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Beschreibung

Das unbekannte Schicksal deutscher und alliierter Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg

35 Millionen Soldaten gerieten während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft, darunter elf Millionen Deutsche. In einigen Familien werden bis heute Erzählungen über die Zeit im Lager weitergegeben, in anderen gibt es nur vages Wissen über das, was Väter, Großväter oder Urgroßväter erlebten. Öffentlich fand das Schicksal der Kriegsgefangenen lange Zeit kaum Beachtung.

Historiker und SPIEGEL-Autorinnen erzählen in diesem Buch die Geschichten dieser vergessenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, der deutschen Kriegsgefangenen wie jener, die von den Deutschen gefangen genommen wurden. Sie forschen nach, welche Folgen die Gefangenschaft für die Einzelnen aber auch für die Gesellschaft hatte, welche Narrative sich um das Thema entwickelten – und wie diese bis heute nachwirken.

  • Der lange Schatten der Lager: Wie die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft deutsche Familien bis heute prägt
  • Von den Rheinwiesen bis Sibirien und der »Heimkehr der Zehntausend«: Was deutsche Soldaten in der Gefangenschaft unter den Alliierten erlebten und wie diese Zeit Nachkriegsdeutschland prägte
  • Vergessene Kriegsverbrechen: Wie alliierte Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft litten
  • Mit vielen Überblicksdarstellungen, Porträts und Berichten von Zeitzeugen
  • Für Leser*innen von Sabine Bode, Ian Kershaw und Antony Beevor
  • SPIEGEL-Marketing

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Das unbekannte Schicksal deutscher und alliierter Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg

Hunger, Angst und harte Arbeit gehörten zum Haftalltag der etwa 35 Millionen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg. Unter ihnen waren mehr als elf Millionen Deutsche; die letzten kehren erst Mitte der Fünfzigerjahre nach Hause zurück. Heute hat ein Großteil der Deutschen einen Vater, Großvater oder Urgroßvater, der selbst Kriegsgefangenschaft erlebt hat. SPIEGEL-Autorinnen und -Autoren spüren ihren Erlebnissen nach und zeigen, wie die Traumata viele Nachkommen bis in die Gegenwart beschäftigen.

Zugleich erklären sie aber auch, welche Qualen Millionen ausländische Kriegsgefangene in deutschen Lagern auszuhalten hatten, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten oder wie es zu Massenmorden durch Aushungern oder Vergasung kam. Die Täter kamen in den allermeisten Fällen ungestraft davon, das Thema wurde in Deutschland und Österreich jahrzehntelang verdrängt.

Zu den Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs zählten neben männlichen Frontkämpfern auch sowjetische Soldatinnen, Wissenschaftler und jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, die in Großbritannien als »feindliche Ausländer« verfolgt wurden – auch ihr Schicksal beschreibt dieses Buch.

Eva-Maria Schnurr, geboren 1974, ist seit 2013 Redakteurin beim SPIEGEL und verantwortet seit 2017 die Heftreihe SPIEGELGESCHICHTE. Zuvor arbeitete die promovierte Historikerin als freie Journalistin, unter anderem für »ZEIT« und »Stern«. Sie ist Herausgeberin zahlreicher SPIEGEL-Bücher. Zuletzt erschienen »Die Welt des Adels«, »Deutschland in den Goldenen Zwanzigern«, »Das Geheimnis des Erfolgs« (alle 2021) und »Deutschland, deine Kolonien« (2022).

Felix Bohr, geboren 1982 in Trier, studierte Geschichte und katholische Theologie in Berlin und Rom und promovierte in Göttingen über die bundesdeutsche »Kriegsverbrecherlobby«. Beim SPIEGEL war er ab 2018 Redakteur im Ressort Deutschland/Panorama und politischer Korrespondent in Baden-Württemberg mit den Themenschwerpunkten Landespolitik und Kirchen. Seit Oktober 2021 ist er Redakteur im Geschichtsressort des SPIEGEL.

Besuchen Sie uns aufhttp://www.dva.de.

Felix Bohr und Eva-Maria Schnurr (Hg.)

KRIEGSGEFANGENE

DIE VERGESSENEN SOLDATEN DES ZWEITEN WELTKRIEGS

Mit Beiträgen von

Felix Bohr, Paul Flückiger, Jan Friedmann, Solveig Grothe, Christoph Gunkel, Dietmar Hipp, Katja Iken, Harald Justin, Dela Kienle, Michael Kister, Nils Klawitter, Lutz C. Kleveman, Corina Kolbe, Danny Kringiel, Jasmin Lörchner, Kathrin Maas, David Neuhäuser, Frank Patalong, Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr, Benno Stieber

Deutsche Verlags-Anstalt

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Texte dieses Buches sind erstmals im Magazin »Kriegsgefangenschaft. Die vergessenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs – wie das Trauma bis heute nachwirkt« (Heft 3 / 2022) aus der Reihe SPIEGELGESCHICHTE erschienen.

