Kriminalistisches Denken - Thomas E. Gundlach - E-Book

Kriminalistisches Denken E-Book

Thomas E. Gundlach

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Beschreibung

Kriminalistisches Denken ist der Ausgangspunkt und zugleich die wichtigste Voraussetzung für erfolgreiches kriminalistisches Arbeiten. Die Methoden der Kriminalistik und insbesondere deren kriminaltechnischen Möglichkeiten haben sich in den letzten Jahrzehnten zum Teil stark verändert bzw. enorm weiterentwickelt. Die Fragen, die kriminalistisch gestellt werden müssen, um eine Straftat zu entdecken, einen Sachverhalt aufzuklären und einen mutmaßlichen Täter beweissicher zu überführen, sind jedoch die gleichen geblieben. Die 12. Auflage bietet eine systematische Analyse der kriminalistischen Vorgehensweise und berücksichtigt dabei neueste wissenschaftliche Erkenntnisse. Das Autorenteam bezieht in dieser Neuauflage sowohl die schweizerische als auch die deutsche Perspektive ein. Viele Beispiele und praktische Tipps veranschaulichen die dargestellte Methode, so ist und bleibt dieses Standardwerk eine unverzichtbare Lektüre für den erfahrenen Praktiker und den wissbegierigen Berufsanfänger.

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Kriminalistisches Denken

begründet von

Prof. em. Dr. iur. Hans Walder  †

 

fortgeführt von

Dr. iur. Thomas Hansjakob  †(7. bis 10. Auflage)

Prof. Thomas E. Gundlach(ab der 11. Auflage)

Dr. iur. Peter Straub LL.M.(ab der 11. Auflage)

 

 

12., neu bearbeitete Auflage

 

 

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www.kriminalistik-verlag.de

Reihe

Grundlagen

Die Schriftenreihe der „Kriminalistik“

Herausgeber

Walder/Hansjakob/Gundlach/Straub

Autoren

Prof. Thomas E. Gundlach (geb. 1959) war von 1984 bis 1999 bei der Hamburger Kriminalpolizei tätig, u.a. als Mordbereitschaftsleiter, Leiter des Rauschgiftdezernats und stellvertretender Abteilungsleiter Polizeilicher Staatschutz. Seit 1999 lehrt er Kriminalistik an der Hochschule in der Akademie der Polizei Hamburg. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik.

Dr. Peter Straub LL.M. (geb. 1973) studierte in Konstanz, München und New York, arbeitete in Deutschland als Rechtsanwalt, in der Schweiz als Untersuchungsrichter und stv. Staatsanwalt des Bundes. Heute ist er Leitender Staatsanwalt im Kanton St. Gallen, Präsident der Fachkommission zur Überprüfung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern und Lehrbeauftragter für Strafprozessrecht an der HSG St. Gallen.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <https://portal.dnb.de> abrufbar.

 

ISBN 978-3-7832-4061-0

 

E-Mail: [email protected]

Telefon: +49 6221 1859 599Telefax: +49 6221 1859 598

 

www.cfmueller.de

 

© 2024 C.F. Müller GmbH, Heidelberg

Hinweis des Verlages zum Urheberrecht und Digitalen Rechtemanagement (DRM)

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Der Verlag räumt Ihnen mit dem Kauf des e-Books das Recht ein, die Inhalte im Rahmen des geltenden Urheberrechts zu nutzen.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Verlag schützt seine e-Books vor Missbrauch des Urheberrechts durch ein digitales Rechtemanagement. Angaben zu diesem DRM finden Sie auf den Seiten der jeweiligen Anbieter.

Vorwort zur 12. Auflage

Für die 12. Auflage haben wir den Text leicht überarbeitet und die Angaben aktualisiert. Insbesondere wurden rechtliche Änderungen, die sich in den letzten drei Jahren ergeben haben, eingearbeitet. Einige Abschnitte wurden ergänzt, andere gestrafft, so im 1. Kapitel, III, 5.2, 9.3 und 9.4, im 2. Kapitel, I und II sowie im 3. Kapitel III. 1. Das Literaturverzeichnis wurde erweitert.

Die Kriminalistik hat es – zumindest im deutschsprachigen Raum – immer noch schwer, als Wissenschaftsdisziplin anerkannt zu werden. Dabei ist sie im System der Rechtswissenschaften die einzige Wissenschaft, die das gesamte Verfahren von der Aufdeckung einer Tat über die Täterermittlung und die umfassenden Ermittlungen und Untersuchungen bis hin zur immer anspruchsvoller werdenden Beweisführung systematisch zusammenführt. Die Deutsche Gesellschaft für Kriminalistik (DGfK) hat es sich u.a. zur Aufgabe gemacht, dass die Kriminalistik mehr und besser wahrgenommen wird. Auch dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten.

Zur besseren Lesbarkeit haben wir überwiegend das generische Maskulinum verwendet. Die in diesem Buch verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.

Ihre Fragen und Anregungen dürfen Sie gerne an [email protected] oder [email protected] schicken.

Altdorf und Gossau, Thomas E. Gundlachim Oktober 2023Peter Straub

Vorwort zur 11. Auflage

Nach dem unerwarteten Tod von Thomas Hansjakob hat sich der Verlag entschieden, dieses inzwischen als Standardwerk anerkannte Buch auch weiterhin erscheinen zu lassen, und zwar in deutsch-schweizerischer Koproduktion. Wir Autoren sind dem Verlag dafür sehr dankbar und empfinden es als Ehre, Verpflichtung und Herausforderung zugleich, die Tradition und Gedanken unserer Vorautoren zu bewahren und den Begriff des „Kriminalistischen Denkens“ fortzuführen bzw. weiterzuentwickeln.

Wir wollten zunächst die Grundstruktur des Werkes erhalten und uns auf Korrekturen, Aktualisierungen und Ergänzungen beschränken. Einige Abschnitte haben wir gekürzt und versucht unnötige Wiederholungen (manche sind bewusst gesetzt) zu eliminieren. Zudem wurden weitere Grafiken aufgenommen, die der Veranschaulichung dienen sollen. Die letzten Auflagen haben auf Quellenangaben verzichtet, und am Ende des Buches findet sich nur eine Literaturauswahl. Mit der 11. Auflage werden Quellen erstmals belegt, so dass interessierte Leser weiterrecherchieren und ihr Wissen vertiefen können. Allerdings war es uns im Zuge dieser Neuauflage nicht möglich, die bisherigen Inhalte vollständig nachzuarbeiten, wofür wir an dieser Stelle um Verständnis bitten. Die Corona-Krise hat übrigens auch uns – zumindest teilweise – getroffen. Geplante Redaktionstreffen konnten wegen der Reisebeschränkungen nicht mehr stattfinden, und Homeoffice mit kleinen Kindern ist, wie eine bekannte Nachrichtenmoderatorin so nett gesagt hat, wie Zähneputzen mit Nutella. Dennoch: Für alle Fehler, die uns unterlaufen sind, tragen allein wir die Verantwortung.

Alle Onlinemedien wurden letztmalig aufgerufen am 30.04.2020.

Die Arbeit an diesem Buch wäre ohne die Unterstützung unserer Partnerin bzw. Frau nicht möglich gewesen. Ganz lieben Dank, Nora und Barbara. Ein besonderer Dank geht an KHK Sebastian Burmeister, der die Recherchearbeiten ganz wesentlich unterstützt hat; Frau MLaw Hannah Müller sei Dank für die inspirierenden Gespräche und die sich daraus ergebenden Ideen für das Buch.

Ihre Fragen und Anregungen dürfen Sie gerne an [email protected] oder [email protected] schicken.

Buxtehude und Gossau, Thomas E. Gundlachim Juni 2020Peter Straub

1. KapitelAufgabe und Mittel

I.Einleitung

1.Über das kriminalistische Denken

Ziel des vorliegenden Buches ist es, Denkanstöße und Hinweise zu Überlegungen zu geben, welche nötig sind, um eine Straftat zu erkennen, eine vermeintliche bzw. tatsächliche Straftat aufzuklären oder nachzuweisen, dass keine Straftat begangen wurde. Die beschriebene Tätigkeit kann man als kriminalistisches Denken bezeichnen. Diese Art des Denkens verbessert die Arbeitsweise all derjenigen, die mit der Aufdeckung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten beruflich betraut sind, und das sind nicht nur Mitarbeitende der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte. Das kriminalistische Denken ist gewissermaßen die Basis kriminalistischen Arbeitens; man könnte auch sagen, das kriminalistische Denken ist die DNA der Kriminalistin/des Kriminalisten.

Die Frage liegt nahe, ob die Methoden des kriminalistischen Denkens jenen ähnlich sind, welche Forscher im Bereich der Natur- oder Geisteswissenschaften anwenden, um Probleme zu analysieren und zu lösen. Die Frage ist einerseits zu bejahen: Systematisches Überlegen, das Denken in Hypothesen und die Methode des Verifizierens oder Falsifizierens können Kriminalisten durchaus von Natur- oder Sozialwissenschaftlern lernen und übernehmen, und sie sollten es auch tun. Die Frage muss anderseits aber in Teilbereichen auch verneint werden: Vor allem haben es Kriminalisten nicht mit Laborsituationen zu tun, sondern mit dem wirklichen Leben. Sie müssen deshalb oft rasch unter hohem Zeitdruck und bei bescheidener Faktenlage Entscheidungen treffen, welche sich dann nicht wieder rückgängig machen lassen. Kriminalisten können die Ergebnisse ihrer Ermittlungen auch nicht beliebig reproduzieren: Fehler, die etwa bei der Erstvernehmung des in flagranti erwischten Gewalttäters gemacht werden, lassen sich später überhaupt nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten beheben. Es lohnt sich deshalb, über das kriminalistische Denken und seine Besonderheiten nachzudenken.

