Krieg und Liebe - Hans Boeters - E-Book

Krieg und Liebe E-Book

Hans Boeters

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Beschreibung

Das außergewöhnliche Porträt eines Jahrhundertschriftstellers Mit »Im Westen nichts Neues« schrieb Erich Maria Remarque einen der berühmtesten und erfolgreichsten Romane des 20. Jahrhunderts. Fernab der Literatur war er ein Trinker und Liebhaber der Frauen: die Tänzerin Ilse Jutta Zambona heiratete er gleich zweimal; zu seinen Affären zählten Marlene Dietrich, die »göttliche« Greta Garbo und die Zarennichte Natasha Paley; zuletzt Paulette Goddard, die er an der Seite von Charlie Chaplin kennenlernte und mit der er eine befreiend glückliche Zeit verbrachte. Ein faszinierendes literarisches Porträt des Schriftstellers – und eine außergewöhnliche Würdigung hundert Jahre nach dem Ende des von Remarque so eindringlich beschriebenen Ersten Weltkriegs.

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Seitenzahl: 344

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Hans Boeters

Kriegund Liebe

Erich Maria Remarque und die Frauen

Auf dem Covermotiv ist Erich Maria Remarque gemeinsam mit seiner Ehefrau Paulette Goddard zu sehen.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältigerBearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2018 Benevento Verlag bei Benevento Publishing,eine Marke der Red Bull Media House GmbH,Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesetzt aus der Minion, Adobe Garamond

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagabbildung: © Friedrich / Interfoto / picturedesk.com

ISBN 978-3-7109-0032-7eISBN 978-3-7109-5050-6

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Zeittafel

Literatur und Filme

Rechtenachweis

1

Er war nie bei Kosenamen gerufen worden. Derartige Zärtlichkeiten hatte die Mutter dem älteren, kränkelnden Bruder vorbehalten. Und diese frühe Armut machte, dass er Namen der Unredlichkeit verdächtigte. Namen waren so gut wie unverbindlich. Es sei denn, die Mutter hatte nach ihm gerufen, so wie sie ihn stets rief. Er war der »Erich, hörst du!«. Alle anderen Behauptungen hätte er bestritten. Im Übrigen galten ihm Namen als frei verfügbar. Vielleicht nie notwendiger als in dieser Nacht.

Unschlüssig saß er vor einem Haufen aufgestapelten, noch kaum beschriebenen Papiers, der ihm augenfällig den Umfang seines ersten großen Romans vorgeben sollte. Weitgehend ohne Plan, wie er mit der Niederschrift fortfahren solle, rollte er mit seinem frisch gespitzten Stift mehrere abgebrochene Spitzen unschlüssig hin und her. Dieser Haufen Papier entmutigte eher, als dass er ein gewaltiges Vorhaben förderte! Zuunterst aller noch zu beschreibenden, aller noch zu verwerfenden Seiten lag unerreichbar das Blatt, das er als erstes beschrieben hatte. Mit nicht mehr als seinem Namenszug. Einer der vorwärts stürmenden, stockenden Hand wie eine Fahne weit voraus flatternden Unterschrift! Doch war er sich nicht mehr sicher. Was hatte er eigentlich, als er die Niederschrift begann, dort am Grunde des Stapels hingesetzt? Vor Tagen, Wochen, vor Monaten, ein Erich Paul Remark?

So wie er getauft, firmiert, fast noch milchgesichtig für den Schlamm der Westfront auserkoren worden war? Und wenn bereits mit gekünsteltem Einschlag, den Paul für Maria eingetauscht, ein Erich Maria Remark?

Weil ihm allein schon der Name Maria anders als Paulette, wenn nicht zwingend verehrungswürdiger, zumindest bekennender, zwielichtig scheinheiliger klang?

Remarque lehnte sich müde zurück. Doch dann zog er das signierte zuunterst versteckte Blatt mit seiner Unterschrift unbesehen hervor, stand auf und zerriss es. Nahm aber gleich wieder Platz, um ein frisches Blatt zu signieren. Diesmal als Deckblatt, Vorspann aller darunter auf ihn wartenden Leere. Schrieb, und nicht einmal zögerlich, Erich Maria Remarque.

Doch so lange er auch vor dem Deckblatt verharrte, ein griffiger Titel wollte sich für den Roman nicht einstellen.

Es war kurz nach Mitternacht, als er schließlich die Wohnung verließ, um mit Freunden den Jahreswechsel zu begehen. Er zählte das zweite Jahr, seitdem er in Hannover begonnen hatte, einer publizistischen Tätigkeit nachzugehen – 1923, fünf Jahre nach dem Krieg. Zeitlebens war er Nachtschwärmer und Nachtarbeiter oder, zeitversetzt, Spätaufsteher. Er frühstückte meist erst gegen Mittag und lebte in die Nacht hinein auf.

Es ist nicht bekannt, von wem er eingeladen worden war. Vorstellbar wäre, dass ihn Mitglieder des Schauspielensembles angesprochen hatten, die von ihm wiederholt mit freundlichen Rezensionen bedacht worden waren.

Es hätte ihn nicht überraschen können, bei der geselligen Feier auch Ida-Lotte Preuß anzutreffen, Lolott, wie er diese Geliebte unter Geliebten aus seiner Osnabrücker Zeit gern nannte. Mit ihr hatte er einmal schon zuvor unter ihren Hannoveraner Kollegen den Jahresausklang gefeiert. Denkbar wäre allerdings auch, dass sich für ihn in dieser Silvesternacht eine andere Frauenbekanntschaft ergab. Er musste dem Schirmherrn des Abends noch nicht einmal seine Aufwartung gemacht haben, als ihm bereits aufgefallen sein konnte, dass eine der anwesenden Frauen, er hatte sie bisher noch nie gesehen, Aufsehen erregte. Dass sie von Männern seines Alters mit verschiedenen Namen gerufen und angesprochen wurde: Ilse, Jutta, Jeanne, Jeanette und wie sie sonst noch heißen mochte. Als ob jeder von ihnen und nur er allein sie mit dem Namen zu rufen wusste, bei dem man sie herzlich in die Arme schließen konnte. Es hieß, sie sei Anfang zwanzig. Verheiratet. Geschieden. Solle wählerisch sein. Was wenig besagen musste. Sie sei oder solle – aber was sollte sie nicht! So wurde behauptet, sie habe einen Schönheitswettbewerb gewonnen, was sich später als Vorgriff erwies. Wie er außerdem hörte, war sie kürzlich erst zum Ensemble des Schauspielhauses hinzugekommen. Andere Gäste hingegen meinten, wenn auch nicht Schauspielerin, so sei sie Tänzerin, sei nichts dergleichen, sie sei für die Presse tätig. Remarque entschied sich, sie als Journalistin anzusprechen.