Copyright © 2023 by Deutsche Verlags-Anstalt, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München, und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Hamburg, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildungen: © Keystone-France / Gamma-Rapho via Getty Images (vorn); Keystone/Hulton Archive/Getty Images (hinten)

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-30398-3V001

www.dva.de

INHALT

Vorwort

Tischgespräche und Gutenachtgeschichten

Kriegsgefangenschaft hinterlässt Spuren über Familiengenerationen.

Von Harald Justin

»Abgrund von Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit«

Der Hamburger Zahnarzt August Schlicht verschwand 1914 auf Jahre im eisigen Sibirien.

Von Christoph Gunkel

Menschlich im Krieg

Gefangene Soldaten waren über Jahrhunderte der Willkür des Gegners ausgeliefert.

Von Dietmar Hipp

»Die Kriegsgefangenen gruben sich Erdhöhlen«

Was die Forschung über Kriegsgefangenschaft weiß, erklären Elke Gryglewski und Barbara Stelzl-Marx.

Ein Interview von Felix Bohr und Eva-Maria Schnurr

»Legt dem Pack Halskettenan!«

1940 internierte Großbritannien auch jüdische Flüchtlinge – mit schlimmen Folgen.

Von Frank Patalong

Otto Dix: »Selbstbildnis alsKriegsgefangener« (1947)

Was das Bild über seine Zeit im Lager erzählt.

Von Kathrin Maas

»Das sind doch nur Wilde«

Afrikanische Soldaten der französischen Armee wurden von der deutschen Wehrmacht misshandelt und ermordet.

Von Benno Stieber

»Frauen in Uniform sind zu erschießen«

Die Rote Armee setzte auch Frauen an der Front ein. Bei Gefangennahme drohte ihnen Erschießung oder KZ-Haft.

Von Jasmin Lörchner

»Eine härtere Strafe gibtesnicht«

Ehemalige Wehrmachtssoldaten über ihre erschütternden Erlebnisse in sowjetischer Gefangenschaft

Von Corina Kolbe

Vergessene Opfer

Im »Stammlager 328« wurden mehr als 100 000 sowjetische Kriegsgefangene gezielt zu Tode gehungert.

Von Lutz C. Kleveman

Die ersten Opfer von Zyklon B

Die Nationalsozialisten testeten Giftgas an sowjetischen Gefangenen.

Von Michael Kister

»Wo ist hier ein eingebautes Mikrofon?« »Du spinnst ja, Märchen«

Im Lager Fort Hunt belauschte der US-Nachrichtendienst Tausende deutsche Kriegsgefangene.

Von Jan Friedmann

Landurlaub mit Bombe

Nach Kriegsende quartierten die Alliierten deutsche Kernphysiker luxuriös ein. Das Ziel: ihr Wissen.

Von Danny Kringiel

Hitlers italienische Sklaven

Wie Soldaten aus Italien verschleppt, gequält und zur Arbeit gezwungen wurden

Von Katja Iken

Der Mythos vom »geplanten Tod«

Dass 1945 eine Million deutsche Soldaten in den Rheinwiesenlagern starben, ist nur ein Mythos unter Rechtsradikalen.

Von Martin Pfaffenzeller

Vom KZ nach Sibirien

Der Kommunist Karl Fischer wurde nach Kriegsende von Stalins Häschern erneut deportiert.

Von Nils Klawitter

»Nun danket alle Gott«

Erst Mitte der Fünfzigerjahre kamen die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurück.

Von Dela Kienle

Die Macht der alten Kameraden

Die Kriegsgefangenenfrage bewegte die junge Bundesrepublik. Zuletzt ging es nur noch um Kriegsverbrecher.

Von Felix Bohr

Von Nazi-Opfern zu Freiheitskämpfern

Nazideutschland wie auch die Sowjetunion missbrauchten polnische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter.

Von Paul Flückiger

Unter dem Gras

Es wuchs Gras über vergessene Gefangenenlager. In Sandbostel suchen Archäologen nach Spuren von einst.

Von Solveig Grothe

Kompendium: Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg

ANHANG

Chronik

Bücher, Filme, Gedenkstätten und Online-Angebote

Autor*Innenverzeichnis

Dank

Register

VORWORT

Der Krieg schien weit weg für die Deutschen, lange vorbei, bis am 24. Februar 2022 Russland die Ukraine angriff. Plötzlich aber waren Bomben und Panzer, Bunker und Verteidigungssysteme, Frontverläufe und Militärstrategie wieder überall präsent. Und auch Kriegsgefangenschaft rückte wieder ins Bewusstsein. Nicht zuletzt, weil »Russland« häufig als (falsches) Synonym für die einstige Sowjetunion genutzt wird und Kriegsgefangene und »Russland« in der kollektiven Erinnerung der Deutschen eng verknüpft sind.