Kriminalistisches Denken kann man lernen und üben. Forschungen haben gezeigt, dass die Anwendung gewisser Methoden bei der Lösung von kriminalistisch relevanten Sachverhalten zu deutlich besseren Ergebnissen führt. So ist empirisch belegt, dass Befrager, welche die Technik des Kognitiven Interviews anwenden, zu deutlich besseren Resultaten bei Vernehmungen kommen als diejenigen, die nicht nach dieser Methode vorgehen (allerdings brauchen sie dazu etwas mehr Zeit). Henriette Haas hat nachgewiesen, dass Kriminalisten, die mit der Technik des systematischen Beobachtens vertraut sind, signifikant bessere Lösungen von kriminalistischen Aufgaben produzieren als Personen, die diese Technik nicht kennen.[1]

Nicht nur die Auswertung von Personenbeweisen[2], sondern auch die von Sachbeweisen verspricht eher Erfolg, wenn Kriminalisten die neusten Techniken der Beweiserhebung kennen und sie in der richtigen Art und Reihenfolge Schritt für Schritt anwenden. Gerade die modernen, hochpräzisen und sehr zuverlässigen Beweiserhebungen (DNA-Analysen und andere Techniken der Spurenauswertung; Überwachungen der Telekommunikation; Auswertungen technischer Aufzeichnungsgeräte) führen in vielen Fällen zu klaren Beweisergebnissen, deren Beweiswert kaum mehr angezweifelt werden kann.

Ob man eine Lösung auf diesem Wege findet, ist allerdings nicht sicher. Schwierigkeiten entstehen dann, wenn man davon ausgehen muss, alle verfügbaren Beweise erhoben zu haben, ohne dass sich ein bestimmter Sachverhalt vollständig beweisen lässt. Immerhin: Die saubere und möglichst vollständige Anwendung der verschiedenen Techniken der Beweiserhebung ist auch in schwierigen Fällen eine notwendige Basis. Bisweilen sind allerdings speziellere und weiterführende Überlegungen notwendig. Wie dann vorzugehen ist, spüren erfolgreiche Kriminalisten intuitiv. Weil aber Intuition nicht lern- oder trainierbar ist, muss man sie manchmal herbeizwingen. Wie man das zustande bringt, kann sich zum Beispiel aus der Überlegung ergeben, wieso man einen schwierigen Fall auf überraschende Weise doch noch gelöst hat. Blieb der Erfolg anfangs versagt, weil man scheinbar harmlose Kleinigkeiten übersehen hat, oder hat man ungewöhnliche, nicht ins Bild passende Einzelheiten verdrängt, ohne ihnen besondere Beachtung zu schenken? Ging man von einer besonders raffinierten Täterschaft aus, weil der deliktische Schaden besonders hoch war, und übersah dabei naheliegende Versionen, weil nicht der Täter besonders professionell, sondern das Opfer besonders unbedarft war?

Wer sich allerdings nur auf die Intuition verlässt, wird nur mit Glück schwierige Fälle lösen können. Methodisches Vorgehen ist nicht immer hinreichend, aber stets notwendig für die Aufklärung von Straftaten. Wer nicht schon zu Beginn der Untersuchung möglichst alle vorhandenen Daten vollständig erfasst und bei der weiteren Bearbeitung präsent hat, übersieht Umstände, die zur Lösung führen könnten. Wer dann auf Grund dieser Daten nicht alle möglichen Hypothesen in Betracht zieht, der ermittelt allenfalls in die falsche Richtung. Wer sich auf Grund der Hypothesen nicht vor Augen führt, welche Tatbestände in Frage kommen und welche Tatbestandsmerkmale es zu beweisen gilt, der ermittelt ziellos und unvollständig. Der Ermittlungserfolg insgesamt wird damit gefährdet.

Das bedeutet nicht, dass man jeden von Anfang an einigermaßen klaren Sachverhalt in all seiner Breite und Tiefe aufklären und von vornherein in Varianten denken müsste. Ausgangspunkt jeder Beweisführung muss aber unbedingt die Vorstellung davon sein, welche Straftat in Frage kommt und über welche einzelnen Tatbestandsmerkmale dabei Beweis zu führen ist. Alle erfahrenen Kriminalisten wissen, dass sie bisweilen diese Grundregel vernachlässigen: Eine mutmaßliche Straftat weckt ihre Neugierde, und sie klären dann mit großem Aufwand ab, was sich in Wirklichkeit abgespielt hat. Schließlich finden sie heraus, dass das Ergebnis der Untersuchungen vollkommen nutzlos ist, weil ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal offensichtlich nicht erfüllt ist oder sich nicht beweisen lässt. Das ist dann besonders ärgerlich, wenn dies absehbar gewesen wäre, hätte man sich nur früh genug Überlegungen dazu gemacht.

Der schönste Geldwäsche-Verdachtsfall, bei dem jede einzelne Transaktion sich sauber rekonstruieren lässt, wird nicht zu einer Verurteilung führen, wenn die Ermittler erst am Schluss merken, dass die mutmaßliche Vortat zwar strafbar wäre, die dazu erforderlichen Beweise sich aber im Ausland nicht beschaffen lassen.

Entscheidend ist gerade nach schweren Straftaten, dass nicht einfach die üblichen Ermittlungshandlungen abgearbeitet werden, oft sogar auf breitester Basis, ohne diese Maßnahmen der konkreten Aufgabe genügend anzupassen. Man sollte nicht einfach möglichst viel Material sammeln, ohne immer wieder darüber nachzudenken, wie man es vervollständigen und welche Schlüsse man daraus ziehen sollte. Zwar führt auch solch unstrukturiertes Suchen manchmal zum Erfolg; die Lösung ist dann aber eher der einfachen Struktur des Falles zu verdanken als dem kriminalistischen Denken. Kriminalistisches Denken ist in diesem Sinn ein zyklischer Prozess: Jedes einzelne Beweisergebnis kann das Gesamtbild der Beweislage verändern, was dann allenfalls zur Anpassung von Hypothesen und vielleicht sogar dazu führt, andere oder zusätzliche Tatbestände ins Auge zu fassen.

Damit soll nichts gegen die in der Praxis gängigen Checklisten für die Bearbeitung bestimmter Arten von Straftaten gesagt werden, im Gegenteil: Sie enthalten meistens ein gutes Stück (fremdes) kriminalistisches Denken. Sobald man aber bei der Lektüre eines Schemas zu fragen beginnt, warum dieser oder jener Punkt zu klären sei, fängt man an, ins kriminalistische Wissen einzusteigen und Vorhandenes zu vertiefen.

Eine besondere, rechtsstaatlich heikle und ausgesprochen schwierige Disziplin ist das Werten von Wahrnehmungen und Feststellungen über Vorgänge, von denen man vermutet, dass hinter ihnen eine Straftat steckt, ohne dass dies schon klar ist: Es geht um den Verdacht. Die kriminalistische Aufgabe ist erst erledigt, wenn die Tat nachgewiesen und der Täter überführt und verurteilt worden ist – oder wenn sich der Verdacht als unbegründet herausgestellt hat oder der Fall schlicht unlösbar bleibt. Man kann eine Verdachtslage leicht übersehen oder unterschätzen und deshalb mit der Arbeit gar nicht beginnen. Man riskiert anderseits, einen Verdacht zu vermuten, hinter dem sich effektiv gar keine Straftat verbirgt. Die Entscheidung, einer vagen Vermutung nachzugehen oder eben nicht, ist einer der schwierigsten, obschon sie alltäglich ist. Ob Vorermittlungen oder die Eröffnung einer Strafuntersuchung angezeigt sind, ist nicht nur in tatsächlicher, sondern auch rechtsstaatlicher Hinsicht eine schwierige Frage. Wer kriminalistisches Denken beherrscht, wird allerdings auch in diesem Bereich weniger Fehler machen als andere.

Inwieweit das kriminalistische Denken auch die Kriminalprognose und die Kriminalstrategie beeinflusst oder beeinflussen sollte, ist noch nicht hinreichend geklärt. Ralph Berthel forderte schon 2007, in dieser Hinsicht das kriminalistische Denken neu zu denken.[3] Neuer ist die Forderung, dass die „digitale Spur“ ein fester Bestandteil kriminalistischen Denkens sein sollte.[4] Das ist etwas irreführend, denn „digitale Spuren“ sind inzwischen ein feststehender Begriff (nämlich Tat- oder Täterspuren durch den Täter in der digitalen Welt). Die Autorinnen meinen hier aber den Einsatz von (Software)Technik, die die Ermittlungsarbeit unterstützen soll. Es herrscht sicherlich Konsens darüber, dass ein Ermittler in Zeiten von Big Data und einer z.T. unglaublichen Informationsflut ohne den Einsatz von modernen Auswertetools nicht mehr auskommen kann. Insoweit sind diese Softwareinstrumente zu einer unverzichtbaren Hilfe für die Ermittlungstätigkeit und das kriminalistische Arbeiten geworden. Ein guter Kriminalist sollte sie kennen und gezielt einzusetzen verstehen, damit man beim kriminalistischen Denken keine Fehler begeht.

Dass die Kriminalistik selbst eine Wissenschaftsdisziplin ist, die neben der Kriminologie (und nicht wie früher dieser untergeordnet) als nichtjuristische Wissenschaft zusammen mit den juristischen (Strafrecht, Strafprozessrecht) gemeinsam Teil der Kriminalwissenschaften[5] ist, ist mittlerweile unstrittig. Ebenso unstrittig wie bedauernswert ist, dass die Kriminalistik im deutschsprachigen Raum in Forschung und Lehre nach wie vor überwiegend ein Schattendasein fristet bzw. stiefmütterlich behandelt wird, was dringend geändert werden muss.

1.1Der Aufbau dieser Arbeit

Das vorliegende Buch behandelt alle Aspekte des kriminalistischen Denkens:

Im ersten Kapitel wird die Frage vertieft, worin denn überhaupt die kriminalistische Aufgabe besteht (1. Kap. II.). Dann werden die Mittel beschrieben, welche dem Kriminalisten zur Verfügung stehen (1. Kap. III.).

Im zweiten Kapitel wird die Methode des kriminalistischen Denkens untersucht. Die Systematik lehnt sich an den Intelligence Cycle an, der in den USA zur Aufklärung von Delikten entwickelt wurde. Der von Thomas Hansjakob entwickelte kriminalistische Zyklus[6] (2. Kap. I.) beginnt mit dem Ausgangspunkt kriminalistischen Handelns, dem Verdacht (2. Kap. II.). Die Ausgangsdaten, auf denen dieser Verdacht beruht, sind zunächst zu analysieren (2. Kap. III.). Daraus ergeben sich bestimmte Hypothesen (2. Kap. IV.), welche dazu führen, dass ein Programm zur Beweisführung entwickelt werden kann (2. Kap. V.). Dann werden gezielt die fehlenden Daten beschafft (2. Kap. VI.). Allenfalls sind besondere Maßnahmen nötig, wenn zu wenige Daten zur Lösung der Aufgabe vorhanden sind (2. Kap. VII.). In einfachen Fällen ist damit die kriminalistische Aufgabe erledigt, in komplizierteren Fällen muss man den Verdacht modifizieren und eine zweite Runde nach dem gleichen System starten.

