KRIEGSKIND Peter Mirandus / Stationen 1942 - 1959 - Karl-Heinz Garnitz (Alias Frater Khamose) - E-Book

KRIEGSKIND Peter Mirandus / Stationen 1942 - 1959 E-Book

Karl-Heinz Garnitz (Alias Frater Khamose)

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Beschreibung

Während des II. Weltkriegs geborene, unschuldige Erdenbürger, welche die Bombenabwürfe in ihren jeweiligen Städten miterlebten, sie haben hautnah erfahren müssen, wie schwer Kriegs- und Nachkriegszeiten zu ertragen waren. Die meisten von ihnen, die den Krieg überlebten, haben ihre traumatischen Kriegserlebnisse nie so richtig verarbeiten können und so blieben zeitlebens Folgeschäden. Rückblickend sind jene zu bewundern, welche dank ihres Gottvertrauens und dank hilfreicher Menschen ihre Kriegswunden einigermaßen zum Abheilen brachten. Zu ihnen gehört jener Peter Mirandus, von dem im Buch hauptsächlich die Rede ist. Der Bamberger Autor K.-H.-Garnitz erzählt auf kurzweilige Art und Weise die Geschichte dieses Kriegskindes, welches 1942 in der Bamberger Entbindungsanstalt auf die Welt kam so, als ob er selbst dabei gewesen wäre. Und in der Tat. es ist zu einem Großteil auch seine eigene Geschichte.

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Karl-Heinz Garnitz

KRIEGSKIND

Peter Mirandus

Stationen 1942 - 1959

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Umschlagfoto und Kommentar:

Bamberg nach dem Ende des unseligen II. Weltkriegs: Grüner Markt,

Ecke zur Mauthgasse (Martinskirche im Hintergrund). Alles in allem

hatte Bamberg wahnsinniges Glück, dennoch wurde die Stadt bei den

Luftangriffen im letzten Kriegsjahr empfindlich getroffen. Die

annähernd 400 toten Einwohner der Stadt konnten keine Zeitzeugen

mehr sein. Diejenigen, welche überlebten sind heute im Jahr 2021

nicht mehr allzuviele. Doch was Zeit verweht, geht in der Erzählung

weiter und sollte gelesen werden. Motto: Nie wieder Krieg!

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IMPRESSUM

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

Text: Copyright 2021 by Karl-Heinz Garnitz

Layout und Satz: Karl-Heinz Garnitz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

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Schreckliche Kriegsjahre für Peter Mirandus

Als Deutschland kapitulierte und der unselige II. Weltkrieg am 8.

Mai 1945 sein Ende fand war Peter gerade mal drei Jahre alt und

er musste sich in der Folgezeit immer wieder an Geschehnisse erin-

nern, welche sich in den letzten Kriegsmonaten als belastende En-

gramme in sein Bewußtsein eingruben. Auf der einen Seite waren

es die eigentlichen Schrecknisse dieser Kriegsjahre, auf der anderen

Seite der quälende Hunger, der für ihn oft zur Plage wurde. Bekam

er etwas zum Essen war es wenig gehaltvoll und so mag es nicht

verwundern, dass er als Kleinkind unter Mangelernährung litt und

mager aussah. Hinzu kam, dass Peter oft gereizt war und panische

Angstzustände hatte, wenn er Sirenen oder Brummgeräusche von

Flugzeugen hörte, denn besonders in den letzten Kriegsmonaten

musste man fast täglich auf Bombenabwürfe von amerikanischen

Flugzeugen gefaßt sein. Die Angst ums eigene Leben ging um und

sie war irgendwie ansteckend. Immer wenn die Alarmsirenen auf-

heulten flüchteten die Mieter des Hauses, in welchem Peter mit

den Seinen lebte, in den Keller des Hauses und erhofften sich dort

unten ein gnädiges Schicksal, wohl wissend, dass der notdürftig

eingerichtete Schutzraum alles andere war als ein sicherer Bunker.