Das liegt zum einen am Erleben vieler: Mehr als elf Millionen Deutsche gerieten während des Zweiten Weltkriegs in Kriegsgefangenschaft, ein größerer Teil von ihnen in der damaligen Sowjetunion. In einigen Familien werden bis heute Erzählungen über die einstige Gefangenschaft weitergegeben. In anderen gibt es nur vages Wissen über das, was Väter, Großväter oder Urgroßväter erlebten, doch auch das Schweigen, die Gefühlshärte, die unverarbeiteten Traumata wirkten prägend, zum Teil über Generationen hinweg.

Zum anderen gehören die Themen Kriegsgefangenschaft und Sowjetunion eng zusammen, weil das nationalsozialistische Deutschland mit Soldaten und Soldatinnen der Roten Armee aus ideologischen und rassistischen Gründen besonders grausam umging. Man sperrte sie in eines der rund 1000 Lager in den besetzten Zonen und auf Reichsgebiet, zwang sie unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit, verweigerte ihnen medizinische Behandlungen, ließ sie gezielt verhungern.

Insgesamt waren etwa 35 Millionen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs eine Zeitlang in Kriegsgefangenschaft. Und doch wurde ihr Schicksal lange öffentlich nur wenig beachtet. Womöglich auch deshalb, weil es eine Gratwanderung ist, das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen angemessen zu würdigen und gleichzeitig immer deutlich zu machen, dass es die Deutschen waren, die einen Angriffskrieg führten und selbst Kriegsgefangene auf grausamste Weise misshandelten.

Dieses Buch versucht sich an dieser Gratwanderung: Es erzählt die Geschichten der vergessenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, der deutschen Kriegsgefangenen wie jener, die von den Deutschen gefangen genommen wurden. Und es erzählt, welche Folgen die Gefangenschaft für die Einzelnen aber auch für die Gesellschaft hatte, welche Narrative sich um das Thema entwickelten – und wie diese bis heute nachwirken. Dabei steht die deutsche Geschichte im Mittelpunkt, doch auch auf Österreich richten einige Texte den Scheinwerfer, ebenso auf die Behandlung der Gefangenen durch Briten und Amerikaner sowie auf den heutigen Umgang Polens mit dem Thema Kriegsgefangenschaft.

Der Erste Weltkrieg war der erste industriell geführte Krieg der Geschichte und er erreichte auch bei den Kriegsgefangenen bisher völlig ungesehene Dimensionen – damit schuf er den Erfahrungshintergrund für jene Menschen, die im Zweiten Weltkrieg mit Kriegsgefangenen zu tun hatten. Zwar hatte man sich 1929 in der Genfer Konvention auf Regeln und einen humanen Umgang mit Gefangenen geeinigt, doch die Sowjetunion hatte das Abkommen nicht unterzeichnet und NS-Deutschland ignorierte es. So kam es schon im Frankreichfeldzug 1940 zu Untaten deutscher Armeeangehöriger insbesondere an afrikanischen Soldaten im französischen Militär. In den besetzten Gebieten im Osten plante die Wehrmacht den Tod gefangener Rotarmisten gezielt ein, berüchtigt war beispielsweise das »Stammlager 328« in Lwiw, damals Lemberg, in der heutigen Ukraine. Und auch die anfangs verbündeten italienischen Soldaten wurden nach dem Bruch zwischen Hitler und Mussolini nach ihrer Gefangennahme zur Zwangsarbeit eingesetzt – und bis heute nicht dafür entschädigt.

Erschütternde Erfahrungen machten auch deutsche Gefangene in der Sowjetunion, wie sie nach dem Krieg in einem Forschungsprojekt erzählten. In den USA hingegen wurden die inhaftierten Deutschen weitaus besser behandelt – allerdings belauschten die Amerikaner die Gespräche, um Informationen über den Gegner in Erfahrung zu bringen. Prominente Gefangene wie die Physiker, von denen man sich Erkenntnisse über den Fortschritt der deutschen Atombombe erhoffte, wurden sogar auf eine Art Landurlaub geschickt.

Im Gedächtnis blieben vor allem die stalinistischen Lager, die »Gulags«, aus denen die letzten Kriegsgefangenen erst Mitte der 50er Jahre zurückkehrten. In vielen Familien wirkten die Erfahrungen der einstigen »Russlandgefangenen« noch lange nach und prägten mitunter sogar die Kindererziehung der Nachkriegszeit.