Das Ergebnis einer vollständigen Datenerhebung (3. Kapitel) mündet im strafprozessualen Beweis der Straftat (3. Kap. I.). Dieser Beweis ist auf noch vorhandene Zweifel zu untersuchen (3. Kap. II.). Dabei hilft es, wenn man die häufigsten Fehler beim kriminalistischen Arbeiten kennt (3. Kap. III.).

Die theoretischen Ausführungen werden durch praktische Beispiele ergänzt, die jeweils grafisch vom Text abgesetzt sind.

1.2Gute Kriminalisten

Was in diesem Buch gesagt wird, ist für den erfahrenen Kriminalisten nicht grundlegend neu. Jeder, der mit Ermittlungen zu tun hat, ist schon auf die zu besprechenden Probleme gestoßen, und hat sie gleich, ähnlich oder besser gelöst oder einfach ignoriert. Der Versuch, einige grundsätzliche Erkenntnisse zu klären und systematisch zu ordnen, dürfte dem Spezialisten trotzdem neue Erkenntnisse bringen. Dem weniger Erfahrenen wird gezeigt, dass das kriminalistische Denken keine erstaunliche Kunst oder ein beneidenswertes Talent ist, sondern bloß eine erlernbare Methode.

Was zeichnet einen erfolgreichen Kriminalisten aus?

Grundvoraussetzung ist die gründliche Kenntnis des Straf- und Strafprozessrechts. Dies erfordert dogmatisches Verständnis. Nur wer weiß, welche Straftaten der Gesetzgeber mit Strafe bedroht, nur wer die heiklen Rechtsfragen im Zusammenhang mit den wichtigsten Tatbeständen kennt, wird überhaupt zuverlässig wissen, was in einem konkreten Fall zu beweisen ist. Nur wer die prozessualen Rahmenbedingungen kennt, kann die Beweise so erheben, dass sie vom Gericht auch verwertet werden können.

Klares kriminalistisches Denken benötigt wie jedes systematische Arbeiten einen scharfen Intellekt. Eine gute Beobachtungsgabe („… die sorgfältige Wahrnehmung aller Details“[7]) ist Voraussetzung dafür, die wichtigen Informationen zu erkennen; ein gutes Gedächtnis ist hilfreich, um die gesammelten Informationen verknüpfen zu können. Scharfsinniges und konsequentes Denken ermöglicht es dem Kriminalisten, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der Fantasie. Kriminelle sind in der Regel nicht Menschen, die ihre Taten aufgrund logischer Überlegungen und klarer Planung begehen. Nur wer die Begabung hat, sich das nicht Naheliegende vorzustellen, wird sich eher in die Denkweise der verschiedensten Delinquenten einfühlen und deren Überlegungen nachvollziehen können. Insbesondere wenn es um die Entwicklung von Hypothesen geht, ist mangelnde Fantasie kaum (oder höchstens durch sehr viel Erfahrung) zu kompensieren.

Immer wichtiger wird in der kriminalistischen Arbeit die ganz bodenständige Ausdauer und Hartnäckigkeit. Wer komplizierte Wirtschaftsstraffälle lösen oder Deliktsserien von organisierten Banden aufklären will, der braucht Ausdauer, Entschlossenheit und Geduld. Zunehmend wird nicht das Fehlen von Daten, sondern deren zu große Fülle zum Problem. Werden die Schriftsachen von Wirtschaftskriminellen beschlagnahmt, dann handelt es sich oft um mehrere hundert schlecht organisierte Ordner; dazu kommen häufig elektronische Daten im Terabyte-Bereich. Die Schwierigkeit ist dann nicht, dass sich die wesentlichen Akten nicht darunter befinden, sondern nur, wie diese zu finden sind. Sind die Taten einer aus fünf Mitgliedern bestehenden Diebesbande aufzuklären, dann spielt oft der Kommunikationsverkehr mit den Mobiltelefonen oder Smartphones eine entscheidende Rolle. Wenn aber jeder der Beschuldigten (wie man es heute oft antrifft) mehrere tausend Kurznachrichten (die klassischen SMS sind heute zunehmend von WhatsApp, SIMSme, Telegram, Signal, Wire, Viber, Snapchat oder Threema abgelöst worden) auf seinem Handy gespeichert hat, dann lässt sich nur noch mit elektronischen Analysetools herausfinden, welche Gespräche die entscheidenden sind, um Absprachen über Einbrüche und den Kommunikationsverkehr während der einzelnen Straftat nachzuvollziehen. Machen dann die fünf Verdächtigen zu jedem der ihnen vorgeworfenen Einbrüche noch abweichende Aussagen, dann wird es schwierig, jederzeit den Überblick über die aktuell gerade vorhandene Beweislage zu behalten, wenn man sich die Arbeit nicht gut organisiert und strukturiert.

Es gilt also, eine Vielzahl von Daten so gründlich wie möglich auszuwerten, mit Geduld zahlreiche Vernehmungen von Beschuldigten durchzuführen und die Ergebnisse laufend so miteinander zu verknüpfen, dass erkennbar ist, wo die Beweisführung noch Lücken hat. Das ist per se weder besonders spannend noch sehr befriedigend, sondern vor allem mit viel Anstrengung verbunden: Kriminalistische Arbeit besteht häufig aus einem kleinen Teil Kriminalistik und einem überwiegenden Teil Arbeit.

Unvoreingenommenheit ist eine weitere, wichtige Eigenschaft, die sich nicht nur aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Unschuldsvermutung ableitet. Sie hilft, den Blick für andere Erklärungen nicht zu verstellen und verhindert, auch und insbesondere bei Vernehmungen (in der Schweiz: Einvernahmen), eine selektive Wahrnehmung. Der Kriminalist Ernst Gennat, der die Arbeit der Berliner Kriminalpolizei in den 20er Jahren revolutionierte, war bekannt dafür, dass er niemals dem ersten Eindruck traute, sondern sich stets alle möglichen Varianten offen hielt.[8] Einer seiner Leitsätze war zudem „Unsere Waffen sind Gehirn und Nerven.“[9]

Die Fähigkeit zur Selbstkritik ist, weil es oft um Spekulationen geht, unumgänglich. Wer die erarbeiteten Beweisergebnisse nicht laufend selbstkritisch hinterfragt, wer nicht in der Lage ist, die Schwächen der Beweisführung zu erkennen, der hat schon verloren: Weil der Beschuldigte weiß, was gewesen ist, wird er die meisten materiellen Fehler der Beweisführung sofort erkennen. Sein Verteidiger wird, je perfekter die Beweisführung in der Sache ist, desto mehr darauf achten, ob in der Untersuchung prozessuale Fehler gemacht wurden. Die Rüge solcher Fehler ist dann die einzige Möglichkeit, trotz materiell klarem Beweisergebnis doch noch etwas für seinen Klienten herauszuholen. Die vielen Juristen und Kriminalbeamten angeborene Sturheit (die in diesem Berufsfeld unumgänglich ist), verbunden mit der nötigen Dosis Ehrgeiz, führt nur dann zum Erfolg, wenn sie nicht in der Unfähigkeit mündet, eigene Zwischenergebnisse kritisch zu hinterfragen und notfalls wieder zu verwerfen.

Zum guten Kriminalisten gehört auch der Wille, seine Fähigkeiten und sein Wissen nur im Interesse des Rechts einzusetzen. Ziel seiner Arbeit ist es nicht, jeden Verdächtigen mit allen Mitteln einer Verurteilung zuzuführen, sondern die Schuldigen von den Unschuldigen in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu unterscheiden. Auf diesem Weg darf der Pfad des rechtlich Zulässigen nie verlassen werden: Wer als Strafverfolger die Einhaltung der Gesetze einfordert und Verstöße dagegen ahndet oder einer Ahndung zuführt, der darf sich selbst nicht über die Rahmenbedingungen hinwegsetzen, die ihm der Gesetzgeber für sein eigenes Handeln vorgegeben hat.

Das mag bisweilen ärgerlich sein, weil der Hochseilakt des Gesetzgebers, den Ausgleich zwischen staatlichem Strafverfolgungsinteresse und persönlicher Freiheit des Bürgers zu finden, nicht immer gelingt. Wer aber meint, er könne im Interesse der Wahrheitsfindung abwägen, ob die Einhaltung gewisser strafprozessualer Vorschriften im konkreten Fall angebracht sei oder nicht, der betreibt nicht Strafverfolgung, sondern Inquisition, und sollte sich deshalb einen anderen Beruf suchen. „Justice should not only be done, but should manifestly and undoubtedly be seen to be done“ (Lord Hewart Gordon).[10] Auch der hartnäckige Gewohnheitsdelinquent wird möglicherweise einen Funken Einsicht zeigen, wenn er in einem korrekten Verfahren überführt wurde; zumindest wird er aber einen gewissen Respekt vor den Personen haben, die zu seiner Verurteilung beigetragen haben. Beruht der Schuldspruch dagegen auf unerlaubten Tricks in der Untersuchung, etwa der falschen (und nicht nachvollziehbaren, weil nicht protokollierten) Behauptung des Ermittlers, der Mittäter habe gestanden oder es sei am Tatort eine DNA-Spur des Verdächtigen gefunden worden, dann wird auch der überführte Schuldige am Schluss kaum das Gefühl haben, eigentlich geschehe ihm Recht.

Von dieser Regel gibt es kaum je Ausnahmen. Immerhin: Ein mutmaßlicher Kokainkurier war einerseits von seinen Lieferanten, anderseits aber auch vom Abnehmer belastet worden, eine Kokainlieferung von Zürich nach Bregenz ausgeführt zu haben. Die Fahrt ließ sich anhand eines Einreisestempels im Reisepass, aber auch aufgrund der Hotelkontrolle in Bregenz nachvollziehen, und die Aussagen der Belastungspersonen waren damit objektiviert. Der Kurier hatte einen mutmaßlichen Komplizen, dessen Rolle beim fraglichen Transport allerdings nie geklärt werden konnte, weil beide Beteiligten dazu keine Aussagen machten. Nachdem das Urteil (drei Jahre Freiheitsstrafe) verkündet worden war, sagte der Verurteilte bei der Verabschiedung im Vorraum des Gerichtssaals zu Thomas Hansjakob: „Herr Staatsanwalt, verdient habe ich es ja schon, aber nicht dafür …“ Später stellte sich heraus, dass das Kokain dem Kurier vom Komplizen „untergejubelt“ worden war und dass er erst nach der Zollkontrolle erfahren hatte, was sich im Kofferraum seines Autos befunden hatte.