Sollte das Haus von Bomben getroffen werden, musste sekunden-

schnell reagiert werden, um durch bereits aufgebrochenes Mauer-

werk hinüber in die angrenzenden Keller der Nachbarhäuser zu

flüchten. Dies konnte hilfreich sein oder auch nicht, denn im Ernst-

fall benötige man immer wieder verdammt viel Glück um am Leben

zu bleiben. Bezüglich der täglichen Mahlzeiten war es meist so,

dass Peter nur ein dünnes Süpplein mit selbstgemachten Nudeln o-

der eine Zwiebelsuppe mit eingebrockten Brotkrusten erhielt. Mei-

ster Schmalhans war üblicher Küchenmeister, wenn Peter, Mut-

ter Hanna und die Großeltern am Küchentisch saßen und aßen. Der

Vater fehlte, war noch in Russland und Peter kannte ihn nicht. Doch

hoffte die ganze Familie, dass er irgendwann doch noch heimkehren

würde. Heute, als die Familie ihr spärliches Mittagessen nahezu be

endet hatte ertönten wieder einmal die Sirenen, was nur heißen

konnte: „Bringe sich in Sicherheit wer kann!“ Peters Mutter stellte

schleunigst das Geschirr ins Spülbecken, nahm Peter an der Hand

und zusammen mit den Großeltern hasteten sie in den Keller

hinunter. Dort herrschten spartanische Zustände, denn es gab

nur eine lange Sitzbank und einen alten Waschhaustisch auf

dem eine Karbitlampe sowie zwei dickbauchige Kerzen stan-

den. Die Mieter, welche nach und nach im Keller ankamen setz-

ten sich wortlos nieder und es herrschte eine überaus beklem-

mende Stimmung. Peter saß mit seinem Teddy auf dem Schoß

der Mutter, daneben Oma Marga und ihr Mann Karl. Links von

ihnen die Witwe Heurich und die Wohlfarts. Insgesamt hoff-

ten acht Personen am Leben zu bleiben. Als plötzlich entfernte

Explosionsgeräusche zu hören waren bekreuzigte sich Peters

Großmutter, nahm ihren Rosenkranz aus der Brusttasche und

schaute aufmerksam in die Runde. Dann sagte sie zu den Anwe-

senden: „Betet alle laut mit, dann wird uns schon nichts schlim-

meres passieren!“ Von den acht anwesenden Personen, beteten

anfangs nur drei lautstark mit. Dann aber, als das Gedröhne von

fliegenden Bombern näher kam und ein gewaltiger Knall zu

hören war begannen auch jene mitzubeten, welche vordem still

dasaßen. Peters Großmutter als geübte Vorbeterin freute sich

darüber, nahm ihre Stimme etwas zurück, bestimmte aber wei-

terhin das Gebetstempo, sodass all die anderen Beter mithalten

mussten. Plötzlich eine laut hörbare Explosion, vermutlich in

unmittelbarer Nähe, entweder in der Josefstrasse oder am nahen

Bahnhof. Die Stimmen der Betenden verstummten und minu-

tenlang herrschte jene Angst, welche die Kehlen zuschnürt und

sprachlos macht. Alle starrten auf das trostlose Mauerwerk der

Kellerräume, doch es stand festgefügt. Peter begann einige Zeit

lauthals zu weinen und drücke seinen Teddy fester an die Brust.

Dann wieder unheimliche Stille und ein Insichgehen der Anwe-

senden. Wie sich später herausstellte war jener sonnige Don-

nerstag des 22.02.1945 wirklich ein sehr unheilvoller. Zwar

schien die Sonne vom klaren Bamberger Himmel, doch gerade

diese Schönwetterlage war es, welche der Stadt zum Verhäng-

nis wurde. Die unzähligen amerikanischen Flieger hatten beste

Sicht, als sie gezielt den Bahnknotenpunkt Bamberg anflogen

und ihre todbringendes Frachtgut verteilten. Zweihundertsech-

zehn Todesopfer und etliche zerstörte Gebäude waren inner-

städtisch zu beklagen und allein 54 Menschen starben im Stol-

len auf dem Stephansberg. Erst am Nachmittag um 15:16 Uhr,

nach Stunden nervenzehrender Angst, wurde Entwarnung ge-

geben. Große Teile der Innenstadt mit Obstmarkt, Lange-Stra-

ße, Grüner Markt und Keßlerstraße waren bombardiert worden.

Einschläge gab es auch in der Josefstraße nahe der Kaimsgasse,

in der Klosterstraße, Gertraudenstraße, Hainstraße, am Prie-

sterseminar und am Marienplatz. Bomben unterbrachen die

Bahnlinie nach Lichtenfels und fielen im Bereich des Aufseß-

höfleins. Während die Erlöserkirche einen Volltreffer erhielt

und weitgehend zerstört wurde, überlebten die fast 500 Men-

schen die im Kellerbereich Schutz gesucht wie durch ein Wun-

der. Peter, seine Mutter, Oma, Opa und all die anderen Perso-

nen im Kellerraum des Hauses in der Kaimsgasse überlebten

ebenfalls diesen letzten grossen Bombenangriff der Amerika-

ner auf Bamberg. Nach der erfolgten Entwarnung gingen alle

nach oben in ihre Wohnungen und Großmutter Marga meinte:

„Leute, unser Rosenkranzgebet hat beim Herrgott Gehör gefun-

den, ansonsten hätten wir ja wohl nicht überlebt. Deo gratias!“

Jeder, der Peters Großmutter kannte, bewunderte ihren Gebets-

eifer und ihr bedingungsloses Gottvertrauen in Bezug auf die

Allmacht ihres Gottes. Bis hin zu ihrer Todesstunde blieb sie

im Glauben unerschütterlich. Jahre später fand man Oma Mar-

ga an einem frühen Sonntagsmorgen mit dem Rosenkranz in

der Hand. Sie saß auf ihrem Küchenlehnstuhl, war friedlich

entschlafen und ihr Gesicht zeigte ein verklärtes Lächeln. Zu

Lebzeiten bat sie täglich ihren Herrgott mit einem „Vater un-

ser“ um eine gute letzte Stunde. Als Peters Großvater die Tote

im Lehnstuhl sitzend fand, schloß er ihr die Augen und begann

zu weinen. So ist es wohl immer, wenn gute Menschen dahin-

scheiden und nahe Überlebende in Stich lassen müssen. Es gibt

Tränen und seelischen Schmerz. Von den letzten Zerstörungen

sei noch ein erschreckendes Erlebnis berichtet, an dessen Aus-

wirkungen sich Peter immer wieder schmerzlich erinnern

musste. Nach der Sprengung eines Munitionszuges im Bereich

des Bamberger Bahnhofs erzeugte eine gewaltige Explosion

eine überaus heftige Druckwelle, sodass in der nahe gelegenen

Wohnung in welcher Peter lebte die Fensterscheiben zerbar-

sten und Glasscherben, sowie aus der Verankerung gerissene

Fensterkreuze in die Wohnräume hineingeschleudert wurden.

