Kreuz und Rose - Anna-Katharina Dehmelt - E-Book

Kreuz und Rose E-Book

Anna-Katharina Dehmelt

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Beschreibung

Aus der Meditationsforschung Die hier versammelten Aufsätze befassen sich mit Rudolf Steiners Anleitungen zum Meditieren, insbesondere mit der sogenannten Rosenkreuz-Meditation. Was geschieht durch die Meditation? Wie verändert sich unser Bewusstsein? Wie beeinflusst sie unsere Gesundheit? Diese und andere Aspekte beleuchtet die Autorin aus langjähriger Erfahrung und methodischer Forschungsarbeit.

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Anna-Katharina Dehmelt

Kreuz und Rose

Anna-Katharina Dehmelt

Kreuz und Rose

Meditation in der Anthroposophie

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Zum Geleit

Von Johannes Kiersch

Vorwort

DER ZUSAMMENHANG

«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht»

Anthroposophische Meditation: Die denkende Individualität als Ausgangspunkt

«Die Umrisse der Anthroposophie als eines Ganzen» Der Geheimwissenschaft im Umriß zum Hundertsten

IM MITTELPUNKT: DIE ROSENKREUZ-MEDITATION

Die Rosenkreuz-Meditation von Rudolf Steiner

Von Meditation zu geistiger Forschung

Die 12 Nebenübungen in der Geheimwissenschaft Selbsterziehung und Moral

IN DER MEDITATIVEN WERKSTATT

Vom lebendigen Denken und vom leeren Bewusstsein

«Alles in der Welt ist bewusst» Anthroposophische Meditation als Weg zur Erforschung des Bewusstseins

Wirkungen anthroposophischer Meditation auf Konstitution und Gesundheit

AUSBLICKE IM WERK RUDOLF STEINERS

Vom Lichtseelenprozess – Zwischen Wahrnehmung und Denken. Erkenntniswissenschaft, Goetheanismus und Meditation

Vom Verstehen zum Schauen. Zum Unterschied zwischen Anthroposophischer Gesellschaft und Freier Hochschule für Geisteswissenschaft

Beobachtungen zum Verhältnis zwischen dem anthroposophischen Schulungsweg und dem Übungsweg der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Zugleich eine kleine Geschichte der Meditation bei Rudolf Steiner

Erstveröffentlichungen

ANHANG

zum Download auf der Website des Verlags: www.geistesleben.de/Dehmelt

Literatur zur anthroposophischen Meditation

Einführende Texte

Ausgewählte Meditationen und Übungen im Wortlaut Rudolf Steiners

Fenchel meditieren – Ein Beispiel geistiger Forschung

Literatur zur anthroposophischen Meditation

Vorstellungen oder Bildebewegungen?

Eine kommentierte Bibliographie zu Rudolf Steiners Buch Die Geheimwissenschaft im Umriß

Zwischen Herzdenken und Emotionaler Intelligenz.

Eine kommentierte Bibliographie zu den sechs «klassischen» Nebenübungen Rudolf Steiners

Zum Geleit

Von Johannes Kiersch

In seiner Autobiografie Mein Lebensgang berichtet Rudolf Steiner, wie er gegen Ende seiner Weimarer Zeit, Jahre nach dem Erscheinen der Philosophie der Freiheit, die Kunst der anthroposophischen Meditation entdeckt hat. «Das errungene Seelenleben», schreibt er, «brauchte die Meditation, wie der Organismus auf einer gewissen Stufe seiner Entwickelung die Lungenatmung braucht.»1 Was sagt dieser Vergleich? Ein Fisch atmet frische Luft, indem er kontinuierlich sauerstoffgesättigtes Wasser durch Mund und Kiemen strömen lässt. Ein Frosch, sobald er sein jugendliches Fischdasein aufgibt und an Land geht, unterbricht diesen Strom durch den Wechsel von Ein- und Ausatmung mit Hilfe seiner neu gebildeten Lunge. Das Innehalten dabei rhythmisiert diesen Vorgang. Es bildet damit die physische Grundlage für das Gefühlsleben aller höheren Tiere und des Menschen, schließlich auch für den Durchbruch zum Selbstbewusstsein und zur Freiheit.

Wir dürfen uns vorstellen, wie Steiner nach jener großen Entdeckung der Meditation, mitten im Trubel der Boom-Stadt Berlin, seine lockere Literatenexistenz in stillen Stunden beharrlichen Suchens und Übens grundlegend verwandelt hat und mit bewundernswerter Selbstdisziplin zum ernsten Geistesforscher wird. Die Aufsatzreihen Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? und Die Stufen der höheren Erkenntnis bilden ab, was sich – zunächst noch im Rahmen der Blavatsky-Theosophie, aber sehr schnell unabhängig davon – bei diesen ersten Versuchen ereignet hat. Im Jahre 1911 folgt beim Internationalen Philosophenkongress in Bologna eine präzise psychologische Begründung des inzwischen Erreichten. Im Jahre 1917 dann wird greifbar, was alle anthroposophischen Übungen, psychologisch gesehen, gemeinsam haben: das besinnliche, geduldige Verweilen an den Grenzen des Erkennens, wo die bloße Gedankenlogik hilflos stecken bleibt. Steiner gelangt jetzt zum Begriff der Grenzvorstellung, die sich dagegen wehrt, in die Welt der festen Dinge, unser gewohntes Gegenstandsbewusstsein, hineingezwungen und damit «herabgelähmt» zu werden. «Aus dem besonnenen Erleben», schreibt er, «das [die Seele] mit den verschiedenen Grenzvorstellungen haben kann, besondert sich ihr die allgemeine Empfindung einer geistigen Welt zu einem mannigfaltigen Wahrnehmen derselben.»2 Das besonnene Erleben mit Grenzvorstellungen wird damit zum elementaren Erfahrungsgrund, von dem alle anthroposophischen Übungswege ausgehen. Und von diesem Erfahrungsgrund handelt das vorliegende Buch.

