Krisenfälle – Insolvenzen hautnah - Rolf-Dieter Mönning - E-Book

Krisenfälle – Insolvenzen hautnah E-Book

Rolf-Dieter Mönning

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Beschreibung

Professor Dr. Rolf-Dieter Mönning ist zugelassener Rechtsanwalt und Professor an der Fachhochschule Aachen, vor allem aber ist er Insolvenzverwalter. Seit mehr als 40 Jahren hat er als Verwalter über 3500 Konkurse und Insolvenzen betreut und dabei vor allem Sanierungslösungen verfolgt, wenn es wirtschaftlich machbar war. Er hat in dieser langen Zeit mit Sachkenntnis, Erfahrung, Durchsetzungsvermögen und menschlichem Verständnis rechtlich und wirtschaftlich schwierige Sachverhalte bearbeitet, sich mit denkbar unterschiedlichsten Charakteren und Persönlichkeiten beschäftigt und gewährt Ihnen mit dem vorliegenden Werk einen tiefen Einblick in die Praxis eines Insolvenzverwalters mittels sogenannter Faction-Prosa, einer Mischung aus Fiktion und Fakten. Hierfür verlässt der Verfasser sein Metier als Fachbuchautor und nimmt Sie in 13 Episoden mit in die Tiefen unterschiedlichster Krisenfälle und beschreibt hautnah die mannigfaltigen Anforderungen, die ein Verwalter zu bewältigen hat. In überaus lesenswerter Art und Weise begleiten Sie den Autor in seinem Tagesgeschäft als Verwalter von der erfolgreichen Schatzsuche bis zur menschlichen Tragödie.

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Seitenzahl: 488

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Krisenfälle Insolvenzen hautnah

von

Prof. Dr. Rolf-Dieter Mönning Aachen

Fachmedien Recht und Wirtschaft | dfv Mediengruppe | Frankfurt am Main

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8005-1787-8

© 2021 Deutscher Fachverlag GmbH, Fachmedien Recht und Wirtschaft, Frankfurt am Main www.ruw.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Schatzsuche

Nur Spaß

Herzensangelegenheiten

Mariä Hilf

Nichts gesehen

Der Absturz

China, China, China!

Gefährliches Spiel

Das Geständnis

Schuld ohne Sühne

Mandy M.

Sabine S.

Horst W.

Rico K.

Auf Tour

Das Tribunal

Offene Rechnungen

Glossar

Über den Autor

Prolog

Im Fach Wirtschaftsrecht wurde ein neues Modul eingeführt. Verhandlungsführung. Der befreundete Dekan meinte, ich müsste das machen. Schließlich würde ich den ganzen Tag nichts anderes tun als verhandeln. Das war übertrieben. Aber im Kern richtig. Verhandeln mit dem Ziel, Verträge abzuschließen, gehörte schließlich zum anwaltlichen Tagesgeschäft. Und erst recht zu den Aufgaben eines Insolvenzverwalters.

Mit einem kleinen, aber bedeutsamen Unterschied. Der Anwalt verhandelte für einen Mandanten. Hinter dessen Wünschen, Ansprüchen, Erwartungen konnte man sich notfalls verstecken. Oder Distanz aufbauen. Sich selbst dem Verhandlungspartner gegenüber als konzilianter, konstruktiver, verständnisvoller Opponent darstellen, um dann zu erklären, dass der Mandant andere Vorstellungen hatte, die es zu erfüllen galt. Leider.

Mein Mandant legt Wert auf die Feststellung, auf den Anspruch, auf die Erfüllung seiner Erwartungen, war die übliche Floskel, die dem Verhandlungspartner die Distanz zwischen Anwalt und Mandant offenbarte. Und immer Verständnis auslöste, denn dem Kollegen auf der anderen Seite ging es ja nicht anders. Und wurde es mal heftiger, konnten die Pfeile auf den Mandanten umgelenkt werden. Selbst etwaige Fehleinschätzungen oder Irrtümer. Der Mandant wollte es schließlich so.

Wichtig war nur, dass man rechtzeitig und umfassend auf alles hingewiesen, erläutert, gewarnt hatte. Dann war man als Anwalt auch bei unbefriedigendem Verhandlungsergebnis aus dem Schneider.

