewesen.« Sokratis Samarakis starrte in den dunklen Nachthimmel. »Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie das passieren konnte.«

»Könnte Ihr Boot einen technischen Defekt gehabt haben?«, erkundigte sich Michalis.

»Ein technischer Defekt …«, murmelte Sokratis.

»Das Boot war in Ordnung. Auf dem Weg hierher gab es überhaupt keine Probleme«, sagte Stefanos.

»Könnte Gavrilis jemand anderem das Steuer überlassen haben und unter Deck gewesen sein?«

»Einer der beiden Frauen? Völlig ausgeschlossen. Das hätte Gavrilis niemals gemacht. Niemals. Er hatte die Verantwortung für das Boot, und das wusste er. Jemand muss den Motor manipuliert haben. Das ist die einzige Möglichkeit«, wiederholte Stefanos.

 

Michalis und Koronaios überließen Vater und Sohn Samarakis ihrer Verzweiflung und gingen in Richtung der jungen Männer, die auf den Felsen hockten. Die beiden bemerkten die Kommissare und kamen ihnen entgegen. Gleichzeitig näherte sich auf dem Sandstreifen eine der kleinen Gruppen. Es waren die Eltern, der Bruder und die Schwester von Stefanos’ Verlobten.

Michalis und Koronaios stellten sich vor, und dann ergriff nicht der Vater der ums Leben gekommenen Artemis Apostolidis sondern deren Bruder Danilos das Wort. Er war ein großgewachsener Mann Mitte dreißig, dessen Haare sich bereits lichteten und der ein wenig Übergewicht sowie ein Doppelkinn hatte.

»Was auch immer die beiden Samarakis Ihnen gesagt haben«, begann Danilos Apostolidis unvermittelt, »dieses Unglück wäre nie passiert, wenn einer der beiden an Bord gewesen wäre. Es ist unverantwortlich, einem Fremden das Boot zu überlassen. Meine Schwester …« Ihm brach die Stimme. Seine Mutter eilte zu ihm und wollte ihn in den Arm nehmen, doch er wehrte sie ab. Vielleicht, überlegte Michalis, wollte sie ihn davon abhalten, sich in Rage zu reden.

»Wir möchten Ihnen unser tiefes Mitgefühl ausdrücken«, wiederholte Koronaios, was er schon Vater und Sohn Samarakis gesagt hatte.

»Wir danken Ihnen«, sagte Markos Apostolidis, der Vater der toten jungen Frau. Er trug Polohemd, eine Stoffhose und leichte Segelschuhe und hatte dieselbe Statur und ein ähnliches Doppelkinn wie sein Sohn Danilos. »Niemand kann uns Artemis zurückgeben. Niemand. Aber wir müssen die Ursache erfahren. Wir müssen wissen, warum sie sterben musste.«

Der Vater klang erstaunlich abgeklärt. Vielleicht weiß die Familie etwas, was sie uns nicht sagen will, dachte Michalis. Ohnehin wunderte er sich, wie gespenstisch ruhig sie alle waren. Standen sie noch unter Schock, oder hatte sich ihr Wehklagen schon erschöpft?

 

Michalis und Koronaios machten sich auf den Weg zu der Familie von Gavrilis Tavernarakis, die in der Nähe der Absperrung stand.

Das Handy von Koronaios klingelte. »Jorgos.«

Koronaios ging ran, kam allerdings kaum zu Wort. Michalis glaubte, mehrfach den Namen Karagounis sowie Internet und verhindern zu verstehen.