Von Anfang an ist dabei klar, worin Steiner den höheren Zweck anthroposophischer Übungen sieht: nicht in einer Hilfe für persönliches Wohlbefinden, wie so viele der modischen Meditationslehrer unserer Gegenwart sie versprechen, sondern als selbstlosen Dienst an der Evolution des Menschheitsbewusstseins. Der Journalist Wolfgang Müller hat mit einem mutigen Aphorismus in seiner Zumutung Anthroposophie zum Ausdruck gebracht, worum es dem übenden Anthroposophen geht: «Ein Zeichen für die ernste Größe der Anthroposophie kann man auch darin erblicken, dass nicht wenige Menschen in diesen hochmütigen Zeiten ihr dienen wollen; also nicht nur eine Erkenntniseitelkeit in ihr ausleben (obwohl es das natürlich auch gibt) oder nicht nur eine letztlich austauschbare Lebenszuflucht in ihr suchen (dies auch), sondern sich frei und intelligent in etwas Größeres einordnen, dessen Weltbedeutung sie zu erkennen glauben.»3 Gewiss war Steiner auch als Lebensberater im üblichen Sinne tätig, etwa in den Vorträgen über Die praktische Ausbildung des Denkens4 oder Nervosität und Ichheit,5 oder mit den «Nebenübungen» in der Geheimwissenschaft im Umriß.6 Im Grunde aber will er immer dazu anregen, die Realität der geistigen Welt zu entdecken und mit den Wesen dieser Welt in eine produktive Zusammenarbeit zu kommen. Er greift dabei die Hierarchienlehre des Dionysius Areopagita auf, des großen Inspirators der abendländischen Kultur des Mittelalters. Wie weit er dabei ging, zeigt besonders schön der erste Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde, der den Kreis eines Lehrerkollegiums mit den Geistern der dritten Hierarchie in einen Arbeitszusammenhang bringen wollte.7 Wir erschrecken heute, wenn wir uns eingestehen müssen, was Steiner von ernsthaft praktizierenden Anthroposophen gefordert hat. Und in den Lehrstunden der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, dem wichtigsten Vermächtnis Rudolf Steiners, treten noch weitere gewaltige Dimensionen der neuen Wissenschaft vom Geist in Erscheinung, die unser beschränktes Begriffsvermögen herausfordern.

Anna-Katharina Dehmelt ist in der anthroposophischen Szene seit Jahren als kompetente Expertin für all diese Dinge bekannt. Der vorliegende Sammelband bringt Beiträge, die im Zusammenhang mit ihrer Unterrichts- und Forschungstätigkeit entstanden sind. Was sie darin vorträgt, beleuchtet das unübersichtliche Gelände der Äußerungen Rudolf Steiners über anthroposophisches Meditieren von den verschiedensten Seiten her, klärt Missverständnisse und konturiert das Prinzipielle. In der von 2003 bis 2010 bestehenden ‹Firma für Anthroposophie› und seit 2012 im von ihr begründeten ‹Institut für anthroposophische Meditation› hat sie sich mit befreundeten Forschern ausgetauscht und auf der Basis von Anregungen Steiners Erfahrungen gewonnen, von denen bisher nirgendwo die Rede war. Wir Anthroposophen sind ja heute wie Tiere im Zoo von Zuschauern umgeben, die an allem herumschnuppern, was wir tun, aber nicht selber zupacken können oder wollen. Die wenigen, die sich zum Mittun aufraffen, werden in den rückhaltlosen Berichten Dehmelts über ihren eigenen Weg zur lebenspraktischen Anthroposophie hilfreiche Orientierungen finden. So etwa den Ratschlag, auf die «kleinen Wunder» im eigenen Leben zu achten und dadurch nicht in eine «Unterhaltungs-» oder eine «Trost-Anthroposophie» abzudriften oder gar in eine «Privat-Anthroposophie mit Fanatismus und Dogmatismus».

Überall in diesem Buch merkt man, wie sehr die Autorin davon profitiert hat, dass sie sich unvoreingenommen für andere Milieus und Übungswege interessiert hat. Das Eigene wird klarer und verbindlicher, wenn man andere spirituelle Strömungen nicht ignoriert oder abwertet, sondern ihre Andersartigkeit wohlwollend zu verstehen sucht. Dehmelt praktiziert dieses Wohlwollen auch in ihren Berichten über die anthroposophische Sekundärliteratur zum Thema.8 Wie schön wäre es, wenn wir alle so souverän die Arbeitsergebnisse unserer Geistesfreunde nüchtern referieren und würdigen könnten, auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind!

Dehmelts Betrachtungen sind schließlich noch aus einem ganz anderen Grunde aktuell. Nach mehr als hundert Jahren erleben wir gegenwärtig – neben all den Nörgeleien und hässlichen Verleumdungen, die wir als Anthroposophen auszuhalten haben – eine erste Welle seriöser Steiner-Forschung. Ernstzunehmende Fachleute werden auf das erstaunliche Phänomen des Lebens, des Werkes und der Wirkungen des Begründers der Anthroposophie aufmerksam und bemühen sich redlich darum, zu verstehen, was sie da vorfinden. Ihnen zeigt Dehmelt, welch einzigartiges Kunstwerk beispielsweise der exemplarische Gedankengang darstellt, mit dem Steiner in seiner großen Kosmologie, der Geheimwissenschaft im Umriß, die Eigenart anthroposophischer Meditation erfahrbar macht: den Aufbau des Symbolbildes vom schwarzen Kreuz mit den sieben roten Rosen und das besinnliche Umgehen damit. Oder die Logik des Aufstiegs vom gewöhnlichen Gegenstandsbewusstsein, in das wir ohne unser Zutun eingesponnen sind, zu den drei höheren Erkenntnisarten, denen wir uns stufenweise nähern können. Oder das wissenschaftstheoretische Potential des Buches Von Seelenrätseln, mit dem Steiner im Krisenjahr 1917 die Praxisbewegungen eingeleitet hat, für die er heute bewundert wird. Produktive Gespräche zwischen Forschern, die sich für so etwas ernsthaft interessieren, werden in der vorliegenden Aufsatzsammlung ihre Schwerpunkte finden.

