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Ein Buch, das den Blick wendet und an Friedensfreunde und Kriegsverweigerer erinnert ... Linn Stalsberg gibt einen Überblick über die Möglichkeiten der Friedensarbeit; sie skizziert die Geschichte von pazifistischen Protesten und Widerstandsformen im 20. Jahrhundert; sie geht der Frage der Gewalt nach; sie trägt Informationen zum Thema Kapitalismus und Krieg zusammen, streift die Themen Kriegspropaganda und Lobbyismus der Waffenproduzenten, Und sie stellt Fragen, die wir uns ebenfalls stellen müssen, wenn wir uns eine Welt ohne Krieg wünschen.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2025
Linn Stalsberg
Krieg ist Verachtung des Lebens
Originaltitel: Krig er forakt for liv – et essay om fred
© Res Publica, Oslo 2024
Linn Stalsberg,
Krieg ist Verachtung des Lebens – Ein Essay über den Frieden
©2025 Kommode Verlag, Zürich
1. Auflage
Lektorat: Gabriella Gava, Patrick Schär, torat.ch
Korrektorat: Patrick Schär, torat.ch
Gestaltung und Satz: Anneka Beatty
Cover: Nach Vorlage von Andreas Brekke
Druck: Beltz Grafische Betriebe
ISBN 978-3-905574-64-7
Verlag
Kommode Verlag
Stampfenbachstrasse 32, CH-8006 Zürich
+41 79 246 59 14
www.kommode-verlag.ch/produktsicherheit
Produktsicherheit
Verantwortliche Person gemäss EU-Verordnung
2023/988 (GPSR):
GVA Gemeinsame Verlagsauslieferung Göttingen
GmbH & Co. KG
Postfach 2021, D-37010 Göttingen
+49 551 384 200 0
Die Übersetzung des Werkes wurde von NORLA Norwegian Literature Abroad finanziell unterstützt.
Linn Stalsberg
Krieg ist Verachtung des LebensEin Essay über den Frieden
Aus dem Norwegischen von Andreas Donat
VORWORT
Krieg ist im Kleinen am größten
Alternativen zum Militarismus
Friedensarbeit als Ehrenamt
»Aber Krieg will doch keiner.«
Für eine Sache sterben oder töten
Wie Krieg verstehen?
TEIL 1 KRIEG ALS VERNUNFT
Gramscis Theorie der Hegemonie
Liegt Gewalt in der Natur des Menschen?
»Aber was machst du, wenn jemand dein Kind angreift?«
TEIL 2 PAZIFISMUS, GEWALTLOSIGKEIT UND WEHRDIENSTVERWEIGERUNG
Ein aktiver Pazifismus
Es ist nicht die Friedensbewegung, die Kriege anfängt
»… dann halt ihm auch die andere hin«
Mit Gott auf unserer Seite
Die Dilemmata des Pazifismus
Gewaltlosigkeit und Gewalt als Niederlage
Krieg verweigern
Kriegsdienstverweigerung in jüngerer Zeit
Als der Widerstand gegen den Krieg Klassenkampf war
Der Erste Weltkrieg und eine mutige Friedensbewegung
Soldatenleben zählen
Die Militärindustrie
Die neue NATO und die abhandengekommene Kritik
TEIL 3 DAS FRIEDENSSYMBOL
Was ist Frieden?
Krieg als Problem
Das 19. Jahrhundert und der Kampf für den Frieden
Das andere Geschlecht und Frieden als zweite Wahl
TEIL 4 KRIEG IN ZEITEN DER KLIMAKRISE
DEM KRIEG EIN ENDE BEREITEN
Zum Schluss: Schön ist die Erde
Literatur
Danksagung
Endnoten
Schweigen? Nicht immer. So, wie ich rede – obwohl ich selber lange geschwiegen habe –, so werden die anderen auch mit der Sprache herausrücken. Wenn die Gesinnung reift, wird sie zum Wort. Ich Einzelner bin vierzig Jahre alt geworden, bis meine Überzeugung die Kraft gewann, sich im Ausdruck Luft zu machen. Und so, wie ich zwei oder drei Jahrzehnte gebraucht – so werden die Massen vielleicht zwei oder drei Generationen gebrauchen, aber reden werden sie endlich doch.1
Bertha von Suttner
Die Waffen nieder!
Das Friedensmuseum in Hiroshima ist gerammelt voll mit Touristen und Schulklassen. Aber es ist vollkommen still. Ab und zu ist ein Flüstern zu hören, oder vielleicht ein Weinen, und ich kontrolliere noch einmal, ob mein Telefon auf lautlos gestellt ist, denn hier herrscht bitterer Ernst. Ähnlich wie das Konzentrationslager Auschwitz ist das Friedensmuseum in Hiroshima ein stiller Schrei von den allerschlimmsten Konsequenzen des Kriegs: So weit kann es kommen, wenn ihr jetzt nicht handelt. Dies ist die Endstation.