Johannes oder auch Peter, wie er sie später rufen sollte, war eine auffallend schöne, kühl anmutende Frau von geschmeidigem, schlankem Wuchs. Ihre spielerische Art, den Blick gesenkt zu halten, dann wieder aus den Winkeln ihrer großen, samtenen Augen unverblümt her zu lächeln, machte Remarque, er war noch nicht einmal mit ihr ins Gespräch gekommen, unvermittelt eifersüchtig.

Er war verspätet gekommen. Hatte zuerst verschiedene Bekannte und deren Frauen begrüßt. Hatte sich unter den dargereichten Getränken für Sekt entschieden. Stand bald mit seinem Glas neben einem Kollegen, mit dem er als Redakteur bei Echo Continental in Berührung gekommen war und den er hier nicht erwartet hatte. So stand er denn unaufgefordert neben Jutta, Jeanne, Jeanette und, wie er vermuten konnte, ihrem gegenwärtigen Begleiter. Oder, wie er sich spöttisch sagte, einem ihrer »Ständigen«. Einem unter dergleichen! Sie schien von Remarque nur so lange Notiz nehmen zu wollen, wie ihr Freund sie miteinander bekannt gemacht hatte. Als die Männer nach der Begrüßung die Kelche hoben, sich und der jungen Frau zunickten und die Gläser behutsam klirren ließen, stieß sie auch nicht mit ihm an, nur mit ihrem Begleiter.

Oft und nicht ungern hatte er den überstürzten Berichten seines Kollegen zugehört, wenn sie in der Kantine zusammengetroffen und auf den Rennsport zu sprechen gekommen waren, auf große oder lokale Ereignisse, an denen der andere aktiv teilzunehmen pflegte. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie sich beiderseitig zu schmeicheln verstanden. Remarque, wenn er von den Erfolgen seines Kollegen im Echo Continental berichtete, auch Blessuren nicht ausließ, die Geschichte einer Narbe, die dem leidenschaftlichen Motorsportler leicht versetzt die Lippen kreuzte. Remarque wiederum war eitel genug, sich gern als Publizist und Redakteur ansprechen zu lassen.

»Ich hatte nicht mehr mit dir gerechnet, Erich! Ich hatte gedacht, du bist wieder mal noch mit dem Stift in der Hand ins Bett gegangen!«

»Ich lass mich auch gern unterhalten«, gab er gelassen zurück und suchte erneut vergebens den Blick der jungen Frau neben ihm.

»Und wie verträgt sich das? Wo nimmst du die Zeit dann eigentlich her?«

»Die Zeit? Für was?«

»Na komm! Na, zum Schreiben.«

»Also, du nimmst die Kurve wieder mal zu schnell! An Abenden wie heute findet sich immer auch Gelegenheit, frühzeitig wegzugehen.«

»Klingt sehr enthaltsam!«

Remarque lachte.

»Nicht ganz! Gegenwärtig täte mir jemand gut, der mir den Bleistift aus der Hand nähme …«

»… spätestens wenn du in irgendein vorgewärmtes Bett gezogen wirst!«, fuhr der andere fort.

»… dass ich mal unter Leute gehe!«, ergänzte Remarque unbeirrt.

Frühzeitig wegzugehen! Und dann: unter Leute! Wie kam er dazu, sich fast noch im selben Atemzug zu widersprechen? Er hätte gerne einen Blick mit der jungen Frau neben ihm getauscht! Hatte sie überhaupt zugehört? Hörte sie überhaupt auch nur irgendjemand zu, wenn sie hierhin und dorthin grüßte und ihr Glas winkend hob, über die Schultern anderer, lärmender Gäste hinweg? Mehrfach schon hatte er seinen Kelch ihrem Glas entgegengehalten. Noch jedes Mal gab sie sich abgelenkt. Wie von anderen Gästen fasziniert und angesprochen. Und doch, plötzlich, unerwartet sollten sich ihre Handrücken streifen. Nicht einmal flüchtig. Bei einer lebhaften Geste mit ihrem Glas hatte sie fahrig ausgeholt. Hatte Remarque derart getroffen, dass sich die Asche von seiner Zigarette löste und auf den Boden stäubte. Sie gab sich bestürzt.

»Habe ich Sie getroffen?«

»Ja!«, beteuerte er.

»Mit Sekt?«

»Ja! Schon!« Er lachte. War sich jedoch keinesfalls sicher.

»Ein Glück! Nicht das Kleid!«, prustete ihr Begleiter und bedrängte sie mit dem Zeigefinger im Halsausschnitt. »Johannas Kleid, das Kleid hier, das war von mir ursprünglich als Parisreise gedacht. Aber so einfach ist das. Sie glaubt, mich trösten zu können: Besser die Taube im Kleid als irgendein Paradiesvogel auf Montmartre!«

Sie protestierte.

»Das sagst du!«

Er gab sich erheitert, zog sie zu sich heran und küsste sie auf den missmutig verzogenen Mund. Remarque war überrascht: Sie ließ sich küssen, geziert und auffällig hinhaltend! Dabei hielt sie ihr Glas steif mit ausgestrecktem Arm schräg von sich weg, dass sie erneut andere Gäste hätte streifen können. Doch indem sie sich langsam aus der Umarmung ihres Begleiters löste, blickte sie unvermittelt Remarque wie sich versichernd an. Und da sich nach einem feinen verfliegenden Lächeln auch ihre Unterlippe erneut belebte, als ob auch er sich eher auf eine Reise nach Paris als auf einen Einkaufsbummel durch Hannovers Modehäuser einlassen würde, stieß er jäh seine Zigarette in sein Glas, dass der Sekt nur so schäumte, nahm Jutta, Jeanne, Jeanette und wie sie sonst noch heißen mochte am Arm, lehnte sich in den Duft ihres schwach parfümierten Haares und küsste sie wie beiläufig auf ihren weichen Mund, nicht ohne den strengen Geschmack ihres Rouges mitzunehmen. Sie wich nicht einmal aus. Hatte sogar ihr Glas sinken lassen. Doch gab sie sich wie unbeteiligt, als er zurücktrat und sein Glas mit der erloschenen Glut wie grüßend gegen sie erhob.

»Wo hab ich Sie eigentlich getroffen? Mein Kleid jedenfalls hier unten am Saum …«

Sie sprach nicht weiter. Drückte vielmehr ihrem Begleiter ihr Glas in die Hand, stützte sich auf Remarques Unterarm ab, griff nach dem Saum ihres Kleides, hob den Rock bis knapp unter das Knie und blickte von einem der beiden Männer zum anderen.