1 Rudolf Steiner: Mein Lebensgang (GA 28), Dornach 1962, S. 323.

2 Rudolf Steiner: Von Seelenrätseln (GA 21), Dornach 1976, S. 22.

3 Wolfgang Müller: Zumutung Anthroposophie. Frankfurt am Main 2021, S. 27.

4 Vortrag vom 11. Februar 1909 in Rudolf Steiner: Wo und wie findet man den Geist? (GA 37), Dornach 1984.

5 Vortrag vom 11. Januar 1912 in Rudolf Steiner: Erfahrungen des Übersinnlichen (GA 143), Dornach 1994.

6 Vgl. die eingehende Darstellung in diesem Buch auf S. 137ff.

7 Vortrag vom 21. August 1919 in ders.: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (GA 293), Dornach 1992.

8 Siehe den als Download erhältlichen Anhang zu diesem Buch unter www.geistesleben.de/Dehmelt

Vorwort

Kreuz und Rose: zusammen werden sie zum Rosenkreuz. Es ist eines der wichtigsten Symbole in der Anthroposophie und steht für die Entwicklungsfähigkeit des Menschen und die Verwandlung und Spiritualisierung von Welt und Leben. Rudolf Steiner hat das Rosenkreuz zu einer Meditation geformt, mit der man sich in die Anthroposophie von innen einleben kann; sie ist wie der Zipfel, an dem die ganze Anthroposophie sich von außen nach innen wendet.

In der Meditation des Rosenkreuzes, wie sie Rudolf Steiner in der Geheimwissenschaft im Umriß vorstellt, steckt ein klarer methodischer Weg, der sich auf die aktive Entwicklung des Bewusstseins des Meditierenden richtet. Damit bleiben Methode und Bewusstseinsentwicklung rational fassbar und somit auch anschlussfähig an allgemeinere Diskurse. Die Verwandlung des Bewusstseins und die Übertragung des in anderen Bewusstseinszuständen Erfahrenen ins gewöhnliche Bewusstsein sind der Schwerpunkt rosenkreuzerischen Übens; weniger interessiert im Folgenden das Herbeiführen von passiver Hellsichtigkeit.

Daneben hat die Rosenkreuz-Meditation eine Beziehung zu der spirituellen Strömung der Rosenkreuzer, über die Rudolf Steiner zeitweise ausführlich gesprochen hat. In den in diesem Buch versammelten Aufsätzen steht jedoch die Meditation selbst im Zentrum, die auch ganz unabhängig von dem überlieferten Rosenkreuzertum verstanden und meditiert werden kann.

Ich habe diese Meditation 1983 im Anthroposophischen Studienseminar bei Frank und Brigitte Teichmann kennengelernt. Wir haben die Anleitung zu dieser Meditation, die in der Geheimwissenschaft im Umriß schriftlich vorliegt, studiert wie auch andere Texte Rudolf Steiners. Davon, dass man diese Meditation tatsächlich durchführen könne, war, den damaligen Usancen gemäß, keine Rede. Es war in der anthroposophischen Szene völlig unüblich, über Meditation und geistige Forschung zu sprechen, und es gab auch nur ganz wenige Bücher zu diesem Thema. Das hat sich erst in den folgenden Jahrzehnten grundlegend verändert.

Die Rosenkreuz-Meditation ist dann zum Zentrum im Aufbau meines meditativen Lebens geworden, und ich habe mich ihr durch Jahrzehnte hindurch fast täglich gewidmet. Alles, was ich seither über anthroposophische Meditation und das sich daraus ergebende Verständnis anderer anthroposophischer Aspekte veröffentlicht habe, entspringt letztlich diesem Umgang mit Steiners Rosenkreuz-Meditation.

Dazu gehören die ersten Seminare mit dieser Meditation im Frankfurter und im Stuttgarter Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft noch in den neunziger Jahren, intensiviert dann im neuen Jahrtausend. Dazu gehört die Beobachtung, dass der komplexe Aufbau der Meditation und das Meditieren selbst für viele Menschen zu anspruchsvoll ist, weshalb ich mir Gedanken gemacht habe, wie man vom heutigen Alltagsbewusstsein ein Brücke bauen kann zum Ausbilden grundlegender geistiger Fähigkeiten, die für anthroposophisches Meditieren nützlich sind. Und dazu gehört die Entwicklung eines geistigen Forschungsweges, der dem Aufbau der Rosenkreuz-Meditation in der Geheimwissenschaft entspricht, und dessen Anwendung auf verschiedene Gebiete. Davon zeugen insbesondere die beiden Aufsätze ‹Die Rosenkreuz-Meditation› und ‹Von Meditation zu geistiger Forschung› sowie das ausführliche Beispiel ‹Fenchel meditieren› im Anhang. Auch der Geheimwissenschaft im Umriß, die den unmittelbaren Kontext für die Rosenkreuz-Meditation bildet und deren Formulierung des Schulungsweges mich am meisten geprägt hat, ist ein Aufsatz gewidmet.

Von da aus weitet sich der Blick auf den anthroposophischen Schulungsweg insgesamt: zunächst zu den «12 Nebenübungen» der Geheimwissenschaft, später dann zum «Lichtseelenprozess». Einen Überblick über anthroposophisches Meditieren darüber hinaus findet man in ‹Die denkende Individualität als Ausgangspunkt anthroposophischer Meditation›.