Das aus Peddingrohr geflochtene Schlafbettchen mit gewölb-

ter Dachabdeckung in welchem Peter lag, das wurde von ei-

nem heraugerissenen Stück Fensterkreuz getroffen, welches

dank des Schutzdaches aus Peddingrohr quer über dem Bett

liegenblieb und den Kleinen vor schlimmen körperlichen Ver-

letzungen schützte. Doch der Explosionsschock war für den

knapp drei Jahre alten Peter ein gewaltiger und erschütterte den

gesamten Körper des Kleinen über alle Maßen. Großvater Karl

erlitt zwar leichte Verletzungen, doch grenzte es an ein großes

Wunder, dass ihm nicht mehr passierte. Jedoch für den kleinen

Peter blieb dieses Schreckerlebnis irgendwie bestehen, denn

es hatte sich tief in sein Unterbewußtsein eingeprägt.

Zerstörungen, Verletzungen, Ängste, Not und Tod brachte die-

se teuflische Kriegszeit eben überall hin in Europa und vielen

Beobachtern erschien nach Beendigung dieses unseligen II.

Weltkrieges das Ende der gesamten westlichen Zivilisation ge-

kommen zu sein. Die circa 50 Millionen Kriegstoten sowie die

Auflösung all der nötigen Existenzbedingungen sprachen eine

recht deutliche Sprache. Und nicht zu vergessen, nach dem of-

fiziellen Ende des deutschen Unrechtregimes herrschten nicht

nur hier in Deutschland, sondern auch im übrigen Europa noch

längere Zeit Hunger, Not und Verzweiflung in ungekanntem

Ausmaß, von Frankreich bis in die Ukraine hinein und von

Norwegen bis nach Griechenland hinunter. Die Stadt Warschau

war praktisch vollkommen zerstört und total unbewohnbar.

Nach Kriegsende waren es europaweit erbärmlichste Lebens-

bedingungen, worunter wohl die Kinder und die Alten am meis-

ten litten. Wie es wohl weiterging, speziell mit unserem Haupt-

protagonisten Peter und dessen Familie? Der geschätzte Leser

wird es in den nun folgenden Kapiteln erfahren.

Der II. Weltkrieg ist aus - Not und Elend bleiben

Heute im Jahr 2021 sind immerhin noch einige Millionen Deut-

sche am Leben, die wie Peter Miandus zwischen 1942 und 1945

auf die Welt kamen. Kriegskinder kann man sie nennen, geboren

und herangewachsen in Hitlers Deutschland während der heftigen

letzten Kriegsjahre. Sie waren Opfer ohne irgendeine Schuld da-

ran zu haben. Kriegs- und Nachkriegserlebnisse haben zum Teil

ihre Lebensgeschichten geprägt. Viele von ihnen sind bereits ver-

storben und haben ihre kriegstraumatischen Erlebnisse mit ins

Grab genommen. Jene anderen aber, welche noch leben, sie sind

meist gesundheitlich angeschlagen, leiden zum Teil immer noch

unter schmerzlichen Kriegserinnerungen oder haben noch nicht

ihre Traumata aus längst vergangenen Kriegstagen verarbeitet.