»Unser Kriminaldirektor Karagounis ist wohl außer sich«, sagte Koronaios, nachdem er aufgelegt hatte. »Es gibt im Internet zwei Videos, die den Aufprall des Bootes und danach einen Feuerball zeigen. Von dort drüben müssen Leute Aufnahmen gemacht haben.« Koronaios deutete auf den Hauptstrand der Lagune. »Karagounis weiß, was für eine Wirkung solche Bilder haben. Und es gibt wohl Gerüchte, dass es kein Unfall, sondern ein Anschlag war. Karagounis verlangt, dass wir diese Gerüchte umgehend zum Verstummen bringen. Seiner Meinung nach hätte Minotis verhindern müssen, dass Leute ihre Videos über das Unglück verbreiten.« Koronaios schüttelte den Kopf. »Hätte Minotis hier etwa Hunderte Handys konfiszieren sollen? Jorgos ist jetzt auf dem Weg hierher. Ich schick Myrta die Angaben zu den Eltern von Melitta Papastasatos auf Rhodos. Sie kümmert sich darum, dass sie informiert werden.« Koronaios sah Michalis missmutig an. »Jorgos hat angedeutet, dass Karagounis schon mal etwas mit dem Revierleiter Minotis zu tun hatte und ihn in schlechter Erinnerung hat. Das gefällt mir nicht.«

 

»Wir möchten Ihnen unser tiefes Mitgefühl aussprechen«, sagte Koronaios auch zur Familie des ums Leben gekommenen Gavrilis Tavernarakis. Diese Gruppe von trauernden Angehörigen war die größte in der Lagune. Die Eltern, zwei Schwestern, Onkel und Tanten, Cousins, Cousinen – es waren mehr als zehn Menschen, die hier fassungslos beieinanderstanden.

Ein Mann löste sich aus der Gruppe. Sein glattrasiertes, schmales Gesicht war von Falten durchzogen, und er wirkte kraftlos und deprimiert.

»Kostas Tavernarakis«, stellte er sich vor. »Gavrilis ist … er war mein Sohn.«

Michalis ahnte, was diesen Mann mehr als die anderen quälte. Er hatte nicht nur seinen Sohn verloren, sondern der war auch für das Boot verantwortlich gewesen, als es gegen die Felsen raste. Und falls keine andere Ursache für das Unglück gefunden wurde, dann wusste er: Sein Sohn würde für immer derjenige sein, der das Boot gesteuert und vermutlich einen schlimmen Fehler begangen hatte. Noch in zehn Jahren würden die Leute sagen: Gavrilis Tavernarakis, das war doch der, der damals in der Lagune das Unglück mit den drei Toten verursacht hat. Er wäre nicht nur Opfer, sondern in den Augen vieler anderer auch der Täter.

»Wir werden alles dafür tun, um die Hintergründe dieses unfassbaren Unglücks aufzuklären«, sagte Michalis zu Kostas Tavernarakis.

»Melitta Papastasatos, mit der Ihr Sohn an Bord war – waren die beiden ein Paar?«, fragte Koronaios.

»Die zwei kannten sich erst einige Wochen«, erwiderte Kostas. »Wie ernst es mit ihnen war, das kann ich nicht beurteilen. Aber sie haben viel Zeit miteinander verbracht.«

»Wir werden die Familie dieser Frau informieren. Oder haben Sie bereits zu ihnen Kontakt aufgenommen?«, fragte Michalis.

»Nein, ich … Vielleicht hätten wir die Eltern irgendwann kennengelernt. Aber bisher …«

Der Mann war am Ende seiner Kräfte. Michalis reichte ihm eine Visitenkarte, und dann ließen sie ihn in Ruhe.

 

»Wir sollten mit diesem schwedischen Pärchen sprechen, das angeblich jemanden beobachtet hat«, sagte Michalis, als sie außer Hörweite der Familie Tavernarakis waren. In dem Moment tauchte das Schiff der Küstenwache hinter den Felsen auf.

»Zagorakis hat vermutlich alles einladen lassen, was seine Abteilung hergibt«, meinte Koronaios. »Würde mich nicht wundern, wenn er in einer Stunde hier ein provisorisches Ponton aufgebaut hat, um vom Wasser aus das Wrack untersuchen zu können.«

 

Michalis und Koronaios ließen sich mit einem Beiboot zum Schiff der Küstenwache bringen und entdeckten auch Lambros Stournaras, den Gerichtsmediziner, der mit einem Assistenten sein Equipment auslud.