Drei Aufsätze geben einen Einblick in die meditative Werkstatt: in das Erüben eines leeren Bewusstseins, in das Erforschen des Bewusstseins selbst und in die Wirkungen anthroposophischer Meditation auf Konstitution und Gesundheit. Das Buch endet mit zwei Untersuchungen zum Verhältnis zwischen anthroposophischer Schulung im allgemeinen und dem Übungsweg der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, wobei die zweite zugleich eine kleine Genese anthroposophischen Meditierens bei Rudolf Steiner enthält. Am Beginn des Buches steht eine Skizze meines Verhältnisses zur Anthroposophie im Allgemeinen.

Die Aufsätze sind in den Jahren 2009 bis 2019 unabhängig voneinander entstanden – was einige kleinere Überschneidungen bedingt – und können auch unabhängig voneinander gelesen werden. Sie wurden für die Buchausgabe geringfügig bearbeitet, verändert oder aktualisiert. Die Reihenfolge ist ein Vorschlag für eine sinnvoll geordnete Lektüre aller Aufsätze.

Die Lektüre ist aber keine ganz leichte Kost. Sie vermittelt natürlich Information, aber die Texte wollen auch etwas verstehbar machen, und dafür braucht es beim Lesen das Mitdenken. Zudem sind sie keine Einführung in die anthroposophische Meditation oder die Anthroposophie im strengen Sinne; eher sind es Reflektionen, Vertiefungen und weiterführende Gedanken für Menschen, denen beides zumindest in Grundzügen schon bekannt ist. Wer ganz neu an dieses Feld herantritt, für den finden sich einige einführende Texte zu den in diesem Kontext wichtigsten Grundbegriffen im Anhang, der als Download auf der Website des Verlags Freies Geistesleben bereit steht.1 Sie sind zumeist der Website des ‹Instituts für anthroposophische Meditation› entnommen, ebenso wie die ausführliche Literaturübersicht zur anthroposophischen Meditation. Auch die in diesem Buch besprochenen Meditationen stehen dort zum Download bereit.

Eine wichtige Station bei der Entstehung der in diesem Buch versammelten Aufsätze war die von 2003 bis 2010 bestehende ‹Firma für Anthroposophie›, die neue Wege im Umgang mit Anthroposophie entwickelte. Gemeinsam mit den Kollegen Sebastian Gronbach, Jelle van der Meulen, Alexander Schaumann und Michael Schmock haben wir damals – 100 Jahre, nachdem Rudolf Steiner 1904 Leiter einer Esoterischen Schule und damit Lehrer für Meditation und geistiges Forschen wurde – einen wichtigen Schritt von Meditation zu geistiger Forschung gemacht. Außerdem gab es in diesen Jahren ein erstes Kolloquium am Goetheanum, das ich zusammen mit Heinz Zimmermann durchgeführt habe und in dem wir den Austausch über meditative Erfahrungen regelrecht geübt haben.

Es kam in diesen Jahren auch sonst das Meditieren sehr in Mode, man denke etwa an die Achtsamkeitsbewegung, die Zen-Meditation mit ihren Meditationshäusern oder das christliche Meditieren am Benediktushof des Willigis Jäger. Dort habe ich mich überall umgesehen, und mir wurde gerade an der Unterschiedlichkeit deutlich, was das Spezifische der anthroposophischen Meditation ist.

2012 habe ich dann das ‹Institut für anthroposophische Meditation› gegründet, das sich zur Aufgabe gesetzt hat, anthroposophische Meditation auch in der nicht-anthroposophischen, aber spirituell interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Das ist ein Stück weit auch gelungen, ein Höhepunkt war die Anleitung einer anthroposophischen Meditation auf dem buddhistisch orientieren Kongress ‹Meditation und Wissenschaft› 2019 in Berlin; seither jedoch scheint diesbezüglich eine vorläufige Grenze erreicht zu sein. Innerhalb der anthroposophischen Szene ist das Meditieren, auch als gemeinsame Praxis, indes so selbstverständlich geworden, wie wir es zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum für möglich gehalten hätten. Das gemeinsame Gespräch im Rahmen des ‹Instituts für anthroposophische Meditation› gibt es bis heute. Stellvertretend für die ganze Gruppe seien hier die bereits seit der Gründung teilnehmenden Persönlichkeiten Corinna Gleide, Christoph Hueck, Andreas Neider, Dorian Schmidt und Markus Buchmann genannt.

Außerdem bin ich durch Karl-Martin Dietz und Thomas Kracht verschiedentlich zu Kolloquien im Rahmen des ‹Forum Zeitfragen› der Anthroposophischen Gesellschaft und des Hardenberg Instituts eingeladen worden, wo ich neue Beobachtungen und Forschungsergebnisse vorstellen konnte. Aus diesen Zusammenhängen kenne ich auch Johannes Kiersch, der so freundlich war, ein Geleitwort für dieses Buch beizusteuern. Stephan Stockmar und Lydia Fechner von der Zeitschrift die Drei waren dort oft dabei und haben mich immer wieder aufgefordert und unterstützt, meine Gedanken weiter auszuarbeiten und zu Papier zu bringen.

2016 fand auf Anregung von Stephan Schmidt-Troschke von ‹Gesundheit aktiv› der Kongress ‹Meditation und Gesundheit› in Berlin statt, den wir zusammen mit Rudi Ballreich vorbereitet haben. Anknüpfend daran gab es am Alanus Werkhaus in zwei Durchgängen eine Fortbildung für Menschen, die andere meditativ anleiten möchten. In der Leitung dieser Fortbildungen, die sich über insgesamt fünf Jahre mit 25 Wochenenden erstreckte, habe ich zusammen mit den Teilnehmenden das ganze Feld anthroposophischer Meditation noch einmal sehr vertiefen können.