Denn auch im hohen Alter können sich bei den heute über 77 bis

85ig Jährigen ganz plötzlich noch negative Folgeerscheinungen

aus Kriegs- und Nachkriegstagen als belastend erweisen. Wenn

wir das insgesamt große Trauma des II. Weltkrieges verstehen

wollen, das aus vielen Bildern von Elend und Hoffnungslosigkeit

spricht, so müssen wir eben bei den konkreten Erlebnissen der

betroffenen Menschen ansetzen, die in jene Zeiten hineingebo-

ren wurden. Einer von ihnen war unser Protagonist Peter Miran-

dus. Immer wieder erinnerte er sich, wenn Stunden des Betrach-

tens anstanden an die Schrecknisse des letzten Kriegsjahres und

im weiteren Verlauf an all jene Halluzinationen und Notsituatio-

nen, welche sein Leben nach dem Ende des unseligen II. Welt-

krieges belasteten. Peter war ein hochgewachsenes, unterernähr-

tes und sensibles Kind, welches wohl nur deswegen überlebte,

weil in den Jahren 1946 und 47 die fürsorgliche und couragierte

Großmutter des öfteren mit der Scheßlitzer Bummelbahn von

Bamberg aus aufs Land hinausfuhr. Bei Bauern erbettelte sie

Überlebensnotwendiges oder erwarb es mit Tauschware. Wenn

sie Geld bezahlen sollte, feilschte sie so lange, bis ihr der Preis

passte. Stets hatte sie Erfolg auf ihren Hamsterfahrten. Vielleicht

auch deswegen, weil sie selbst ein Landkind war und die bäuer-

liche Sprache gut beherrschte. Immer, wenn sie wieder nach Hau-

se kam, hatte sie im gefüllten Ranzen Eier, etwas Butter, Speck,

Schwarzbrot oder Kartoffeln. Peter profitierte von all diesen

Lebensmitteln am meisten. Nicht nur, weil er als abgemagertes

Kind bessere Ernährung nötig hatte, sondern auch weil er Omas

frommer Liebling war und stets mit ihr zusammen die Andach-

ten und Messfeiern in der nahe gelegenen Gangolfskirche be-

suchte. Alles in allem war der Anfang der Friedenszeit für Peter

in mancherlei Hinsicht etwas besser, als die drei Jahre während

des Krieges. Doch insgesamt gesehen war Deutschland zu Be-

ginn der Nachkriegszeit ein Land der "Stunde Null" und in all

den kriegszerstörten Ruinenlandschaften mangelte es an Was-

ser, Strom, Lebensmitteln, Medikamenten, Wohnraum, Klei-

dung, Heizmaterial und Arbeit. Viele der Heimatvertriebenen

mussten jahrelang in Auffanglagern oder Baracken leben, denn

lebenswürdiger Wohn- und Lebensraum musste erst wieder

neu geschaffen werden. Die Vertriebenen traf neben den Stra-

pazen der Flucht und dem Verlust der Heimat auch das Los des

sozialen Abstiegs. Sie mussten meist mit leeren Händen den

Neuanfang versuchen. Haus, Hof, Hab und Gut blieben zurück.

Peter und seine Familie konnten zum Glück in ihrer Heimat

bleiben, hatten noch ein Dach über den Kopf und lebten wie

vordem in ihrer 3-Zimmerwohnung, in einem Haus, welches

all die Angriffe der Aliierten ohne große Schäden überstanden

hatte. Glück hatten übrigens auch die übrigen Bewohner in

ihrer Gasse, kein einziges Wohnhaus wurde durch Bombentref-

fer zerstört. Doch in der nahe gelegenen Josefstraße hingegen

sah es da schon ganz anders aus. Dort lag zumindest ein Wohn-

haus in Schutt und Asche und es gab etliche Tote. Glück und

Unglück sind eben meist blinde Gesellen und nur Gott kann

wissen, warum einer sterben muß und ein aderer weiterleben

darf. Doch am Leben zu bleiben heißt nicht automatisch sich

am Leben erfreuen zu dürfen. Unserem Peter zum Beispiel

wurde während der Kriegstage sein Leben nicht physisch weg-

genommen, doch obwohl er überlebte hatten sich die Schock-

und Angsterlebnisse aus Kriegstagen tief in seinem Unterbe-

wußtsein eingenistet. Vielleicht war er deswegen oft traurig

oder missmutig, empfand Schmerzen im Kopf und in den Ein-

geweiden. Am Abend, wenn er in seinem Bett lag und zur Zim-

merdecke hinaufstarrte, sah er des öfteren im Dämmerlicht des

halbdunklen Zimmers vogelähnliche Wesen über seinem Kör-

per hin- und herfliegen. Sie ähnelten meist irgendwelchen Gän-

sen und sahen oft aus wie Störche. Peter schrie während solcher

Erlebnisse meist laut auf und weinte bis die Mutter ins Zimmer

kam, ihn in die Arme schloß und alle Strophen des Liedes

„Schlaf Kindlein, schlaf“ solange vorsang, bis sich der Kleine

wieder beruhigt hatte und friedlich einschlief. Als Peter an die

vier Jahre alt war verschwanden solch halluzinative Erschei-

nungsbilder, welche ihn vor dem Einschlafen des öfteren er-

schreckten. An ihre Stelle traten dann Angst- bzw. Flugträume

und im weiteren Verlauf besondere Traumerlebnisse, von de-

nen später noch ausführlicher zu berichten sein wird. Bezüglich

der Halluzinationen behaupten Forscher, dass solche durch phy-

siologische Zerrüttung oder auch im Einzelfall durch echten

Mediumismus zustande kommen können, Typisch für Halluzi-

nationen sei die Tatsache, dass der daran Leidende dieselben

niemals als eingebildet empfindet, sondern die gesehenen Bilder

von ihm stets für echt gehalten werden.

Manchmal ging Peter, obwohl es Mutter nicht so gerne sah, in

die nahegelegene Josefstraße, um sich dort mit den in etwa

gleichaltrigen Nachbarskindern Erwin und Karin zu treffen.