»Nein! Entschuldigt mich bitte für einen Moment! Nein, es hat wirklich etwas gelitten!«

Unverwandt, noch immer die Gläser in Händen, sahen sie zu, wie die schlanke Frau sich ihren Weg durch die Gäste bahnte. Obgleich ihr Schritt federnd und sicher wirkte, schwankten die Fesseln der langen Beine, wie Remarque es immer wieder amüsierte, wenn sich Frauen mit überhohen Absätzen versuchten. War er sich sicher? Sicher allein in dem, was er von ihr hatte sehen wollen, als sie sich rasch unter den dicht beieinanderstehenden Gästen verlor: ein tiefes Rückendekolleté, das die Schultern hob, das Gesäß betonte!

»Warte mal kurz!«, meinte Remarques Kollege. »Ich stell die Gläser mal weg und hol uns was Besseres.«

»Nein!«, wehrte er ab. »Ich wollte sowieso schon gehen.«

»Ah! Frühzeitig weg! Darf ich noch fragen: also enthaltsam unter die Bettdecke, so mit Papier und Stift?«

Als Remarque den Fahrstuhl verließ, sah er die junge Frau im Mantel am Ausgang stehen.

»Haben Sie Zeit?«, begrüßte er sie.

Sie lachte.

»Ja!«, sagte sie und ließ ihre großen, durch das Dunkel schwärmenden Augen auf ihm ruhen. »Jetzt habe ich Zeit!«

2

Ilse Jutta Zambona und Erich Maria Remarque, sie sollten sich lieben! Sie sollten sich quälen! Doch schon lange bevor sich ein strenger Hauch von Verwesung auf ihre Liebe legte, war Remarque dem Verdacht verfallen, dass ein Grund, sich nicht nur als Liebhaber begehrter Frauen, sich auch als Schriftsteller immer von Neuem schinden zu müssen, in ferner Kindheit zu suchen sein könnte. Alle Mühsal seiner Ehe konnte diesen Verdacht nur verstärken.

Wenn er in weiter fortgeschrittenem Alter wiederholt von »zweibeinigem Aas« und »Verhinderung« sprechen sollte, spiegelte sich darin eine Erfahrung wider, die er zum ersten und dann bald wiederholten Mal hatte machen müssen, als er noch lange nicht schreiben, immerhin schon Strichmenschlein hinkritzeln konnte. Dazu hätte er gern in unbedachtem Trotz, wenn er denn damals schon hätte angemessen urteilen können, so etwas zu Papier bringen mögen wie dieses Arsch…! Was das mir angetan hat, das soll mich und ich schwör’s! – für den Rest des Lebens davor warnen, mich abzuquälen!

Allein bereits die Frau, der sein allererster Schrei, sein erster Augen- und Zungenschlag gegolten hatte, sollte es ihm für ein liebebedürftiges Leben und damit für immer schwer machen.

»Ich kann mich um dich jetzt nicht kümmern! Du siehst doch, dein Bruder ist krank!«

Nein, man musste wirklich nicht näher hinsehen. Denn seit der Stunde, in der er schreiend, er, Erich Paul, der spätere Erich Maria, die Augen aufgeschlagen, seit er den zwei Jahre älteren Bruder wahrgenommen hatte, saß Theodor Arthur, dieses kraftlose Arthurchen, auf dem Arm der Mutter und war krank. Für ihn, den kleinen, den unauffällig gesunden Erich, saß er auch dann noch heimelig an den Brüsten jener Frau, als dieser Gnom ihr längst und dann spreizbeinig auf der Hüfte hockte.

»Jetzt komm, jetzt stell dich nicht so an! Mal doch mal was! Ja, hier, mit den schönen Buntstiften deines Bruders. Und bedank dich bei ihm! Arthur, der Erich darf doch mit deinen Stiften malen?«

Erich, als die Mutter ihn kurz aus den Augen ließ, hatte sich zornig weggerissen. Zur kalkweiß getünchten Wand hin die Zunge rausgestreckt. Doch die Mutter hatte nicht erst das Schattenspiel wahrnehmen müssen, um ihrem zweitgeborenen Sohn, dem zweiten unter bis dahin drei Kindern, eine gerechte Ohrfeige zu geben.

»Du sollst malen! Was habe ich gesagt!«

Gesagt? Geschrien.

»Mal! Du sollst malen!«

Er hatte nicht mehr geantwortet. Hatte sich langsam abgewandt. War aus dem Zimmer gegangen. Hatte die Tür zum Treppenhaus geöffnet und hinter sich zugezogen. War drei, vier Stufen hinabgestiegen. Hatte sich auf die Stiege gesetzt und mit der Verzweiflung eines kindlich brüchigen Herzens geweint.

Er hatte sehr lange warten müssen, bis die Mutter dann doch noch auf dem Treppenpodest erschien und ihn zurückrief.

»Ja, wie schaust du denn aus! Schäm dich! Das ganze Gesicht mit den fettigen Buntstiften verschmiert! Wasch dich, bevor du dich wieder sehen lässt!«

3

Eigentlich waren sie beide krank. Jeder auf seine Weise. Das Leiden des Älteren, Arthurs Verfall, war unaufhaltbar. Erich allerdings gestand man nicht einmal zu, sich leidend zu geben. Wenn man Eifersucht als Leiden sehen will. Als Krankheit, die sich einhauchen sowie austreiben ließe wie einen bösen Geist. Der ältere der Brüder jedoch war unleugbar krank. Er kränkelte dahin. Er war für ein Leben auf eigenen Beinen, ein Dasein, anders als das auf Hüfte und damit Füßen der Mutter, nicht recht geschaffen. Doch gegen Ende seiner Zeit ging es ihm nicht mehr so, wie es ihm sonst, wie es ihm alle Tage ging, an denen er blass, mit hoher Stimme hohl dahinkümmerte. Seit er vor gut fünf Jahren Licht und Dunkel der Welt erblickt hatte. Er war schlechter dran, als sich behütet, umkümmert und umsorgt von einem unglücklichen Geschick auszehren zu lassen. Matt und reglos lag er in seinem Kinderbett. Ließ sich geduldig und ergeben die glühenden Waden in kühle, wasserschwere Tücher verpacken. Feucht und schwitzig schob sich der kleine, magere Körper immer wieder aus der Bettdecke frei. Und wenn die Mutter den nässenden Kopf hin und wieder abgerubbelt hatte, standen die Haare wirr, wie verfilzt um den kindlich fahlen, weichlichen Schädel.