Mit meinem Einstieg in die Redaktion der Monats-Zeitschrift Info3 hat sich nun mein Lebensschwerpunkt nochmals verlagert und das Engagement für die anthroposophische Meditation ist in den Hintergrund getreten. Dass Claudius Weise vom Verlag Freies Geistesleben die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und mir die Möglichkeit gegeben hat, was ich zur anthroposophischen Meditation zu Papier gebracht habe, zwischen zwei Buchdeckel zu versetzen, freut mich sehr.

Allen Genannten danke ich sehr herzlich – ohne Euch wären die Aufsätze und damit auch dieses Buch nicht zustande gekommen!

Den Leserinnen und Lesern wünsche ich Anregung und Inspiration, sei es für das eigene Meditieren oder für das Verständnis von Anthroposophie, und ich hoffe, dass die Aufsätze seit der Zeit ihrer Entstehung nichts davon verloren haben.

1www.geistesleben.de/Dehmelt

Der Zusammenhang

«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht»

2011 wurde der 150. Geburtstag von Rudolf Steiner gefeiert – die Beiträge in großen Zeitungen erweckten damals den Eindruck, dass die Anthroposophie im öffentlichen Leben der Gegenwart angekommen ist. Die Zeitschrift die Drei veröffentlichte damals unter der Überschrift ‹Treffpunkt Steiner› eine Serie vieler verschiedener Zugangsweisen zu Persönlichkeit und Werk Rudolf Steiners – eine Gelegenheit, sich den eigenen biographischen Zugang zu vergegenwärtigen.

«Denken 1979/80» habe ich vorne in mein Exemplar von Steiners Grundlinien einer Erkenntnistheorie (1886) geschrieben, und dieser Eintrag stammt aus der Zeit des ersten anthroposophischen Lesekreises, an dem ich teilnahm, ganz privat, mit Musikerfreunden und unter Anleitung eines etwas älteren ehemaligen Waldorfschülers. Mit Philosophie und Erkenntnistheorie hatte ich, die ich gerade das Abitur hinter mich gebracht hatte, bisher nicht viel zu tun gehabt, aber mit Denken schon. Denken war eine gern ausgeübte Beschäftigung, nicht nur in den Leistungskursen Mathematik und Latein, sondern auch in Gesprächen über den Sinn des Lebens, ein eventuelles Leben nach dem Tod und die damals stets gegenwärtige Frage, ob die Schulkameraden den Kriegsdienst verweigern sollten oder nicht.

Vor diesem Hintergrund war ich einigermaßen vorbereitet, Steiners Gedankengänge zu verstehen und ihnen selber denkend zu folgen, bis dahin, wo das Denken in seiner auf sich selbst beruhenden Natur als einheitlicher «Seinsgrund»1 der Welt erkannt wird. Der ist mannigfaltig ausgegossen und differenziert in den einzelnen Bewusstseinen und den einzelnen Welttatsachen, aber das Differenzierte ist – einer Formulierung in den Anthroposophischen Leitsätzen (1924) folgend – als «Geistiges im Menschenwesen» und als «Geistiges im Weltenall»2 doch mit diesem einheitlichen Seinsgrund verbunden, enthält ihn, ist seiner inne. Ich konnte mitvollziehen und ahnend erleben, wie ich im Denken selber tätig bin und zugleich etwas Objektives zur Erscheinung bringe und wie dieses tätige zur Erscheinung-Bringen etwas ist, das sich selber trägt und auf sich selbst beruht, in meinem Denken als auf sich selbst beruhender Seinsgrund anwesend ist.

Ich hätte diese Erfahrung damals wohl nicht genau beschreiben können, aber sie nahm in diesem ersten Lesekreis ihren Anfang, sich bis heute erneuernd und vertiefend. Es war die erste ahnungsweise Erfahrung dessen, wonach, wie ich heute weiß, alle spirituellen Strömungen suchen und was als Absolutes, als Geist, als Gott, als Weltengrund, Brahman oder als Selbst bezeichnet wird.

Der in den Grundlinien gefundene Zugang zum Seinsgrund führt – auch das war mir damals in seiner Bedeutung nur anfänglich klar – durch das Denken, durch das, was in mir in seiner letzten Äußerungsform als Denken erscheint und was zurückgeführt werden kann zu der Kraft, die nicht nur in mir als Denken zur Erscheinung kommt, sondern auch die Welttatsachen schöpferisch zur Erscheinung gebracht hat und bringt. Dass dieser Grund durch das menschliche Denken – wenn es sich denn entsprechend vertieft – zugänglich ist, charakterisiert die ganz spezifische Geistigkeit, die Rudolf Steiner in der Anthroposophie zum Ausdruck gebracht hat, zutreffend. Ich fühlte mich dadurch mit einem Grund verbunden, der sich selbst trägt, der nicht mehr hinterfragbar ist, der in seiner tiefsten, absoluten Natur das Wesen und der Sinn der Welt ist.

Es war diese Erfahrung, die die achtziger Jahre hindurch meinen Umgang mit Rudolf Steiners Werk bestimmte, im Anthroposophischen Studienseminar bei Frank Teichmann, in der anthroposophischen Studentenarbeit, im Frankfurter Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft. Es ging mir darum, die Denkbewegungen im Hinblick auf die zentrale Erfahrung des Seinsgrundes immer aktiver und bewusster zu vollziehen – hier lagen auch meine ersten Erfahrungen mit anthroposophischer Meditation. Die Inhalte der Anthroposophie spielten demgegenüber für mich zunächst gar keine große Rolle, wenn auch die anthroposophischen Grundbegriffe wie die Wesensglieder, die Kulturepochen, Mysteriengeschichte und Weltentwicklung und der Reinkarnationsgedanke doch hängenblieben, sich quasi absetzten durch immer erneutes Durchdenken. Sie setzten sich allerdings weniger als Gewusstes ab denn als Struktur, als Organ, bereit zum Wahrnehmen und Ordnen geistiger Wirklichkeit, bereit zum Auffinden des Seinsgrundes in der Welt. Zunächst äußerten sie sich wie ein noch ganz allgemeiner Sinn für Sinn, für Stimmigkeit, für Geistgemäßheit.