In dieser Komfortzone lebte man als Insolvenzverwalter nicht. Man stand selbst im Feuer. War Anwalt und Auftraggeber in einer Person. Der Schutzschirm des Mandatsverhältnisses fehlte. Angriffe, auch persönliche, Vorwürfe, Beleidigungen, Unverständnis prallten nicht ab, sondern trafen unmittelbar. Alles geschah hautnah!

Der Misserfolg war der eigene Misserfolg, das unzureichende Ergebnis musste man selbst wegstecken und die gescheiterte Verhandlung, der ergebnislose Abbruch oder – noch schlimmer – ein schlechtes Resultat, wirkten sich unmittelbar auf das Ergebnis eines Insolvenzverfahrens insgesamt aus, zum Nachteil aller Beteiligten, zum eigenen finanziellen Schaden und mit direktem Einfluss auf die Reputation.

Denn nahezu alle Kernaufgaben der Insolvenzabwicklung erforderten Verhandlungen zum Ausgleich gegensätzlicher Interessen. Und dies meist in der Form eines unmittelbaren, mündlichen Kommunikationsprozesses am Verhandlungstisch.

Ein wesentlicher Maßstab, an dem die Arbeit eines Insolvenzverwalters gemessen wurde, war die bestmögliche Verwertung der Insolvenzmasse, was den Insolvenzverwalter generell zum Verkäufer machte. Beim Verkauf der zur Insolvenzmasse gehörenden Wirtschaftsgüter ging es vordergründig um den Preis, der für die Insolvenzmasse erzielt werden konnte. Es galt, die durch eine gutachterliche Bewertung abgesicherte Untergrenze mindestens zu erreichen, besser noch zu übertreffen. Dann hatte man gut verhandelt.

Wurde der Betrieb des insolventen Unternehmens fortgeführt, um am Ende eine erfolgreiche Sanierung, also Erhaltungslösung, zu erreichen, fielen automatisch eine Vielzahl von Verhandlungsprozessen im Tagesgeschäft an. Die musste der Insolvenzverwalter nicht alle selbst bestreiten, aber in wichtigen Fällen war seine Einbeziehung unerlässlich. Das letzte Wort gebührte ihm, wenn es galt, aus Entwürfen bindende Verträge mit Kunden oder Lieferanten zu machen. Ganz besonders galt dies für Verhandlungen über einen Unternehmenskaufvertrag, wenn der Geschäftsbetrieb, den das insolvente Unternehmen betrieben hatte, im Wege der übertragenden Sanierung auf einen neuen Träger überführt werden sollte. Das war dann in jedem Fall Chefsache, also Aufgabe des Insolvenzverwalters.

Dann ging es nicht nur um den Abschluss eines vorteilhaften Kaufvertrages, sondern, weil nahezu jede Sanierung auch mit einem Personalabbau verbunden war, auch um Verhandlungen mit Betriebsrat und Gewerkschaft über Interessenausgleich, Sozialplan, Betriebsvereinbarungen als notwendige Grundlage für Betriebsänderungen. Alles Maßnahmen mit weitreichenden Konsequenzen für die Betroffenen. Entsprechend hart und intensiv musste gerungen werden, um im Rahmen eines Gesamtpaketes zu einem guten Ergebnis zu kommen.

Dies alles hatte unser Dekan vor Augen, als er wie selbstverständlich meinte, dass aus dem Kreis der lehrenden Kolleginnen und Kollegen nur ich in Frage käme, das neue Modul zu übernehmen.

Da Widerstand sinnlos war, machte ich mich daran, die Vorlesung, die schon im nächsten Semester stattfinden sollte, zu konzipieren. Schnell fand ich heraus, dass es mehr als 350 Abhandlungen zum Thema Kommunikation und Verhandlung gab. Viele nach Art eines Rezeptbuchs gestaltet, indem tabellarisch dargestellt wurde, welche Zutaten, sprich Voraussetzungen, erforderlich sein würden, um erfolgreich verhandeln zu können.