Stolze Worte waren gefallen, als im August 1945 die beiden Atombomben über den Städten Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Dies sollte die Waffe sein, die allem Krieg ein Ende bereiten würde. So begründete und verteidigte unter anderem Robert Oppenheimer, der die Entwicklung der Atombombe in den USA leitete, die Erfindung dieser Massenvernichtungswaffe. Mag sein, dass er sogar selbst daran geglaubt hat. Nach dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) mit seinen 18 Millionen Toten, 23 Millionen Verletzten und noch mehr Millionen trauernden und traumatisierten Angehörigen hatte man dasselbe gedacht: Eine Katastrophe wie diese müsse dazu führen, dass Krieg in all seinen Formen nun ein Ende nehmen würde.2
Aber so kam es nicht. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 sind weltweit 285 bewaffnete Konflikte dokumentiert worden.3 Und sie nehmen zu, an der Zahl wie an Dauer.4
Darüber hinaus sind seit 1945 über 2000 Atomtests durchgeführt worden. 9 Länder auf der Welt verfügen über mehr als 13’000 Atomsprengköpfe, und etwa 1800 davon stehen für den sofortigen Einsatz bereit.5 Die norwegische NGO Nei til atomvåpen (»Nein zu Atomwaffen«) hat erhoben, dass bisher etwa 2,4 Millionen Menschen an durch Atomtests verursachtem Krebs gestorben sind oder sterben werden.6
Als bekannt wurde, dass US-Präsident Harry Truman 1950 den Einsatz von Atomwaffen im Koreakrieg in Erwägung zog, soll die Zahl der Selbstmorde in Hiroshima angestiegen sein, höre ich im Rahmen einer Führung durch den Friedenspark von Hiroshima.7 Der Gedanke, dass die Katastrophe sich wiederholen könnte, selbst wenn sie andere treffen würde, war für manche Menschen unerträglich. Dies war also die Waffe, die Krieg in all seinen Formen beenden sollte. Ist es nicht eher so, dass Waffen existieren, um eingesetzt werden zu können? Und liegt der Grund für die aktuelle weltweite Aufrüstung etwa nicht darin, dass manche Menschen diese Waffen, die produziert, verkauft und gekauft werden, eines Tages auch zum Einsatz bringen möchten? Zur Zierde dienen sie wohl kaum, im besten Fall zur stillen »Abschreckung«, wie wir gelernt haben. Aber angesichts der Kriege, die wir erleben, während ich diesen Text schreibe, gibt es kaum Zweifel daran, dass es bei den Waffen, die rund um uns im Umlauf sind, eher um Schrecken geht als um Abschreckung.
Die weltweiten Militärausgaben steigen seit acht Jahren in Folge und erreichten im Jahr 2022 mit 2240 Milliarden Dollar (knapp 2 Billionen Euro) einen vorläufigen Rekord.8 Das ist die Summe, die die Welt jährlich für alles Militärische ausgibt. Und jeden 1. Januar geht es von vorne los. Weitere 2 Billionen. »Alles Militärische« bezieht sich auf alles, was zur Durchführung eines Krieges oder einer militärischen Verteidigung an Ausrüstung und Personal benötigt wird: Entwicklung und Produktion sämtlicher Arten von Waffen, Gehälter und Uniformen für das Personal, Auslandseinsätze, Gebäude und Stützpunkte auf der ganzen Welt, Kampfflugzeuge, Schiffe über und unter Wasser, Geheimdienste und vieles, vieles mehr – von der Erforschung militärischer Möglichkeiten im Weltraum bis zur Nachsorge für Kriegsveteranen und -veteraninnen. Im Kontrast zu den globalen Militärausgaben sollte man im Hinterkopf behalten, dass der norwegische Staatshaushalt etwa 125 Milliarden Euro beträgt. Im Jahr 2022 haben norwegische Unternehmen Waffen, militärische Ausrüstung, Dienstleistungen und Technologie im Wert von etwa 750 Millionen Euro ins Ausland exportiert. Um die 85 Millionen Euro mehr als 2021.9 Es sind hauptsächlich NATO-Länder, die norwegische Waffen erwerben.10
916 Milliarden Dollar (ca. 805 Milliarden Euro): Das Militärbudget der USA 2023.11 Das sind schwindelerregende 2,2 Milliarden Euro pro Tag. Darüber hinaus wird das Land zwischen 2023 und 2032 247 Milliarden Dollar (ca. 220 Milliarden Euro) allein für die Modernisierung seiner Atomwaffen ausgeben.12
296 Milliarden Dollar:
das Militärbudget Chinas 2023.13
109 Milliarden Dollar:
das Militärbudget Russlands 2023.14
83,6 Milliarden Dollar:
das Militärbudget Indiens 2023.15
Die Ausgaben sämtlicher zentral- und westeuropäischen Länder für Waffen und Militär betrugen 2022 insgesamt 345 Milliarden Dollar (ca. 300 Milliarden Euro).16
Krieg ist eine enorme Industrie. Staaten investieren riesige Summen in Waffen und Militärwesen. Es ist unser Steuergeld, das dafür verwendet wird. Manche machen mit Krieg das große Geld. Regierungen erlauben sich, Ressourcen wie Grund und Boden, Menschen oder Staatsbudgets zu nutzen, um Militarismus in die Praxis umzusetzen. Militarismus ist heutzutage ein selbstverständlicher Teil des Marktes, wie alles andere auch. In jedem Krieg gibt es wirtschaftliche Gewinner.
Krieg ist das, was mit einem Körper passiert, wenn eine Kugel ein Herz durchbohrt. Das, was in den Herzen derjenigen passiert, die in den Kampfzonen geliebte Menschen verlieren. Das, was in den Herzen all jener passiert, die andere Menschen getötet haben, ob sie sich nun freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet haben oder eingezogen wurden. Krieg sind auch die Traumata in Körper und Seele, die für Generationen bestehen bleiben, selbst wenn eines Tages der Frieden einzieht. Kriege werden aus verschiedenen Gründen begonnen. Sie können militärstrategisch, wirtschaftlich oder nationalistisch motiviert sein, aber unabhängig vom Motiv werden vor einem Kriegsausbruch Propaganda und Agitation betrieben, die zur Entstehung jenes Hasses und jener Verachtung anderer beitragen, die Krieg überhaupt erst möglich machen. Und so endet es meist dort, wo es begonnen hat; mit ebenso viel Hass und Verachtung auf der anderen Seite – oft noch mehrere Generationen später. Krieg ist, auch wenn es ungewohnt klingen mag, nichts anderes als organisierter Massenmord.
