Kreuzfahrt durch die Republik - Lorenz Meyer - E-Book

Kreuzfahrt durch die Republik E-Book

Lorenz Meyer

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Beschreibung

Auf Twitter ist Lorenz Meyer (@shengfui) längst ein Star und entwirft auf Zuruf Texte und Statements diverser Personen des Zeitgeschehens: von Christian Lindner über Harald Martenstein und Heidi Klum bis hin zu Richard David Precht. Seine Beiträge werden von Hunderttausenden geliket und geteilt und legen offen, wie stanzenhaft moderne Kommunikation in Zeiten von Social Media funktioniert. Journalist und Medienkritiker Lorenz Meyer «trifft» in diesem satirischen Buch Polit- und Unterhaltungsprominenz und zeigt uns Deutschland in 20 fast wahren, da nicht stattgefundenen Gesprächen: mit Armin Laschet im Aachener Dom, mit Frauke Ludowig auf dem Roten Teppich, mit Markus Lanz im Fernsehstudio – das ist gleichermaßen komisch und entlarvend, denn Meyer versteht es wie kein Zweiter, den Zungenschlag der deutschen Prominenz zu imitieren.                        

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Seitenzahl: 286

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Lorenz Meyer

Kreuzfahrt durch die Republik

Deutschland in 20 (fast wahren) Geschichten

 

 

 

Über dieses Buch

«Eine vergnügliche Gesellschaftskritik, die in ihrer Härte und Komik allenfalls von der Wirklichkeit übertroffen wird.»

Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720–1797)

 

Mit Angela Merkel auf dem Golfplatz, mit Rezo auf YouTube, mit Markus Lanz im Fernsehstudio – das ist gleichermaßen komisch und entlarvend, denn Meyer versteht es wie kein Zweiter, den Zungenschlag der deutschen Prominenz zu imitieren.

Journalist und Medienkritiker Lorenz Meyer führt in diesem Buch fiktive Gespräche mit Prominenten aus Politik und Unterhaltung und zeigt uns Deutschland in 20 fast wahren Geschichten mit:

Markus Lanz, Armin Laschet, Richard David Precht, Harald Martenstein, Gabor Steingart, Ina Müller, Rezo, Barbara Schöneberger, Frank Thelen, Angela Merkel, Jochen Schweizer, Horst Lichter, Frauke Ludowig, Fynn Kliemann, Dieter Bohlen, Christian Lindner, Thomas Gottschalk, Bibi & Dagi Bee, Kevin Kühnert und Giovanni di Lorenzo.

Vita

Lorenz Meyer, Jahrgang 1962, ist Journalist und Medienkritiker (u.a. BILD-Blog) – und ein großer Satiriker. Er hat das Bullshit-Bingo bekannt gemacht (u.a. für den Spiegel) und bei der FAZ «Meyers Berufs-Phrasomat» bespielt. Außerdem versorgt er namhafte Comedians mit Inhalten für ihre Bühnenprogramme und arbeitete unter anderem für Kurt Krömer, Jan Böhmermann und extra 3.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Zitat Huckleberry Finn, Seite 71 f., aus: Mark Twain, «Meine geheime Autobiographie». Aus dem amerikan. Engl. von Hans-Christian Oeser. Mit einem Vorw. von Rolf Vollmann. Aufbau, Berlin 2012 © Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2012

Zitat Tom Sawyer, Seite 75 f., aus: Mark Twain, «Tom Sawyers Abenteuer und Streiche». Projekt Gutenberg: https://www.projekt-gutenberg.org/twain/tomsawye/chap002.html (Stand Juli 2022)

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Christoph Rauscher, Berlin

Illustrationen Christoph Rauscher, Berlin

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01433-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Vorwort

Markus Lanz

Armin Laschet

Richard David Precht

Gabor Steingart

Rezo

Ina Müller

Harald Martenstein

Barbara Schöneberger

Frank Thelen

Angela Merkel

Jochen Schweizer

Frauke Ludowig

Horst Lichter

Fynn Kliemann

Dieter Bohlen

Christian Lindner

Thomas Gottschalk

Bibi und Dagi Bee

Kevin Kühnert

Giovanni di Lorenzo

Schlusswort

Vorwort

Ich prophezeie jetzt schon, dass es Menschen geben wird, die unterstellen werden, ich hätte mir die nachfolgenden Geschichten ausgedacht, hätte den Protagonisten nicht nur ihre eigenen, sondern auch meine Worte in den Mund gelegt, wäre ihnen womöglich gar nicht begegnet, hätte alles erdichtet, ersonnen und erfunden.

Manchmal frage ich mich selbst, ob das wirklich alles so passiert sein kann.

Aber nein, ich ziehe die Frage zurück. Urteilen Sie selbst, und verlassen Sie sich dabei auf Ihr Bauchgefühl und Ihren gesunden Menschenverstand. Und ganz gleich, zu welchem Urteil Sie kommen: Ich nehme es Ihnen nicht übel.

*

Ich bin bei einem großen Medienunternehmen beschäftigt und assistiere dort dem Leiter der Haustechnik. Wir arbeiten in einem 60 Meter hohen Büroturm, in dem rund tausend Menschen tagtäglich ein und aus gehen.

Die Tätigkeit ist anspruchsvoll und beschränkt sich nicht auf das Wechseln von Glühlampen, LED-Panels und Leuchtstoffröhren. Wir führen Wartungsarbeiten durch, kümmern uns um streikende Aufzüge und defekte Klimaanlagen, reparieren zickende Rauchmelde-, Brandschutz- und Alarmanlagen, programmieren neue Zugangskarten fürs Gebäude, und wenn wir mal nicht weiterwissen, dürfen wir Fremdfirmen beauftragen.