Hier waren es zehn, dort dreizehn, manchmal zwanzig oder mehr unverzichtbare Anforderungen, meist schlagwortartig dargestellt, die zu beachten waren. Buchte man auch noch das begleitende Kommunikationstraining oder ein Wochenendseminar an einem schönen Ort in einem angenehmen Hotel, war der Erfolg garantiert. So hieß es jedenfalls.

War das jetzt Wissenschaft oder Lebenskunde? Welcher Nährwert konnte daraus für ein wirtschaftswissenschaftliches Studium gezogen werden? Zumal nicht jeder Betriebswirt täglich verhandeln musste, sofern er nicht schwerpunktmäßig kaufmännisch tätig wurde.

Ließ sich überhaupt aus der Fülle von Einzelaspekten, die man beachten oder vermeiden sollte, etwas Allgemeingültiges herleiten? Also eine Lehrmeinung erarbeiten? Basierend auf Grundlagen, die Anspruch auf Allgemeingeltung erheben konnten. Und nicht nur die persönliche Meinung und Lebensweisheit eines Dozenten wiedergaben. Denn immer noch galt im Hochschulbetrieb die Vorgabe, mit Hilfe einer Vorlesung als „dozentenzentrierte Methode kognitive Lehrziele umzusetzen“.

Konnte man verhandeln lernen? Und wenn ja, zu welchem Zweck? Den eigenen Vorteil besser und rücksichtsloser durchzusetzen, den Verhandlungspartner kräftiger über den Tisch zu ziehen, Schwächen des eigenen Produktes oder der angebotenen Dienstleistung eleganter zu vertuschen?

Vermutlich schwebte dies unserem Dekan vor, als er das Modul in den Lehrplan integrierte. Denn wenn das die Lernziele sein sollten, war ein Anwalt als einseitiger Interessenvertreter natürlich bestens geeignet, dies den Studenten zu vermitteln.

Aber gehörte das ins Lehrfach eines Hochschulstudiums? Wie war es möglich, diese Aufgabe methodisch-systematisch zu bewältigen, Ergebnisse objektiv darzustellen und die Wiederholbarkeit unter gleichen Bedingungen zu gewährleisten, also wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen?

Da standen wir nicht allein. Eine süddeutsche Universität hatte gerade eine Lehrveranstaltung mit dem Thema „Qualität von Entscheidungen“ konzipiert, die regen Zuspruch fand und Grundlagen für gutes Entscheidungsverhalten vermitteln wollte. Ergänzt um einen Teilaspekt „Kompetenz im Kollektiv“, der sich auf Verhandlungen im Team und systematischer Teamführung beziehen sollte.

In der Erläuterung zu dem Modul hieß es „Es gibt keine Naturtalente“, um am Beispiel des vermeintlich genialen Verhandlungskünstlers und Rhetorikers Barack Obama zu erläutern, dass nur Training, Training und nochmals Training den Erfolg bewirken konnte, weil Übung Talent schlägt.

Mir schwante, hier ging es wohl eher um ein opportunistisches Angebot an die Studenten unter dem Etikett der Praxisbezogenheit und vor dem Hintergrund, die Studentenzahlen zu vergrößern und die hiervon abhängige finanzielle Ausstattung der Hochschule zu sichern.

„Wenn Du lauter gerissene Verhandlungskünstler ausbildest, wird das die Attraktivität unserer Hochschule noch erhöhen!“, mit dieser Aussage bestätigte der Dekan meine Vermutung, als er sich nach einigen Wochen erkundigte, ob ich schon ein Gerüst für die Vorlesung entwickelt hätte.

Kommunikationstrainer, Scouts, Coaches, aber auch Zauberer, Schamanen und andere Spinner und Schwindler boten Kommunikationstraining, Schulungen und Kurse in der Verhandlungsführung oder zur klugen, empathischen, überzeugenden, geschickten, situationsadäquaten, verständlichen, diplomatischen und immer erfolgreichen Gesprächsführung zuhauf an. Begleitet von Büchern, Video- oder Tonkassetten, Downloads in nicht mehr überschaubarer Zahl.