Wenn wir über Krieg sprechen, reden wir oft über die großen Dinge. Große Budgets. Große Waffen. Große Staatsführer mit großen Worten. Große Invasionen, große Siege. Kriegsanalysen berühren selten den einzelnen Soldaten, die verzweifelte Zivilistin oder eine trauernde Mutter. Es gibt Ausnahmen, denn es gibt kompetenten Journalismus und es gibt Stimmen, die auch von der anderen Seite des Krieges berichten.
Doch im Großen und Ganzen vermeiden wir es, über Blut und Schreie und verbrannte Körper zu sprechen, über Kinder in Todesangst, über von ihren Körpern weggesprengte Gliedmaßen oder verwesende, namen- und gesichtslose Leichen – über all jene, die Opfer der produzierten Waffen sind.
Das diesem Vorwort vorangestellte Zitat stammt aus dem Roman Die Waffen nieder! der Österreicherin Bertha von Suttner aus dem Jahr 1889. Der Roman wurde überraschend zum Bestseller und von Suttner zu einer weltbekannten und kompromisslosen Antikriegsaktivistin in einer Zeit, als Soldatenleben und Krieg von einer Glorie des Heldenmuts und der Ehre umgeben waren. Einer der Gründe für den Erfolg des Romans und die Aufmerksamkeit, die er erregte, waren von Suttners brutale und realistische Beschreibungen von Tod und Leid auf dem Schlachtfeld, so unendlich weit entfernt von den Bildern der prächtigen Uniformen, den Fanfarenklängen der losmarschierenden Truppen und den Geschichten über den unendlichen Mut der jungen Männer der Nation. Von Suttner hatte gründlich und bis ins kleinste Detail recherchiert, was tatsächlich auf den Schlachtfeldern vor sich ging, was die meisten Menschen jedoch nie zu sehen bekamen. Im Europa des 19. Jahrhunderts war es sowohl für reiche als auch für arme Familien eine Selbstverständlichkeit, dass der eigene Sohn Soldat wurde und für das Vaterland in die Schlacht zog. In von Suttners Buch wurde plötzlich infrage gestellt, was bis dahin als selbstverständlich gegolten hatte, etwa durch Dialoge zwischen ehrgeizigen Vätern, die ihre Sprösslinge auf das Schlachtfeld schicken wollen, und ängstlichen Soldatenmüttern, die darum fürchten, ihre Söhne nie wiederzusehen.
Die Hauptfigur des Romans, die viele Ähnlichkeiten mit der Autorin aufweist, folgt den Soldaten auf das Schlachtfeld:
Und wieder geht es weiter. An Toten vorüber – an Hügeln von Leichen. […] Viele dieser Toten zeigen die Spuren entsetzlichster Agonie. Unnatürlich weit aufgerissene Augen – die Hände in die Erde gebohrt – die Haare des Bartes aufgerichtet – zusammengepresste Zähne unter krampfhaft geöffneten Lippen – die Beine starr ausgestreckt, so liegen sie da.17
Der Feldarzt im Buch berichtet:
Es gibt noch Schauerlicheres als ein Schlachtfeld während – das ist ein solches nach der Schlacht. Kein Geschützdonner, kein Fanfarengeschmetter, kein Trommelwirbel mehr, nur leises, schmerzliches Stöhnen und Sterberöcheln. […] Und auf dieser Wahlstatt Tausende und Tausende von Toten und Sterbenden – hilflos Sterbenden! Keine Blüten noch Blumen sind auf den Wegen und Wiesen zu sehen, sondern Säbel, Bajonette, Tornister, Mäntel, umgestürzte Munitionswagen, in die Luft geflogene Pulverkarren, Geschütze mit gebrochenen Lafetten. […] Neben den Kanonen, deren Schlünde von Rauch geschwärzt sind, ist der Boden am blutigsten; dort liegen die meisten und verstümmeltsten Toten und Halbtoten – von Kugeln buchstäblich zerrissen. […] Ein Hohlweg ist mit in den Kot der Straße getretenen Körpern ganz angefüllt.Die Unglücklichen hatten sich wohl hierher geflüchtet, um geborgen zu sein – aber eine Batterie ist über sie hinweggefahren – von Pferdehufen und Rädern sind sie zermalmt.[…] Viele darunter leben noch – eine breiige, blutige Masse, aber »leben noch«.18
Dies ist erst der Anfang der brutalen Schilderungen des Feldarztes in Die Waffen nieder! Es ist nicht anzunehmen, dass sie in irgendeiner Weise über das tatsächliche Elend der Soldaten in den europäischen Kriegen des 19. Jahrhunderts hinausgehen. Aber die Erfahrungen des einfachen Soldaten, der Ärzte und Krankenschwestern und all jener, die an Kämpfen beteiligt waren oder dabei halfen, Leichen wegzubringen und zu begraben, waren zu dem Zeitpunkt, als von Suttner ihr radikales Antikriegsbuch schrieb, etwas bislang nie oder jedenfalls selten Gehörtes.
Im Roman schreibt der Soldat Fredrik 1864 vom Schlachtfeld des Deutsch-Dänischen Krieges einen Brief an seine Frau Martha:
Der nächste Zusammenstoß wird wohl eine Feldschlacht abgeben. Allem Anschein nach werden sich zwei große Armeekorps gegenüberstehen. Dann kann die Zahl der Toten und Verwundeten leicht in die Zehntausend gehen; denn wenn die Kanonen ihres Vernichtung speienden Amtes walten, so werden beiderseitig die vorderen Reihen schnell weggefegt. Das ist ja eine wunderschöne Einrichtung. Aber noch besser wird es sein, wenn einst die Schießtechnik so weit vorgeschritten ist, daß jede Armee ein Geschoß abfeuern kann, welches die ganze feindliche Armee mit einem Schlag zertrümmert. Vielleicht würde so das Kriegführen überhaupt unterbleiben. Der Gewalt könnte dann – wenn zwischen zwei Streitenden die Allgewalt eine gleich große wäre – nicht mehr die Rechtsentscheidung überantwortet werden.