Ich mag den Job. Er ist abwechslungsreich, und man kommt mit vielen Menschen in Kontakt. Am liebsten halte ich mich in den Redaktionsräumen auf. Ich liebe die wuselige Atmosphäre bei den Onlinern, fühle mich aber auch bei den vergleichsweise stillen Leuten aus dem Print-Ressort wohl.

Momentan bin ich mit der jährlichen Überprüfung der Rauchwarnmelder beschäftigt.

Auf dem Flur laufe ich der Personalchefin über den Weg. Auch in ihrem Büro müssen die Batterien der Geräte gewechselt werden. Ich stelle mich mit meinem Namen vor und frage sie, wann der Wartungstermin am besten passen würde.

Irritiert wiederholt sie meinen Namen. Weil ich die Fragezeichen in ihrer Stimme wahrnehme, bestätige auch ich ihn noch mal.

Sie mustert mich und ist plötzlich ausgesprochen liebenswürdig.

«Kommen Sie am besten morgen um 14:00 Uhr vorbei. Dann sprechen wir im Anschluss darüber, wie es bei Ihnen im Haus weitergehen könnte. Ich hatte gerade Ihre Unterlagen auf dem Tisch. Sehr beeindruckend!»

Ich denke, dass sie von der schriftlichen Ankündigung der Rauchmelder-Überprüfung spricht, und wundere mich über ihren Enthusiasmus.

Ich entgegne: «Danke, aber das ist ja keine große Sache.»

Sie lacht.

«Keine große Sache? Das ist das Erste, was Sie sich bei uns abtrainieren müssen: Bescheidenheit!»

Ich nicke verwirrt.

 

Am nächsten Tag erscheine ich mit meinem kleinen Werkzeugkoffer in der Personalabteilung. Erwartungsgemäß ist der Check der Brandmelder in wenigen Sekunden erledigt.

Die Personalchefin bittet mich in ihr Büro.

Ich stelle meinen Koffer ab und nehme an einem runden Tisch Platz. Sie schenkt mir ein Glas Mineralwasser ein.

«Also, ich habe mir Ihre Unterlagen noch mal angeschaut und sage es in aller Offenheit: Wir lassen Sie keinen einzigen Tag mehr in der Haustechnik arbeiten.»

Gedanken rasen durch meinen Kopf. Was habe ich falsch gemacht? Ist dies das Aus? Wovon soll ich nächsten Monat die Miete zahlen?

Sie fährt fort. «Sie gehören natürlich zu uns in die Redaktion!»

«Aber, ich, ich kann doch nicht. Ich weiß doch gar nicht …»

«Nix aber», unterbricht sie mich und schaut mich tadelnd an. «Ich habe es Ihnen schon mal gesagt! Sie dürfen nicht so bescheiden sein!»

Einerseits bin ich erleichtert, andererseits verstehe ich nicht, was da gerade passiert.

«Ich habe mir Ihre Unterlagen gründlich angeschaut und mit der Redaktion Rücksprache gehalten. Sie passen perfekt auf die Stelle! Mir fällt niemand ein, der sich besser mit Personen der Zeitgeschichte unterhalten könnte als Sie.»

Mir fallen auch gerade keine Namen ein, und deshalb nicke ich.

«Na, sehen Sie! Und jetzt gebe ich Ihnen für den Rest des Tages frei. Geben Sie den Kittel und das Werkzeug in der Haustechnik ab, fahren Sie nach Hause, und dann kommen Sie morgen wie ein normaler Mensch in die Redaktion.»

Sie lacht.

«Aber vorher müssen wir uns noch den Formalien zuwenden, aber das Prozedere kennen Sie ja, und das läuft eh nach den Vorgaben des Haustarifs.»

Sie legt mir einen Haufen Zettel und einen Kugelschreiber hin.

Die Buchstaben tanzen vor meinen Augen. Wie ferngesteuert unterschreibe ich die Verträge. Nur bei der Anschrift stutze ich:

«Das ist nicht meine Adresse.»

«Ach, das ist ja seltsam. Die habe ich aus den Unterlagen übernommen. Wie lautet denn Ihre aktuelle Adresse?»

Sie nimmt ein Lineal, streicht die Adresszeilen und fügt handschriftlich meine Daten ein. Dabei redet sie leise mit sich selbst: «Oder soll ich das noch mal gegenchecken? Ach egal, ich hab ihn bereits angekündigt, und außerdem gibt es ja immer noch die Probezeit.»

Am nächsten Tag melde ich mich wie besprochen in der Redaktion. Dort werde ich freudig vom Redaktionsleiter begrüßt.

«Da kommt ja die sehnsüchtig herbeigewünschte Verstärkung! Und was für ein Glücksgriff! Wir waren alle ganz ergriffen, als wir Ihre Unterlagen gesehen haben. Wahnsinn!»

Ich bin verwirrt. Einerseits will ich den offenkundigen Irrtum aufklären, andererseits will ich mein Gegenüber nicht enttäuschen.

Der Redaktionsleiter strahlt mich an:

«Wollen wir uns duzen? Gut! Heute kannst du dich noch etwas ausruhen, aber morgen geht es richtig los. Dann reist du nach Hamburg zu Markus Lanz. Viel Spaß und auf gute Zusammenarbeit! Ich freue mich auf das Interview!»

Markus Lanz

Hamburg-Altona, mitten in einem unaufgeräumten Gewerbegebiet. Kaum vorstellbar, aber in diesem Durcheinander innerstädtischer Mischbebauung soll das ZDF ein Fernsehstudio haben. Das Studio, in dem Markus Lanz regelmäßig seine Sendung aufzeichnet. Mit ihm bin ich in wenigen Minuten zum Gespräch verabredet.

Es herrscht betriebsame Hektik. Autos konkurrieren um die wenigen Parkplätze, Lieferfahrzeuge stehen mit eingeschalteter Warnblinkanlage in zweiter Reihe, Anzugträger sausen auf ihren E-Rollern an mir vorbei.