Waldemar Burghard hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Intellektuelle Redlichkeit“ geprägt, zu dem seiner Ansicht nach Gründlichkeit, Exaktheit, Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein gehören.[11]

Folgendes Akronym beschreibt die Fähigkeiten, die ein Kriminalist haben sollte, ebenfalls kurz und anschaulich: 4xKI, was man sich auch mit „4mal kriminalistische Intelligenz“ schnell merken kann. Die vier „K“ stehen für kompetent, kooperativ, konsequent und kreativ, die 4 „I“ für intelligent, idealistisch, innovativ und integer.

Schließlich wäre es wünschenswert, wenn der Kriminalist menschlich wäre und es in jeder Lage auch bliebe. Wenn er schon im Namen der strafenden Gerechtigkeit handelt, dann sollte er auch versuchen, Vorbild zu sein. Menschlicher Umgang gewinnt vor allem dann große praktische Bedeutung, wenn es gilt, in einer Vernehmung brauchbare Informationen zu erhalten. Einem distanzierten und kühlen Taktiker wird sich der Täter selten öffnen. Nur wenn der Beschuldigte sich ein gewisses menschliches Verständnis erhoffen darf, wird er auch bereit sein, sich in die Abgründe seiner Seele schauen zu lassen.

Kurzum, der Kriminalist sollte also ein Übermensch sein, der bereit ist, alle seine Fähigkeiten für ein bescheidenes Gehalt notfalls rund um die Uhr im Interesse des Rechts zur Verfügung zu stellen. Er sollte für den Beruf „brennen“, seine Aufgabe jedenfalls nicht nur als Job betrachten. Kriminalist zu sein, ist schon auch Berufung. Der frühere Präsident des deutschen Bundeskriminalamts (BKA) Jörg Ziercke hat am 26.2.2004 anlässlich seiner Amtseinführung gesagt: „Entscheidend ist, dass das innere Feuer des Kriminalisten nicht erlöschen darf, dieser Hang zum Detektivischen, zum streng logischen Denken, zum Analytischen wie zum kreativen Kombinieren.“

Als alte Kriminalistenweisheit gilt auch der folgende Satz: „Eine Straftat klärt man nicht im Büro auf.“ Ein Ermittler muss rausgehen, sich (vor Ort) ein eigenes Bild machen, mit Leuten reden, aufmerksam zuhören, mit allen Sinnen wahrnehmen. Nun wird behauptet, dass sich die Ermittlungskultur verändere – vom „Bärenführer“ zum „Dataminer“.[12] Die E-Mail-Kommunikation und auch die von Vorgesetzten erwartete, schnelle Reaktion binde die Präsenz an das eigene Büro.[13] Dem ist entgegenzuhalten, dass moderne Kommunikationsmittel heutzutage nicht mehr an das Büro binden. Gleichwohl sind Ermittler auf viele Ergebnisse angewiesen, die heutzutage im Rahmen von Auswertungen und Analysen bzw. Untersuchungen und Begutachtungen in Büros und Labors erfolgen.

Es wird immer wieder gesagt, dass Kriminalist ein Erfahrungsberuf sei, was bedeuten müsste, dass ein altgedienter Ermittler einem kriminalistischen Novizen stets überlegen ist. Dennoch kann der Berufsanfänger ebenso erfolgreich sein, wenn er die Grundregeln des kriminalistischen Denkens beherzigt und gleichermaßen systematisch wie phantasievoll vorgeht. Umgekehrt kann der einseitig Erfahrene Scheuklappen entwickeln, die ihm den Weg zur Falllösung versperren.

Ein großes Problem ist der Wissensverlust, der mit der Pensionierung, oft auch mit einem Funktionswechsel einhergeht. Bisher scheint es kein geeignetes Instrument zu geben, dieses Wissen angemessen aufzubereiten und zielgruppenspezifisch vorzuhalten. Aktives Wissensmanagement ist hier gefordert. Dass fehlende personelle Kontinuität in den Ermittlungsbereichen mit der Gefahr des Wissensverlustes einhergeht, hat auch schon der sog. NSU-Untersuchungsausschuss in seinem Abschlussbericht kritisiert.[14]

Einige Merksätze:

Kriminalistisches Denken ist die Fähigkeit, mit möglichst wenig Aufwand und zielgerichtet in Verdachtsfällen abzuklären und zu beweisen, ob eine Straftat geschehen und wer dafür verantwortlich ist. Das Wissen darum, was kriminalistisches Denken umfasst, erleichtert die systematische und erfolgreiche Aufklärung von komplizierten Straftaten.

Gute Kriminalisten haben solide Kenntnisse im Straf- und Strafprozessrecht, die sie befähigen, zu erkennen, was im konkreten Fall zu beweisen ist, und diese Beweise nach den prozessualen Regeln so zu erheben, dass sie im Strafverfahren verwertbar sind. Sie haben ein gutes Gedächtnis und besitzen Fantasie sowie die Fähigkeit zur Selbstkritik, um Hypothesen bilden und allenfalls auch verwerfen zu können. Sie arbeiten hartnäckig und zielgerichtet. Ihr Wissen setzen sie nur im Interesse des Rechts ein.

Eine Straftat klärt man nicht am Schreibtisch auf.

Gute Kriminalisten besitzen 4 x KI und brennen für ihren Beruf.

II.Die kriminalistische Aufgabe

1.Allgemeine Überlegungen

Kriminalistisches Arbeiten ist Wahrheitserforschung. Blaise Pascal hat vor mehr als 300 Jahren geschrieben: „Man kann bei der Erforschung der Wahrheit drei hauptsächliche Aufgaben haben: erstens, die Wahrheit zu entdecken, wenn man sie sucht, dann sie zu beweisen, wenn man sie besitzt, und schließlich, sie vom Falschen zu sondern, wenn man sie prüft.“[15] Auch die Aufgabe des Kriminalisten hat zunächst die gleiche Struktur: Sie besteht darin,

Straftaten zu erkennen oder den Verdacht auf das Vorliegen einer Straftat zu begründen, also für alle Verbrechenselemente Hinweise zu suchen und Hypothesen über Tatverlauf und Täterschaft zu entwickeln,

die betreffenden Beweise in einwandfreier und rechtsstaatlicher Weise zu erheben und

die Beweise kritisch zu prüfen oder eben zu zeigen, dass die für eine Überführung der beschuldigten Person notwendigen Voraussetzungen im gegebenen Fall nicht oder nicht vollständig erfüllt sind.

Der Kriminalist will – kurz gesprochen – gerichtsfest herausfinden, was tatsächlich passiert ist. Allerdings stellt sich schon hier die Frage,

ob die Wahrheit immer vollständig ermittelbar ist, und

ob es überhaupt eine absolute Wahrheit geben kann oder ob es nicht oftmals viele subjektive Wahrheiten gibt.

Nach Henriette Haas hat der Wahrheitsbegriff in seiner Absolutheit im kriminalistischen Denken ohnehin nichts zu suchen.[16] Die Ersetzung durch „qualifizierten Glauben“ hält sie für ungeeignet und schlägt stattdessen „Validität“ vor[17], was im Zusammenhang mit Aussagequalität vernünftig erscheint.

Allen ist klar, dass es Fälle gibt, in denen nicht die gesamte Wahrheit ans Tageslicht befördert werden kann. Neben tatsächlichen Grenzen (ein wichtiger Zeuge verstirbt und kann nicht mehr befragt werden) gibt es auch rechtliche Beschränkungen (ein Beschuldigter darf zurecht die Aussage verweigern).

Und auch sonst ist es mit der „absoluten Wahrheit“ so eine Sache. Dass da fünf Personen gestanden haben, werden wohl alle (?) Zeugen gleichermaßen gesehen haben und bestätigen können, aber wie warm oder kalt es war, oder welche Farbe das Fluchtauto hatte, kann schon sehr unterschiedlich wahrgenommen und für wahr gehalten werden. Wir müssen hier zwischen der Bezeichnung (ein roter Sportwagen – in der Grafik ein grauer Sportwagen) und dem Bezeichneten (was es tatsächlich ist) unterscheiden. Die Bezeichnung (das, was wir daraus machen) ist die Wirklichkeit, das Bezeichnete (das, was es tatsächlich ist) entspricht der Realität. Nur die Realität führt zur Wahrheit, die Wirklichkeit hingegen führt nur zur Gewissheit. Insoweit muss uns klar sein, dass wir in manchen, vielleicht sogar in den meisten Fällen, maximal die Gewissheit erreichen können. („Es gibt keinen Zugang zur Objektivität“ (Sokrates).[18]Ferdinand von Schirach, ehemals praktizierender Strafverteidigter, beschreibt in seinem Roman TABU auf eindrückliche Weise, dass Wahrheit und Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge sind, so wie auch Recht und Moral. Gute Kriminalisten wissen um diese Differenzierung.

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Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was ist das Ziel des Strafprozesses?[19] Zum einen geht es sicherlich auch darum, die Wahrheit herauszufinden. Man sollte hier aber besser von der forensischen Wahrheit (oder Akten-Wahrheit bzw. Prozess-Wahrheit[20]) sprechen, weil auch ein Gericht beschränkt ist. Aber das eigentliche Ziel ist ein gerechtes Urteil oder Gerechtigkeit. Der unschuldig Angeklagte soll freigesprochen, der zurecht Angeklagte schuldangemessen verurteilt werden.

Wo liegt die Besonderheit der Wahrheitserforschung im Strafprozess? Es geht um die Beschaffung der Grundlagen für die Entscheidung darüber, ob die beschuldigte Person wegen einer bestimmten Straftat anzuklagen und dann zu verurteilen oder ob das Verfahren einzustellen ist.

Diese Entscheidung ist nur möglich, wenn die Beweisführung alle Merkmale der fraglichen Straftat umfasst, also sämtliche objektiven und subjektiven Tatbestandselemente sowie die zeitliche und örtliche Einordnung der Tat. Damit es zu einer Verurteilung kommt, müssen wirklich alle diese Elemente bewiesen sein; bleibt nur ein einziges Tatbestandselement unbewiesen, dann muss das Verfahren eingestellt oder die beschuldigte Person freigesprochen werden.