Erich hingegen, zwei Jahre jünger, hatte die Mutter, wenn er sich unverstanden schlaff an das Fußende ihres Bettes legte, bisher noch nie mit einer brustwarmen Brühe gefüttert, aus der ihm blässliche Fettaugen entgegenblickten. Sie hatte ihn nie aufgehalten, wenn er die Bettdecke zur Nacht bis unter das Kinn und höher, über den Mund, vor die Nase, bis knapp vor die Augen gezogen hatte, dass er sie eben noch einen letzten Blick auf den Älteren, ihren Verzug, ihr schwächliches Sorgenkind werfen sah. Sie hatte ihn nie abgehalten, das Laken auch ganz über den Kopf zu werfen. Er wollte sich nie anders erinnern. Noch rückschauend hätte er jede beschwichtigende Hand weggeschlagen.

Nein, nichts anderes war ihm in den Sinn gekommen, als dem verschwitzten Bruder das zipfelnde Haar zu stutzen. Doch da war die Schere mit einem ihrer Flügel dem anderen bereits in die Schläfe gefahren!

Er hätte sich nicht verkrochen, wenn nicht der andere brüchig aufgeschrien hätte! Er verkroch sich unter dem muffig durchgesessenen Sofa. Umso größer das Erschrecken, als ihn die Mutter nicht bei den Füßen nahm, dass sie ihn vielmehr durch Staub und Bordüre, dass sie nach einem seiner Arme suchte, dass sie ihn bei der Linken nahm. So ging es hin zur Tür. Zur Treppe. Zum tränentiefen Stiegenhaus.

Später sollte sie sagen, jedenfalls wurde ihr das nachgesagt, zumindest einmal habe sie bekannt, ihr jüngerer Sohn sei ein ausgesprochen zärtliches Kind gewesen. Dass sie aber keinen rechten Platz auf Arm oder Hüfte frei machen konnte. Nicht dass sie gesagt hätte, dass ihr nicht danach gewesen sei! Sie sagte, wenn der ältere Bruder über die kurze gemeinsame Zeit hinweg, diese kranken Jahre kläglich dahinstarb, dass sie nicht ausreichend Zeit gehabt hätte für ihren Kleineren. Den Pumperlgesunden, den Erich. Kräftig genug für ein junges Leben in Treppenhäusern.

Es war ein trüber, regenreicher Tag im Oktober 1901, als der Bruder in einer Zeit tiefen Friedens nicht mehr die Augen aufschlagen wollte. Erich war im Sommer drei Jahre alt geworden. Die Schwester Erna noch nicht einmal ein Dutzend Monate.

Die Mutter nahm ihren quicklebendigen Sohn nicht mit zur Beerdigung. Er wäre mitgegangen, allein schon, wie er sich später klarzumachen versuchte, um dem Bruder die Schere in die Grube nachzuwerfen.

Er hatte ausgestreckt unter dem Sofa auf die Mutter gewartet. Doch war sie nicht allein zurückgekommen. Die Tante hatte ihn unter dem Sofa vorgezogen. Sie hatte auf ihn herabgeschaut und zugleich etwas geflüstert, was weniger ihm als der Mutter zugedacht war. Etwas Tröstliches. Etwas Besänftigendes hatte sie ihr gesagt. Vielleicht würde sich der kleine Erich ja noch auswachsen!

Die Tante wenigstens hatte gezweifelt. Sie hatte ihn, vielleicht ahnungslos, geschützt, als die Mutter ihn längst genötigt, längst über ihn verfügt hatte – »jetzt!« – ja, was jetzt? – Wort für Wort, wie harte Regentropfen auf einen spröden Sarg, »jetzt musst du unser Bester sein!«

Als sie das sagte, und sie hatte es für ein ganzes verzweifeltes Menschenleben so gesagt, hätte er schreien können! Wen denn hielt sie jetzt wieder auf dem Arm! Die Jüngste, die Nachgeborene, die zwei Jahre jüngere Schwester!

Nicht dass es der Vater gewesen wäre. Schlimmer! Es war die Mutter, der jenes »Du! Du musst!« verhängnisvoll über die Lippen gekommen war. Dabei war die dunkle Tönung dieser Worte eher die Welt des Vaters. Wenn der Vater etwa von »tumbem Unsinn!« sprach, war das der Mutter »schierer Irrsinn«.

Er war der Mutter nicht zuvorgekommen. Er hatte nicht gesagt, von jetzt an ich! Von jetzt an, gut! – Von jetzt an also werde ich! Er hatte nicht nach ihrem Arm gegriffen. Nach ihrer Hüfte getastet. Vielleicht war er schon zu groß, zu ungelenk, ihr von dort in den Bauch treten zu können. Er hatte sie mit der Gewalt eines Scherenstoßes getroffen. Eines »du musst!« Mit kindlicher Faust knapp unter dem Auge.

Hatte sie sich zu ihm herabgebückt? Hatte sie wirklich gehofft, dass er ihr etwas zuflüstern, dass er ihr sagen würde, »sei getrost!«?

Etwas ganz anderes hätte er sagen wollen. Leise. Aus einem flüchtenden, kindlichen, zeit seines Lebens unsteten Augenaufschlag. Und mit denselben Worten, so wie später, wenn sie ihm damals schon zu Gebot gestanden hätten: Sag mir, dass du mich liebst!

Als der Bruder, als Arthur starb, wohnte die Familie Remark in der Möserstraße. Zwei Monate nach dem Begräbnis zog sie von dort in die Schinkelstraße. Für den nun vierjährigen Erich war das bereits der dritte Umzug im Herzen Osnabrücks, und bevor er sechsjährig in die Volksschule eintreten sollte, die Schule des Doms, hatte er noch zwei weitere Umzüge vor sich.

Er war zehn Jahre alt, als man ihn die Volksschule wechseln und in die Johannisschule gehen ließ. Für höhere Lehranstalten mit Abitur als Abschluss der Schulzeit fehlte das Geld.

Zwei weitere Umzüge lagen hinter ihm: erst in die Kloster-, danach in die Jahnstraße. Feuchte Neubauten wurden billiger vermietet. Bereits für den jungen Erich Paul Remark war die Unrast aller Ortswechsel Lebensart.

Peter Franz Remark, der Vater, schien eher in den stillen Stunden einer Osnabrücker Druckerei aufzuleben als zu Hause, wenn er abends von der Arbeit kam. Selbst wenn er dem Sohn immer fremd bleiben sollte, war es für den Lebensweg des jungen Erich nicht unbedeutend, dass jener wortkarge Fremde den Buchdruck erlernt hatte. Denn Peter Franz brachte immer wieder Bücher mit nach Hause, die ihm sein Sohn einzubinden hatte. Der junge Remark begann zu lesen. Doch selbst belesen, als Volksschulabsolvent, sollte er zeit seines Lebens mit seinem begrenzten Wissen hadern. Als Erich Paul Remark, dann schon Erich Maria Remarque, längst berühmt, stets misstrauisch gegen sich selbst, ein Konversations-Lexikon erwarb, hielt er den Kauf für den äußersten Ausdruck von Bürgerlichkeit. Im Tagebuch bestätigt er sich lückenhaft schwache Bildung.