Endlich erreiche ich das Areal, das aus alten Zeiten den Namen «Phönixhof» trägt. Hier sind Büros, Lofts, Ateliers untergebracht – und das Fernsehstudio von Markus Lanz. Die Produktionsfirma hat mir einen Besucherausweis zugeschickt, und so kann ich das Gelände ungehindert betreten.

Das weitläufige Gebäudeensemble umfasst ein ehemaliges Eisenwerk in dekorativer Ziegelsteinoptik und mehrere moderne Nebenbauten. Das Aufnahmestudio ist in einem schmucklosen Zweckbau mit Wellblechfassade untergebracht. An der Vorderseite hängen die Logos verschiedener Fernsehsendungen. Manche kommen mir bekannt vor, von anderen habe ich noch nie gehört.

Wie verabredet suche ich die Stahltür an der Gebäuderückseite und betätige die Klingel. Die Tür geht auf, und ich erschrecke. Ich hatte damit gerechnet, dass ein Mitarbeiter öffnen würde, doch es ist Lanz persönlich, der da vor mir steht und mich anstrahlt.

«Hab mich total auf diesen Moment gefreut. Warten Sie kurz, ich bin gleich so weit!»

«Stahltwiete» heißt die Adresse, und mir fallen sofort die stahlblauen Augen des Talkmasters auf. Doch ich habe keine Zeit, weiter nachzudenken. Lanz ist zurück. Er hat sich einen dünnen Mantel übergeworfen und schaut mich unternehmungslustig an.

«Haben Sie Ihr Diktiergerät dabei? Dann lassen Sie uns an die Elbe gehen. Das dauert vielleicht eine halbe Stunde, und wir können uns auf dem Weg dorthin schön unterhalten.»

Natürlich willige ich ein, und wir verlassen gemeinsam das Studiogelände. Verstohlen sehe ich zu Lanz hinüber. Er ist tatsächlich die Person, die ich aus dem Fernsehen kenne. Ein Meter achtzig groß, schlank und sportlich durchtrainiert. Leichte Bräune, die dunklen Haare mit etwas Gel nach hinten gekämmt, das schwarze Hemd weit geöffnet. Lanz könnte jederzeit als Fotomodell durchgehen. Die Jahrzehnte scheinen spurlos an ihm vorbeigegangen zu sein. Und überaus höflich und charmant ist er auch noch. Es stimmt, was man über ihn sagt: der perfekte Schwiegersohn.

Ehe ich das Gespräch eröffnen kann, beginnt Lanz: «Vielleicht muss man den Leuten erst mal erklären: Warum dieses Gespräch? Die Frage, die man einfach nur stellen muss, und so sollten wir dieses Gespräch beginnen: Was geht Ihnen gerade durch den Kopf?»

Ich blicke nach links und rechts. Welche Leute meint er? Schnell schalte ich mein Aufnahmegerät ein.

«Nun, das wollte ich Sie eigentlich fragen, Herr …»

Lanz unterbricht mich:

«Nun, sehen Sie, das ist doch eine hoch spannende Frage! Ich habe mich vor einiger Zeit mit Barack Obama beschäftigt diesbezüglich, und der hat, wie wir alle wissen, zwei Töchter. Wollen wir in das Café dort vorne?»

Lanz zeigt auf ein Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

«Gerne», antworte ich, obwohl mir nicht der Sinn nach Kaffee und Kuchen steht.

Wir betreten das Café und suchen uns einen Tisch in einer ruhigen Ecke. Ich lege meine Jacke auf einen freien Stuhl. Lanz hängt seinen Mantel ordentlich an einen Haken. Die Bedienung erscheint. Augenscheinlich hat sie den prominenten Besucher erkannt und begrüßt uns aufgeregt.

Lanz nimmt meine Jacke vom leeren Stuhl, reicht sie mir und bietet der Kellnerin den Stuhl an.

«Nehmen Sie Platz!»

Die Kellnerin zögert und blickt sich unsicher um:

«Ja, aber nur kurz. Ich habe noch andere …»

«Natürlich, Frau …»

«Restemeier, Karina Restemeier.»

«Natürlich, Frau Restemeier. Aber ich habe das Gefühl, das wird ein Gespräch, das ein ganz besonderes Gespräch zu werden verspricht. Lassen Sie uns gleich einsteigen: Was macht das mit einem, diesen Moment zu erleben, in dem ein bekannter Fernsehstar das Café betritt? Das ist doch – Klammer auf, Klammer zu – hoch spannend.»

«Nun ja, das kommt schon mal vor, und dann …»

«Sehen Sie, und das will ich genauer wissen, Karina. Was genau geht in einem vor, wenn man das erste Mal realisiert, den kenne ich aus dem Fernsehen? Das ist ein Star, vielleicht sogar ein Star, der über die Grenzen des Landes bekannt ist.»

Für einen kurzen Moment schweigen alle, da unterbricht der Ruf eines Gastes die Stille: «Bitte zahlen!»

Unsere Bedienung zuckt zusammen, signalisiert dem Gast, dass sie seinen Ruf gehört hat, und nimmt hektisch unsere Bestellung auf.

Lanz ordert einen Kaffee und ein Stück Apfelkuchen, ich ein Mineralwasser.

«Sehr gut. Sehr gesund. Hätte ich sonst auch gemacht. Aber ich bin mitten in der Marathonvorbereitung. Da brauche ich die Kalorien.» Lanz lacht.

Wir überbrücken die Wartezeit mit einer Plauderei über Äpfel. Lanz ist Südtiroler und kennt sich mit Obstanbau aus: «Wussten Sie, dass Südtirol jährlich über eine Million Tonnen Äpfel produziert?»

Die Bedienung erscheint und stellt die Getränke und den Kuchen auf den Tisch.