Der Systemgegensatz des Kalten Kriegs und die lange Haftzeit machten es Politik und Gesellschaft in den ersten Jahren nach 1945 leicht, die Gefangenen als Opfer zu stilisieren – dabei waren auch unter den Rückkehrern aus der Sowjetunion viele, die vielleicht nicht rechtmäßig, aber zu Recht inhaftiert worden waren.

Nach 1956 saßen nur noch verurteilte Kriegsverbrecher bei ehemaligen Westalliierten im Gefängnis, trotzdem kümmerte sich ein Bündnis aus Politik und Veteranen um eine Vorzugsbehandlung. Eine weitere Schieflage erhielt die Erinnerung an die Kriegsgefangenschaft durch den Mythos der angeblich katastrophalen Rheinwiesenlager. Doch diese Sammelstätten, von den Westalliierten gegen Kriegsende provisorisch angelegt, waren bei Weitem nicht so schlimm wie ihr Ruf.

Auf den folgenden Seiten erzählen SPIEGEL-Autorinnen und -Redakteure sowie Wissenschaftlerinnen und Forscher die ganze Geschichte der Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg auf dem heutigen Stand der Forschung. In Einzelfällen kann dieses Buch vielleicht dazu beitragen, lückenhafte Familiengeschichten zu füllen oder bisher Unverständliches in überlieferten Erzählungen zu erklären. Wünschenswert wäre aber vor allem auch eine breitere Debatte über die Erinnerung an dieses bisher erst schwach beleuchtete Kapitel der Geschichte und den Umgang damit, gerade auch vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs. Dieses Buch, so hoffen wir, liefert dafür Anstöße.

Wir wünschen eine erkenntnisreiche Lektüre

Felix Bohr und Eva-Maria Schnurr im Frühjahr 2023

TISCHGESPRÄCHE UND GUTENACHTGESCHICHTEN

Kriegsgefangenschaft hinterlässt Spuren – auch in den Familien. Manchmal braucht es mehr als eine Generation, um die Erfahrungen zu vergessen. Eine autobiografische Aufzeichnung

Von Harald Justin

Nicht einen Moment in seinem Leben endeten die Haftjahre meines Vaters mit dem Tag, als er aus der Gefangenschaft entlassen wurde. Er geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, und er saß nach Kriegsende in Bautzen ein. Trotzdem ist das nicht allein seine Geschichte. Es ist die Geschichte der Nachwirkungen eines Krieges auf die folgende Generation.

Die Erzählungen meines Vaters, Rolf Justin, geboren 1927 in Schwerin, verstorben im Jahr 2000, sind unauflösbar mit meinen Erinnerungen an ihn verbunden. Dunkle Jahre der Haft verbinden uns.

Der Schriftsteller Jorge Luis Borges meinte, dass Wahrheit nicht das ist, was geschah, sondern das, von dem wir glauben, dass es geschah. Es gibt die Geschichtsschreibung, das, was in Büchern steht, das, was die Forschung festhält. Und es gibt die Geschichten, die man sich in Familien erzählt über die Vergangenheit. Geschichten, die nicht immer identisch sind mit jenen der Historiker, sondern die ein Eigenleben entwickeln durch Erfahrungen, Erinnerungen, durch das Leben. So wie die Geschichte meines Vaters.

Jüngst hat Ann-Kristin Kolwes sich der Frage nach den Frauen und Kindern deutscher Kriegsgefangener angenommen. Im Fokus ihrer Untersuchung stehen Soldaten, die verheiratet und Väter waren, als sie während des Krieges in Gefangenschaft gerieten. Deshalb kennen wir die Briefe der Ehefrauen, die ihren gefangenen Männern schrieben, dass sie ihre Rückkehr sehnsüchtig erwarten, um ihnen und den Kinder wieder »Mutti und Muschi« sein zu können.

Bekannt sind Bittbriefe von Kindern an Politiker, sich für die Freilassung ihrer Väter einzusetzen, um die alleinerziehende Mutter zu entlasten. So schrieb Christa J.: »Meine Mutti kommt des Abends immer sehr müde von der Arbeit … Sie kann uns dann nicht mehr bei unseren Schularbeiten helfen … Dann ist sie auch so mit den Nerven fertig, dass sie uns auch deswegen nicht helfen kann. Sie macht sich so sehr viel Sorgen, weil mein Vati immer noch nicht da ist und wir auch nicht wissen, wann er kommt.«

Wir sind informiert über die finanziellen und psychischen Nöte der Frauen und Kinder, wissen zudem, dass, je nach politischer Großwetterlage, die Gefangenen im Westen zu Opfern des Kommunismus, im Osten hingegen zu Kriegsverbrechern stilisiert wurden. Mit der Rückkehr der letzten Internierten aus der Sowjetunion 1956 endet dieser Teil der Geschichte. Sie ist nicht die meine.