Gemeinsam kletterten die Drei in den Steinhaufen eines zer-

bombten Bürgerhauses herum, versteckten sich, spielten stun-

denlang Räuber und Gendarm oder nahmen manchmal speziell

geformte, leicht verkohlte Holzstücke in die Hände, belebten

sie mit ihrer überbordenden Phantasie, gaben ihnen Namen und

taten dann so, als seien es lebendige Wesen aus irgendwelchen,

ihnen bekannten Märchengeschichten. Manchmal war es so,

dass Peter an Spätnachmittagen total verschmutzt und abge-

kämpft nach Hause kam, sodass er aussah wie ein aus der Koh-

legrube heimkehrender Steiger. In solchen Fällen gab es zu-

hause ein kräftiges Donnerwetter und zusätzlich ein Ausgeh-

verbot für den Folgetag. Heute, nachdem Peter gewaschen war

und die abendlichen Kröstel gegessen hatte, kam Großvater in

die Küche, redete auf ihn ein und sagte: „Junge steig nicht mehr

mit den Nachbarskindern auf den Trümmern des zerbombten

Bürgerhauses herum, denn du könntest leicht stürzen, dich stark

verletzen oder auch von jenen Ratten gebissen werden, welche

sich dort versteckt halten.“ Als Peter eine Stunde später zu Bett

gehen musste schlief er zwar nach dem Abendgebet mit der

Großmutter sofort ein, hatte aber eine Nacht voll von wirren

Träumen in denen ihn zeitweise fette Ratten verfolgten. Sie ver-

suchten an ihm hochzuspringen und liefen zwischen seinen Fü-

ßen, sodaß er fast gestürzt wäre. In seiner Not blieb er kurz ste-

hen, drehte sich um und sah in einiger Entfernung eine Traum-

gestalt, welche aussah wie sein Freund Erwin. Peter winkte mit

der Hand und der offenbar aus dem Nichts aufgetauchte Erwin

zog aus seiner Hosentasche eine Art Handschleuder, eine soge-

nannte Dswisdl und schoß auf die Ratten, welche von Peter nicht

ablassen wollten. Dies wirkte und als die Plagegeister ver-

schwunden waren wollte Peter auf seinem Retter zugehen und

wissen, ob es auch wirklich sein Freund Erwin war. Doch im

gleichen Augenblick eine unliebsame Störung, ein Ziehen an

der Bettdecke. Peter wachte auf, sah seine Mutter und hörte sie

sagen: „Steh auf, denn es gibt Neuigkeiten in Bezug auf deinen

Vater. Ich habe soeben die Nachricht bekommen, dass er und

etliche andere Soldaten gegen Ende der Woche aus russischer

Kriegsgefangenschaft heimkommen werden. Wir müssen des-

wegen einiges vorbereiten und eine bescheidene Willkommens-

feier arrangieren.“ Toll sagte Peter, dann werde ich mit Papa

öfter was unternehmen können,wie z.B. Fußballspielen im

Sommer und auf dem Eis höschln im Winter. Laß es gut sein

meinte die Mutter, Vater wird sich zuhause erst wieder neu ein-

gewöhnen müssen und dazu braucht er in den ersten Wochen

nach seiner Heimkehr Ruhe und gute Hausmannskost, denn ich

denke als Gefangener in Russland ist er wohl nicht verwöhnt

worden. Nach diesem kurzen Wortwechsel stand Peter vom Bett

auf, zog sich an und machte dann am Küchenspülbecken eine

Art Katzenwäsche. Mit dem nassen Waschlappen einmal quer

übers Gesicht gewischt und das wars dann schon. Nach dem

Frühstück ging Peter mit der Mutter in den Hof hinaus und half

mit beim Aufhängen der Wäsche. Viele Tagesabläufe wiederhol-

ten sich meist auf eintönige Art und Weise. Abwechslung gab

es für Peter immer nur dann, wenn er sich mit den Freunden

auf der Gasse, beim Trümmerhaus oder im Bereich der nahgele-

genen Gärtnerei Fichtel austoben konnte. Das Gelände dieser

Gärtnerei wurde seit Peters Rattentraum mehr denn je von den

Kindern als Abenteuerspielplatz genutzt. Es gab Sträucher,

Holzschuppen und Gerätelager, welche besonders gut für span-

nende Versteckspiele geeignet waren. Peter und Erwin liebten

es im großen Schuppen hinter Säcken mit Pflanzenerde oder

aufgestapelten Pflanztöpfen in Deckung zu gehen. Wohingegen

die ein Jahr ältere Freundin Karin oft Angst hatte und sich nie

so richtig in den halbdunklen Lagerschuppen hineintraute, we-

der beim Verstecken, noch beim Suchen. Deswegen war es für

die zwei Buben ein leichtes Spiel die Karin zu finden, weil sie

sich meist nur hinter den Pflanzbeeten mit Buchsbäumchen

versteckte. Peter und Erwin mieden solche Verstecke, weil sie

wußten, dass Gärtnermeister Fichtel etwas dagegen hatte. Oft,

wenn Herr Fichtel die Karin beim Herumrennen oder Verste-

cken in solchen Bereichen ertappte, band er seinen Schäferhund

Rasso los und der rannte mit wedelndem Schwanz auf Karin

zu und beschnupperte sie. Das Mädchen streichelte Rasso und

dieser ließ es mit sich geschehen. Es sah meist so aus, als hätte

Karin eine gewiße Macht über das Tier, denn der Hund verhielt

sich ganz anders, wenn er die Buben erspähte. In solchen Fällen

reagierte er viel heftiger, sprang mit wedelndem Schwanz auf

die Beiden zu, hüpfte an ihnen hoch und drohte sie umzuwerfen.