Lanz legt seine Hand auf ihren Arm:

«Großartig und fantastisch, was Sie da vollbracht haben!»

«Aber ich habe doch nur …»

«Nein, nein. Keine falsche Bescheidenheit. Was Sie da getan haben, das hat uns alle hier sehr angefasst und, ich will ehrlich sein, auch mich zu Tränen gerührt.»

Lanz schaut ihr direkt ins Gesicht, seine Hand ruht immer noch auf ihrem Arm: «Eine Frage muss ich Ihnen noch stellen, bevor wir uns hier verabschieden. Stimmt es, dass Ihnen zunächst gar nicht klar war, dass ohne Sie kein einziger Mensch in diesem Raum etwas zu essen und zu trinken bekommen hätte?»

Die Kellnerin beginnt verlegen herumzudrucksen, und ich merke, wie ihre Nervosität auf mich überspringt.

Mit einer Souveränität, für die ich ihn nur bewundern kann, entschärft Lanz die Situation: «Nun, das Thema wird uns mit Sicherheit noch viel beschäftigen. Vielen Dank, dass Sie bei uns zu Gast waren!»

Lanz nestelt in der Innentasche seines Sakkos und zaubert eine Autogrammkarte hervor.

«Soll ich Für Karina schreiben?»

Ehe die Frau antworten kann, hat Lanz die Karte mit einem schwarzen Filzstift signiert. Wie bei einem japanischen Visitenkartenritual überreicht er ihr die Karte mit beiden Händen. «Keine Ursache und gern geschehen, Karina!»

Ich habe das Diktiergerät in der Mitte des Tisches platziert und überlege, mit welcher Frage ich in das Gespräch einsteigen soll.

Als ich ansetzen will, sehe ich, dass Lanz das Treiben am Nachbartisch beobachtet. Dort brüten zwei ältere Damen über einem Kreuzworträtsel.

«Der längste Fluss Albaniens?» Lanz blickt in die Ferne und fasst sich nachdenklich ans Ohr. «Lassen Sie mich da kurz einhaken, meine Damen. Wie viele Buchstaben haben Sie denn zur Verfügung?» Und etwas lauter werdend: «FÜR DEN LÄNGSTEN FLUSS ALBANIENS?»

Die Frauen kichern aufgeregt: «Vier.»

Lanz blickt nachdenklich in die Ferne und erklärt: «Dann kann es sich nur um den Drin handeln. Es gibt den weißen und den schwarzen Drin. In Nordostalbanien auf Höhe der Stadt Kukes vereinigen sich die beiden Flüsse zum Drin. Tragen Sie einfach Drin ein!»

Lanz wendet sich wieder mir zu: «Da, wo wir jetzt sitzen, habe ich vor wenigen Wochen mit Greta Thunberg gesessen. Beeindruckende Person, unglaublich schlaue Frau!»

Seine Hoffnung seien die jungen Leute: «Die sind so unglaublich engagiert, informiert, talentiert, haben einen klaren Blick auf die Welt, sind unkorrumpierbar …»

Ich ergreife die Chance und frage ihn nach seiner Ansicht zu der Klimaschutzbewegung und den regelmäßigen Demonstrationen von Fridays for Future.

Welchen Blick hat er auf die Klimakrise? Sollten wir uns einschränken, den Konsum herunterfahren, unser Verhalten ändern? Wie blickt Lanz auf die Erderwärmung?

«Sehen Sie, ich bin ja ein Berufsoptimist», lacht Lanz. «Wir Menschen sind ja anpassungsfähig. Das hab ich auf meinen vielen Reisen nach Grönland gelernt. Maximale Anpassungsfähigkeit – maximale zivilisatorische Leistung. Wenn wir schon keine Haare auf dem Körper haben, dann hole ich mir halt einen Eisbären, ziehe ihm das Fell über die Ohren und ziehe es mir selber über. Dann bin ich wieder ein felliges Wesen und kann überleben.»

Lanz erzählt begeistert von seiner Reportagereise nach Grönland. «Der Norden, der macht was mit einem», seufzt er.

In letzter Zeit gab es öfter Beschwerden, was die Gästeauswahl seiner Talkshow betrifft. Von Unausgewogenheit war die Rede. Lanz würde zu oft dieselben Experten einladen. Einige von ihnen würden wissenschaftliche Mindermeinungen vertreten. Das böse Wort von der «False Balance» machte die Runde.

Ich fasse mir ein Herz und spreche ihn auf die Vorwürfe an. Augenblicklich verfinstert sich seine Miene.

«Falsche Ausgewogenheit ist ein Vorwurf, auf den ich empfindlich reagiere! Lassen Sie uns das gleich aus der Welt schaffen! Ich habe da was vorbereitet.»

Lanz greift in sein Sakko und holt ein sperriges Bündel heraus, das sich als mehrere zusammengefaltete Flipchart-Bögen erweist.

«Fassen Sie mal kurz mit an!»

Wir räumen das Geschirr vom Tisch und stellen es auf den Fußboden. Blitzschnell schiebt Lanz den Nachbartisch dazu und breitet Papierbögen über beide Tische aus. Sie sind mit unzähligen Namen übersät.

«Das ist die Gästeliste aller meiner Sendungen seit der ersten Ausstrahlung im Jahr 2008. Das sind mehr als tausend Namen», erklärt Lanz stolz.

«Sehen Sie mal, an dem Datum hatten wir einen Leugner des menschengemachten Klimawandels und hier einen Polarforscher, der vom Abschmelzen der Polkappen berichtet hat. Das sind zwei unterschiedliche Positionen, die rechne ich jetzt mal gegeneinander auf. Ist wie beim Kürzen von Brüchen. Einverstanden?»

Lanz wartet meine Antwort nicht ab und streicht mit einem dicken Filzstift die beiden Namen durch.

«Und hier haben wir einen Vertreter der AfD und hier jemanden von den Linken. Zack, aufgerechnet!»