Das Ende des 20. Jahrhunderts

Erst, als ich 1989 für das Arbeitszentrum Frankfurt der Anthroposophischen Gesellschaft die Aufgabe übernahm, herauszufinden, was Rudolf Steiner alles über das Ende des 20. Jahrhunderts gesagt hatte, rückten für mich die Inhalte im Werk Rudolf Steiners in den Vordergrund. Auf der Suche, die mit dem Jahrhundertende verbundenen inhaltlichen Motive zu verfolgen und zu verstehen, musste ich sehr viel lesen, insbesondere Vorträge von Rudolf Steiner. Mit dem Mitdenken und Verdauen kam ich kaum nach. Vom Treffen auf den Seinsgrund, der all das Dämonische, all die geschichtlichen Verwerfungen und ihre karmischen Hintergründe, die Gegenbilder und die sich daraus ergebenden Aufgaben zusammengehalten und ihnen Sinn verliehen hätte, konnte keine Rede sein. Stattdessen machte ich die Erfahrung, dass das Immer-weiter- und Immer-mehr-Lesen durchaus Unterhaltungswert haben, spannend sein, fast einen Rausch auslösen konnte, wenn ich nur das Fragen und Verstehenwollen ausschaltete. Ich machte aber auch die Erfahrung, dass ich weiterlas in der Hoffnung, dass irgendwo die Antworten stünden, dass mir doch gesagt würde, was genau am Jahrhundertende geschehen werde und wie ich mich dagegen wappnen könne. Und ich machte, da ich ja nun doch so viel gelesen hatte, auch die Erfahrung, dass ich nun begann, mein eigenes Verhalten, meine Ansprüche, meine Ziele und mein Scheitern mit der Anthroposophie zu rechtfertigen. Manchmal meinte ich nun zu wissen, wie es sei und was zu geschehen hätte, und der Fanatismus und Dogmatismus, mit dem ich dies zu vertreten begann, gesellte sich als drittes Gegenbild zum Unterhaltungswert der Anthroposophie und zu der Hoffnung, sie würde mir eigene Einsicht und Verantwortung abnehmen und Trost und Erquickung spenden.

Unterhaltungs-Anthroposophie, Trost-Anthroposophie, Privatanthroposophie mit ihrem Fanatismus und Dogmatismus – in diesen dreien spürte ich, dass sie meine seelische Gesundheit ankratzten. Die Gegenbilder des Geistigen, deren Eigendynamik am Jahrhundertende Steiner so eindrücklich beschrieb, hatten mich von dieser Seite aus kräftig am Wickel.

«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht.» Es war tatsächlich die Stimme Rudolf Steiners in dem so zentralen Vortrag zum Jahrhundertende über die Tätigkeit der Engel im Astralleib3, die mich hinaushebelte aus der Verstrickung in die Gegenbilder. So vieles wurde ausgebreitet in diesem Vortrag, so viel Bedrohliches, und so gewaltige, das Fassungsvermögen übersteigende Ansprüche gestellt – und dann: «Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht.» Als riefe Steiner selbst mir das zu, und er dachte dabei sicherlich nicht an die gedächtnismäßige Aneignung der geisteswissenschaftlichen Begriffe und Ideen, sondern an die aktiv-denkerische Bildung innerer geistgemäßer Unterscheidungen und Zusammenhänge. Rudolf Steiner ermutigte mich, im Hinblick auf ein richtig bewusstes Verstehen seines Werkes den eigenen Fragen unverdrossen zu folgen und mit den gebildeten Begriffen wach und souverän zu leben im Sog der Gegenbilder, überhaupt in der Bewegung des Geistes, nicht nur am Jahrhundertende.

Das Zweite, worauf Rudolf Steiner mich aufmerksam machte, war die Übung am Ende dieses Vortrages, eine einfache Karmaübung: Achtet auf das, was wie durch ein Wunder in euer Leben tritt, was bei nur winzigsten Veränderungen nicht hätte stattfinden können, und auf das, was beinahe geschehen wäre, aber verhindert wurde durch winzigste Änderungen der Rahmenbedingungen. Achtet auf den verpassten Zug, den verhinderten Unfall, auf die überraschende Wiederbegegung, auf den kleinen Fingerzeig. Achtet auf das fortwährende Wunder, den Wandel in eurem Leben!

Und als Drittes wurde ich gefragt, was denn nun das Jahrhundertende eigentlich sei? Wirklich nur eine profane Zeitangabe? Sollte Steiner tatsächlich Zukunftsvorhersagen à la Nostradamus gemacht haben? War das Jahrhundertende nicht auch ein Symbol für krisenbelastete Schwellensituationen, wie die Zeitrechnung sie wohl am Jahrhundertende hervorbringt, die ihrem Wesen nach aber weit darüber hinausreichen?

Diese Hinweise Steiners auf die denkaktive Begriffsbildung, auf Übung und Schulung und auf die dadurch ermöglichte geistige Forschung eröffneten mir die Perspektive, mich aus der Klammer der Gegenbilder zu lösen. Das hatte etwas Befreiendes. Ich erlebte darin eine Umstülpung von der Inhaltsfülle der Anthroposophie mit all ihren Gefahren hin zu eigener innerer, auf Verwandlung und Entwicklung gerichteter Arbeit. Aus der inhalts- und vergangenheitsorientierten Erkenntnisseite der Anthroposophie entbindet sich Moral – aber keine vorgegebene, sondern eine aus dem Verbundensein mit dem Seinsgrund, dem Geistigen in mir und in der Welt entstehende selbstverantwortete, mich und die Welt verwandelnde Moralität. Es entbindet sich Zukunft, aber keine vorgegebene, sondern eine, die aus geistesgegenwärtigem Tun entsteht. Das Jahrhundertende ist ein Bild für diese Umwendung.4

In dieser Umwendung trifft Anthroposophie mich an der Schwelle zwischen Bindung und Freiheit, zwischen fertiger und werdender Welt, zwischen gewordenem und sich entwickelndem Mensch-Sein. Und damit ging für mich auch eine verstärkte Pflege von Meditation und anthroposophischer Schulung einher.