Meine Geschichte begann genau in diesem Jahr, mit meiner Geburt. Die Jahre, in denen mein Vater interniert war, begannen lange vorher. Ich habe ihn deshalb nicht vermissen können. Meine Mutter musste nicht bange Jahre des Wartens überstehen. Sie lernten sich erst nach der Haft kennen. Mir winkte die Gnade der späten Geburt großzügig zu. Meine Geschichte ist eine Nachkriegsgeschichte.

Meine ersten Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft meines Vaters handeln von mir als Wunschkind, hineingebettet in die Träume einer Generation, die den Nationalsozialismus und den Krieg überlebt hatte und sich nach einer besseren Zukunft sehnte. Es konnte nur besser werden.

Es gab als Haftfolge keinen Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch, diese Sorgen waren anderswo zu Hause. Der Vater eines Schulfreundes schlug volltrunken abends regelmäßig ihn und seine Frau, aber, so erklärte meine Mutter mir flüsternd, der habe den Krieg nicht vertragen. Normal.

Um Phantomschmerzen wegen im Krieg verlorener Gliedmaßen brauchte ich mich ebenfalls nicht zu kümmern. Der Uropa besuchte uns nur ein Mal, schnallte seine Beinprothese ab, zeigte den Stumpf und schrie vor Schmerzen die Nacht durch.

Eine Kriegsfolge, an der mitsamt einer schwärenden Wunde auch der Nachbar im Erdgeschoss litt. Seine Schreie gellten täglich durch das Treppenhaus, schwarz gekleidete Doktoren gingen ein und aus, strenger Arzneigeruch strömte aus der Wohnungstür. Kinderspiel sollte im Treppenhaus und vor dem Haus unterbleiben.

Eine Nachkriegsfolge halt, so wie das Trümmergrundstück, auf dem wir Stadtkinder spielten, Waffen und Helme fanden. Krieg? Weit weg und zugleich so nah wie die drei Kriegerwitwen im Haus, die mich abwechselnd beaufsichtigten.

Tremor und Traumataerscheinungen? Unter denen litt der deutlich ältere Vater meines Schulfreundes. Wir Kinder machten uns einen Spaß daraus, »Stalingrad« zu rufen und zu sehen, wie der uns fremde Mann zu weinen begann und das Zittern bekam.

Bei uns gab es keine Sensationsgeschichten von Knochenfraß, Alkoholexzessen, Mord und Totschlag. Es war nicht alles Drama.

Stattdessen gab es Alltag. In ihm wurden die Schrecken der Haft tradiert. Das Grauen behauptete sich in kleinen Dosen und sickerte über die Erzählungen meines Vaters tropfenweise in Knochen und Mark ein.

Seine Misere begann als Hitlerjunge. Die HJ-Zeit galt ihm als Fortsetzung jugendlichen Stromerns zwischen Cowboy- und Indianerspielen, so hat er es mir erzählt. Nach der Lehre meldete er sich umgehend zum Kriegseinsatz. Pferde reiten im höheren Auftrag. Sein Vater, ein Sozialdemokrat, ohrfeigte ihn, als er mit dem Einberufungsbefehl nach Hause kam. »Für Hitler reitet man nicht.«

Mein Vater ritt und wurde eine Ecke später mitsamt dem Pferd niedergeschossen. Die erste Nacht in der Kälte überlebte er, weil er sich in den noch warmen Bauch des toten Pferdes reingeschnitten und versteckt hatte. Die Russen entdeckten den mit Gedärm und Blut Beschmierten, das war das Ende des Reitertraums und der Beginn seiner Kriegsgefangenschaft.

»Wo hat man dich erwischt? Hast du jemanden erschossen?«, fragte ich. »In welches Lager bist du gekommen?« Und ganz wichtig für das Kinder-Ich: »Hattest du Angst?« Die Antwort, an die ich mich erinnern kann, lautete: »Ich hatte keine Zeit für Angst. Ich musste mich um Wasser und Brot schlagen. Ich hatte nur einen Wunsch, meine Eltern noch einmal zu sehen. Es war so kalt.«

An diesen Abenden erahnte ich erstmals, was Liebe bedeuten kann. Wärme. Die Abwesenheit von Kälte, der Wunsch, sich noch einmal in den Armen zu liegen.