Lanz ist wie im Tunnel und streicht immer mehr Namen. Männer gegen Frauen. Alt gegen jung. Weiß gegen Schwarz. Machos gegen Emanzen. Sprachbewahrer gegen Sprachreformer. Es scheint überhaupt kein Ende zu nehmen.

Triumphierend und schweißnass blickt Lanz auf sein Werk: «Sehen Sie! Das nenne ich Ausgewogenheit! Jetzt stehen hier nur noch Karl Lauterbach und Robin Alexander.»

Lanz blickt auf seine Uhr. «Oh, so spät schon. Lassen Sie uns aufbrechen.»

Wir beseitigen das Chaos und lassen uns die Rechnung bringen. Ich zahle, denn Lanz hat sein Portemonnaie im Studio gelassen.

«Meine Brieftasche nehme ich nie mit. Verliere ich nur. Heben Sie den Zettel gut auf. Erstattet Ihnen nachher alles die Produktion. Aber nur, wenn Sie den Beleg haben. Also schön aufpassen drauf!»

Lanz lacht auf seine entwaffnende Weise.

Beim Verlassen des Cafés spricht Lanz noch mal die verdutzte Kellnerin an: «Karina, gab es da nicht irgendwo in Ihrem Leben den Moment, wo Sie gesagt haben, ich stehe am Abgrund, aber ich muss trotzdem weitergehen. Ich will es ja nur verstehen. Oder um jetzt mal den ganz großen Bogen zu spannen: Könnten Sie sich auch vorstellen, dem Papst ein Stück Apfelkuchen zu bringen, wenn er hier auftauchen würde?»

Verlegen stottert die Kellnerin einige zusammenhanglose Worte, und endlich sind wir wieder draußen.

Der Himmel über Altona ist tiefblau, die Sonne scheint, und Lanz blickt mich fröhlich an.

«Lassen Sie uns Richtung Ottenser Wochenmarkt bummeln!»

Lanz deutet in eine Richtung, und wir setzen uns in Bewegung.

Ich frage ihn nach seinem Umgang mit dem Alter.

«Das ist ein interessanter Punkt. Ich habe dieser Tage mit dem Dalai Lama gesprochen. Ein kluger Mann. Wir waren da gerade in Amerika wegen Dreharbeiten unterwegs, und ich habe ihm von dort zum Geburtstag gratuliert. Dalai – wir duzen uns – hat darauf einen Satz gesagt, der sich total bei mir eingebrannt hat. Dalai sagte: Man ist so alt, wie man sich fühlt. Das fand ich einen fantastischen Satz!»

Wir plaudern über das Altern im Allgemeinen und Besonderen. Gerade im Showgeschäft spiele das Alter eine große Rolle. «Und zum Showgeschäft gehört natürlich auch die Politik», schmunzelt er. «Ich hab mich mal mit einem sehr intimen Kenner von Politik unterhalten, ich will jetzt nicht sagen, mit wem. Jedenfalls hat mir ebenjener Robin Alexander von der Welt verraten, dass man in der Berliner Politikblase erst ab einem bestimmten Alter ernst genommen wird. Und zwar ab dem Moment, an dem einen andere als alten weißen Mann bezeichnen.»

Mittlerweile haben wir den Wochenmarkt von Ottensen erreicht. Wir bummeln an den Marktständen vorbei, Lanz grüßt mal in die eine, mal in die andere Richtung. An einem Obststand bleibt er stehen: «Sehen Sie die Äpfel hier, die stammen aus dem Vinschgau. Das liegt in Südtirol und wird auf Italienisch Val Venosta genannt. Wussten Sie, dass in Südtirol jährlich über eine Million Tonnen Äpfel produziert werden?»

Fast zärtlich nimmt Lanz einen Apfel in die Hand und streichelt ihn. Sofort erscheint die Wochenmarktverkäuferin, ein Hamburger Urgestein weit jenseits des Rentenalters. Eine Frau mit krummem Rücken, aber gerader Ansage: «Nu is aber daddeldu! Den musst du betahlen, mien Jung!»

Lanz zeigt auf mich, und hektisch krame ich nach Münzgeld.

«Sie gehen mit dem Alter wahnsinnig entspannt und lässig um, meine gnädige Frau. Wie macht man das? Ich frage nur, weil das viele hier interessiert.» Lanz deutet auf die Wochenmarktbesucher, die an uns vorbeischlendern.

«Entspannt und lässig? Dass ich nicht lache. Bei jedem Wetter draußen, Rückenschmerzen jeden Tag und keine Rente. So sieht das nämlich aus!»

Sie nimmt mein Geld entgegen und wendet sich sofort einem anderen Kunden zu.

Lanz schaut mich versonnen an: «Ich beneide diese Frau um ihr kleines Glück. Sie ganz alleine, den Kräften der Natur trotzend, all die Begegnungen mit den unterschiedlichen Menschen, all die Gespräche … So sieht ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben aus!»

Wir setzen uns in Bewegung, und Lanz erzählt weiter: «Sehen Sie, ich habe mal mit dem Modedesigner Wolfgang Joop gesprochen. Der hat ein ganz tolles Anwesen in Potsdam. Ein wunderbares Schmuckstück von Haus und absolut geschmackvoll eingerichtet. Und Wolfgang und ich waren uns sofort einig: Es ist nicht das Geld, das dich dauerhaft glücklich macht. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben, die gibt es alle umsonst. Die kannst du nicht kaufen!»

Zwischendurch schieße ich mit dem Handy ein paar Fotos. Lanz bedauert, dass er seine Kamera im Studio vergessen hat. «Ich bin auch fotografisch viel unterwegs», erklärt er. «Haben Sie das Gesicht der Dame eben gesehen, die vielen Falten? Wie die Ringe eines Baumes, eine ganz eigene Ästhetik.»