Aus seiner Zeit an der Johannisschule sollte er nie vergessen, dass er bereits als Schüler für wenig glaubwürdig gehalten worden war. Der Lehrer hatte der Klasse aus einem Aufsatz vorgelesen, mit dem die Schüler von ihren Sommerferien berichteten. »Stolz …«, schon bei diesem Wort hatte er Erich erregt angeschaut, »und erhaben durchschneidet das weiße Segelschiff …« Der Lehrer hatte das Heft gebeutelt, war auf Erich zugegangen, hatte ihn aus der Bank gezerrt und ihm das vermeintliche Machwerk vor aller Augen erregt um die Ohren geschlagen.

»Du Lump! Wo hast du das abgeschrieben?«

Was sich der abgestrafte Schüler ein Leben lang fragen würde: Wie hätte ich mich aufführen, wie stilisieren, wie kostümieren müssen, damit mir jene Zeilen abgenommen worden wären? Und wenn ich maskiert im Gewand der Glaubwürdigkeit vor ihn hingetreten wäre, hätte er dann mir jene Zeilen nicht ebenso zugetraut, wenn ich sie – in der Tat! – abgeschrieben hätte? Er nicht! Ich hätte ihn ohrfeigen müssen! Wie schon die Mutter! Das Furchtbare ist, ich habe den Pauker verehrt!

Nach acht Volksschuljahren erlebte der junge, sechzehnjährige Erich den Ausbruch des Ersten Weltkrieges an einer dreiklassigen Präparande, die ihn auf den Eintritt in das katholische Lehrerbildungsseminar vorzubereiten hatte. Es kam ihm nicht in den Sinn, die Ausbildung zu unterbrechen und sich wie so viele, die er kannte, freiwillig zum Heer zu melden. Auch hatte er sich hingebungsvoll einem Zirkel junger Menschen angeschlossen, dem Traumbuden-Kreis. Der Osnabrücker Künstler Fritz Hörstemeier, Maler und Dichter, verstand es, in einer Dachstube der Liebigstraße 31 junge Menschen für Literatur, bildende Kunst und Musik zu begeistern. Zur Lektüre des Kreises gehörte auch Die Schönheit, ein Blatt, das nicht nur Körperkultur und Leibeshygiene pries, sondern auch die Ästhetik nackter Haut.

Auch Remark sollte nun erste erotische Erfahrungen sammeln. So hatte er Lucile Dietrichs, einer der jungen Frauen, die wie er bei Fritz verkehrten, verfänglich versichert, jeder Kuss, den sie miteinander tauschten, sei ein Siegel der Keuschheit. Dem stand jedoch nicht entgegen, im Treppenhaus ausgestreckt auf dem Rücken liegend, auf seine Lucia, wie er sie nannte, zu warten, um ihr den Zugang zur Traumbude zu verwehren. Und als sie dann kam, nach ihren Beinen zu greifen, sich leicht aufzurichten und ihr die nackten Fesseln zu küssen. Sie wusste sich nur schwach zu wehren. Auch nur »Komm, hör auf!« hinzuhauchen. Sie riss sich auch nicht los.

»Ja!«, seufzte er. »Ein Märchen aus uralten Zeiten, das geht mir nicht aus dem Sinn: mir war noch nie so klar, warum die unglücklichen Rheinschiffer den Kopf so recken müssen unter der Loreley, bevor sie dann …!«

»Jetzt komm, los! Jetzt steh auf!«

»… den Kopf so recken müssen«, beteuerte er, »wie ich unter dir, bevor sie zerschellen!«

»Ach!«, spottete sie, schlug sich ihr Kleid zwischen die Knie und setzte dem jungen Liebhaber einen Fuß auf die Brust. »Du tust mir wirklich leid! Du armer, armer Schiffbrüchiger!«

»Ja!«, sagte er und griff nach dem Saum ihres Kleides, um es ihr von den Knien zu schlagen. »Mein Schiff, dir ist es mein Herz!«

In dieser Zeit geschah es auch, dass sich der junge Remark an lange Trinkgelage gewöhnte. Die Traumbude bot eine schwärmerisch geliebte Zuflucht. Zwar hatte er seine Heimatstadt bislang, solange er noch nicht zum Heer einberufen worden war, noch nie dauerhaft verlassen müssen, doch hatte er mit seiner Familie zehnmal bereits die Wohnung gewechselt.

4

Mit siebzehn, achtzehn Jahren gab er Klavierunterricht. In seiner Heimatstadt Osnabrück war Remark als talentierter Spieler rasch bekannt geworden. Er war gefragt. Nicht nur am Flügel. Auch an der Orgel. Für den Unterricht am Klavier kamen die Schüler in die elterliche Wohnung in der Luisenstraße. Der Volksschüler unterrichtete Gymnasiasten! Denn vorwiegend kam seine jugendliche Kundschaft aus höheren Schulen, deren Portal hier und dort eine der ihrerzeit üblichen Inschriften trug: Erziehungsanstalt für Knaben und Mädchen – selbst wenn sich Schülerinnen der letzten Jahrgänge längst dem blutlosen Mädchenalter entwachsen wussten. Es gab Zeugen, die spöttisch wenn nicht gar gehässig bestätigten, dass das Blut junger Frauen sichtlich in Wallung geraten war, wenn sie nach gemeinsamem Musizieren mit dem wenig älteren Remark das Zimmer verließen. War die Schülerin hübsch und gereift, so wie seine »Margot«, kostete Remark früh schon mehr als eines seiner großen Talente aus.

»Wir sind für heute fertig. Aber wenn du willst, könnte ich dir noch eine Polonaise vorspielen.«

»Ja. Gut.«

Sie stand bereitwillig auf, wartete auch, dass Remark nach dem Klavierschemel griff, den Sitz neu justierte, Platz nahm und sich dann doch gleich wieder erhob, um in seinen Noten zu kramen. Er entschied sich für eine frühe Polonaise Chopins. Die Schülerin hatte erwähnt, dass der diesjährige Abschlussball der Schule mit einem derartigen Gesellschaftstanz eröffnet werden würde. Er rechnete damit, dass sie sich animieren ließe, sobald er spielte, dass sie sich unaufgefordert bereitfinden würde, ihm einige Figuren vorzuführen, die im Tanzunterricht eingeübt worden waren.