Das alles war bislang an mir vorbeigegangen. Im Jurastudium wurde weder Kommunikation noch Verhandlungsführung als Lehrfach angeboten. Verhandeln konnte man oder man konnte es nicht, kommunikativ war man oder auch nicht, so wie die Musikalität, die Sprachbegabung, das naturwissenschaftliche Verständnis, die didaktische Begabung in die Wiege gelegt waren, als Bestandteil des genetischen Bauplans.

Ob man erfolgreich verhandeln konnte oder nicht, zeigte sich am Ende am Ergebnis. Die Wahrheit lag im Gerichtssaal oder im Konferenzraum. Dort war Verhandlung in erster Linie Wettbewerb. Wer gewann stieg auf, wer immer den Kürzeren zog, stieg ab.

Es gab aber auch lustiges Lehrmaterial. So das Buch „Verhandeln nach Drehbuch“. Hier wurden, begleitet von den Mitschnitten aus berühmten Filmen wie „Die 12 Geschworenen“ oder „Erin Brockovich“, Verhandlungsszenen gezeigt, besprochen und analysiert. Gutes Material für die Abschlussvorlesung vor der Klausur.

Problematisch war nur, dass auch viele Sequenzen aus dem Mehrteiler „Der Pate“ stammten. Ich fragte mich, ob ich die Mafiabosse Marlon Brando oder Al Pacino als Vorbilder für ergebnisorientierte Verhandlungsführung präsentieren durfte. Zumal mir selbst unzählige Beispiele aus jahrelanger Erfahrung einfielen, die allerdings leider nicht aufgezeichnet oder gefilmt waren.

Ich versuchte, das Material zu schematisieren und zu systematisieren. Was war Sinn und Zweck von Verhandlungen? Gegensätzliche Interessen bestmöglich auszugleichen, Konflikte zu lösen, oder Absprachen für die Zukunft zu treffen. Und zwar durch Gespräche, da Videokonferenzen in der damaligen Vor-Corona-Zeit noch nicht erfunden waren, mal bilateral, mal multilateral meist nach förmlicher Kontaktaufnahme. Oft zweckmäßig und damit freiwillig, aber auch behördlich erzwungen und institutionalisiert, denkbar und anwendbar auf alle Fachbereiche.

Immer aber ausgerichtet an der Optimierung des geschäftlichen Erfolges oder zur Vermeidung von Fehlentwicklungen. Und vor allem auch international, interkulturell, gemischt geschlechtlich besetzt, also nicht mehr die rauchende Männerrunde aus Vertretern der westlichen Welt.

Das Begriffspaar Verhandlungskunst und Verhandlungstechnik bildete den Anfang und diente als Leitplanke für den Aufbau meiner Vorlesung. Angeborene Verhandlungskunst geprägt durch sogenannte Softskills würden die Verhandlungsführung erleichtern, so die landläufige Meinung. Im Vorteil war, wer über Selbstvertrauen, Sprachkompetenz, Empathie, sicheres Auftreten, Menschenkenntnis und Kommunikationsfähigkeit verfügte.

Wo diese Softskills fehlten oder nur schwach ausgebildet waren, musste die Verhandlungstechnik für den Ausgleich sorgen. Verstanden als erlernbare Methoden, die durch Anwendung und Erfahrung nutzbar gemacht und weiterentwickelt wurden.

Im Vorlesungsskript schrieb ich deshalb auf, dass es vor allem darauf ankam, Menschen und Probleme zu trennen, Interessen in den Mittelpunkt zu stellen und objektive Entscheidungskriterien aufzubauen. Das war die Basis der Verhandlungstechnik.

Zu den erlernbaren Elementen zählte natürlich auch, Verhandlungen mit umfassender Sachkenntnis und dem notwendigen Fachwissen, vor allem aber auch logisch und überzeugend, zu führen. Aber ebenso gehörte eine umfassende Vorbereitung in fachlicher, aber auch organisatorischer Hinsicht und die umfassende Informationsbeschaffung zur Technik.

Man musste wissen, mit wem man es zu tun hatte. Im Zeitalter des Internets war dies wahrlich keine Kunst mehr. Ganz anders noch als zu Beginn meiner anwaltlichen Tätigkeit, als man den Verhandlungspartner meist erst nach dem Handschlag zur Begrüßung kennenlernte.