Gedankenverloren blickt Lanz auf den Obststand mit der alten Verkäuferin zurück.

«Nur dieses Gesicht in Schwarz-Weiß und in 90 mal 1 Meter 20, das wär’s.»

Mittlerweile haben wir den Wochenmarkt überquert und sind auf der anderen Seite des Platzes angelangt.

«Dort drüben, sehen Sie, da?»

Lanz zeigt mit dem Arm quer über die Kreuzung.

«Dort ist ein Herrenausstatter, der ist mega. Kommen Sie, wir schauen da schnell mal rein.»

Im Laden begrüßen die Mitarbeiter Lanz mit Namen. Er scheint hier öfter einzukaufen. Es ist einer dieser Läden, in die man sich sonst nicht hineinwagen würde. Dicker Teppich, edle Vitrinen, erlesene Kollektionen – und unbezahlbare Preise.

Lanz blättert durch die Anzüge: «Das hier, das ist ein gutes Tuch. Fühlen Sie mal.»

Sofort ist der Verkäufer zur Stelle: «Wollen Sie kurz reinschlüpfen, Herr Lanz? Dort vorne sind unsere Garderoben. Aber Sie kennen sich ja bei uns aus.» Er lacht aufgeregt.

«Ach, nein, geben Sie mir einfach einen in 94 und einen in 98 mit. Das passt schon.»

Wir bummeln noch etwas durch den Laden. Lanz zeigt mir seine Lieblingskrawatten und erklärt mir die Besonderheiten von maßgeschneiderten Oberhemden und rahmengenähten Herrenschuhen.

«So, jetzt müssen wir aber zahlen. Das ist wieder Ihr Part», lacht Lanz.

Der Verkäufer zieht meine Karte durch den Kartenleser, und schluckend bestätige ich die Abbuchung der knapp zweitausend Euro von meinem Konto.

«Heben Sie den Zettel gut auf. Sie wissen ja …» Lanz lacht erneut.

Ich greife den Kleidersack mit den Anzügen, und schwer bepackt verlasse ich mit ihm das Geschäft.

«Wissen Sie was?», sagt Lanz. «Wir schleppen doch nicht für den Rest unseres schönen Spaziergangs die Klamotten mit uns herum. Die soll ein Taxi ins Studio zurückbringen! Und wir beide laufen noch schön runter zur Elbe, und Sie stellen mir endlich Ihre Fragen. Konfrontieren Sie mich, streiten Sie mit mir! Wenn ich eines nicht mag, dass ist es diese Konsenssoße, die heutzutage über alles ausgeschüttet wird. Einverstanden?»

Wir winken ein Taxi herbei, und Lanz verstaut die Anzüge sorgfältig auf der Rückbank. «Haben Sie 20 Euro für den Taxifahrer?»

Ich krame in meiner Geldbörse und reiche Lanz den Schein.

Da hält sich Lanz auf einmal die Hand ans Ohr. Mir kommt die Geste bekannt vor. So hatte er sich vorhin im Café auch benommen, als er die beiden Damen beim Lösen des Kreuzworträtsels unterstützte.

«Ja, Markus hier. Ja … Ja … Ach? Olaf Scholz, Alice Schwarzer und Elon Musk sind schon in der Maske? Ja, ich komme sofort.»

Lanz dreht sich wieder zu mir: «Es war ein interessantes Gespräch, das leider viel zu früh zu Ende ist. Ein Gespräch, das Themen aufgeworfen hat, über die noch viel zu reden sein wird und das uns alle sehr nachdenklich gemacht hat. Auf Wiedersehen!»

Lanz reicht mir eine Autogrammkarte, steigt ins Taxi und ist weg. Benommen schaue ich dem Auto nach.

Mittlerweile sind sechs Wochen vergangen, und ich habe meine Auslagen endlich erstattet bekommen. Dem ging jedoch einige Korrespondenz voraus. Wegen der Kostenübernahme für die Anzüge waren sich Produktionsgesellschaft und Sender uneinig, und ich musste etliche Formulare ausfüllen, bis es geklappt hat mit der Erstattung. Nur die Auslagen für das Taxi habe ich nicht zurückbekommen, aber selbst schuld: Ich hatte ja auch nicht nach einem Beleg gefragt.

Armin Laschet

Die wöchentliche Redaktionskonferenz beginnt mit einer halb im Spaß, halb im Ernst hingeworfenen Frage: «Was macht eigentlich Armin Laschet?»

Allgemeines Getuschel und Gekicher, allerlei Gerätsel und Geraune, keiner weiß Genaues.

Laschet war 2021 als Kanzlerkandidat der CDU angetreten – und grandios gescheitert. Kurz nach der Niederlage hatte er sowohl sein Amt als Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens als auch den CDU-Vorsitz abgegeben. Allein sein Bundestagsmandat hatte ihn vor dem Sturz in die politische Bedeutungslosigkeit bewahrt.

Ich merke, wie mich die Reporter-Neugier packt: Wie empfindet Laschet den Machtverlust? Wie begegnen ihm die Politiker und Politikerinnen, die er seinerzeit anführte und denen er jetzt gleichgestellt ist? Und wie fühlt sich der Gemütsmensch aus dem Rheinland unter all den Preußen inmitten der kalten Hauptstadt?

Unser Chefredakteur unterbricht mich: «Gekauft! Auftrag erteilt! Wann kannst du liefern?»

Zurück in meinem Büro lege ich sofort los, doch die Anbahnung des Interviews gestaltet sich überraschend schwierig. In Laschets Abgeordnetenbüro in Berlin verweist man mich an sein Wahlkreisbüro in Nordrhein-Westfalen – sein Heimatbüro verweist mich an die Büro-Adresse in Berlin. Ich bin verloren im Teufelskreis der Zuständigkeiten.