Michalis nutzte die Zeit, um sich auf dem Smartphone die Aufnahmen von dem Unglück anzusehen, die jemand ins Internet gestellt hatte. Zwanzig Sekunden lang war nur dunkle Nacht zu sehen und ein lauter Motor zu hören, und dann gab es plötzlich einen Feuerball. Michalis erschien es absurd, wie sich aufgrund solcher Aufnahmen das Gerücht verbreiten konnte, es handele sich um einen Mordanschlag.

 

Zagorakis ließ auf dem Schiff der Küstenwache Scheinwerfer installieren und in deren Licht dann tatsächlich Stützpfosten im Boden verankern. Auf ihnen sollte eine Plattform befestigt werden, über die Zagorakis auf das Wrack gelangen konnte. Er selbst überwachte von der Reling aus die Arbeiten.

»Ich gehe davon aus, dass in diesem Fall nicht mal ihr zwei auf die Idee kommt, mir jetzt schon Fragen zu stellen«, sagte Zagorakis zur Begrüßung.

»Natürlich nicht«, erwiderte Koronaios.

»Sobald ich mir aus unmittelbarer Nähe einen Eindruck verschafft habe, lass ich euch wissen, wie lange ich brauchen werde«, teilte Zagorakis ihnen mit und wandte sich ab.

Michalis und Koronaios näherten sich Stournaras. Während Zagorakis die Arbeiten vom Heck aus organisierte und Material über Bord reichen ließ, betrachtete der Gerichtsmediziner die Lagune.

»Ein so unglaublich schöner Ort. Und dann passiert hier ein solches Unglück«, sagte er nachdenklich.

»Da ich bisher nicht an die Leichen herankomme, verlasse mich erst einmal auf das, was diejenigen behaupten, die als Erste an diesem Unglücksort waren«, sagte er. »Nämlich, dass die Opfer sofort tot waren. Ich hoffe sehr, dass sie damit recht haben. Und ich hoffe auch, dass ich bald Genaueres sagen kann.«

 

Ein kleineres Boot der Küstenwache näherte sich und brachte Material, das die Barriere auf der Wasseroberfläche stabiler und undurchlässiger machen sollte. Der Kapitän besprach über Funk, wie das Benzin- und Löschmittelgemisch am besten an der Ausbreitung gehindert werden konnte.

Zagorakis trat zu Michalis und Koronaios.

»Ich hoffe, dass das Spezialschiff aus Heraklion, das diese giftige Brühe absaugen kann, bald eintrifft. Früher oder später müssen meine Leute und ich ins Wasser, um den Rumpf von außen zu untersuchen. Und ich würde ungern mit diesem Zeug in Berührung kommen«, sagte er.

Von den Felsen her wurde es heller. Zagorakis’ Leute hatten dort Stative verankert und schalteten Scheinwerfer ein. Michalis hörte das Geräusch eines Generators, den Zagorakis hierher hatte transportieren lassen, um ausreichend Licht für seine Untersuchungen zu haben. Zagorakis ging zum Heck und zog einen weißen Schutzanzug an. Stournaras folgte ihm, und wenig später standen beide Männer weiß verpackt in dem kalten Licht der Scheinwerfer. Zagorakis betrat die Plattform und näherte sich dem Wrack.

 

Da die beiden in Ruhe arbeiten wollten, ließen Michalis und Koronaios sich dorthin bringen, wo der Revierleiter Minotis den Übergang von der schmalen Landzunge zum Hauptstrand hatte sperren lassen.

»Wo finden wir das schwedische Pärchen, das bei den vor Anker liegenden Booten jemanden gesehen haben will?«, fragten sie Minotis.

»Die beiden haben darum gebeten, drüben bei einer der Strandbars warten zu dürfen«, sagte Minotis. »Ich habe ihre Handynummern. Sobald ich anrufe, sind sie in wenigen Minuten hier.«

»Dann tun Sie das jetzt bitte«, sagte Koronaios.