Es ist trotzdem nicht die gesamte sich aus einem Lebenssachverhalt ergebende materielle Wahrheit zu beweisen: Nicht alle Umstände einer menschlichen Handlung spielen bei der strafrechtlichen Beurteilung eine Rolle, sondern eben nur diejenigen, die in rechtlicher Hinsicht in Bezug auf einen bestimmten Straftatbestand relevant sind. Die Beweisführung muss allerdings in heiklen Fällen vorerst oft sehr breit angelegt werden, um den Tatablauf rekonstruieren und den Täter überführen zu können. Dieses umfassende Datenmaterial kann aber zum Schluss wieder reduziert werden auf die Umstände, die für die strafrechtliche Beurteilung relevant sind.

Wie alt das Opfer einer sexuellen Handlung mit Kindern ist, lässt sich in der Regel auf den Tag genau bestimmen. Für den Schuldspruch genügt aber zunächst nur die zweifelsfreie Feststellung, dass das Kind über oder unter dem gesetzlichen Schutzalter ist (was z.B. eine Rolle spielen kann, wenn es sich um ein Flüchtlingskind handelt, dessen Geburtsdatum nicht zweifelsfrei feststeht). Erst bei der Strafzumessung spielt dann das ungefähre Alter (unter dem Titel des Unrechtsgehaltes der Tat) wieder eine Rolle.

Auf die Augenfarbe des Täters kommt es bei der rechtlichen Einordnung der Tat überhaupt nicht an; sie kann allerdings als Hilfstatsache bei der Beweiswürdigung, etwa der Aussage eines Zeugen, von zentraler Bedeutung sein.

Die Möglichkeiten der Beweisführung werden durch zahlreiche formelle Regeln einschränkt.[21] Der Beschuldigte muss zu seiner Überführung überhaupt nichts beitragen, und das muss ihm auch zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens klar sein. Die Angaben des Beschuldigten, die er ohne die Kenntnis seines Rechts zur Verweigerung der Aussage zu Protokoll gab, können noch so zutreffend sein, sie sind trotzdem nicht verwertbar. Die Ergebnisse einer nicht richterlich bewilligten Telefonüberwachung könnten zwar eine Straftat allenfalls eindeutig beweisen, müssen aber trotzdem aus den Akten entfernt werden.

Zusammenfassend geht es also darum, in einem Strafverfahren alle Beweise zu erheben, die zum Nachweis aller Tatbestandselemente einer Straftat erforderlich sind. Diese Beweise müssen in der dafür vorgesehenen gesetzlichen Form erhoben werden. Dadurch unterscheidet sich die kriminalistische Methode der Wahrheitsfindung von der naturwissenschaftlichen.

Das Gericht stellt im Ergebnis die forensische Wahrheit fest, die übrigens von der tatsächlichen durchaus abweichen kann. Und dass die forensische Wahrheit manchmal sogar falsch ist, sieht man an Fehlurteilen, die es (leider) trotz der redlichen Bemühungen aller Prozessbeteiligten immer wieder auch gegeben hat und wohl auch zukünftig geben wird. Ein gerechtes Urteil kann schließlich auch auf der halben Wahrheit beruhen. Und das mag am Ende etwas tröstlich sein. Selbst, wenn die gesamte Wahrheit nicht ans Licht kommt, kann es zum Schluss trotzdem Gerechtigkeit geben. Was gerecht ist, soll an dieser Stelle aber nicht weiter erörtert werden. Vor Gericht und auf hoher See ist man bekanntlich in Gottes Hand.

2.Der Umfang der Beweisführung

Welcher Ausschnitt der Wirklichkeit ist nun also zu analysieren und zu beweisen, wenn es darum geht, ein mögliches Verbrechen aufzuklären und den Täter einem gerechten Urteil zuzuführen? Oder mit den Worten von Jürg-Beat Ackermann gesagt: „Welches materiellrechtliche Programm hat der Strafverfolger [im engeren Sinne] abzuarbeiten, um dieses Ziel zu erreichen?“[22]

In der Kriminalistik allgemein bekannt sind in diesem Zusammenhang die sieben goldenen „W“[23] , die es festzustellen gilt: WER (Täter) hat WAS (Tat), WANN (Tatzeit), WO (Tatort), WIE (Modus Operandi), WOMIT (Tatmittel), WARUM (Motiv) getan? Dabei gibt es noch ein achtes goldenes „W“, das allerdings grundsätzlich unterschlagen wird, obwohl es das wichtigste von allen ist: WIE KANN ICH DAS BEWEISEN? Eine besondere Bedeutung kommt natürlich dem WER zu, also der Suche nach dem Täter und dessen Überführung. Hierzu ist eine Gleichung bekannt, die – wenn denn zwei Variablen herausgefunden werden – oftmals zum Täter führt: HOW plus WHY equals WHO.[24]

Csaba Fenyvesi macht die sieben „W“ zur Basis eines dreistufigen Pyramidenmodells der Kriminalistik.[25] Allerdings fehlt das „womit“, dafür steht ein „mit wem“, was nicht überzeugt („mit wem“ gehört zu bzw. ist Teil von „wer“). Die weiteren Stufen sind die Mittel (Spuren, materielle Rückstände und Aussagen) sowie als Spitze der Pyramide das Ziel, die Identifizierung; das Modell soll hier nicht weiter erörtert werden.

Ausgehend von der heute herrschenden Dogmatik der Verbrechenslehre,[26] welche zwischen Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld unterscheidet, können acht Einzelfragen unterschieden werden, nämlich:

1.

Liegt ein Sachverhalt vor, der den objektiven Tatbestand einer Strafbestimmung erfüllt?

2.

Wer hat sich so verhalten, wer ist also der Täter (und wie kann er der Strafverfolgung zugeführt werden)?

3.

Wann und wo hat der Täter gehandelt bzw. wann und wo ist der Erfolg eingetreten?

4.

Hat der Verdächtige auch den entsprechenden subjektiven Tatbestand erfüllt? Hat der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt und sind die zusätzlich erforderlichen subjektiven Merkmale (z.B. Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht) gegeben?

5.

Ist das Verhalten des Verdächtigen rechtswidrig oder kommen Rechtfertigungsgründe in Frage (z.B. Notwehr)?

6.

Handelte der Verdächtige schuldhaft oder liegen Schuldausschließungsgründe (z.B. Schuldunfähigkeit) vor?

7.

Sind strafzumessungsrelevante Umstände strafschärfend bzw. straferhöhend oder strafmildernd bzw. strafmindernd zu berücksichtigen?

8.

Sind die weiteren Voraussetzungen der Strafbarkeit erfüllt (objektive Strafbarkeitsbedingungen, keine Verjährung)? Sind auch die Prozessvoraussetzungen (z.B. Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten) gegeben?

Inhalt der kriminalistischen Aufgabe ist es, diese acht Fragen zu beantworten, indem über jeden rechtlich relevanten Umstand innerhalb jeder dieser Fragen Beweis geführt wird. Die Schwierigkeiten liegen in der Regel bei der Beantwortung der Kategorien 1 bis 4 (Wer hat wann und wo die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt?). Frage 5 und 8 (Rechtswidrigkeit und weitere Voraussetzungen der Strafbarkeit) dürfen nicht vergessen werden; man sollte sie allerdings schon zu Beginn des Verfahrens kurz prüfen und kann sie meist leicht beantworten. Die Beschaffung der Informationen, die zur Kategorie 6 und 7 gehören (Schuld und Strafzumessung), ist in der Regel Routine, ihre Bewertung und Gewichtung kann allerdings höchst strittig sein. Die Frage, wie die konkrete Tatschuld zu gewichten ist und zu welcher Strafe sie führt, ist im Grunde genommen ungelöst. Es gibt zwar Strafzumessungsrichtlinien und natürlich eine reiche Gerichtspraxis dazu, letztlich lässt sich aber die Frage, welche Strafe für eine konkrete Straftat angemessen sei, nicht wissenschaftlich exakt beantworten. Das heißt aber nicht, dass man die Beweisführung zu den strafzumessungsrelevanten Umständen vernachlässigen kann; je breiter und seriöser die tatsächliche Basis für den Entscheid des Gerichts ist, desto berechenbarer wird dieser Entscheid trotz aller Unsicherheiten.

Das Problem, die „richtige“ Strafe zu finden, hat sich in den letzten Jahren verschärft, weil sich der Katalog von Sanktionen und Maßnahmen, mit denen auf eine Straftat reagiert werden kann, erheblich erweitert hat. Das geschah im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit und aus spezialpräventiven Gründen, macht aber die Strafzumessung nicht einfacher. In der Schweiz gilt das zuletzt mit Wirkung zum 1. Januar 2018 revidierte Sanktionenrecht; es enthält die folgenden Grundstrafen:

-

die (unbedingte) Busse (dt. Buße);

-

die (unbedingte oder bedingte) Geldstrafe;

-

die (unbedingte, teilbedingte oder bedingte) Freiheitsstrafe.

Diese Strafen können allerdings auch miteinander kombiniert werden, sodass es zusätzlich folgende Variationen gibt:

-

bedingte mit unbedingter Freiheitsstrafe;

-

bedingte Freiheitsstrafe mit unbedingter Geldstrafe;

-

bedingte Freiheitsstrafe mit unbedingter Busse;

-

bedingte Geldstrafe mit Busse;

Neben diesen Strafen ist auch die Anordnung von ambulanten oder stationären Maßnahmen (Art. 56 ff. CH StGB) möglich; in diesen Fällen wird die unbedingt ausgesprochene Strafe zugunsten der Maßnahme aufgeschoben.

In Deutschland existiert neben der Freiheitsstrafe (§ 38 dt StGB) die Geldstrafe (§ 40 dt StGB), welche auch neben der Freiheitsstrafe angeordnet werden kann (§ 41 dt StGB). Die vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2002 für verfassungswidrig erklärte Vermögensstrafe – seither auch nicht mehr angewandt – wurde im Jahr 2017 aufgehoben.[27] Die Strafaussetzung zur Bewährung kennt das deutsche Recht grundsätzlich nur für Freiheitsstrafen von nicht mehr als einem Jahr, unter besonderen Umständen bis zu max. zwei Jahren (§ 56 dt StGB). Zudem können vergleichbar dem schweizerischen Maßnahmenrecht freiheitsentziehende Maßregeln nach §§ 63 ff. dt StGB angeordnet werden.