Margot war eine hochgewachsene Erscheinung von apartem Reiz, blond, mit auffällig kontrastierenden dunklen Wimpern, jugendlich weichem Mund und einem ungewöhnlich kräftigen, matt glänzenden Zopf, der über den hellen Nacken weit in den Rücken fiel, bis in die seichte, mittelnde Senke ihres Rocks.

In Remarks Augen waren es vor allem die Flanken jener Senke, was Margot zeichnete: durchaus wohlproportioniert, ausgewogen zu Schultern, Brust, Hüften und Beinen. Und dennoch reifer, herangereifter, üppiger, als es sich jeder ungläubige Blick für mehr als einen Lidschlag zu sichern wusste. Remark wollte Margot tanzen sehen. Senke und Flanken: Vom Klanggefälle her erging das für sich schon mächtige Wort Hin-tern nicht anders an Remark denn als Ruf: hier-her!

Dieses Gefälle war zu belauschen. Verhören. Abzuhorchen. Mit eigenen Augen. Im fliegenden Wechsel von Bein zu Bein: dieses gegenläufige Buckeln und Strecken. Strotzen und Verebben. Schritt um Schritt. Mit dem sich der Rock über der Wadennaht, dieser hoch unter den Rock steigenden Spur, über dem schenkelprallen Saum des Strumpfes bis zum Greifen nah fühlt, um schon zum nächsten Schritt hin dem Betrachter erneut verloren zu gehen.

Sie tanzte zurückhaltend. Deutete die Schritte, mit denen sie auf Partner zuzugehen hatte, nur schwach und ungenau an, auch die rituelle Aufforderung, bei der sie leicht in die Knie zu gehen und den Rock anzuheben hatte. Als sie erneut an Remark vorüber tanzte, kurz verweilte, um leicht und flüchtig die tänzerisch für den Partner vorgegebene Reverenz zu erweisen, ließ Remark vom Spiel ab, griff rasch nach ihrem Rock und schlug ihr den Saum bis über die Kniekehlen hoch. Sie riss sich derart heftig weg, dass ihr der Zopf um die Hüfte schlug.

»Bist du verrückt?«

Er stockte, wich zurück, hielt die Luft so lange an, bis er stoßhaft hervorbrachte:

»Wirklich, ich hätte gern noch mehr gesehen! Du hast ’nen sehr satten Hintern!«

Sie wurde zornig.

»Du bist geschmacklos!«

Aber gerade in dieser Hinsicht, da war er sich sicher, hatte er einen anspruchsvollen Geschmack. Er gab sich gelassen und blieb mit gefalteten Händen auf seinem Hocker sitzen.

»Jetzt sei doch nicht so! Nein! Warte mal! Ich hab noch ’ne Frage. Meine ältere Schwester fragt mich immer nach Kleingeld für ihren Strumpfhalter. Kennst du das: Sie schiebt sich immer Pfennige unter den Strumpfsaum und dann durch die Ösen. Wie machst du das?«

Die hübsche Margot schwenkte zwar beide Waden, erst rechts, dann links, etwas zur Seite, um den Verlauf der Nähte zu prüfen, wich aber aus.

»Wie ich das mache?«

»Ja. Würde mich interessieren.« Remark stand auf. »Darf ich mal sehen?«

Ihr schoss das Blut zu Kopf.

»Jetzt hör endlich auf! Du bist wirklich verrückt!«

Doch Remark war schon hinter ihr, fasste sie an den Hüften und tastete durch den Rock hindurch nach Strumpfhaltern. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie gekratzt, gebissen, nach ihm getreten hätte. Doch griff sie nur nach seinen Händen und schob sie weg. Und damit war sie auch schon an der Tür.

Wenn er mit über fünfzig Jahren an seine Margot zurückdachte, resümierte er knapp: Mit Frauen? Tat ich mir immer leicht!

Wie wahr! Wie noch immer unbedacht wahr! In den reiferen Jahren hatte es ausreichend Bekanntschaften, es hatte hinreichend Frauen gegeben, selbst wenn sie sich mit nicht mehr als einem »Stündchen« zufriedenzugeben hatten, die nicht anders von ihm sprachen denn als »homme à femmes«. Er selbst, berauscht als Liebhaber, sah sich kaum anders. Schrieb, sah sich ganz ähnlich: als »homme à femme«. Doch kaum niedergeschrieben, stutzte er, fehlte hier doch das schwänzelnde S! Als ob er sich unbewusst nach einer in Mannesschwäche verbrachten Nacht bespiegeln musste: »zumeist denn impotent!«

Jenes »ES« konnte ihn leicht überfordern. Es gab Momente, in denen er sich ausgeliefert als das Objekt eines in Stunden rechnenden gierigen Verlangens begriff. Wie zuletzt. Wie immer schon. Wie erst gestern. Wieso eigentlich:

Letzter Abend hier! Und noch nicht einmal Abend, eine Frau quatscht mich an. Mir hinterher, Fahrstuhl, Gang, Zimmer. Wollte nur eine »beautiful Stunde«. Hätte sie auf das Bett werfen können. Drängte sie raus und runter. Sagte ihr nur: keine Zeit! Später, abends, wollte Marlene, »das Puma«, mit mir allein irgendwohin. Dann nochmals zu ihm. Nächsten Vormittag: nichts als gepackt! Auf und weg!

Da es Remark schon während seiner Zeit an der Johannisschule immer entschiedener nach einer eigenen, stillen Sphäre verlangte, wurde er in der Drangsal kleinbürgerlicher Häuslichkeit für Eltern und Schwestern ein unbequemer Mitbewohner. Nicht nur, dass er musizierte, er hatte angefangen zu schreiben. Er hatte ernst zu nehmende Gründe für alle Eigenbrötelei. Die ältere Schwester hatte ihm wiederholt boshaft zugerufen, »ich sage nur: Albatros!«. Sie musste aufgegriffen haben, dass er abgestraft worden war. Und vielleicht hatte sie ihm sogar nachspioniert und nachgelesen, sein stolz und erhaben …!

Remark schrieb. Und im Alter von achtzehn Jahren, als er bereits das Lehrerbildungsseminar besuchte, erschien im Rahmen eines Wettbewerbs eines Osnabrücker Lokalblatts seine erste Veröffentlichung: Von den Freuden und Mühen der Jugendwehr, die auffällig wertfreie Schilderung eines vormilitärischen Manövers. Für Jugendliche, die sich nicht im Wandervogel oder bei den Pfadfindern organisierten, war es Pflicht, an derartigen Übungen teilzunehmen. Kurz nach der Publikation wurde er zum Heer an die Westfront einberufen. Als er den Stellungsbefehl erhielt, befand sich Deutschland bereits seit zwei Jahren im Krieg.