Technik erforderte auch das Verhandeln im Team. Das begann bei der Zusammensetzung, die so zu wählen war, dass alle relevanten fachlichen Bereiche abgedeckt waren, die Aufgaben klar verteilt wurden und die Kommunikation in der eigenen Delegation sichergestellt war. Ich hatte peinliche Situationen vor Augen, in denen sich Verhandlungsdelegationen untereinander und vor aller Augen gestritten hatten, weil sie in Sachfragen unterschiedlicher Auffassung waren.

Dass dies zu vermeiden galt, leuchtete ein. Aber war das nicht alles selbstverständlich? Dieser Gedanke kam mir bei der Bearbeitung des Lehrstoffs immer häufiger. Gedanken klar, verständlich, adäquat darstellen? Was denn sonst! Auf Mimik und Gestik achten, die im Einklang mit den verbalen Äußerungen stehen mussten.

Das hatte schon der große Pantomime Sami Molcho vorgeführt, wenn er vor Publikum mit verschränkten, gar verschraubten Armen bekundete, völlig offen für die Argumente des Gegenüber zu sein. Schallendes Gelächter im Publikum war an dieser Stelle der Vorführung über die Kunst der Körpersprache immer sicher.

Und auch psychologisches Verständnis war gefordert. Mit einem Schuss Sympathie, mutig, angepasst, einfühlsam, auch leidenschaftlich, aber niemals brüllend, natürlich auch nicht flüsternd und nicht aggressiv für die eigene Sache zu streiten.

Wer würde da nicht unterschreiben? Aber wie schafft man das, wenn der Verhandlungspartner ein Unsympath ist, Angst vor einem Misserfolg lähmt, Aggressionen nicht zu unterdrücken sind und statt Leidenschaft eher Teilnahmslosigkeit herrscht? Das gesichtete Material kam mir immer mehr vor wie eine Ansammlung von Allgemeinplätzen. Wem half das?

Zur Technik der Verhandlungsführung sollte natürlich auch gehören, die ungemein beliebten Killerphrasen und Totschlagsargumente zu vermeiden. „Blanker Unsinn,“ „Sie haben keine Ahnung“, „wenn Sie zugehört hätten“ oder auch „das haben wir noch nie so gemacht“, „außer Ihnen weiß das jeder“, „das würde jetzt den Rahmen sprengen“, um nur einige Beispiele zu nennen, die sicherlich freudige Erregung bei den Studenten auslösen würden.

Aber sogleich fielen mir mindestens hundert Beispiele ein, in denen es auf diesem Niveau, ob im Gerichtssaal oder im Besprechungsraum, zur Sache gegangen war. Totschlagsargument hin oder her. Die meisten Teilnehmer lebten noch.

Auch Tabubrüche wollte ich behandeln. Abfällige Bemerkungen, egal ob über das Geschlecht, die Abstammung, die Religion, die Nationalität, das Aussehen, etwaige körperliche Gebrechen, konnten das Ende jeder Verhandlung bedeuten. Vor allem in interkulturellen Verhandlungen, wo es galt, auf nationale Eigenheiten zu achten.

Aber Vorsicht, bloß nicht von genetischer Veranlagung sprechen. Das durfte ich mir auf keinen Fall leisten. Das durfte nur die französische Bildungsministerin, die in einem Spiegel-Interview erklärt hatte, dass die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf in den Genen der französischen Frauen läge, während ähnliche Äußerungen Tilo Sarrazin die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratie gekostet hatten.

Und Smartphones und Tablets mit Aufnahmefunktion, mit denen verbale Entgleisungen festgehalten werden konnten, hatte fast jeder Student inzwischen in der Tasche. Lange Jahre waren Frauenwitze, Ostfriesenwitze, Polenwitze beliebte Auftaktthemen, quasi als Eisbrecher, vor allem in Männerrunden. Aber das ging jetzt nicht mehr, jedenfalls nicht offen, Compliance sei Dank. Eine Bemerkung, die man häufiger zu hören bekam, manchmal durchaus mit bedauerndem Unterton.