Im besten Fall lassen sich alle relevanten Umstände der Kategorien 1 bis 6 beweisen und der Verurteilung stehen keine Umstände der Kategorie 8 entgegen (dann kann der Beschuldigte – in Deutschland mit Beginn der Hauptverhandlung: der Angeklagte – verurteilt werden) oder es lässt sich zeigen, dass einer oder mehrere Umstände dieser Kategorien nicht erfüllt sind (dann ist der Beschuldigte freizusprechen). Im ungünstigeren Fall lässt sich nicht entscheiden, ob gewisse Umstände erfüllt sind. In diesem Fall ist der Beschuldigte in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo freizusprechen; es bestehen aber weiterhin Zweifel an der Täterschaft. Dem Dogmatiker oder dem Verteidiger kann das egal sein: Wichtig ist, dass kein Schuldspruch gegen einen nicht zweifelsfrei Schuldigen ergeht. Der Beschuldigte hat aber oft ein naheliegendes Interesse, dass die Untersuchung weitergeführt wird, bis seine Unschuld zweifelsfrei feststeht. Das ist aber eigentlich nicht die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden.

Im weiteren Sinne geht es darum, auch den Tathergang zu beweisen. Hierzu gehören Vortat-, Haupttat- und Nachtatphase. Die Ermittlung des Täters gelingt in manchen Fällen nicht über die Haupttatphase, sondern vielmehr über die Vortat- oder die Nachtatphase, weil der Täter in der Haupttatphase oftmals besondere Vorsicht walten (z.B. Maskierung), in den anderen beiden Phasen hingegen Spuren hinterlässt. So fanden sich schon in einer Bibliothek in einem Nachschlagewerk Fingerabdrücke des Täters, die dieser in Vorbereitung des Verbrechens bei der Recherche nach einem potentiellen Entführungsopfer hinterlassen hatte. Andere Täter haben sich im Zuge der Beuteverwertung verraten, als sie die gestohlenen Waren in Leihhäusern anboten.

In diesem Zusammenhang hat sich das sog. Beweisgebäude bewährt.

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Die Säulen bestehen aus den Personen- und den Sachbeweisen. Das Erdgeschoss, das bewiesen werden soll, ist der objektive und subjektive Tatbestand. Der 1. Stock besteht aus dem Tathergang (Vortat-, Haupttat-, Nachtatphase), und das Dachgeschoss bildet die Täterschaft. Dadurch wird auch noch einmal deutlich, dass der Nachweis der Täterschaft ohne Tatbeweis sinnlos ist. Idealerweise ergänzen sich Sach- und Personenbeweise, d.h. zu jedem Sachbeweis gibt es einen korrespondierenden Personenbeweis und umgekehrt. So stützen sich die Beweise gegenseitig. Letztlich geht es darum, das Beweisgebäude so stabil zu bauen und beide Säulen sich gegenseitig stützen zu lassen, dass das Gebäude dem Gerichtsverfahren standhält. Insbesondere die Personenbeweise (Urteile stützen sich einer älteren Untersuchung zufolge zu 95% auf Personenbeweise) dürfen, wenn sie kritisch überprüft oder gar angegriffen werden, nicht gleich in sich zusammenfallen. Wenn das Gebäude an Stabilität verliert oder gar einstürzt, wird es nicht mehr zur Verurteilung kommen (können).

3.Überlegungen zur zu erwartenden Beweislage

Ausgangspunkt jeder Beweisführung ist also die Kenntnis darüber, welche objektiven und subjektiven Tatbestandselemente dem Beschuldigten nachzuweisen sind. Um effizient zu arbeiten, sollte man sich möglichst zu Beginn der Strafuntersuchung eine weitere Frage stellen: Welche dieser Elemente sind besonders schwierig zu beweisen? Nachdem ein Schuldspruch nur erfolgen kann, wenn über sämtliche Tatbestandselemente sauber Beweis geführt worden ist, kann es in komplizierteren Fällen sinnvoll sein, sich vorerst auf diese schwierigen Beweise zu konzentrieren. Zur Beantwortung der Frage nach den Beweisschwierigkeiten ist es hilfreich, wenn der Kriminalist sich vorerst überlegt, mit welcher Art von Delikt er es zu tun hat. Die folgende Unterteilung der Delikte hat zum Ziel, Kategorien zu bilden, welche typischerweise vergleichbare Beweisprobleme beinhalten.

3.1Täter-Opfer-Delikte und Delikte mit beidseitiger Täterschaft

In der Praxis hat man es in vielen Fällen mit den klassischen Delikten zu tun, bei denen dem Täter ein Opfer gegenübersteht. Der Grund für die Strafbarkeit liegt bei diesen Delikten darin, dass die Interessen des Opfers in einer bestimmten Konstellation auch strafrechtlich geschützt werden sollen.

In Bezug auf die Beweisführung zeichnen sich Täter-Opfer-Delikte dadurch aus, dass das Opfer an der Aufklärung der Straftat in der Regel ein Interesse hat. Die Frage ist dann nur noch, inwieweit das Opfer zur Aufklärung der Straftat tatsächlich beitragen kann. Dabei spielt eine wesentliche Rolle, ob das Opfer bei der Tatbegehung direkt anwesend war (wie dies beispielsweise bei der Vergewaltigung der Fall ist) und damit aus unmittelbarer eigener Wahrnehmung weiß, wie sich die Tat abgespielt hat, oder ob das nicht der Fall ist (was in der Regel für Urkundenfälschungen gilt). Bei dieser Konstellation ist wiederum zu unterscheiden, ob das Opfer den Täter kennt oder nicht; selbst wenn es ihn nicht kennt, wird es in der Regel in der Lage sein, den Täter zumindest zu beschreiben.

Dass das Opfer an der Aufklärung der Straftat ein Interesse hat, heißt allerdings noch lange nicht, dass es deshalb eine objektive Schilderung über die Straftat geben wird. Gerade Opfer, die direkt mit dem Täter konfrontiert waren, werden oft bewusst oder unbewusst unter- oder übertreiben, weil sie von der Tat stark betroffen sind.

Unbewusste Verfälschungen können für den Täter belastend oder entlastend sein. Es ist beispielsweise bekannt, dass Opfer von Vergewaltigungen die Dauer der Vergewaltigung oft wesentlich überschätzen, weil es nach ihrer Wahrnehmung ewig dauert, bis der Täter endlich wieder von ihnen ablässt. Es gibt aber auch Verfälschungen in die andere Richtung: Unter dem Stockholmsyndrom etwa versteht man den Umstand, dass Opfer von Entführungen sich mit zunehmender Dauer der Entführung mit ihren Tätern identifizieren, sich ihre Ziele zu Eigen machen. Solche Opfer werden im Nachhinein die Umstände der Entführung wesentlich weniger dramatisch darstellen, als sie es in Wirklichkeit waren.

Bewusste Übertreibungen kommen etwa dann vor, wenn das Opfer davon ausgeht, der Täter werde ohnehin keine gerechte Strafe bekommen. Es dramatisiert deshalb die Tat.

Damit ist zum Beispiel zu rechnen, wenn von einer Personengruppe vorerst sehr bedrohliche verbale Gewalt ausgeht, welcher dann nur geringfügige physische Gewalt folgt. Die Opfer fühlen sich in dieser Situation stark bedroht, ohne dass augenfällige Beweise dieser Bedrohung vorliegen, und werden dies möglicherweise zu kompensieren versuchen, indem sie die physische Gewalt dramatisieren.

Auch bewusste Untertreibungen kommen (allerdings selten) vor, wenn das Opfer die Straftat selbst nicht als so dramatisch empfindet, wie die Gesellschaft sie wertet. Das Opfer wird dann versuchen, den Täter eher zu entlasten und den Ablauf der Tat zu banalisieren.

Bei einer sexuellen Beziehung eines Erwachsenen zu einem Kind nahe am Schutzalter kommt es vor, dass das „Opfer“ sich gar nicht gegen die Zumutungen wehrt; das Gesetz schützt allerdings solche Opfer auch (und zu Recht) gegen ihren Willen.

In besonderem Maß mit Verfälschungen zu rechnen ist, wenn sich Opfer und Täter kennen. Auch dieser Umstand kann sich in beide Richtungen auswirken, wobei oft nicht im Voraus absehbar ist, was eher erwartet werden muss.

Auch in diesem Zusammenhang sind sexuelle Übergriffe besonders heikel: Kinder etwa können einerseits die Tendenz haben, solche Übergriffe zu verharmlosen, weil sie (oft aufgrund einer Androhung des Täters) befürchten, die Familie werde auseinanderfallen, wenn die Sache herauskomme. Auf der anderen Seite besteht auch die Gefahr, dass solche Übergriffe nachträglich dramatisiert werden, damit der Täter der nach Auffassung des Opfers gerechten Strafe zugeführt wird und das Opfer möglichst lange Ruhe vor ihm hat.

Es ist immer auch zu überlegen, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Opfer sich vor dem ihm bekannten Täter fürchtet und insbesondere annimmt, der Täter könnte sich an ihm rächen, wenn die Wahrheit bekannt werde. Solche Konstellationen sind regelmäßig bei kindlichen Opfern von sexuellen Übergriffen, aber beispielsweise auch in kriminellen Milieus zu erwarten.

Bekannt ist zum Beispiel, dass der Nachweis der Zuhälterei (oder Förderung der Prostitution) kaum je zu erbringen ist, indem auf die Aussagen der ausgebeuteten Prostituierten abgestellt wird. Zu groß ist in diesem Milieu die Angst vor Rache, und dieser Angst können Strafverfolgungsbehörden in der Regel wenig entgegensetzen, weil auch sie letztlich die Opfer kaum auf Dauer schützen können, es sei denn, sie verfügen über spezielle Opferschutzprogramme.