Er schließt den Brief so ab:
Warum schreibe ich Dir dies alles? Warum breche ich nicht, wie es einem Kriegsmann ziemt, in begeisterte Lobeshymnen auf das Kriegshandwerk aus? Warum? Weil ich nach Wahrheit – und nach rückhaltsloser Äußerung derselben – dürste; weil ich jederzeit die lügenhafte Phrase hasse – in diesem Augenblick aber – wo ich dem Tode so nahe bin und wo ich zu Dir spreche, die Du vielleicht auch im Sterben liegst – es mich doppelt drängt, zu sprechen, wie es mir ums Herz ist. Mögen tausend andere auch anders denken, oder doch anders zu sprechen sich verpflichtet dünken, ich will, ich muss es noch einmal gesagt haben, eh’ ich dem Krieg zum Opfer falle: ich hasse den Krieg. Würde nur jeder, der das gleiche fühlt, es laut zu verkünden wagen – welch ein dröhnender Protest schrie da zum Himmel auf! Alles jetzt erschallende Hurra samt dem begleitenden Kanonendonner würde dann durch den Schlachtruf der nach Menschlichkeit lechzenden Menschheit übertönt, durch das siegesgewisse »Krieg dem Kriege!«19
Fredrik überlebt und erzählt später Martha, dass er auf dem Schlachtfeld in Todesangst geschrien habe. Sie erlebt das als Schock, da all die Gräueltaten des Krieges weder von heimkehrenden Soldaten ihren Liebsten noch von Politikern dem Volk gegenüber erwähnt werden.
Als von Suttner ihr Buch 1889 veröffentlichte, war Pazifismus etwas Marginales. Krieg wurde als eine Art Naturzustand angesehen. Daher war es für viele Leserinnen und Leser schockierend, von ihr zu hören, dass das Militärwesen auf Verleugnung der Möglichkeit des Friedens, Verachtung der Menschenwürde und Akzeptanz des Willens zu töten basiere. 1905 wurde Bertha von Suttner für ihren Kampf gegen die Grausamkeit des Krieges und ihren Einsatz für den Frieden der Friedensnobelpreis verliehen.
Was bedeutet es eigentlich, einen Krieg zu gewinnen? Eine Antwort auf diese Frage lautet: möglichst viele Menschenleben und möglichst viel Material auf Gegnerseite zu zerstören. In dem Essay Injury and the Structure of War von 1985 schreibt die preisgekrönte Essayistin und Harvard-Professorin Elaine Scarry einleitend:
Sinn und Zweck eines Krieges ist Verletzung. Obwohl diese Tatsache zu offensichtlich und so überwältigend ist, dass sie nicht direkt bestritten werden kann, so kann sie dennoch auf indirekte Weise angefochten werden und auf viele verschiedene Weisen aus unserem Blickfeld verschwinden.
Etwa durch Auslassung: Man kann viele Seiten historischer oder strategischer Berichte über bestimmte militärische Operationen lesen oder viele Nachrichten über das Geschehen in einem aktuellen Krieg hören, ohne dass daraus hervorgeht, dass der Sinn des Beschriebenen darin besteht, menschliches Gewebe zu verändern (zu verbrennen, zu sprengen, zu zerstören, zu zerschneiden) sowie auch die Oberfläche, die Form und die Gesamtheit von Objekten, die Menschen als Verlängerung ihrer selbst betrachten.20
Einen Körper zu verletzen, ist keine unglückliche Nebenwirkung des Krieges, sondern steht im Zentrum der Kriegslogik, schreibt Scarry. Sie macht uns bewusst, worüber wir sprechen, wenn wir über Krieg sprechen, und in welche Themen wir uns nur selten hineinwagen.
Wir sollten uns also daran erinnern, dass in der militärischen Wehrpflicht auch die Pflicht zum Gegenteil dieser »Wehr«, im Sinne der Verteidigung, liegt: nämlich die Pflicht zum Zerstören des Lebens anderer Menschen und all dessen, was deren Leben Bedeutung verleiht. Sprechen wir darüber mit wehrpflichtigen Jugendlichen? Haben sie überhaupt die Möglichkeit, darüber zu reflektieren? Hat irgendjemand von uns diese Möglichkeit?
Scarry schreibt, dass sich Krieg von anderen Formen des Wettbewerbs insofern unterscheide, als es im Krieg nicht darum gehe, etwas zu erschaffen, sondern im Gegenteil darum, unsere Welt zu zerstören – seien es Gebäude, Städte oder präziser gesagt: menschliche Körper. Körper zu zerstören oder zu verändern, schreibt sie, diene dem Krieg als Untermauerung und sei notwendig, damit er als politisches Mittel funktionieren könne. Inwieweit dies erreicht werde, sei der Indikator des Machtverhältnisses. Es seien die toten und verstümmelten Körper, die in einem Krieg jene Worte und Ideen materialisierten, die wir zu dessen Rechtfertigung verwenden. Das gelte auch, wenn das, was verteidigt werden soll, Demokratie oder Freiheit, Staat oder Nation ist.