Peter und Erwin begannen dann mit weinerlicher Stimme laut-

hals um Hilfe zu schreien. In solchen Fällen ertönte ein gewißer

Pfiff und Hund Rasso verschwand so schnell wie er zuvor ge-

kommen war. Oft war es auch so, dass der Gärtnermeister mit

dem angeleinten Hofhund höchst persönlich bei den Kindern

vorbeikam und mit ernster Miene bekanntgab: „Ihr Drei geht

jetzt mal schön nach Hause! Lasst euch nicht mehr so schnell

hier blicken, denn ansonsten werde ich euch auch mal den

Hintern versohlen.“ Immer wieder das gleiche Ritual, Peter,

Erwin und Karin waren einsichtig, trabten nach Hause, um in

den nächsten Tagen wieder zum Spielen beim Fichtel vorbeizu-

kommen. Immer wieder hofften die Drei unentdeckt zu bleiben,

doch leider ging dieser Wunsch meist nur dann in Erfüllung,

wenn Gärtnermeister Fichtel mit seinem uralten Ford-Prit-

schenwagen unterwegs war. Heute schien es so zu sein, dass

Herr Fichtel mit diesem Auto auf Tour gehen will. Peter sah

wie der Gärtner den Hund Rasso an die Kette legte, welche an

einem Mauerhaken neben dem Eingang des Wohnhauses be-

festigt war. Von dort aus konnte der Hund zu seiner Hütte und

fast nahezu bis zum Eingang des großen Treibhauses laufen.

Eine Abwesenheitstafel auf welcher stand „Heute nachmittag

geschlossen“ hing bereits neben der Hofausfahrt des Anwesens.

Es waren gute Vorzeichen, welche Peter von der Gasse aus be-

obachtete und er wartete in einiger Entfenung so lange, bis der

Gärtnermeister mit seinem Ford-Pickup wegfuhr. Dann re-

agierte der Bub wie elektrisiert, lief zur Mutter in die Küche

und sagte: „ Mama, ich geh mal zum Erwin und schau, ob er

mit mir was unternehmen will.“ Dann lief er los ohne auf die

Worte seiner Mutter zu achten, welche ihm noch nachrief:

„Komm aber bis spätestens fünf Uhr nach Hause zurück!“ Als

Peter beim Erwin ankam und ihm erzählte, dass der Fichtel

weggefahren sei rief Erwin ein Juchhu aus und sagte: „Komm

wir nehmen noch die Karin mit.“ Aber die durfte nicht

mitkommen, weil ihre Mutter es nicht wollte. Also zogen die

zwei Buben alleine los und liefen bis zum Ende jenes Ma-

schendrahtzaunes welcher den hinteren Teil des Gärtnereige-

ländes absicherte und dort, an einer von der Gasse aus nicht

einsehbaren Stelle, krochen sie über den Zaun und waren nach

wenigen Schritten in der Nähe des großen Komposthaufens,

von dem aus es nur wenige Meter waren bis zum sogenannten

Umtopfschuppen. Dort war ein sicherer Bereich zum Herumtol-

len. Hund Rasso konnte sie nicht erspähen, da einige Reihen

meterhoher Büsche seine Sicht einschränkten. Doch dennoch

war Vorsicht angebracht, denn sollte der Schäferhund aus ir-

gendwelchen Gründen irgendwann mit dem Bellen beginnen

und sich nicht mehr beruhigen kam meist die Frau des Gärtners

aus dem Wohnhaus und schaute nach dem Rechten. Wehe den

Kindern, wenn diese resolute Frau sie entdecken würde. Es gä-

be ein Mordsdonnerwetter und vermutlich ein paar Hiebe mit

dem Bettklopfer, welcher griffbereit hinter der Haustüre hing.

Doch heute lief alles gut und die Kinder begannen unbeschwert

herumzutollen. Sie vergaßen die Zeit und fanden erst dann wie-

der in die eigentliche Realität zurück, als Herr Fichtel mit seinem

knatternden Ford zurückkam und Hund Rasso mit Gebell seinen

Herrn begrüßte. Dies waren nicht zu überhörende Signale, wel-

che die Kinder ans Nachhausegehen erinnerten. Nach fußläufig

kurzer Wegstrecke waren sie beide wieder daheim. Peter wurde

bereits von seiner Mutter und den Großeltern zum Abendessen

erwartet. Alle aßen Schmalzbrote mit Zwiebelringen und tranken

dazu den obligatorischen Pfefferminztee. Gab es mal keinen Tee

stand für vom Durst Geplagte der Wasserhahn beim Ausguss in

der Küche zur Verfügung. Wenn Peter untertags sagte „ich habe

Durst“ hieß es immer „geh zum Wasserhahn in der Küche“ oder

wenn es um seinen kleinen Hunger ging „nimm dir ein Stück

trockenes Brot aus dem Kasten.“ In den ersten Nachkriegsjahren

war es eben meist genauso schwierig an vollwertige Nahrungs-

mittel heranzukommen wie in den Zeiten des II. Weltkrieges.