Aus der russischen Gefangenschaft gelang ihm die Flucht. 20 Jahre nach seinem Tod habe ich erfahren, dass er auf einem in Österreich gestohlenen Pferd in die Heimatstadt ritt. Was immer er in Russland durchlitten hatte, Zeit zur Heilung erhielt er nicht. Nur wenige Tage nachdem er in Schwerin angekommen war, wehrte er drei Rotarmisten ab, die seine Schwester zu vergewaltigen versuchten, als sie ihn heimlich mit Essen versorgte, so erzählte er es: »Dann musste ich nach Bautzen.«

Zu den dortigen Haftbedingungen heißt es im »Schwarzbuch des Kommunismus«, dass sie »ihren sowjetischen Vorbildern in nichts« nachstanden. »Als 1950 die DDR-Behörden die Zuchthäuser und Lager übernahmen, verschlimmerte sich die Lage mancherorts noch. So kam es am 13. und 31. März 1950 zu Hungerrevolten der 7 000 Häftlinge in Bautzen, die mit größter Brutalität niedergeschlagen wurden. Dort war die Sterblichkeit unter den Häftlingen durch Unterernährung und Tbc (Tuberkulose – Red.) so hoch, dass die Behörden sich Gedanken machen mussten, wie dies verheimlicht werden könne.« Jeder Überlebende war Zeuge unmenschlicher Haftbedingungen.

Aus Russland kam mein Vater als Antifaschist zurück. »Hitler hat mir meine Jugend gestohlen«, sagte er während einer seiner Gutenachtgeschichten. Ich hasste Jugendräuber schon, bevor ich den Rest der Geschichte kannte.

Mich wunderte, dass er den Russen keine Schuld gab. »Bist du böse auf die Russen?«, fragte ich. »Nein«, antwortete er, »das war eine gerechte Strafe für das, was wir ihnen angetan hatten. Wir haben ihr Land überfallen. Das war Unrecht.«

Die Lagerhaft in Russland verstand er als ausgleichende Gerechtigkeit. Die Jahre in Bautzen empfand er als Unrecht. Schließlich war er nur verhaftet worden, weil er seine Schwester beschützt hatte. Aus Bautzen kam er mit vermindertem Lungenvolumen zurück, die Tuberkuloseausbrüche hatte er mit halber Lunge überlebt. Er lernte dort, wie er mir bei jedem Schachspiel erzählte, Schachfiguren aus den Knochen toter Mithäftlinge zu schnitzen.

Diese Haft machte ihn zum Antikommunisten. Nach der Entlassung ging es umgehend 1951 zusammen mit meiner Mutter in den Westen. Dort waren die Tische besser gedeckt.

Und da saßen wir nun beim gemeinsamen Mittagessen. Koteletts, Kartoffeln, Gemüse. Die Bilderbuchfamilie litt nicht an Hunger, sondern hatte Appetit. Das Wirtschaftswunder ließ sich essen. Und dennoch setzte sich zu jeder Mahlzeit ein ungebetener Gast an den Tisch. Ein Schattenmann, der uns alle im Griff hatte.

Meine Mutter isst als 90-Jährige immer noch mit der Hast eines Flüchtlingskindes, dem der Hunger Fluchtbegleiter aus Königsberg (Kaliningrad) war. Schließlich konnte immer jemand kommen, der dem wehrlosen Mädchen das Essen wegnahm.

Rolf hingegen belud sich Löffel und Gabel mit Bedachtsamkeit. Langsam essend ging es ihm, über das bloße Hungerstillen hinaus, um das Ausnutzen des sich im kleinsten Bissen verbergenden Geschmacks. Jedes Mahl war ein Sieg über den Schattenmann, den dunklen Hungerkönig über Tod und Leid.

Meine Erinnerungen beginnen im dritten Jahr nach meiner Geburt. Als Kind war ich ein schlechter Esser. Wollte dieses nicht, jenes nicht und von allem nicht viel. Regelmäßig explodierte Rolf in einem Feuerball aus Jähzorn. »Warum will der Junge nicht essen? Um jedes Kartoffelstück habe ich kämpfen müssen im Lager. Dafür, dass er jetzt kein Fleisch isst, habe ich nicht überlebt!«, schrie er.

Meine Mutter verdrehte die Augen, murmelte: »Aber wenn der Junge doch keinen Hunger hat.« Aus dem vor Wut hochroten Kopf schrie es: »Den feinen Herrn Kein-Hunger habe ich in Russland begraben. Ich stand an seinem Grabstein.« Mutter wollte ihn beschwichtigen. »Hör doch auf mit den alten Geschichten.« Von dem, was in Russland und Bautzen mit dem Herrn Kein-Hunger passiert war, in der unglücklichen Vergangenheit, wollte sie, hungrig auf die Zukunft, nichts mehr wissen.

Ich hingegen konnte nicht genug bekommen von seinen Geschichten. Als dankbarer Zuhörer stellte ich Fragen. Damals ging man noch nicht zur Traumatherapie, mein Vater hat gern erzählt.