Wenn wir uns vollständig von Krieg befreien wollen, müssen wir zunächst einmal beginnen, darüber zu sprechen, was Krieg tatsächlich ist. Wir müssen darüber sprechen und uns vorstellen, was physisch passiert, wenn ein Körper in Stücke gesprengt wird und in Teilen auf einem Feld oder mitten in einer Stadt auf der Straße liegt, so wie es von Suttner in ihrem Roman getan hat. Sprechen wir genügend darüber, wie sich Angst und Schrecken in einem jungen Körper festsetzen und den Betroffenen für immer verändern, sodass er nie wieder derselbe wird, selbst Jahrzehnte später nicht? Darüber, wie politische Konflikte zwischen Nationen dazu führen können, dass Hass zwischen Menschen innerhalb eines Landes und zwischen Ländern entsteht und Beziehungen für mehrere Generationen zerstört werden? Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind achtzig Jahre vergangen, und unter uns gibt es immer noch ältere Menschen, die fürchten, ihre Nachbarinnen und Nachbarn könnten herausfinden, dass ihre Eltern in den 1940er-Jahren Mitglieder der NSDAP waren. Einige von ihnen leiden nach einem Leben in unverschuldeter Scham unter chronischen Schmerzen. Denn so ist der Krieg: Er ist niemals ganz zu Ende, selbst wenn der Frieden kommt. Er zerstört Menschen physisch wie mental und hinterlässt Traumata, die weitervererbt werden. Wenn wir den Satz »Krieg ist Verachtung des Lebens« aus dem Gedicht An die Jugend von Nordahl Grieg aus dem Jahr 1936 zitieren, meinen wir genau das und noch mehr: die Verwüstungen des Krieges, die durch ihn ausgelösten Spätschäden und das Leiden im Frieden. Krieg ein für alle Mal abzuschaffen, sollte ein erklärtes Ziel sein, aber die militärische Aufrüstung von heute spricht dafür, dass das genaue Gegenteil angestrebt wird. Zu glauben, dass zerstörte Menschenkörper der Weg zum Frieden sind, ist nichts anderes als eine Dystopie.
Wenn wir die Hegemonie des Militarismus ohne größeren Protest als »Vernunft« hinnehmen, lassen wir damit zu, dass Militarisierung geschieht. Wenn etwas »vernünftig« wird, hören wir auf, schwierige Fragen zu stellen, und akzeptieren die Lösungen, die uns präsentiert werden. Als Militarismus lässt sich grob gesagt eine politische Denkweise beschreiben, die davon ausgeht, dass militärische Verteidigung ein Garant für unsere Sicherheit ist. Militarisierung wird somit zu einer Praxis, mit der sich Regierungen erlauben können, Ressourcen wie Land, Menschen oder Staatsbudgets zu nutzen, um Militarismus in die Tat umzusetzen.
Pazifismus und Antimilitarismus werden häufig synonym verwendet. Die zwei Positionen haben auch vieles gemeinsam, wie etwa den unermüdlichen Kampf für eine Gesellschaft ohne Wettrüsten oder für eine gewaltfreie Lösung von Konflikten, und einige Friedensaktive identifizieren sich mit beiden.
Es gibt jedoch auch einige Unterschiede. Antimilitaristin oder Antimilitarist zu sein, bedeutet im traditionellen Sinn, ein höheres Bewusstsein dafür zu besitzen, was ein großes Militärsystem mit einer Gesellschaft macht. Eine typische antimilitaristische Kritik verweist darauf, wie die Hierarchien innerhalb des Militärs die Klassengesellschaft außerhalb widerspiegeln und auf diese Weise die äußeren kapitalistischen Ideale in ihrem eigenen System bewahren. Daher war es nicht ganz überraschend, dass sich die politische Linke – also die sozialistischen, kommunistischen und frühen sozialdemokratischen Organisationen – in ihrer Kritik des Militärwesens auf den Antimilitarismus stützte. Denn es handelt sich um eine systemkritische Position.
Pazifistinnen und Pazifisten hingegen finden sich in den meisten politischen Richtungen, wie wir noch sehen werden. Manche arbeiten ausschließlich für den Frieden, ohne notwendigerweise das Gesellschaftssystem an sich zu kritisieren.
Dieses Buch ist als Protest gegen alles Militärische gedacht. Es ist die Folge meiner eigenen Besorgnis und Angst in einer Zeit, in der sich die Staaten der Welt bis an die Zähne bewaffnen. Mein Ziel ist, zu zeigen, dass es andere Wege gibt, Konflikten zu begegnen, als mit Krieg und Waffengewalt. Diese Ideen und Mittel werden jedoch von vielen als utopisch, naiv und vielleicht altmodisch angesehen. Daher haben sie in heutigen politischen Debatten leider keinen realen Platz. Aber was wäre altmodischer als der Krieg und was utopischer und naiver als der Glaube, dass Krieg als Konfliktlöser langfristig irgendeinen Nutzen haben könnte?
Ich möchte vermitteln, dass die Kritik an bewaffneter Kriegsführung – sei es in Form von Pazifismus, Antimilitarismus, Kriegsdienstverweigerung oder Gewaltfreiheit – auf starken Traditionen, Prinzipien, Erfahrungen und Wissen beruht und auch Alternativen vorschlägt. Wenn wir dies nicht erkennen, wird eine bereits schwache Friedensbewegung beim kleinsten Windstoß ins Wanken geraten, unfähig, fest und mutig auf ihren Prinzipien zu stehen, wenn ein Sturm aufkommt. Ich halte es für notwendig, dass wir uns an Theorien und Praktiken, Gedanken, Ideen und Menschen erinnern, die dem Krieg und allem Militärischen entgegentreten.
Und noch ein weiterer Aspekt ist unserem kollektiven Gedächtnis verloren gegangen: die Tatsache, dass die Entscheidung, Pazifist, Anhängerin von Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerer oder Friedensaktivistin zu sein – oder eine Kombination von alledem –, schon immer mit einem gewissen Risiko verbunden war. Es war zumeist eine persönliche Entscheidung mit hohen Kosten. Im Laufe der Geschichte hat sie für die Behörden oft eine solche Bedrohung und Irritation dargestellt, dass Bürger und Bürgerinnen, die sich weigerten, im Krieg zu dienen, oder sich mit friedlichen Mitteln für den Frieden einsetzten, verfolgt, schikaniert und eingesperrt wurden. Den Krieg zu verweigern, ist daher niemals eine feige Position gewesen.