Rezepte dafür, wie solche Verfälschungen der Beweisführung erkannt werden, bietet die Lehre von der Beurteilung der Glaubhaftigkeit. Sie hat in den letzten Jahren vor allem die Alltagsweisheit widerlegt, dass es in erster Linie auf die Glaubwürdigkeit der Person (also der Frage, ob eine Person im Allgemeinen die Wahrheit sage oder nicht) ankomme, denn niemand lügt immer, und niemand sagt immer die Wahrheit. Abgestellt wird heute im Wesentlichen auf die Glaubhaftigkeit der einzelnen Aussage, denn nach der Undeutsch-Hypothese (benannt nach dem deutschen Aussagepsychologen Udo Undeutsch) unterscheiden sich wahre und gelogene Aussagen strukturell. Aufgrund bestimmter Kriterien (die später genauer erläutert werden) kann relativ zuverlässig aus der Aussage selbst (und nicht aufgrund der Beurteilung der Person) gesagt werden, ob sie zutreffend sei oder nicht.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass bei Täter-Opfer-Delikten in der Regel das Opfer wesentlichen Aufschluss über die Straftat geben kann und will. Es ist aber zu bedenken, dass zahlreiche Umstände zu einer Verfälschung der Aussagen des Opfers führen können.

Die Delikte mit beidseitiger Täterschaft zeichnen sich dadurch aus, dass sich nicht Täter und Opfer gegenüberstehen, sondern dass an der Tat mehrere Personen beteiligt sind, die sich alle strafbar machen. Das gilt etwa im Drogenhandel, aber auch im Verhältnis zwischen Dieb und Hehler oder zwischen Vermögensdelinquent und Geldwäscher. Die Schwierigkeit bei der Beweisführung in dieser Deliktskategorie liegt darin, dass keiner der direkt an der Tat Beteiligten ein Interesse an deren Aufklärung hat. Der Beweis kann deshalb oft nur über Zeugen (falls überhaupt solche vorhanden sind) oder über Sachbeweise geführt werden.

Kriminalistisch interessant ist allerdings gerade bei dieser Deliktskategorie die Frage, ob es in der konkreten Konstellation einen Täter gibt, der, wenn ihm die Tat nachgewiesen wird, eher bereit sein wird, auch seine Mittäter preiszugeben. Das ist praktisch häufig der Fall, wenn die Tatschwere nicht bei allen Tatbeteiligten die gleiche ist. Dieser Umstand sollte bei der Planung der Beweisführung von Anfang an in Betracht gezogen werden, indem man sich vorerst vor allem darauf konzentriert, denjenigen zu überführen, der weniger schwer delinquiert hat.

Im Drogengeschäft etwa kann häufig beobachtet werden, dass der Produzent, wenn er überführt wird, bereit ist, die Händler zu nennen; auch der erwischte Drogenkurier wird oft ein Interesse daran haben, seinen Auftraggeber preiszugeben. Geldwäscher werden sich vorerst hüten, ihre Auftraggeber zu verraten, weil sie davon ausgehen, dass die Vortat möglicherweise nicht bewiesen werden kann. Ist die Vortat allerdings einmal konkretisiert, dann sind Geldwäscher häufig bereit, darüber umfassend Aufschluss zu geben, weil sie davon ausgehen, dass sie die Verantwortung damit mindestens teilweise auf den Vortäter abschieben können. Ähnliche Mechanismen sind im Bereich der Korruptionsdelikte zu beobachten. Dort sind es in der Regel die aktiv Bestechenden, welche schließlich umfassend aussagen und damit zur Überführung der Bestochenen beitragen, weil sie davon ausgehen, dass sie sich jedenfalls im Gegensatz zum Bestochenen nicht direkt durch die Straftat bereichert haben.

Bei Delikten mit beidseitiger Täterschaft ist immer davon auszugehen, dass die Verdächtigen kollusionsbereit sein werden. Das erschwert auf der einen Seite die Beweisführung, auf der anderen Seite fällt es bei schweren Delikten leichter, die Kollusionsgefahr und damit das Vorliegen eines Haftgrundes zu begründen.

3.2Geplante und spontane Straftaten

Schon zu Beginn der Arbeit an der Aufklärung einer Straftat sollte man sich fragen, ob man es mit einer geplanten oder mit einer spontan begangenen Straftat zu tun hat.

Spontane Straftaten zeichnen sich dadurch aus, dass der Täter im Vorfeld der Straftat Spuren hinterlassen hat. Im Weiteren hat er nicht im Voraus planen können, in welcher Weise er die Spuren der Tat im Nachhinein beseitigen kann. Wer seinen Kontrahenten im Streit spontan tötet, hat vorher nicht darauf geachtet, dass ihn auf dem Weg zum Tatort niemand sieht. Er hat möglicherweise Spuren gelegt, die er nach der Begehung der Tat nicht mehr in kurzer Zeit beseitigen kann. Wenn immer also am Tatort festgestellt wird, dass nach der Tat eiligst Spuren beseitigt wurden, die man auch hätte vermeiden können, dann ist zu erwarten, dass der Täter auch vor der Tatbegehung bereits Spuren gesetzt hat.

Wer dagegen eine Straftat im Vornherein plant, wird Spuren der Tat nur beseitigen müssen, wenn sie nicht von vornherein zu verhindern waren. Er wird auch die Möglichkeit nutzen, falsche Spuren zu legen und sich etwa ein Alibi zu beschaffen.

Zur Prüfung der Frage, ob es sich um eine geplante oder um eine spontane Straftat handelt, ist oft die Überlegung nützlich, ob der Täter nur das getan hat, was für den Erfolg der Straftat wirklich nötig war, oder ob er „überschießend“ handelte (was auf eine spontane Straftat im Affekt hindeutet). Allerdings muss man berücksichtigen, dass es Tätertypen gibt, die (vor allem, wenn sie in Gruppen auftreten) regelmäßig mehr tun, als zum Erreichen des vordergründigen Ziels nötig wäre.

So kommt es bei jugendlichen Räubern nicht selten vor, dass sie auf die Opfer noch dann sinnlose Gewalt ausüben, wenn sie die Beute längst gesichert haben.

Leider gibt es zunehmend Mischformen zwischen geplanten und spontanen Delikten: Hooligans etwa, aber auch andere jugendliche Gewalttäter, ziehen oft mit dem Gedanken los, sich bei Gelegenheit in eine Schlägerei verwickeln zu lassen, ohne dass sie die Auseinandersetzung selbst provozieren. Typisch für eine solche Art der Deliktsbegehung ist, dass sie eher bei Tätergruppen als bei Einzeltätern vorkommt, aber nicht ausschließlich. Gerade Sexualdelinquenten streifen oft umher, um eine Gelegenheit für eine Straftat zu suchen, die sie dann aber nur ausführen, wenn sich die günstige Gelegenheit auch tatsächlich ergibt. Immerhin ist bei solchen Konstellationen damit zu rechnen, dass die Täter zwar versuchen, sich durch geeignete Mittel, etwa durch Maskierung, zu tarnen. Spuren auf dem Weg zum Tatort lassen sich aber doch nicht vermeiden, weil dieser Tatort eben spontan gewählt wird.

Besonders aussagekräftig sind Veränderungen, die der Täter nach der Tat am Tatort vornimmt. Man unterscheidet folgende Phänomene:

Undoing: Der Täter versucht, eine Tat damit ungeschehen zu machen oder zumindest emotional etwas zur Wiedergutmachung zu tun. Man sieht das bisweilen bei Tötungsdelikten: Dem Opfer werden die Hände gefaltet, es wird mit Blumen geschmückt oder zumindest zugedeckt. Das deutet darauf hin, dass das Opfer für den Täter von besonderer Bedeutung war und dass man deshalb von einer längeren Beziehung von Opfer und Täter ausgehen kann. Es kann auch darauf hindeuten, dass die Tat ungeplant eskaliert ist.

Staging: Der Täter inszeniert nachträglich den Tatort, um von einer dem Opfer nahestehenden Person abzulenken. Diese Form der Tatortveränderung ist allerdings in der Regel schwer zu erkennen. Sie deutet auf eine geplante Tat hin.

Posing: Der Täter legt sein Opfer in einer entwürdigenden Art und Weise ab, was auf eine besondere Form der psychischen Störung des Täters hinweist.

Depersonalisierung: Der Täter verdrängt die Opferidentität, indem er beispielsweise das Gesicht des Opfers abdeckt. Das kann verschiedene Ursachen haben: Möglicherweise will sich der Täter eine Projektionsfläche für seine Fantasie schaffen, vielleicht kennt er aber das Opfer im Gegenteil sehr gut und versucht, dies durch Depersonalisierung zu überspielen.

Die Unterscheidung zwischen spontanen und geplanten Straftaten lässt auch Rückschlüsse auf den Tätertyp zu: So geht etwa Thomas Knecht davon aus, dass planende Mörder eher gebildet, intelligent und sozial integriert sind und einen bestimmten Opfertyp bevorzugen. Sie planen die Art, wie sie die Opfer in ihre Gewalt bringen, und beseitigen die Leiche sorgfältig, sodass der Leichenfundort nicht dem Tatort entspricht. Dagegen weisen desorganisierte Mörder einen eher niedrigen IQ auf und sind sozial schlecht integriert. Ihre Opferauswahl ist willkürlich, sie setzen das Opfer spontaner Gewalt aus, sodass der Tat- und Fundort ungeordnet und verwüstet ist. Es gibt allerdings auch Mischformen dieser beiden Tätertypen.

3.3Straftaten zur Erzielung von Gewinnen und zur Vermeidung von Verlusten

Untersuchungen von Amos Tversky und Daniel Kahneman zeigen, dass das Risikoverhalten von Menschen sich in Situationen, in denen es um die Realisierung von Gewinnen geht, vom Verhalten in Situationen unterscheidet, bei denen Verluste vermieden werden sollen. Tversky/Kahneman zeigen das an folgendem Experiment:[28]

Wenn Sie die Wahl zwischen den Optionen (1) sicherer Gewinn von € 240,–, (2) eine Chance von 25% auf einen Gewinn von € 1.000, – und eine Chance von 75%, nichts zu gewinnen, welche würden Sie wählen? 84% der Versuchspersonen wählten den sicheren Gewinn, obwohl bei der Wahl der unsicheren Variante der durchschnittliche Gewinn höher gewesen wäre.

Wenn Sie aber die Wahl haben zwischen den Optionen (1) sicherer Verlust von € 750–-, (2) eine Chance von 75%, € 1.000, – zu verlieren und eine Chance von 25%, nichts zu verlieren, welche würden Sie nun wählen? Interessanterweise entscheiden sich 87% der Versuchspersonen hier für die zweite, riskantere Variante.