Nur acht Monate an der Front und Remark wurde im Kugel- und Splitterhagel an Hals und Beinen verletzt. Kaum zurück auf deutschem Boden erhielt er die Nachricht, dass seine Mutter gestorben sei. Es ist nicht bekannt, in welchem Zustand der Sohn vorübergehend das Hospital verließ, um an der Beerdigung teilzunehmen und die Mutter zu Grabe zu tragen.

Während des Aufenthalts im Hospital fand sich reichlich Zeit, erotische Erfahrungen zu resümieren, blickte Remark doch bereits auf mehrere amouröse Beziehungen zurück. So mit Adele Bertram, auch Erna Edler, den beiden, wie er sich zu versichern wusste, bekanntesten Mädchen ihrer Osnabrücker Schulen, mit Erika Haase, Lucile Dietrichs, die beide wie er früh zum Traumbuden-Kreis gefunden hatten, mit Hedwig, die er »siechend« zurückgelassen hatte. Im Schreibzimmer des Hospitals fühlte er sich geborgener als zu Hause, da nicht zu befürchten war, dass ihm eine seiner leiblichen Schwestern über die Schulter schauen würde. Mitunter nahmen seine Gedanken nahezu manifesthaften Charakter an: Eine Frau, die einen anderen liebt, ist sie untreu? Sie ist es nicht! Ich werde es beweisen!

Einen anderen! Stellvertretend für den »Einen anderen« oder schlicht als der andere meinte er noch ergänzen zu müssen: Könnte ich einen Menschen, mit dem ich nie in einer Ehe zusammenleben könnte, doch oder zumindest für »eine schöne Stunde« lieben? – Ich kann!

Remark schrieb nachts, wenn er sich gänzlich ungestört wusste. Er hielt einsam Zwiesprache. Nachts.

Martha, die Tochter des Pflegers im Duisburger Lazarett, hat ihm Rosen gebracht. Darunter auch rote. Zwei. Zwei dunkelrote! Wie konnte das sein, sie hat es mit ansehen müssen: Über Nacht sind die Rosen verwelkt, die Blätter abgefallen!

Im Tagebuch hielt er fest: Vergessensuchen! – wie er spürt, wie Martha schaudert und bebt, als er sie in die Arme schließt und küsst. Aber das war ihm noch weniger erträglich als kummervolle Mundwinkel:

Wenn eine Frau unsicher wird, dass sie anfängt zu klammern, zu zittern, wenn ich mich als ihr Liebhaber, wenn ich mich zärtlich gebe, es wäre unerträglich, wenn ich nicht wüsste, dass ich brutal werden kann. Dann wirklich dann! – Nur ihr Spott könnte retten, – dass sie es nicht einmal nötig hätte zu beißen, zu kratzen, zu schreien, mich nur nachsichtig verlacht! Es bleibt kein Zufall, wenn mir Frauen bis zum Überdruss erliegen. Allein die Mutter nicht. War beider Unvermögen. Mehr als der eine Hieb war mir nicht gegeben. Ich hätte sie aufs Bett werfen müssen. (Nur –, so weit war ich nicht!) Wir hätten wie wild gelacht: – was für ein Unsinn! – Sie hätte nur nach einer der herumliegenden Schneiderscheren greifen, mit dem Maul der sperrenden Scherenklingen wie rasend zuschnappen müssen!

Der Waffenstillstand im November 1918 ersparte es Remark, mit halbwegs verheilten Wunden an die Westfront zurückkehren zu müssen.

Nachdem er im Dienstgrad eines Musketiers entlassen worden war, waren an ihm Züge zu beobachten, die an Hochstaplerei denken ließen. Remarks Vater, bei der Kriegsmarine vom einfachen Matrosen zum Maat befördert, war für den Sohn längst zum »Kapitän« avanciert. Und dieser Sohn selbst liebte es, durch seine Heimatstadt in der Uniform eines Leutnants zu flanieren, brüstete sich mit dem Eisernen Kreuz 1. und 2. Klasse.

Aber so oft er auch mit angemaßtem militärischen Dekor herumschlenderte, sein alter Lehrer kreuzte nie seinen Weg! Er wusste, dieser Mensch war aus dem Siebziger-Krieg im gleichen Grad entlassen worden wie kürzlich er, als gemeiner Infanterist. Er hätte seinen Peiniger auf offener Straße, er hätte ihn in der Gosse exerzieren lassen!

Remark konnte wenig damit anfangen, wenn ihm gesagt wurde, dass er bereits als junger Mensch traumatisierende Erfahrungen zu machen hatte. Der Hauch des Todes oder, lebensnäher gesagt, ein Schuss in den Hals war an den beiden großen Gefäßen sowie den Wirbeln vorübergestreift. Remark hatte das Morden an der Front mit mehreren Fleischwunden überlebt. Wenn auch der Krieg verloren war, der Kriegsheimkehrer hatte begriffen, wie seine Heimat in allem Aufruhr das Grauen sehen wollte: dass die Gewissheit, Heldenhaftes geleistet zu haben, für die geschundene Seele »Fels in der Brandung« geblieben war, wie alle Beschwörungen auf den Heldenfriedhöfen bezeugten oder ein jeder Blick, der haften blieb, wenn man ihm weniger Narben denn Ordensbrüste wies: Blende und du siehst den Menschen ins Herz!

Es gab delikate Begegnungen, wenn er sich dekoriert zeigte.

»Gestatten Sie, dass ich Sie anspreche. Ich habe Sie schon mehrfach bewundert! Es ist mir immer eine große Freude, jemanden zu sehen, der nach diesem Kriege mit Stolz den Offiziersrock trägt.«

»Und wenn ich nun gemeiner Soldat wäre?«

Remarks Bewunderer fuhr das Monokel nur noch heftiger unter die Braue.

»Aber ich bitte Sie! Allein schon Ihre Haltung verrät Sie als von Rang!«

»Der gemeine Soldat dankt es Ihnen!«

»Ich bitte Sie! Nein, wirklich, spotten Sie nicht! Ich danke Ihnen als einem, der erst recht jetzt die Ehre des Vaterlandes wahrt!«

Remark hatte ehrenhaft knapp salutiert!