Zum Glück weiß ein älterer Kollege Rat und schiebt mir einen Zettel mit Laschets privater Festnetznummer zu: «Ruf doch einfach bei ihm zu Hause an!»

Etwas nervös tippe ich die Zahlenkombination in mein Handy ein. Das Freizeichen ertönt, eine weibliche Stimme ist zu hören. Susanne Laschet ist am Apparat, seine Ehefrau.

Die private Störung ist mir unangenehm, und so stottere ich einige entschuldigende Worte, bevor ich mit meinem Wunsch herausrücke.

Susanne Laschet ist zunächst zurückhaltend, taut im Verlauf des Gesprächs jedoch auf. Wie ihr Mann ist sie eine rheinische Frohnatur von erfrischender Unkompliziertheit: «Ach, kommen Sie am besten direkt zu uns nach Aachen.» Berlin, das sei eine Art urbaner Dschungel für ihn, Aachen mehr ein Kleingarten, lacht sie. «Da fühlt der Armin sich wohler.»

Frau Laschet hat die Verfügungsgewalt über den Kalender ihres Mannes, was die Sache leicht macht. Hörbar blättert sie einige Sekunden in dem Buch und bietet mir einen Termin samt Treffpunkt an. Laschet werde mich dort abholen. Alles Weitere werde sich dann zeigen.

Sicherheitshalber tauschen wir die Daten per Mail aus, und sieben Wochen später stehe ich am vereinbarten Treffpunkt auf dem Münsterplatz, direkt vor Aachens mächtigem Dom.

Mein Blick wandert über den weitläufigen Platz und das stolze Kirchenbauwerk. Es regnet. Eine Mutter zerrt ihr Kind weiter, das mit Wonne in jede Pfütze tritt. Ein Liebespaar drängt sich unter seinem Regenschirm zusammen. In der Ferne taucht ein rotes Fahrzeug mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf. Im Schritttempo bewegt sich das Auto vorwärts und bleibt ruckelnd wenige Zentimeter vor mir stehen.

Es handelt sich um einen in die Jahre gekommenen Kombi. Der Lack ist stumpf, die Scheiben sind mit Tönungsfolie beklebt, auf dem Armaturenbrett liegen abgelaufene Parkscheine und Verpackungen von Schokoriegeln.

Schemenhaft sind drei Personen auszumachen: der Fahrer, Armin Laschet auf dem Beifahrersitz und ein weiterer Begleiter auf der Rückbank. Die Türen öffnen sich. Drei Männer im Alter von etwa 60 Jahren steigen aus.

Laschet reicht mir die Hand: «Guten Tag, junger Mann! Ich glaube, wir haben heute ein Rendezvous!» Vergnügt strahlt er mich mit seinen funkelnden Knopfaugen an.

Bevor wir in «medias res gehen», wolle er mir seine Begleiter vorstellen. «Das ist der Hennes. Das ist der Walter.»

Ich versuche, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen und schüttele die sich mir entgegenstreckenden Männerhände. Laschets Begleiter sehen so gar nicht nach Politiker aus. Derbes Schuhwerk, Arbeitshosen und Pullover. Ich habe den süß-würzigen Geruch von Mulch in der Nase, aber vielleicht ist es auch nur eine olfaktorische Täuschung.

Für weitere Überlegungen bleibt mir keine Zeit. Laschet will uns etwas von seiner Familiengeschichte erzählen.

«Das Auto können wir direkt hier stehen lassen. Das ist der Vorteil bei einem Mann in meiner Position!»

Laschet deutet auf das Kirchengebäude in der Mitte des Platzes: «Der Aachener Dom, ein Weltkulturerbe. Von Karl dem Großen gebaut. Von dem stamme ich übrigens ab, in direkter Linie. Hat mein Bruder herausgefunden.» Er macht eine Pause und setzt neu an: «Wir Laschets stammen in direkter Linie von Karl dem Großen ab!»

Er müsse mir unbedingt die berühmte Kirche zeigen. «Wo wir schon mal da sind», fügt er an.

Wenig später befinden wir uns im Inneren des Bauwerks. Wir, das sind Laschet, die beiden Männer und ich.

Laschet beginnt mit lauter Stimme zu dozieren. Mit ausladenden Gesten und ohne uns anzusehen, erzählt Laschet vom karolingischen Oktogon, deutet auf Gewölbe und Kuppel, erklärt Mosaiken und Schnitzwerk und überschüttet uns mit historischen Daten. Ich verstehe kein Wort, aber nicke höflich. Hennes und Walter stehen etwas abseits. Ihren Gesichtern ist zu entnehmen, dass sie seinen Vortrag bereits kennen.

«Dort oben, sehen Sie, dort oben im Obergeschoss gegenüber dem Chor befindet sich der Königsthron.» Unzählige Könige hätten diesen Stuhl nach ihrer Krönung bestiegen, erzählt er weiter, und seine Augen werden ganz glasig.

Ich frage ihn nach seiner Haltung zur Aufklärung von Fällen sexualisierter Gewalt durch Geistliche. Er habe da volles Vertrauen in die Kirche, antwortet er schnell. Außerdem müsse man an die Arbeitsplätze denken, und überhaupt gebe es Wichtigeres. «Die europäische Frage! Deutschland muss zunächst seine Hausaufgaben machen, und das ist die Lösung der europäischen Frage! Nicht mehr und nicht weniger, aber auch nicht weniger und nicht mehr! Verstehen Sie?»

Ich merke, wie er ungeduldig wird. «So, jetzt müssen WIR aber unsere Hausaufgaben machen. Also, schnell raus hier!» Laschet schiebt uns zum Ausgang, und wir stehen wieder auf dem Dom-Platz. Vom hellen Tageslicht geblendet, erkenne ich blinzelnd, wie ein Abschleppwagen Laschets Kombi an den Haken legt.