In Zeiten von Nationalismus und Krieg kann es eine enorme private Belastung darstellen, Kriegsdienstverweigerer zu sein, etwa wenn man im sozialen Umfeld lächerlich gemacht wird oder des Verrats oder der Feigheit beschuldigt wird. Wenn die Nation in Bedrängnis gerät und das gesamte politische Establishment mit den Medien im Schlepptau für den Einsatz von Waffen und Krieg agitiert, kann es geradezu gefährlich werden, sich für Frieden auszusprechen. In den USA etwa wurden Friedensaktivistinnen und -aktivisten während des Kalten Krieges beschuldigt, russische Laufburschen, Kommunistinnen oder im schlimmsten Fall Spione zu sein.
Dennoch, wegen Argumenten für den Frieden als naiv verspottet zu werden, ist nichts gegen das, was im Chaos des Krieges auf den Schlachtfeldern erlitten wird. Unbehagen zu empfinden, weil jemand anderer Meinung ist, lässt sich nicht mit der lähmenden Angst vergleichen, wenn um die Ecke geschossen wird, wenn Bomben das Zuhause in Trümmer reißen, wenn ein Kind in den Armen stirbt oder wenn man in den Schützengraben geschickt werden soll, um zu sterben oder zu töten. So viel müssen wir also aushalten können.
Wer wird heutzutage Soldat oder Soldatin? In Ländern mit Wehrpflicht kann jeder junge Mann – und an vielen Orten auch jede junge Frau – eingezogen werden, wenn ein Krieg ausbricht. In Ländern ohne Wehrpflicht ist eine militärische Karriere für Menschen aus unteren Gesellschaftsschichten nicht selten die einzige Karrieremöglichkeit oder Einkommensquelle. Soldat oder Soldatin zu werden, ist weltweit nur selten eine freie Entscheidung. In Friedenszeiten mag alles Militärische auch in wohlhabenden Kreisen für abenteuerlustige Jugendliche spannend klingen, aber wenn es tatsächlich zu einem Krieg kommt und man verpflichtet ist, daran teilzunehmen, kann sich das schnell ändern.
Natürlich gibt es viele Soldaten und Soldatinnen, wehrpflichtige wie freiwillige, die davon überzeugt sind, dass sie für wichtige Werte oder ihr geliebtes Vaterland kämpfen. Dennoch nehmen diejenigen, die den Krieg erklären, selten auch daran teil. Im Großen und Ganzen ist es die Arbeiterklasse oder die Unterschicht, die auf die Schlachtfelder geschickt wird, wenn sich die politische Führung für die militärische Lösung eines Konflikts entscheidet. Das sollten wir niemals vergessen.
Welche Wahl haben wir zum Beispiel in Norwegen? Äußerst wenige Achtzehnjährige, die zum ersten Mal einberufen werden, haben ein bewusstes Verhältnis zum Pazifismus. Ich schätze, dass die meisten nicht einmal wissen, dass sie das Recht haben, den Kriegsdienst auf dieser Grundlage oder aus anderen Gründen, die mit ihren Werten zu tun haben, zu verweigern. In einem Land mit Wehrpflicht sehe ich das nicht nur als problematisch an, sondern als Verrat an unserer Jugend durch den Staat, das Militär, uns Eltern und das Bildungssystem. Immerhin ist es das Leben dieser jungen Menschen, das hier auf dem Spiel stehen kann.
Früher war es in Norwegen so, dass diejenigen, die sich weigerten, an der militärischen Grundausbildung teilzunehmen, Zivildienst leisten mussten. 2012 wurde diese Regelung abgeschafft. Das war zwar sicherlich angenehm für den einzelnen jungen Mann, doch mit der Abschaffung verschwand das gesamte Umfeld, das sich um das Thema Militärdienstverweigerung entwickelt hatte – etwa ein Büro, ein eigenes Magazin, Sprecher und so weiter. Ebenso verschwand die landesweite Sichtbarkeit von Zivildienstleistenden in Kindergärten oder Büros. Heute sind diese Institution und die entsprechende Gedankenwelt aus der norwegischen Gesellschaftsdebatte verschwunden. Das ist ein Verlust für uns alle.
Wenn niemand zum Krieg antritt, gibt es keinen Krieg. Das wird niemals passieren, werden viele einwenden. Das mag stimmen, aber es wird auf jeden Fall niemals dazu kommen, wenn wir dieses mögliche Szenario nicht unseren jungen Menschen, die ihr Leben noch vor sich haben, nahelegen: Du kannst dich weigern, Krieg zu führen. Das ist fast überall, aber auf jeden Fall in Norwegen, dein Recht.
Wenn Waffen eingesetzt werden sollen, muss sie jemand benutzen. Und diese Jemande sind unsere Söhne und Töchter. Wenn unsere Söhne und Töchter sie benutzen, werden die Söhne und Töchter anderer sterben. Mit dieser Belastung werden unsere Kinder, die getötet haben, den Rest ihres Lebens zurechtkommen müssen, während die Getöteten den Rest ihres Lebens verloren haben. Mütter, Väter, Kinder, Freundinnen und Freunde haben einen geliebten Menschen verloren. Es ist, wie Elaine Scarry schreibt, die Zahl der getöteten Menschen im Krieg, die über Sieg und Niederlage entscheidet. Dies ist die Realität des Krieges, über die wir viel mehr sprechen sollten.
Der Schriftsteller Hans Børli thematisiert dies in seinem Gedicht Den ukjente soldat (»Der unbekannte Soldat«) von 1947:
Nicht die Generäle – von Rundstedt, Konjev, Eisenhower – waren die Sieger oder Verlierer.