Es war fast vier Uhr in der Nacht, und noch immer schienen weitere Schaulustige zum Strand zu kommen. Da das Wasser in der Lagune nur bis zu den Oberschenkeln reichte, versuchten einige besonders Neugierige, die Polizeisperre zu umgehen und sich dem Unglücksort durch das Wasser zu nähern.

»Es gibt Leute, die wollen das Unglück und die Trauernden unbedingt aus nächster Nähe sehen. Wir mussten ein kleines Motorboot abstellen, von dem aus zwei meiner Leute diese Unverschämten zurückschicken«, sagte Minotis empört.

»Sie haben mitgekommen, dass Videos von der Explosion bereits im Netz kursieren?«, fragte Koronaios.

»Ja. Leider. Das hätte ich gern verhindert. Aber was soll ich machen. Da drüben sind hundert Schaulustige, und ich habe nicht einmal zehn Leute, um diese Unglücksstelle zu sichern. Da kann ich nicht auch noch Handys kontrollieren.«

Michalis blickte zu Vater und Sohn Samarakis, die noch immer auf dem Sandstreifen ausharrten. Warum waren sie nur zu zweit? Normalerweise wären längst Verwandte hier aufgetaucht. Gab es keine? Oder gab es Gründe, warum die nicht kamen?

 

Das schwedische Pärchen näherte sich mit Isomatten und kleinen Rucksäcken. Die beiden hatten offenbar geplant, hier am Strand zu übernachten, obwohl das verboten war. Sie waren Mitte zwanzig, sprachen sehr gutes Englisch, und das Lächeln auf ihren Gesichtern ließ Michalis vermuten, dass sie die letzten Stunden genutzt hatten, um in Ruhe zu kiffen.

»Was ist Ihnen vorhin aufgefallen?«, fragte Michalis.

»Na ja, wir waren da drüben am Strand«, begann die Frau und deutete zu dem Bereich kurz vor den Felsen.

»Und dann war da einer, der sich hinter den Booten versteckt hat. Wir dachten schon, der hat uns gesehen und wir kriegen Stress. Finden ja nicht alle cool, wenn man hier nachts am Strand liegt«, fuhr der Mann fort.

»Der ist dann so von Boot zu Boot. Und er hat auch in einige Boote reingeguckt. Als wenn er was sucht«, sagte die Frau. »Und er hatte was in der Hand. Einen Beutel oder so was.«

»Und hat er eines der Boote betreten?«, erkundigte sich Michalis.

»Ganz genau wissen wir das nicht. Aber dann kamen von einem der Boote Geräusche. Als ob da jemand was macht, arbeitet oder so. Kann aber auch was anderes gewesen sein, gab ja auch Musik. Von drüben von den Strandbars«, sagte die Frau.

»Und irgendwann ist der Kerl dann wieder aufgetaucht. Hinter einem Boot. Aber diesmal ziemlich schnell. Direkt zum Strand, und dann war er weg«, erklärte der Mann.

Michalis und Koronaios warfen sich einen Blick zu. Es war recht vage, was diese Hippies beobachtet hatten.

»Ist Ihnen noch etwas aufgefallen?«, fragte Michalis.

»Nee, wir müssen dann wohl eingeschlafen sein. Und sind wach geworden, weil ein Boot unheimlich laut war, also der Motor, und dann haben Leute geschrien, und dann …«, antwortete die Frau.

»Also die Explosion, die war unglaublich. Wahnsinn …«

»Wenn wir weitere Fragen haben, wo würden wir Sie erreichen?«, wollte Michalis wissen.

»Erreichen … Wir suchen uns jeden Abend was anderes. Lassen uns treiben. Aber Sie haben ja unsere Nummern. Auf jeden Fall wollen wir noch rüber nach Gavdos. Sie wissen. Die Insel«, erwiderte der Mann.