Wild gestikulierend und schnaufend läuft Laschet auf den Fahrer zu: «Halt! Stopp! Um Himmels willen! Aufhören!»

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, drückt der Fahrer den Knopf seiner Handsteuerung und zieht das Fahrzeug auf die Ladefläche.

«Wissen Sie nicht, mit wem Sie es zu tun haben? Ich bin Armin Laschet! Der Armin Laschet!»

Der Fahrer mustert ihn: «Und ich bin Helmut Wagner. Der Helmut Wagner vom Abschleppdienst Helmut Wagner.» Ungerührt klettert er in seinen Abschleppwagen und fährt davon.

«Das wird Konsequenzen haben. Das können Sie mit jedem x-beliebigen Trottel machen. Ich bin aber kein x-beliebiger Trottel! Ich bin Armin Laschet, Nachfolger von Karl dem Großen», tobt Laschet und hebt dabei drohend die Faust.

So schnell, wie er die Fassung verliert, findet er sie wieder. Vielleicht ist es das, was einen erfahrenen Spitzenpolitiker ausmacht, denke ich.

Kühl kommentiert er: «Wahrscheinlich ein Racheakt der Opposition, den ich an dieser Stelle nur auf das Äußerste verurteilen kann. Entschuldigen Sie, derartige parteipolitische Aktionen führen zu nichts außer zu persönlichen Verletzungen.»

Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen. Um uns hat sich eine kleine Traube von Zuschauern gebildet.

Ich bin etwas verlegen, aber Laschet scheint die Aufmerksamkeit nichts auszumachen. Im Gegenteil.

Liebevoll wandert sein Blick über die Menschenmenge: «Unser Land ist geprägt durch seine breite kulturelle und regionale Vielfalt. Wir wollen die Stärken unseres Landes und das Engagement seiner Bürger nutzen, um das Leben für alle noch besser zu machen. Oder anders ausgedrückt: Wir wollen die Starken stärken und die Schwachen schwächen. Nein, pardon! Wir wollen die Stärken stärken und die Schwächen schwächen! Aber nun gehaben Sie sich wohl und gehaben Sie, ähh, haben Sie noch einen schönen Tag, meine sehr verehrten Mitbürger und Mitbürgerinnen!»

Während sich die Gruppe auflöst, blickt Laschet zunächst auf seine Uhr und dann zu uns.

«Hennes, bestell uns doch rasch ein Taxi!», lautet seine Anweisung, und ehe ich es mich versehe, sitze ich auf der Rückbank eines Taxis – eingequetscht zwischen zwei mir bis eben unbekannten alten Männern.

Laschet hat es sich auf dem Beifahrerplatz gemütlich gemacht. Es sei Zeit, uns einander vorzustellen: «Der Hennes ist bei uns für die Ernährung und Landwirtschaft zuständig. Walter kümmert sich um Inneres, Bau und Heimat.»

Ich drehe meinen Kopf in die jeweilige Richtung und nicke jedem von ihnen höflich zu. Mir ist unwohl, da wir eng nebeneinandersitzen und unsere Gesichter uns näher sind, als mir lieb ist.

Endlich haben wir das Ziel erreicht und steigen aus. Ich blicke mich um. Nur ein Schotterweg und ein Tor, über dem das Schild eines Kleingartenvereins hängt.

«Da sind wir», sagt Laschet und öffnet strahlend das Tor: «Nur hineinspaziert, junger Mann! Das ist die zweitkleinste Kleingartenkolonie Aachens, aber alle unsere elf Parzellenpächter haben das Herz am rechten Fleck.»

Auf einmal sind wir in einer anderen Welt. Der Lärm und die Hektik der Stadt sind vergessen. Um uns das Grün der Natur, alles wächst und gedeiht.

Jede der Parzellen ist sorgsam in einen Nutz- und Erholungsbereich unterteilt, im Hintergrund das obligatorische Gartenhaus.

Wir schlendern durch die Klein-Kolonie. Laschet hat für alle ein freundliches Wort, lobt hier das prächtige Gemüse, schwärmt dort von den farbenfrohen Blumen, hält hier mit einem alten Mütterchen ein Schwätzchen und streichelt dort gütig über einen Kinderschopf. Zwischendurch gratuliert er mir: «Sie haben Glück. Heute findet unsere Kabinettssitzung statt. Wenn Sie wollen, können Sie mich dorthin begleiten.»

Natürlich will ich, und schon haben wir das Vereinsheim erreicht, das mit grauen Eternitplatten verkleidet ist.

Wir betreten das Häuschen, das aus einer Art Sitzungsraum besteht. Tische verschiedener Höhen sind zu einer langen Tafel zusammengeschoben. Überall stehen Deutschland-Wimpel und kleine Flaggen mit dem Wappen des Aachener Ortsteils Burtscheid.

Ich studiere die sorgsam vorbereiteten Platzkarten.

Zwei der Teilnehmer kenne ich: «Hennes, Ernährung und Landwirtschaft. Walter, Inneres, Bau und Heimat».

Mittlerweile trudeln weitere Männer ein. Alle begrüßen sich herzlich, umarmen sich und klopfen sich auf die Schultern. Die Atmosphäre ist entspannt, es wird gescherzt und gelacht.

Als Laschets Besucher wird mir die Ehre zuteil, dass sich alle elf Parzellenbesitzer mit Name und Funktion bei mir vorstellen.

Mir wird schwindlig vor lauter Namen und Titeln. Wolfgang von den Finanzen, Peter von der Wirtschaft, Hans von der Justiz, Dieter von Familie und Gesundheit, Klaus von der Umwelt, Holger von der Bildung, Jürgen vom Verkehr und Werner von der Verteidigung.

Überfordert schüttele ich jedem die Hand. Wie soll es mir gelingen, so schnell die Namen, Gesichter und Funktionen auseinanderzuhalten?