In Rudolf Steiners Werkstatt

Im neuen Jahrhundert dann trat für mich die Frage in den Vordergrund: Wie hat Rudolf Steiner das eigentlich gemacht? Wie hat er ein Werk geschaffen, das die durch Denken gehende Erfahrung eines einheitlichen Seinsgrundes in mir und in der Welt ermöglicht und dabei zugleich individuelle Freiheit, Moral und Zukunft entbindet, ein Werk, das durch ebendiese Eigenart, Erkenntnis in Moral, Gegebenes in Werdendes zu verwandeln, ganze Lebensfelder inspiriert hat?

Ich entdeckte, wie Rudolf Steiner grundlegende Begriffe und Inhalte der Anthroposophie, zum Beispiel die höheren Erkenntnisstufen der Imagination, Inspiration oder Intuition oder die Meditation des Rosenkreuzes, keineswegs offenbart, auch selber nicht offenbart erhalten hat, sondern über Jahre entwickelt, erforscht, ausprobiert, verändert – man kann das in den Vorträgen, die der schriftlichen Niederlegung vorangehen, nachverfolgen. Dabei stützt er sich oft auf Inhalte, die er der esoterischen oder kulturellen Tradition entnommen hat – auch wenn er nur selten die Quellen angibt.5 Aber dann arbeitet er daran, den Inhalten eine auf sich selbst beruhende Gestalt zu geben, eine innere Stimmigkeit, die es unmöglich macht, aus der sozialen Dreigliederung eine Viergliederung oder aus den sieben Wesensgliedern des Menschen sechs oder acht zu machen. Die von Steiner geprägten geisteswissenschaftlichen Begriffe tragen sich gegenseitig, und dadurch kann durch sie alles Einzelne in Zusammenhang gebracht werden mit der Ganzheit des Wesens des Denkens, mit dem Seinsgrund.

Mir wurde klar, wie Rudolf Steiner nicht einfach über irgendetwas spricht, sondern wie er das, worüber er spricht, zugleich tut. So gibt es zum Beispiel einen Vortrag aus dem Jahre 1924 über den Prozess der Einweihung, der, ausgehend von Mythos und Bild über deren Verstehen und das Einleben in die Vorgänge, von denen Mythos und Bild reden, schließlich in die Erfahrung der zugrundeliegenden geistigen Realität mündet.6 Aber Steiner spricht nicht nur davon, sondern er baut den ganzen Vortrag nach diesen Stufen auf, er vollzieht diese Stufen im Sprechen von diesen Stufen fortwährend. Er tut, wovon er spricht, Inhalt und Form, Erkenntnis und Moral werden eins. Vielleicht kann man die besten Vorträge Steiners als Performances der Geistesgegenwärtigkeit bezeichnen, im Augenblick entstehende Realisationen eines anwesenden Geistes.

Ich begann zu verstehen, wie Steiner seiner Aufgabe, ja, seiner Mission, Welt und Mensch ausgehend vom Denken transparent zu machen für ihren sie verwandelnden geistigen Grund und Zusammenhang, treu geblieben ist von den Grundlinien am Anfang bis zu den Anthroposophischen Leitsätzen am Ende seines Werkes. Aber er hat dieser seiner Mission so unterschiedliche Ausdrucksformen gegeben, dass man sie kaum einem einzelnen Menschengeist zuordnen kann: die philosophische Form bis zur Jahrhundertwende, gipfelstürmend, anarchistisch, persönlich; die theosophische Form bis 1912, inhaltsstrotzend, allwissend, manchmal widersprüchlich, immer allerwichtigst; und dann der Parallelgang: in den internen Vorträgen behält er, den Bedürfnissen seiner Zuhörer entsprechend, viel Theosophisches bei, während er in den öffentlichen Schriften die Inhaltsfülle abstreift und sie ganz auf das Mitdenken-Wollen zuspitzt. 1917 erfindet er mit der Dreigliederung die Anthroposophie noch einmal neu – ein weiterer Versuch, den theosophischen Sockel abzustoßen. Immer nüchterner werden in seinen geschriebenen Werken die Ausdrucksformen für das, worum es ihm von Anfang an zu tun war: wie das Geistige im Menschenwesen und das Geistige im Weltenall sich im Hier und Jetzt treffen können.

Treffpunkt Steiner

Rudolf Steiner hat ein Werk hinterlassen, das sich, insbesondere in den geschriebenen Büchern, mit seiner in sich stimmigen, auf sich selbst beruhenden Begrifflichkeit selbst trägt – auch wenn die Denkaktivität, auf der diese Erfahrung ruht, heute vielleicht immer mehr quasi propädeutisch erst erübt werden muss. Es zeigt sich aber auch, dass viele Inhalte, vieles an dem Stoff, den Steiner insbesondere in den Vorträgen bearbeitet hat, zeitbedingt ist und der Kontext manchen Gedankens doch zu lange vergangen ist, um auf Dauer Bestand zu haben – auch wenn die künstlerische Gestalt, die Steiner seinen Denkbewegungen gab, anregend bleibt. Der Wandel in den Ausdrucksformen, in die Rudolf Steiner seine Mission gegossen hat, macht deutlich, wie vielfältig, wie reich der geistige Impuls ist, dem Steiner sein Werk gewidmet hat.