Kurz nach seiner Entlassung aus der Armee verzichtete er, wie es heißt, auf alle Orden und Ehrenzeichen. Es gab zivilere, eher zeitgemäße Mittel der Selbstdarstellung, den Taufnamen Erich Paul reinzuwaschen, den Namen Remark durch französisches Timbre zu veredeln. Alle Überhöhung entsprang nicht einer Laune, sie war Ausdruck eines sich über die Jahre verfeinernden Blendwerks. Wenn Erich Paul Remark schließlich nach Hannover gezogen sein würde, wollte er sich als Erich Maria Remarque verstehen. Noch später, dann in Berlin, sollte ein käuflich erlangter blaublütiger Titel hinzukommen. Remarque gab sich als Freiherr von Buchwaldt aus. Wie schon in Osnabrück stets elegant gekleidet, sah man ihn oft dann mit Stock, Melone und Monokel. Selbst jeder, der ihm den Rücken wies, sah ihn nie anders mehr vor sich! Wenn Remarque fast ein halbes Menschenleben später Bert Brecht im Exil begegnen müsste, würde Mackie Messers geistiger Vater spitz dafürhalten, »etwas fehlt mir an seinem Gesicht. Wahrscheinlich ein Monokel.«

Lang lebe die Maskerade! Oder mit den Worten später Selbstanalyse, in rabiater Kehrtwendung: »Verhasst sei, mehr zu scheinen, als ich bin!«

Nach der Entlassung aus dem Hospital, zurück in Osnabrück, schloss er in weniger als einem halben Jahr die durch den Krieg verstellte Ausbildung zum Volksschullehrer ab, verließ das katholische Lehrerbildungsseminar und begann noch im Sommer 1919 als Volksschullehrer zu arbeiten. Zwar unterrichtete er an verschiedenen Schulen, doch nur wenig mehr als ein Jahr.

Es konnte nicht ausbleiben, dass ihn der Vater zur Rede stellte. Die Vorhaltungen, die er sich anhören muss, brannten sich derart in sein Gedächtnis ein, dass er sich Jahre später noch seiner Betroffenheit erinnern sollte:

Der Vater, ich, mein Zimmer: Er setzt sich ungelenk auf mein Sofa und schaut bedrückt vor sich hin. Warum ich meine Stelle aufgegeben hätte! Ob ich sie wirklich –? Ich, warum? Warum eigentlich? Als ob ich ihm das erklären könnte! Einem Menschen, mit dem ich mich bisher nur insoweit recht gut vertragen habe, als wir uns nichts zu sagen haben.

Bewegt und angestrengt hörte er ihm zu. Was hatte es zu bedeuten, dass jener Mann im Sofa sein Vater war? Ein Mensch, der lange alles für ihn entschied! Und ihn nicht schützen konnte in den Jahren draußen im Feld. Belanglos, ob es ihn gab oder nicht!

Der Sohn, Volksschullehrer außer Dienst, schrieb für Die Schönheit. Verkaufte Grabsteine. Nahm Gelegenheitsarbeiten an. Er schrieb für die Zeitschrift Echo Continental, die ihn als Redakteur nach Hannover holen sollte. Er verfasste Theaterkritiken und erwählte Lolott, eine Osnabrücker Schauspielerin, zur Geliebten.

Remarque war fünfundzwanzig, als er Ilse Jutta Zambona, seine spätere Frau, auf der Silvesterfeier in Hannover kennenlernte.

5

Ilse Jutta Zambona, seiner neuen Geliebten, konnte nicht unbekannt bleiben, dass er mehr schrieb als lediglich Berichte über Sportereignisse, bei denen Gummireifen verschlissen wurden. Doch in der ersten Zeit ihrer immer engeren Beziehung verbarg er noch manche seiner Texte vor Juttas Augen, bis er die Manuskripte seinem Verleger ausgehändigt hatte. So veröffentlichte er, noch bevor sie heirateten, unter zahlreichen weiteren Publikationen in der Hannoveraner Zeitschrift Störtebeker einen ausgefallenen Essay Über das Mixen kostbarer Schnäpse. Darin fand sich ohne Not auch eine ausschweifende Anmerkung, die darauf schließen lassen könnte, wie der jugendliche Bonvivant zu jener Zeit in unbewachte Frauenaugen schaute.

Es sei müheloser, einen Leitfaden der weiblichen Psyche zu skizzieren, selbst das »seltene Unbewachte, Jähe« einer Frau zu erfassen, als das Wesen von Schnäpsen zu begreifen: Schnaps? – Ist beseelt!

Als seine Geliebte von der Veröffentlichung erfuhr, erntete er nur Spott.

»Weißt du, dass du den Text mal über Nacht versehentlich bei mir hast liegen lassen? Ich hätte ihn zerreißen sollen! Aber dann dachte ich mir, ein Verriss ist noch besser!«

Zu Beginn des Jahres 1925 zogen Erich Maria Remarque und Ilse Jutta Zambona nach Berlin, wo sie am 14. Oktober heirateten. Mit jenem Tage war es gut zwei Jahre her, dass die noch nicht lange aus erster Ehe geschiedene Frau im schwachen Licht der Nachtbeleuchtung eines Treppenhauses auf ihn gewartet hatte. Diesmal hatte Remarque auf Peter, wie sie sich inzwischen von ihm rufen ließ, im Morgenlicht eines Treppenschachtes ausharren müssen, gleich auf der Schwelle ihrer gemeinsamen Wohnung, um schließlich zum Standesamt zu gehen.

Wilhelm von Sternburg sollte später eine der bestechendsten Schilderungen von ihr liefern: Sie war eine bildschöne, elegant gekleidete, kühl und erotisch wirkende Frau …: schmalgesichtig, großäugig, schlank und hochgewachsen.

Da Remarque in Berlin für das gepflegte Gesellschaftsblatt Sport im Bild arbeitete, fand er allmählich auch Zugang zu gehobenen Kreisen. So besuchten Remarque und seine Frau, zwei Jahre nachdem sie geheiratet hatten, wenige Wochen nachdem sie aus der Kirche ausgetreten waren, die Fotografin Riefenstahl. Selbst wenn sich Remarque bereits mit dem Gedanken trug, jenen Roman zu schreiben, der in seinem Jahrhundert im deutschsprachigen Raum das erfolgreichste Buch werden sollte, der Ruf des Ruhmes ging ihm noch nicht voraus. So hätte Remarque die Vorstellung überrascht, auch überfordert, dass kein anderes Buch als Im Westen nichts Neues vergleichbar zur Asche öffentlicher Bücherbrände des zündelnden faschistischen Mobs beitragen sollte. Für seinen Besuch bei der Fotografin und Filmerin sollte es belanglos bleiben, ob sie bereits, wie später dann, Hitler verehrte und sich ihm propagandistisch gefügig machte. Bei ihrem Treffen, bei dem Gespräch jedenfalls, um das Remarque bei der Künstlerin nachgesucht hatte, ging es um wenig mehr, als die Bekanntschaft von Walther Ruttmann zu machen, eines Filmregisseurs, mit dem die Gastgeberin kollegial verkehrte und von dem sich Remarques Frau Anregungen für ihre schauspielerische Karriere versprach.