Michalis lächelte. Gavdos, die Insel südlich von Kreta, war in ganz Griechenland wohl das letzte Paradies für Hippies und andere, die einen Sommer unbehelligt am Strand verbringen wollten. Dort wurden sie in Ruhe gelassen, und niemand stellte Fragen. Und es wollte auch niemand so genau wissen, wo das Cannabis, das am Strand geraucht wurde, herkam.

»Vielen Dank. Das wäre es erst einmal. Wenn noch etwas ist, dann rufen wir Sie an«, sagte Michalis.

Das Pärchen ging Richtung Hauptstrand. Bisher war der Himmel dunkel gewesen, doch jetzt war über den Felshügeln der Halbinsel Gramvousa das erste Licht der Dämmerung zu erahnen.

Michalis bemerkte, dass seine Gedanken langsamer wurden. Etwas Schlaf würde helfen, aber daran war frühestens wieder in Chania zu denken. Am liebsten hätte er sich kurz in den Sand gelegt, um sich auszuruhen.

»Es könnte also jemanden gegeben haben, der von Boot zu Boot geschlichen ist«, sagte Koronaios, als das Pärchen außer Hörweite war. »Wenn es denn stimmt, was die beiden sagen.«

»Immerhin haben sie jemanden bei den Booten gesehen. Ausdenken werden sie sich das nicht, auch wenn sie sicherlich den einen oder anderen Joint geraucht haben.«

»Vielleicht war es jemand, der die Boote ausrauben wollte und nach Wertgegenständen gesucht hat. Er hatte einen Beutel dabei, haben die Schweden gesagt. Er könnte also auf Handys oder Uhren gehofft haben.«

»Ja … er könnte aber auch Werkzeug dabeigehabt haben«, entgegnete Michalis.

»Wir müssen Zagorakis fragen, ob ihm schon etwas aufgefallen ist. Auch, wenn ihn das ärgern wird«, sagte Koronaios nach einiger Zeit und gähnte.

Sie riefen den Kapitän an und ließen sich von einem der Beiboote abholen.

4

»Frappé?«, fragte der Kapitän, als sie an Deck kamen. Natürlich nahmen sie sehr gern einen.

Stournaras war mit der Spurensicherung auf dem Wrack gewesen und ließ sich jetzt zurück zum Schiff der Küstenwache bringen. So blass und verstört hatte Michalis den sonst meist gutgelaunten Gerichtsmediziner noch nie erlebt.

»Ich habe in diesem Beruf wirklich schon viel gesehen«, sagte Stournaras, nachdem er den mittlerweile rußverschmierten Schutzanzug ausgezogen und tief durchgeatmet hatte. »Aber das …« Er blickte Michalis und Koronaios ernst an. »Wenn es für eure Arbeit nicht unbedingt notwendig ist, würde ich euch davon abraten, da drüben an Bord zu gehen. Den Kollegen Zagorakis beneide ich diesmal wirklich nicht.«

»Danke für den Hinweis …«, sagte Koronaios. »Ich denke, wir werden ihn befolgen.«

Stournaras schüttelte sich. »So viel kann ich immerhin mit Sicherheit sagen: Dort drüben waren alle sofort tot. Das ist absolut eindeutig. Und es war ein gnädiges Schicksal, auch wenn ich das nicht gern sage. Ob Alkohol oder Drogen im Spiel waren, kann ich euch erst sagen, wenn ich die drei untersucht habe.«

»War zu erkennen, wer am Steuer gestanden hat?«

»Nein. Alle drei sind durch den Aufprall herumgeschleudert worden«, erwiderte Stournaras. »Allerdings ist keiner von ihnen über Bord gegangen. Sie müssen alle unter der Abdeckung gewesen sein. Vielleicht haben sie den Felsen deshalb auch zu spät gesehen und konnten nicht mehr reagieren. Anders kann ich mir nicht erklären, dass die drei Leichen noch an Bord sind.«

»Vielleicht gab es ein Problem, und sie haben nach einer Lösung gesucht«, überlegte Koronaios.