Abgesehen davon war das heutige Abendessen schon etwas be-

sonderes und deswegen schmeckte es allen recht gut, heute am

denkwürdigen 4. Mai des Jahres 1947. Denkwürdig deswegen,

weil sich noch etwas ereignete, womit Familie Mirandus nicht

im geringsten gerechnet hatte. Als alle mit dem Essen fertig wa-

ren und gemütlich beisammen saßen ertönte mehrmals die schrill

eingestellte Wohnungsklingel. Großvater Karl sagte zu Peter

mehr scherzend als ernsthaft: „Geh doch mal zur Wohnungstür

und schau ob dein Vater draußen steht!“ Peter ließ sich das nicht

zweimal sagen, lief hin zur Flurtüre und öffnete sie. Er sah einen

abgemagerten Mann mittleren Alters, welcher einen langen grau-

en Mantel anhatte. Seine Füße steckten in schmutzigen, stark

abgenutzten Stiefeln und in der linken Hand trug der recht müde

dreinschauende Besucher eine schmutzige Kappe. Der prall ge-

füllte Rucksack auf seinem Rücken hatte rote Flecken, welche

an Blut erinnerten. Peter starrte den unheimlich wirkenden

Fremden an, drehte sich dann nach hinten um und rief in die

Wohnung hinein: „Komm schnell an die Tür Opa, denn ich weiß

nicht ob es mein Vater ist, denn auf dem Foto im Wohnzimmer

schaut er ja ganz anders aus!“ Großvater Karl fühlte sich sofort

angesprochen, ebenso wie Oma Marga und Peters Mutter. Alle

standen wie elektrisiert vom Küchentisch auf und gingen mit Peter

bis zur offen stehenden Wohnungstür. Acht Augenpaare betrach-

teten den Mann welcher im Türrahmen stand und starrten ihn

einige Sekunden lang sprachlos an. Als Erste hatte Peters Mut-

ter Hanna ihre Sprachlosigkeit verloren und sagte mit Tränen

in den Augen: „Richard komm herein und lass dich umarmen!“

Der Angesprochene verlor seine innere Anspannung, setzte die

Kappe welche er noch in der Hand hielt auf Peters Kopf und

ging dann zur Gattin, sodaß sich beide umarmen und küssen

konnten. Dann hob der Vater den Peter mit seinen zwei Armen

in die Höhe, drückte ihn an sich und meinte: „Groß bist du ge-

worden mein Kleiner, bist ja schon fünf Jahre alt und wirst

wohl bald in die Schule kommen!“ Nach diesen Worten ging

er auf seine Schwiegereltern zu und umarmte auch diese kurz

und herzhaft. Dann liefen alle vom Flur aus hinüber ins Wohn-

zimmer, setzten sich nieder und wollten vom Heimkehrer recht

viel erfahren. Doch als Richards Frau bemerkte, dass ihr Mann

nur kurze, nichtssagende Antworten gab, öfter gähnte und an

seinen Augen rieb, sagte sie zu ihm: „Ist es dir recht, wenn ich

eine Brotzeit mit Schmalzbroten und eine Kanne Pfefferminz-

tee für dich mache. Wenn du dann gegessen und getrunken

hast, kannst du dich ja ins Bett legen und solange durchschlafen

bis du einigermaßen erholt bist.“ „Das wäre mir ganz recht“

erwiderte der Angesprochene, „allzuviele Strapazen liegen

hinter mir und deswegen habe ich jetzt keine Lust irgendwelche

Fragen zu beantworten.“ Nach diesen Worten lief Sohn Peter

zur Kommode, schon länger Zeit starrte er zu ihr hinüber, und

holte dort jenes gerahmte Foto auf welchem der Vater in

schmucker Feldwebeluniform und mit lächelnder Miene dar-

gestellt war. Peter zeigte das Foto seinem Vater und fragte:

„Papa, warum schaust du denn auf dem Foto so ganz anders

aus, bist du wirklich mein echter Vater?“ Ja, der bin ich sagte

der Angesprochene, hab im Krieg viel mitmachen müssen und

deswegen bin ich jetzt nur noch ein halber Mensch.“ Dann gab

der Vater seinem Sohn einen Klapps auf den Po und ließ es gut

sein. Anschließend rief Peters Mutter von der Küche aus ihrem

Sohn zu: „Peter, stell das Foto sofort wieder auf die Kommode

zurück und laß Papa jetzt in Ruhe, denn schließlich kam er erst

vor zwei Stunden aus russischer Gefangenschaft zurück. Ich

denke, dass er sowohl im Krieg, als auch in der Gefangenschaft

viel Leid ertragen musste. Das ist wohl der Grund, dass aus ihm

ein anderer Mensch geworden ist. Es wird wohl noch längere

Zeit dauern, bis er alles aufgearbeitet hat und ein normales Leben

führen kann.“ Peters Mutter sollte recht behalten, denn heute

am vierten Mai 1947, am Tag der Rückkehr ihres Mannes, be-

gann für die Familie eine Zeit, in der es nicht mehr so war wie

vor dem Krieg. Mit dem formalen Ende des Krieges waren

Gewalt und Angst noch lange nicht vorbei. Sie versteckten sich

nun in den Häusern einstmals glücklicher Familien, heimge-

bracht von scheinbar fremd gewordenen Männern. Dabei waren

es gar keine Fremden. Es waren die eigenen Väter und Ehemän-

ner, aber sie waren auch Soldaten gewesen, danach oft Gefange-

ne – eben Kriegsverlierer. Als solche kehrten sie nach etlichen

Jahren zurück, mit vielen üblen Erlebnissen im Gepäck die sie

stark verändert hatten. So trafen sie, wie Richard, auf ihre Fami-

lien, in denen nichts mehr war wie vor dem Krieg. Denn auch

die Frauen hatten sich verändert und die Kinder, welche sie oft

noch nie leibhaftig sahen, waren plötzlich groß geworden. Die

Menschen träumten alle von einem besseren Leben mit ihren

Familien. Die jungen Frauen hatten während des Krieges gear-

beitet, nicht nur um etwas Geld zu verdienen, sondern auch um

etwas zu lernen und um eine gewiße Dienstpflicht zu erfüllen.

Auch Peters Mutter hatte ihr Arbeitsbuch und wurde nach erfolg-

ter Ausbildung zur Kontoristin bei der Wäscherei Wohlleben

als dienstpflichtige Frau geführt, während ihr Gatte im Krieg

war. Sie hatte dadurch, wie viele andere junge Frauen, viel an

Selbstständigkeit gewonnen. Wie bereits erwähnt, sah Peter den

Vater das erste Mal, als dieser von Russland zurückkehrte. Zu-

vor kannte er ihn nur als Darsteller auf einem Foto. Und, als der

Vater noch nicht zuhause war, hatte Peter die ganze Liebe der

Mutter empfangen. Nun wird es für ihn bestimmt anders werden,

denn der seiner Frau fremd gewordene Ehemann wird vermutlich

mehr an Aufmerksamkeit und Liebe fordern, als er es je zuvor

getan hat. Dies spürte Peter instinktiv und er wendete sich des-

wegen im weiteren Verlauf öfter seiner Oma Marga zu und ver-

traute ihr meist mehr als den leiblichen Eltern. Als Peter am

Abend des ereignisreichen Tages in seinem Bett lag konnte er

lange Zeit nicht einschlafen. Besonders über den Satz seines Va-

ters - „im Krieg hab ich viel mitmachen müssen und deshalb bin

nur noch ein halber Mensch“ - grübelte er lange nach, ohne zu

verstehen was es bedeutete ein halber Mensch zu sein. Peter

reimte sich einiges in seinem Kopf zusammen und dachte,

vielleicht meinte mein Vater, dass in seinem Kopf nur noch ein

halbes Gehirn arbeitet, welches ihn zu einem halben Menschen

macht. So ganz zufrieden war er mit dem was er gerade gedacht

hatte aber auch nicht. Ich werde morgen Oma fragen, vielleicht

kann sie mir besser erklären was es bedeutet ein halber Mensch

zu sein. Mit diesem Vorsatz im Kopf schlief Perter dann doch

noch ein. Er träumte irgendwann während seiner Schlafenszeit

von Oma. Sie sah aus wie eine Prinzessin, hatte eine Krone auf

dem Kopf, lächelte und übergab ihm eine kleine Pappschachtel.

Peter war neugierig, öffnete die Schachtel und eine größere

Spinne krabbelte auf seine Hand. Peter erschrak darüber so sehr,

dass er aufwachte und angstvoll sein ganzes Bett nach irgend-

einer Spinne absuchte, aber er fand nichts. Auch wußte er nicht,

dass die Spinne vor allen Dingen bei den Germanen als Krafttier

den mächtigen Schicksalsweberinnen Urd, Werdandi und Skuld

zugeordnet wurde. Diese Weberinnen, auch Nornen genannt,

weben Schicksalsnetzte und bestimmen so das, was sich während

der menschlichen Lebenszeit ereignet. Dass Peter seine Groß-

mutter in Verbindung mit einer Spinne sah, welche auf ihn zu-

krabbelte, das kann wohl nur dahingehend gedeutet werden, dass

Peters Oma ihm stets als eine vom Schicksal bestimmte Helferin

beistehen wird. auch wenn ringsum Leid und Sorgen sein Leben

belasten und Mutter Hanna versagen sollte. Der neu anbrechende

Tag begann für Peter damit, das er beim Frühstücken Oma nach

der Bedeutung der Redewendung ich bin nur ein halber Mensch

fragte. Großmutter hatte schnell eine Antwort parat und sagte:

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„Das ist wohl jemand, der aus dem Lot geraten ist und dem die

Antriebskräfte für ein vollwertiges Leben abhanden gekommen

sind. Damit lass es mal gut sein Peter und zerbreche dir nicht

weiter den Kopf, dein Vater wird schon wieder sein inneres

Gleichgewicht finden.“ In diesem Moment kam Peters Mutter

an den Frühstückstisch und sagte: „Richard schläft noch, sprecht

etwas leiser, denn wir sollten ihn nicht vorzeitig aufwecken.

Soll er sich doch erst mal richtig erholen. Einige Wochen nahm

die gesamte Familie auf Richard Rücksicht. Er wurde von Ehe-