Nein – es war er – der unbekannte Soldat.
Er, dessen Name auf den Ebenen von Woronesch in die Rinde eines Birkenkreuzes geflüstert wird.
[…]
Er, der eine Krankenschwester vergewaltigt hat, ein Kind getötet, gerechtfertigt durch den grausamenMolochdes Krieges.
[…]
Der unbekannte Soldat.
Lies in seinem zerfurchten Gesichtdas Märchen von der Sehnsuchtdes Leidens nach Frieden.21
Es mag ab und zu völlig anachronistisch erscheinen, über Frieden und andere Lösungen für Konflikte als Krieg zu sprechen. 2022 wurde dies in der öffentlichen Debatte in Norwegen deutlich. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurden Forderungen nach Diplomatie, Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen schnell abgetan und selten ernst genommen. Der politische Konsens bestand darin, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen, und es war nicht einfach, zu fragen, ob dies die beste Methode zur Lösung des Konflikts sei.
2023, als Israel aus dem Gazastreifen von der Hamas angegriffen wurde, hieß es aus dem Munde sämtlicher Unterstützer Israels weltweit, Israel habe das Recht, sich zu verteidigen. »Verteidigung« wurde automatisch mit Waffen und Krieg gleichgesetzt. Aber hätte es bei der Verteidigung Israels nicht auch um ganz andere Dinge gehen können? Um einen Gefangenenaustausch, harte Verhandlungen, diplomatische Kanäle, strafrechtliche Verfolgung der Täter, das langsame, aber stetige Schaffen einer Nachbarschaft, in der ein Zusammenleben aller möglich ist? Letzteres ist praktische Friedensarbeit. Praktische Friedensarbeit bedeutet selbstverständlich auch, dass niemand in Unterdrückung leben sollte, wie die Palästinenserinnen und Palästinenser es sowohl im Gazastreifen als auch in den von Israel besetzten Gebieten nach Angaben der UNO seit Jahrzehnten tun.22 Es scheint, als sei der Aufruf zu Ruhe und Verhandlungen nicht mehr Teil der Gedanken, Ideen oder Fantasien der internationalen Politik. Das allein sollte uns nachdenklich stimmen.
Unsere Jugend erlebt die Arbeit oder das freiwillige Engagement für den Frieden vermutlich wie einen fernen und merkwürdigen Überrest aus einer längst vergangenen Zeit. Sie wurde in eine Gesellschaft hineingeboren, in der ein militärisches Verteidigungssystem eine Selbstverständlichkeit ist und im Fernsehen der Unterhaltung dient. Die meisten jungen Menschen besitzen keinerlei Wissen über Alternativen zu militärischen Konfliktlösungen. Es gibt viele Kriegshelden, deren Namen uns allen bekannt sind, jedoch weitaus weniger Friedensheldinnen und -helden, die uns einfallen oder deren Statuen wir gesehen haben. Das betrifft nicht nur die Jugend. Es betrifft uns alle.
Die fast ohrenbetäubende Stille angesichts von Verteidigungsbudgets und den massiven Summen, die in die Militärsektoren oder die NATO fließen, mahnt uns ebenfalls zum Nachdenken. 2012 beschloss das norwegische Parlament die für den öffentlichen Sektor teuerste Investition aller Zeiten: 52 Kampfflugzeuge sollten vom amerikanischen Unternehmen Lockheed Martin gekauft werden. Der ursprüngliche Preis betrug 69 Milliarden Norwegische Kronen (ca. 5,8 Milliarden Euro). 2020 war die Summe auf 98 Milliarden Kronen (ca. 8,3 Milliarden Euro) angewachsen, und heute belaufen sich die Gesamtkosten dieser Flugzeuge über ihre voraussichtliche Lebensdauer auf 349 Milliarden Kronen (knapp 30 Milliarden Euro).23 Warum sind wir angesichts dessen so passiv? Man könnte den Eindruck gewinnen, diese Debatte ginge uns nichts an.
Aber selbst diese Windstille bedeutet nicht, dass sich unterhalb der Wasseroberfläche nichts bewegen würde. Denn der Kampf für den Frieden ist kein Endprodukt, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der in die Theorie, Praxis, Pädagogik und Politik des Alltags eingehen muss. Er sollte eine Denkweise sein, eine Zukunftsvision, in die von Staaten und globalen Organisationen Geld und Ressourcen investiert werden und worin sie sich ständig üben sollten: waffenlose Konfliktlösung. Wenn der Krieg einmal ausgebrochen ist, ist es eigentlich schon zu spät.
Für viele ist Arbeit für den Frieden leider häufig eine individuelle Angelegenheit. Vielleicht etwas, dem man in den sozialen Medien nachgeht oder als innere Überzeugung im Alltag. Unabhängig davon, ob man nun Pazifistin ist oder nicht, ist es gar nicht so leicht zu wissen, wo man anfangen soll, wenn man sich für den Frieden einsetzen möchte. Friedensarbeit geschieht oft auf freiwilliger Basis in mehr oder weniger zufälligen und spontanen Gruppierungen und meist als Reaktion auf einen akuten Krieg oder Konflikt. Eine zentral organisierte Friedensbewegung gibt es nicht. Es gibt auch keine festangestellte Bürokraft oder Sprecherin, die ausschließlich für den Frieden arbeitet. Weder staatliche noch private Gelder werden diesem Zweck gewidmet, obwohl einige wenige kleine Organisationen eine gewisse Unterstützung erfahren. Die Friedensbewegung besteht im Grunde nur aus dir und mir.
Ein großer Teil der Friedensarbeit wird dem Ehrenamt überlassen, das heißt Bürgerinnen und -bürgern in ihrer Freizeit. Das ist sowohl eine Herausforderung als auch eine Hoffnung. Auf der einen Seite bedeutet es, dass nicht alle, die teilnehmen wollen, Zeit oder Mittel dazu haben. Auf der anderen Seite bedeutet es, dass alle, die können und wollen, die Möglichkeit haben, mitzumachen.