Menschen sind also offenbar risikogeneigter, wenn es um die Vermeidung von Verlusten geht, als wenn die Realisierung von Gewinnen winkt. Das Ergebnis des Experimentes leuchtet ein, weil es für die meisten Menschen nachvollziehbar ist. Für die kriminalistische Praxis würde dies aber bedeuten: Wer ein Delikt begeht, um einen Gewinn zu realisieren, der wird weniger hohe Risiken eingehen als derjenige, der ein Delikt begeht, um einen Verlust zu vermeiden. Es wäre also zu erwarten, dass im ersten Fall weniger Spuren hinterlassen werden, im zweiten Fall dagegen mehr. Thomas Hansjakobs Erfahrung im Bereich von Vermögensdelikten bestätigt diese Vermutung: Wer beispielsweise zur Steigerung seiner Gewinne im Rahmen seiner Berufstätigkeit als Vermögensverwalter Geldwäscherei betreibt, wird dies vorsichtiger tun als derjenige, der sich auf Geldwäscherei einlässt, weil seine legalen Geschäfte schlecht laufen und er auf diese Weise seine Gesellschaft retten will.

4.Überlegungen zur Methode der Beweisführung

4.1Heuristik und Algorithmen

Die Frage, wie man methodisch richtig vorgehen sollte, um die Lösung einer Aufgabe zu finden, ist uralt. Überlegungen dazu findet man bereits bei Euklid, dem Verfasser der berühmten „Elemente“ (Geometrie), bei Apollonius aus Perga, bei Aristäus dem Älteren und Papus Alexandrinus. In neuerer Zeit waren es vor allem Descartes, Leibniz und Bolzano, die sich mit der Methode des Findens von Lösungen auseinandergesetzt haben. Besonders Letzterer hat sich in seinem Werk „Wissenschaftslehre“ der „Erfindungskunst“ (der Kunst, neue Wahrheiten aufzufinden) gewidmet. In jüngster Zeit haben George Polya[29] und Johannes Müller[30] nach Wegen gesucht, mit guten Problemlösungsstrategien rascher zu Ergebnissen zu kommen.

Es wird dabei zwischen zwei Lösungstypen unterschieden, zwischen Heuristiken und Algorithmen. Heuristische Methoden versuchen, die Komplexität eines Problems zu reduzieren, um mit weniger Aufwand zur Lösung zu kommen. Algorithmische Lösungswege suchen Handlungsanweisungen, um in endlich vielen Schritten zur eindeutigen Lösung eines Problems zu kommen. Heuristisches Vorgehen führt nur möglicherweise zu einer Lösung, ein Algorithmus dagegen sicher. Allerdings können komplexe Alltagsprobleme kaum algorithmisch gelöst werden, weil sie sich gar nicht vollständig beschreiben lassen. Kriminalistik ist deshalb vorerst heuristisch, und es sind vor allem die kriminaltaktischen Werke, welche die entsprechenden Regeln angehen.

Um Straftaten umfassend zu erkennen und aufzudecken, sind vorerst alle Tatsachen bedeutsam, die mit einer möglichen Straftat zusammenhängen und einen Hinweis oder gar den Schlüssel zur Aufklärung des Falles liefern können. Die Reduktion auf bestimmte Tatbestandselemente gelingt erst dann, wenn der Sachverhalt klare Konturen bekommt und erkennbar wird, um welchen Tatbestand es sich handeln kann. In der Praxis hat man es zwar meistens mit Sachverhalten zu tun, bei denen von vornherein relativ klar ist, worum es geht. Der Verkehrspolizist, der eine Radarmessung vornimmt, wird sich nicht überlegen müssen, welche Tatbestände in Frage kommen, wenn sein Gerät bei einem Fahrzeug eine überhöhte Geschwindigkeit anzeigt. Die wenigen interessanten Fälle, welche richtiges kriminalistisches Denken erfordern, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass man von vornherein nicht klar sieht, worum es eigentlich geht (oder dass man übersieht, dass die richtige Lösung des Falles nicht die naheliegende ist).

Der Kriminalist, der noch nach der Lösung sucht, muss sich das verbrechensverdächtige Ereignis in der ganzen Breite, in allen Erscheinungen und denkbaren Zusammenhängen vorstellen. Das Verbrechen ist in diesem Moment noch nicht die auf die juristische Fragestellung reduzierte Angelegenheit; es ist vielmehr eine Erscheinung im Leben des Einzelnen und im Leben der Gesellschaft.

Die Straftat ist keine isolierte Erscheinung, sondern steht immer in Beziehung zu einer Person, zum Täter zur Zeit der Tat und zu einer Tatsituation, wie sie der Täter gesehen hat. Wenn man sich zu früh dafür entscheidet, diese Erscheinung im Hinblick auf einen bestimmten in Frage kommenden Tatbestand zu überprüfen, riskiert man, sie nicht vollständig zu erfassen. Erforderlich ist aber, einen komplexen Ablauf im Sinne der Heuristik so zu reduzieren, dass sich bestimmte Tatbestände herausschälen lassen.

Rechtsmediziner behaupten bisweilen, es gebe zahlreiche Tötungsdelikte, die nicht erkannt werden, weil man den Todesfall zwar als außergewöhnlich einschätzt, dann aber zu wenig gründlich nach der Todesursache sucht. Die Todesursache (also die medizinische Diagnose) muss allerdings feststehen, bevor man Aussagen über die Todesart (natürlich, deliktisch, unfallmäßig oder suizidal) machen kann. Dass eine 95-jährige Frau, die tot in ihrem Bett aufgefunden wird, eines natürlichen Todes gestorben ist, kann man selbst dann, wenn man weiß, dass sie an Krebs litt, erst mit Sicherheit sagen, wenn man die Tote gründlich untersucht hat.

Das materiellrechtliche Programm, das es bei der Aufgabe, einem Verdächtigen eine bestimmte Straftat nachzuweisen, abzuarbeiten gilt, ist dann allerdings begrenzt; es gibt nicht beliebig viele, sondern nur eine gewisse Anzahl von objektiven und subjektiven Tatbestandselementen.[31] Die Prüfung, ob alle Tatbestandsmerkmale einer bestimmten Straftat erfüllt sind, folgt dann eher einer algorithmischen Methode.

4.2Die Tatsituation

Zur Tatsituation gehören das örtliche und zeitliche Umfeld, das Opfer (wenn es ein Opfer gibt), die Tatmittel und andere Gegebenheiten. Dabei ist immer die Sicht des Täters bedeutsam, die der wirklichen Tatsituation nicht entsprechen muss. So kann sich etwa der Auftragsmörder irren und die falsche Person töten.

Die Lösung eines unklaren Falles beginnt mit der vollständigen und möglichst präzisen Analyse der Tatsituation. Wie man dabei vorgehen kann, wird im 2. Kapitel, II.4.1.1 ff. beschrieben. Im vorliegenden Zusammenhang ist wichtig, dass man sich bei der Dokumentation einer schweren und unklaren Straftat nicht zu früh auf bestimmte Hypothesen über den möglichen Tatablauf und damit auf die Frage konzentriert, welche Tatbestandsmerkmale einer bestimmten Straftat zu beweisen sind. Man riskiert sonst, wichtige Dinge zu übersehen, die eine andere Tathypothese bestätigen könnten.

4.3Das Umfeld der Tat

Erst in der letzten Phase der kriminalistischen Arbeit an einem schwierigen Fall kann die Straftat als ein strafbares Verhalten beschrieben werden, das zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort an den Tag gelegt worden ist und alle objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer bestimmten Straftat erfüllt.

Zunächst geht es in einem unklaren Fall, vor allem in einem mit unklarer Täterschaft, um einen ganz konkreten Lebenssachverhalt mit vielen Einzelheiten, Besonderheiten oder Spuren. Nicht nur bei der Frage, um welche Straftat es sich handelt, sondern vor allem bei der Frage, wer als Täter in Frage kommt, ist das Umfeld der Tat von entscheidender Bedeutung. Zu denken ist zum Beispiel an die Art und Weise der Ausführung, die Anwendung besonderer Werkzeuge. Alle diese Einzelheiten können auf bestimmte Täter weisen oder bestimmte Personen als Täter ausschließen, und vor allem diese Einzelheiten sind für die Strafzumessung oft von entscheidender Bedeutung.

Für die Beurteilung der Frage, ob eine Vergewaltigung begangen wurde, genügt der Nachweis, dass der Täter gegen den Willen des Opfers unter Anwendung von Gewalt oder anderen Nötigungsmitteln den Beischlaf vollzogen hat. Für die Frage, wer als Täter in Frage kommt, ist eine Vielzahl von Besonderheiten des Tatablaufs, gerade auch vor und nach dem Vollzug des Beischlafs, von entscheidender Bedeutung. Auch für die Strafzumessung gibt die Konzentration auf die objektiven Tatbestandsmerkmale nur wenig her.

Das kriminalistisch relevante Verhalten erschöpft sich deshalb nicht nur in der deliktischen Handlung als solcher; es hat regelmäßig

eine Vorgeschichte,

eine gewisse Breite, Nebenerscheinungen und -ereignisse sowie

Nachwirkungen und Folgen.

Bekannt ist auch die Untergliederung in Vortat-, Haupttat- und Nachtatphase.

Die Vorgeschichte oder Vortatphase beginnt mit dem ersten Gedanken des späteren Täters an das Delikt. Zwar muss auch der Kriminalist nicht Gedanken lesen, der Täter zeichnet aber solche Überlegungen mitunter auf oder teilt sie anderen mit oder verhält sich so, dass im Nachhinein erkennbar ist, dass dieses Verhalten als Vorbereitung der Tat gewertet werden muss. Viele Straftaten verlangen sodann nicht nur gedankliche, sondern auch logistische Vorbereitungen: Bevor Tatwerkzeuge eingesetzt werden können, müssen sie beschafft werden. Plant der Täter die Tat im Voraus, dann wird er in der Regel den Tatort zuerst auskundschaften oder, wenn verschiedene Tatorte möglich sind, den aus seiner Sicht günstigsten aussuchen. Allenfalls muss das Opfer beobachtet werden. Zufalls- oder Gelegenheitstaten haben zwar ein Minimum an Vorgeschichte; ob es sich um solche handelt, zeigt sich aber erst bei der Untersuchung, wie sich der Täter vorher verhalten hat. Man kann daher nicht immer mit einer Vorgeschichte rechnen; wo sie aber besteht, kann sie wertvolle Hinweise auf Tat und Täter, insbesondere auf seine Motive, geben.