»Oder sie hatten etwas zu trinken in der Hand und haben gerade angestoßen und waren abgelenkt«, sagte Stournaras.

»Dann müsste Zagorakis an Deck Glasscherben finden«, sagte Michalis.

Ein kleines Motorboot näherte sich von der Nordspitze der Halbinsel Gramvousa.

»Kommen die Schaulustigen jetzt schon über das Meer?«, fragte Koronaios.

»Ich denke eher, es ist Jorgos«, sagte Michalis, während sich das Motorboot näherte, und er hatte recht.

Jorgos stieg auf das Schiff der Küstenwache, begrüßte den Kapitän und wollte dann von Michalis und Koronaios wissen, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatten.

»Vieles spricht also für einen Unfall«, fasste Jorgos zusammen, nachdem die beiden berichtet hatten.

»Ja, bisher redet nur Stefanos Samarakis, der Sohn des Bootsbesitzers, von einem Sabotageakt. Ob er allerdings Gründe dafür hat, wissen wir noch nicht«, entgegnete Michalis. »Und es gibt die Schweden, die jemanden bei den Booten gesehen haben wollen.«

»Ein bekifftes Hippie-Pärchen, dessen Angaben sehr vage sind«, warf Koronaios ein.

»Wenn jemand etwas an dem Boot manipuliert hat, wird Zagorakis Hinweise finden«, sagte Jorgos und blickte zu dem Wrack, auf dem die Spurensicherung die Arbeit aufgenommen hatte. »Ich will ihn nicht stören, aber per Handy kann er mich informieren.«

Es dauerte etwas, bis Zagorakis ranging.

»Ob hier etwas manipuliert wurde, kann ich unmöglich jetzt schon sagen. Ist ja alles zerstört und voller Ruß«, erklärte er. »Aber wenn du unbedingt etwas hören willst. Ich nehme an, dass jemand im letzten Moment versucht hat, das Boot herumzureißen. An Backbord ist die Bordwand von den Felsen regelrecht aufgeschlitzt worden. Das würde auch die starke Explosion erklären. Die Videos werdet ihr ja gesehen haben. Wenn die Tanks durch den Aufprall aufgerissen wurden, haben sich Benzindämpfe gebildet und entzündet. Bei einem Aufprall mit dem Bug wären die Tanks kaum zerstört worden. Vermutlich hätte es dann auch keine derartige Explosion gegeben.«

»Das ist doch schon mal ein erster Eindruck«, sagte Jorgos. »Hast du noch etwas?«

»Nein«, erwiderte Zagorakis und legte auf.

»Immerhin«, sagte Jorgos. »Das spricht dafür, dass die Steuerung intakt war.« Er blickte Michalis und Koronaios an. »Wie sehen eure nächsten Schritte aus?«

»Hier vor Ort können wir erst einmal nichts tun«, antwortete Koronaios. »Wenn uns ein Boot nach Kissamos bringt, sollten wir uns in dem Hotel umhören, in dem die dritte Tote gearbeitet hat. Über sie wissen wir noch überhaupt nichts.«

»Außerdem sollten wir uns über die Familie Samarakis erkundigen. Vielleicht gibt es ja Gründe, warum der Sohn behauptet, an dem Boot könnte etwas manipuliert worden sein. Falls die Samarakis Feinde haben, weiß darüber in Kissamos sicherlich jemand etwas«, sagte Michalis.

»Habt ihr Christos Minotis danach gefragt?«, wollte Jorgos wissen.

»Bisher nicht«, sagte Koronaios. »Aber noch bin ich auch nicht sicher, was ich von dem Kollegen halten soll.«

Jorgos deutete auf das kleine Motorboot, mit dem er gekommen war.

»Wir könnten damit zurückfahren. Bei Wellengang schwappt zwar immer wieder Wasser über die Bordkante. Aber das macht euch vermutlich nicht viel aus«, sagte Jorgos.