Als Teil der Bevölkerung haben wir in den Debatten über Krieg und Frieden einen berechtigten Platz. Wir haben ebenso viel Anrecht auf diese Debatte wie jede Fachperson, jede Politikerin oder jeder Militärführer: Schließlich sind es unsere Kinder, Enkelkinder, Geschwister oder Eltern, die sich im Fall eines Angriffs opfern sollen. In Ländern mit Wehrpflicht, wie Norwegen, ist eine Einmischung in diese Debatte unser aller Pflicht. Es reicht nicht, zu hoffen, dass unsere gewählten Vertreterinnen und Vertreter wissen, was sie tun, wir müssen hundertprozentig davon überzeugt sein. Wenn unsere Söhne und Töchter geopfert werden sollen, will ich wissen, dass meine Nation alles für den Frieden getan hat, ich will sehen und hören, wie die Regierung zugibt, dass Dialog und Frieden gescheitert sind, und offen erklärt, dass sie sich nun zur brutalen und zerstörerischen Gewaltanwendung als letzte, traurige Lösung erniedrigen muss.
Die Friedensbewegung steht oft in Allianz mit anderen sozialen Bewegungen. Sowohl die Arbeiterbewegung als auch die Frauenbewegung waren und sind Verbündete der Friedensbewegung. Heute ist es die Klimabewegung, mit der wir uns zusätzlich verbinden müssen, denn wir haben tatsächlich dasselbe Ziel: das Überleben der Menschheit und allen anderen Lebens auf der Erde, jetzt und in der Zukunft.
In einer Umbruchszeit für die Menschheit, inmitten von Klima- und Naturkrise, angesichts einer Rekordzahl an Menschen auf der Flucht und wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit sollte es zu denken geben, dass ein so großer Teil unseres Steuergelds direkt ins Militär fließt. Gewaltvolle Konflikte und Waffeneinsatz zerstören alles, was ohnehin bereits dabei ist, zerstört zu werden – Natur und Wohlfahrtsstaat, Menschenwürde und der Glaube an eine bessere Zukunft. Es sollte nicht erlaubt sein. Krieg ist ein Verbrechen gegen Menschen und die Natur.
Trotzdem tun wir es: Wir rüsten auf und produzieren immer mehr Waffen. Kaum etwas hat derart desaströse Folgen für die Umwelt wie diese Industrie. Sie braucht Energie und die Rohstoffe der Natur. Der Einsatz militärischer Ausrüstung verursacht enorme Umweltverschmutzung zu Lande, zu Wasser und in der Luft.
Die Zerstörungen wichtiger Infrastrukturen durch Bomben und Granaten, Brände und Geschosse, die Vergiftung von Ackerland, Wäldern, Spielplätzen und Hinterhöfen, Reste von Giftstoffen, Metall und Überreste von Waffen, die jahrelang in der Natur liegen bleiben – Krieg erscheint fast wie ein kollektiver Selbstmord. Fachleuten zufolge verursacht das Militär weltweit 5,5 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen. Und dabei sind Kriege nicht mitgerechnet. Neben dem immensen menschlichen Leid verursachte der Krieg in der Ukraine in den ersten zwölf Monaten auch 120 Millionen Tonnen CO2-Emissionen. Das ist genauso viel, wie Belgien, und mehr als doppelt so viel, wie Norwegen in einem Jahr ausstößt.24
Die politische kognitive Dissonanz, die darin liegt, dass wir aufrüsten, während die Welt in Flammen steht, ist so enorm, dass es kaum zu ertragen ist, sie sich vor Augen zu führen. Deshalb ist es auch menschlich, dass wir dieses erdrückende Gedankenspiel größtenteils vermeiden.
Für den Frieden zu arbeiten, bedeutet sowohl Kritik an der Gegenwart als auch Visionen für morgen. Eine Friedensvision ist eine langfristige Arbeitsaufgabe, ebenso wie das Ziel einer klimafreundlichen Gesellschaft. Aber unterwegs müssen wir Gesellschaftskritik üben und Politik betreiben, denn die heutigen Gesellschaftsstrukturen basieren auf Krieg als Norm, inklusive der damit verbundenen Zerstörung der Natur. Hinter vielen Aspekten der Klimakrise und hinter vielen Kriegen steht der Wettbewerb um Rohstoffe, Land, Zugang zu natürlichen Ressourcen und zum Meer. Es geht um Wachstum, Geld, Position und Macht, die Expansion von Märkten, die Erweiterung von Nationen. Es gibt Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Krieg.
Glücklicherweise stimmt diese Aussage größtenteils. Das Leben ist für die meisten von uns auch in Friedenszeiten herausfordernd genug. Selbst diejenigen, die eine Militärkarriere anstreben oder in der Waffenindustrie arbeiten, wünschen sich sicherlich vor allem Frieden. Man muss keineswegs Pazifistin oder Pazifist sein, um sich Frieden zu wünschen oder gegen Krieg als Konzept zu kämpfen. Die Friedensbewegung kann und sollte eine bunte Truppe sein, so wie alle großen und breit aufgestellten sozialen Bewegungen. Dabei gibt es Raum für unterschiedliche Ansätze, was den Weg zum Ziel betrifft. Manchen mag Krieg in extremen Situationen als Weg zum Frieden erscheinen, für andere ist eine solche Behauptung unmöglich oder widersinnig. Auch wenn es Meinungsverschiedenheiten geben kann, bedeutet das nicht, dass man nicht im Innersten von demselben Ziel träumt, und das ist etwas, an dem man festhalten und worin man Hoffnung finden kann.