Rudolf Steiner selbst aber treffe ich heute da, wo ich mich übend und forschend selber auf die Suche mache nach der Verbindung zwischen dem Geistigen in mir und dem Geistigen in der Welt. Da begleitet er mich, wie ich ihn in den Spuren seines Werkes kennengelernt habe: diesen unermüdlichen Charakter, voller Phantasie, voller Schöpfergeist, voller Mut, voller Ernst. Er hält mir die Türe auf zum Seinsgrund, aus dem Welt und Mensch erschaffen sind, und er regt mich an, diesen Schöpfungsstrom fortzusetzen. Aber eintreten, den Schritt machen ins Freie, wo Erkenntnis sich umwendet in Moral und zur Grundlage schöpferischer Geistesgegenwärtigkeit wird, muss ich selbst.

1 Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA 2), Dornach 1987, S. 84.

2 Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze (GA 26), Dornach 1998, S. 14.

3 Vortrag vom 9. Oktober 1918; Was tut der Engel in unserem Astralleib? in Rudolf Steiner: Der Tod als Lebenswandlung (GA 182), Dornach 1996.

4 Aus dieser Beschäftigung mit dem Jahrhundertende ist meine nur noch antiquarisch erhältliche Zusammenstellung Das Ende des 20. Jahrhunderts im Werk Rudolf Steiners (Dürnau 1993) hervorgegangen sowie mein Aufsatz Vom Jahrtausendende und der Jahreszahl 1998 in Die Christengemeinschaft 1/1998.

5 Unzählige Beispiele finden sich in Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007.

6 Vortrag vom 19. April 1924 in Rudolf Steiner: Mysterienstätten des Mittelalters (GA 233a), Dornach 1991.

Anthroposophische Meditation: Die denkende Individualität als Ausgangspunkt

Im März 2015 fand in Stuttgart eine von der Agentur ‹Von Mensch zu Mensch› organisierte Tagung zum Thema «Meditation in Ost und West – Buddhismus und Anthroposophie im Gespräch» statt. Das war die erste große Meditationstagung, der sich in den Folgejahren weitere anschließen sollten. Die buddhistische Meditation wurde von dem Religionswissenschaftler und Zen-Lehrer Michael von Brück vertreten, mein anschließende Beitrag zur anthroposophischen Meditation ist hier wiedergegeben.

Die denkende Individualität als Ausgangspunkt für einen meditativen Weg – das dürfte für die meisten Menschen, die mit östlicher Meditation vertraut sind, eine Provokation sein. Geht es doch dort zumeist darum, wie wir auch eben von Michael von Brück gehört haben,1 der Welt ohne fertige Gedanken zu begegnen und sich weder mit dem eigenen Körper noch mit Erinnerungen, Wünschen oder Urteilen zu identifizieren, also das Denken und die Individualität gerade nicht als Ausgangspunkt einer inneren und meditativen Entwicklung zu setzen. Meine Aufgabe ist es, den anthroposophischen Ansatz der Meditation so darzustellen, dass der Unterschied zu östlichen Ansätzen deutlich wird. Und da scheinen mir Denken und Individualität bzw. das Ich die Besonderheiten anthroposophischer Meditation am prägnantesten zu bezeichnen – auch wenn wir sehen werden, dass diese Begriffe ihren Schwerpunkt gegenüber dem gewöhnlichen Gebrauch ein wenig verlagern.

Inhalt, Vollzug und Sinn

Beginnen wir mit einer «einfachen Tatsache», auf die Steiner hinweist und

«die nur in ihrer umfassenden Bedeutung gewürdigt werden muß. Es ist diejenige, daß es im ganzen Umfange der Sprache einen einzigen Namen gibt, der seiner Wesenheit nach sich von allen andern Namen unterscheidet. Dies ist eben der Name ‹Ich›. Jeden andern Namen kann dem Dinge oder Wesen, denen er zukommt, jeder Mensch geben. Das ‹Ich› als Bezeichnung für ein Wesen hat nur dann einen Sinn, wenn dieses Wesen sich diese Bezeichnung selbst beilegt. Niemals kann von außen an eines Menschen Ohr der Name ‹Ich› als seine Bezeichnung dringen; nur das Wesen selbst kann ihn auf sich anwenden. ‹Ich bin ein Ich nur für mich; für jeden andern bin ich ein Du; und jeder andere ist für mich ein Du.› Diese Tatsache ist der äußere Ausdruck einer tief bedeutsamen Wahrheit. Das eigentliche Wesen des ‹Ich› ist von allem Äußeren unabhängig; deshalb kann ihm sein Name auch von keinem Äußeren zugerufen werden.»2

Versuchen wir einmal, diese «einfache Tatsache» nicht nur als Information aufzunehmen, sondern sie zu realisieren.3 Wir können versuchen, diesen Moment des Ich-Sagens zu verlängern, zu verstärken und zu halten. Wir bemerken sofort, welche Kraft es braucht, nicht unmittelbar in irgendwelche Identifikationen – ich bin die und die, ich bin so und so, ich habe dies oder das – zurückzufallen. Die Kraft, die es braucht, um sich im Ich-Sagen zu halten, müssen wir erst trainieren, wie einen ungeübten Muskel. Dann bemerkt man, dass diese Kraft, die zu sich selbst Ich sagt, Bestand haben kann – freilich nur, so lange ich sie betätige – und dass sie so lange eine gänzlich von allen Identifikationen befreite Existenz hat. Es ist keine subjektive, persönliche Kraft, vielmehr geht sie jeder Identifikation voraus. Sie ist ihrer inneren Natur nach überpersönlich und in der Lage, Identifikation einzugehen. In der Regel finden wir sie als bereits identifizierte Kraft, als Ego in uns vor. Ihrem Wesen nach aber ist sie unabhängig von all diesen Identifikationen. Und doch hat sie eine eigene Existenz.