Wieder und wieder wollte ich hören, wie und wo er den Herrn Kein-Hunger begraben hatte. Sein Grab soll sich direkt neben dem von Meine-Suppe-ess-ich-nicht befunden haben. Was mir, begeisterter Betrachter von Heinrich Hoffmanns Kinderbuchklassiker über den Suppenkasper, einleuchtend erschien. Schließlich war im Bilderbuch sein Grabkreuz abgebildet. Der Name meines Vaters war auf ihm nicht eingraviert. Offenbar hatte er die Leidensgeschichte des Verhungerns umgedreht und zu seiner eigenen Erfolgsgeschichte des Überlebens gemacht. Musste es mich wundern, dass er später das Verkaufen von Lebensversicherungen zu seinem Beruf machte?

Das Geschichtenerzählen gehörte zum abendlichen Ritual. Meine Mutter las mir beim Schein einer schummrigen Nachttischlampe Grimms Märchen und die deutschen und griechischen Heldensagen vor. Beim Vorlesen durfte sie nicht unterbrochen werden. Buchstabengetreu musste jeder Satz stimmen, die Geschichte musste vorangehen.

Erzählte mein Vater, wich er bereits nach wenigen Sätzen ins Reich eigener Erlebnisse aus. Ihr Angelpunkt waren jeweils die Erlebnisse in Krieg und Haft. Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald? »Du musst die Sterne lesen können, um deinen Weg zu finden! So habe ich es auf der Flucht gemacht!« In der nächsten Nacht gab es eine Lektion Himmelskunde. Wir schlichen aufs Dach. Himmelswanderungen zum Morgenstern, zum Großen und Kleinen Bär.

Die Nächte waren nicht zum Schlafen da. Sie gehorchten der in sorgenvollen Haftjahren eingeübten Nachtunruhe. Die Amsel beginnt ihr Lied um drei Uhr morgens.

Tagsüber waren Wald, Wiesen, Strände ebenso Ziel stundenlangen Wanderns. »Wir gehen«, sagte er, »so weit uns die Füße tragen.« Währenddessen erzählte er.

Eine erste verschwommene, bildhafte Ahnung von seinen Erlebnissen bekam ich 1959, als die TV-Serie »So weit die Füße tragen« gesendet wurde. Der Mehrteiler nach dem Roman von Josef Martin Bauer schildert die Flucht eines deutschen Kriegsgefangenen aus einem sibirischen Lager. Die Serie wurde zu einem »Straßenfeger«, wer immer konnte, guckte. Da meine Eltern keinen Fernseher besaßen, wichen sie zu Nachbarn aus. Ich musste mit, im Nachthemd und mit Schlummerdecke. Schlaftrunken auf dem Schoß meiner Mutter liegend, wanderte ich mit dem Hauptdarsteller und meinem Vater durch die Eiswüsten Sibiriens.

Meinen ersten Armbruch kommentierte er mit den Worten: »In Russland war es so kalt, dass die Luft brach. Ich habe den Schmerz eingeatmet.« Die Sätze habe ich mir gemerkt, nicht, weil sie mich getröstet haben, sondern weil ich sie damals nicht verstand. Mein Vater war mir immer einen Schritt voraus.

Seine Erzählungen eröffneten mir eine Welt, die grausamer war als die meiner Kinderbücher. Trotzdem gab es, wie im Märchen, ein Happy End, hatte er doch, wie die Märchenhelden, alle Gefahren zwischen Lebkuchenhaus, Skylla und Charybdis glücklich überstanden.

Meine Erinnerungen an seine Reden sind überzogen vom Firnis zahlreicher Lektüren. Als Kind las ich obsessiv Bücher über Gefangene. Den Erzählungen meines Vaters schloss sich die Lektüre von Alexandre Dumas’ »Der Graf von Monte Christo« an. Es folgten Anna Seghers’ KZ-Fluchtgeschichte »Das siebte Kreuz«, Solschenizyns »Archipel Gulag«. sowie Jorge Semprúns Aufzeichnungen über das KZ Buchenwald. Kriegsgefangene gab es in Russland, Deutschland, Frankreich, Amerika, China. Wen interessiert noch die Geografie, wenn es um die Fixpunkte geht: Haft, Leid, bestenfalls Flucht?

Meine Mitschüler waren Unwissende, ihre Väter Kriegshelden. »Mein Papa hat«, prahlte Ralf, »100 Leute erschossen!« Klar, dass Egon antwortete: »Meiner hat 1 000 Leute erschossen.« Heute befürchte ich, dass diese Prahlereien einen wahren Kern haben könnten.

Bekanntschaften meiner Eltern wurden umgehend zu Krieg, Flucht, Vertreibung und Gefangenschaft befragt. Später wurde Resümee gezogen. »Gustav hat gar nicht an der Front gekämpft! Der saß in Norwegen, als Funker, und wurde mit Torten vollgestopft. Als der aus dem Krieg kam, war er dicker als vorher.«

Es gab Kollegen, die ihre Jahre in britischer oder amerikanischer Kriegsgefangenschaft überwiegend glücklich verbracht hatten. Und dann waren da noch die, die bis zuletzt im Krieg gekämpft hatten. Für sie war der Krieg eines Tages einfach zu Ende. Mein Vater fühlte sich so fremd unter ihnen wie ich mich unter meinen ahnungslosen Spielkameraden (die Kriegerwitwen waren seltsamerweise nie zum Kaffeetrinken eingeladen).

Als Kind ahmte ich die Elterngespräche nach. »Onkel Müller«, fragte ich, ganz mein Vater, »was haben Sie im Krieg gemacht?« Die Antworten ließen mich ratlos zurück. Der Onkel, damals waren alle Erwachsenen Onkel und Tanten, sagte: »Lass mich in Ruhe und geh spielen!« Oder: »Was geht dich das an? Naseweis.« Manchmal führte mich eine Tante weg und flüsterte: »Darüber reden wir nicht, weißt du das denn nicht?«

»Darüber« zu reden, war bei uns so alltäglich wie Vaters in der Gefangenschaft eingeübtes Überlebensritual des täglichen Duschens mit kaltem Wasser. Er war überzeugt: »Das hat mir das Leben gerettet. Selbstdisziplin und Abhärtung. Alle anderen starben an Hunger, Tbc und am Ungeziefer.« Ihm gegenüber bin ich lediglich Weltmeister im mehrmals täglichen Warmduschen. Glückliche Friedenszeiten.

Die Geschichten meines Vaters habe ich verinnerlicht. Jedes Mal, wenn ich sie erzähle, verändern sie sich um eine Nuance. Ich passe sie (unbewusst) der Aktualität an. Sie lagern nicht verschlossen in einer Akte, in Stein gemeißelt für alle Ewigkeit.

Im Gegenteil, ich halte das Gedenken an sie lebendig, weil sie mir bis heute eine Art Nabelschnur durch die Nebelzeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind.

Mit meinem Tod werden diese Geschichten ausgelöscht sein. Meine Tochter mit ihrem aus dem Russischen entlehnten Vornamen, so meine Hoffnung, braucht diesen Leidschatz nicht weiter rumzutragen. Sie wird höchstens davon lesen.

Zum Weiterlesen: Ann-Kathrin Kolves: »Die Frauen und Kinder deutscher Kriegsgefangener. Integriert, ignoriert und instrumentalisiert, 1941 –1956«, Bielefeld: Transcript Verlag, 2021.

»ABGRUND VON BITTERKEIT UND HOFFNUNGSLOSIGKEIT«

Im ersten industrialisierten Krieg stieg die Zahl der Kriegsgefangenen in bis dahin unbekannte Höhen. Der Hamburger Zahnarzt August Schlicht war einer von ihnen.

Von Christoph Gunkel

Seinen ersten Weihnachtstagen in Sibirien sah August Schlicht optimistisch entgegen. »Kopf hoch!«, schrieb der Hamburger Zahnarzt im Dezember 1914 an sein »liebes, gutes Tönchen«, wie er seine Frau Tony nannte. Vizefeldwebel Schlicht war nach wenigen Wochen Krieg Ende September 1914 in russische Gefangenschaft geraten.

Nun schrieb der 33-Jährige aus dem Lager Beresowka nahe dem Baikalsee: »Endlich muss doch einmal die Zeit kommen, wo wir uns wiedersehen. Hoffentlich recht, recht bald!« Den Weihnachtskarpfen müsse seine Familie zwar diesmal ohne ihn genießen. »Dafür esse ich nächstes Jahr die doppelte Portion.«

Ein Weihnachtsfest später war seine Stimmung getrübter. »Und wir dachten doch bestimmt, dass wir zu diesem Feste wieder in der Heimat wären«, schrieb Schlicht 1915; Geduld zu wahren, falle »sehr schwer«. Im Jahr darauf war sein Optimismus fast verflogen. »Das ist nun das dritte Weihnachtsfest hier in Sibirien und immer noch keine Aussichten auf ein Wiedersehen.«

Für Hunderttausende Kriegsgefangene aus Deutschland und Österreich-Ungarn verdichtete sich an solchen Tagen besonders schmerzhaft, wie radikal anders alles gekommen war: In Sommermänteln waren sie im August 1914 in Erwartung eines schnellen Sieges losmarschiert – und verschwanden für Jahre im eisigen Sibirien. Denn das Zarenreich trennte seine Gefangenen streng nach Nationen. Befreundete Minderheiten der Habsburgermonarchie und des deutschen Kaiserreichs – etwa Tschechen, Serben, Elsässer und Lothringer – kamen in die Lager im europäischen Teil Russlands. Deutsche, Österreicher und Ungarn wurden in den ersten Jahren konsequent nach Sibirien deportiert.