Am Ende meiner Studien und der Auswertung aller verfügbaren Materialien zeigte sich aber dann doch eine gewisse Systematik. Danach verliefen Verhandlungen, manchmal auch solche, in denen es um die Dinge des täglichen Lebens ging, aber jedenfalls immer dann, wenn komplexe Verhandlungsgegenstände anstanden, in sieben Phasen ab. Das war mir neu. Die einzelnen Intervalle leuchteten ein, aber die Systematik dahinter eher nicht.

Jede Verhandlung musste gut vorbereitet und organisiert sein. In dieser ersten Phase konnte vieles falsch gemacht werden. Zug oder Flug verpasst, im Stau gestanden und deshalb zu spät gekommen, und schon war das Verhandlungsklima belastet.

Unterlagen vergessen, die falsche Mappe eingesteckt, die letzten Mails nicht gelesen, den Saal nicht gefunden, der dann auch noch besetzt oder unaufgeräumt war. Zahlen und Fakten nicht zur Hand. Keine Kenntnis, wer von der Gegenseite am Tisch saß und wer welche Aufgabe oder Kompetenz hatte. Die falschen Leute zur Verhandlung mitgenommen, die richtigen zu Hause gelassen, keine ausreichende Abstimmung untereinander, die Ziele, die man anstrebte, nicht bestimmt.

Hatte man das alles beachtet, kam die nächste Phase. Die Begrüßung. „Es gibt keine zweite Chance, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen“. Das Credo jeder Begrüßungsphase. Diese Aussage gefiel mir, das war griffig. Das würden auch die Studenten aufnehmen. Die Kunst des sicheren Auftretens, der unfallfreien Begrüßung und Vorstellung, des intelligenten Small-Talks. Ohne schale Witze und flapsige Bemerkungen. Aber auch nicht sprachlos und gehemmt. Und schon war die zweite Phase vorüber.

In der dritten ging es um die Informationsphase. Was wollen wir heute erreichen, was ist das Ziel unserer Verhandlungen, verbunden mit der Präsentation von Daten und Fakten als Verhandlungsgrundlagen. Jetzt zeigte sich, ob ein Verhandlungspartner vielleicht gar nicht verhandeln, sondern sich zunächst nur einmal unverbindlich informieren wollte, während man selbst bereits die Voraussetzungen für einen Vertragsabschluss als möglich erachtete.

Am Ende dieser Phase wusste man, ob man sich heute besser vertagen sollte, weil das Klima nicht stimmte, weil noch mehr Vorbereitung benötigt wurde, oder ob durchverhandelt werden konnte. Also Abschied oder Start in die vierte Phase. Da galt es jetzt. Jetzt ging es zur Sache. Kunst und Technik waren gefragt.

Und wenn es eng wurde, auch mal einen Stopp einbauen, Pinkelpause, Raucherpause, Luft holen, Fenster öffnen, Emotionen bändigen, Füße vertreten. Und wieder zur Sache reden. Die gemeinsamen Interessen in den Vordergrund rücken. Die Vorteile auch für den Verhandlungspartner aufzeigen. Zugeständnisse des Verhandlungspartners verhalten aufnehmen, nicht jubeln, eigene Zugeständnisse gleich mit einem neuen Vorstoß verbinden.

In der fünften Phase stand das Fazit. Was wurde erreicht? Einigung oder Fehlschlag. Jetzt mussten die Ergebnisse gesichert und dokumentiert, noch offene Punkte benannt werden. Und es war festzulegen, wie damit umzugehen war. War es ein Fehlschlag? Überlegen, ob sich eine Vertagung anbot oder eine Neuauflage sinnvoll sein könnte.

Die sechste Phase. Der Abschied. Niemals nachkarten. „Wenn Sie etwas flexibler gewesen wären ...“ und dergleichen Unfug galt es zu unterlassen. Denn schon Berti Vogts, ein berühmter deutscher Philosoph, wusste, dass man sich immer zweimal sehen würde. Mindestens.

Also kein Frust bei Fehlschlag, bei Einigung aber auch kein Jubel. Dies könnte beim Verhandlungspartner das schlechte Gefühl auslösen, die eigenen Interessen nicht ausreichend zur Geltung gebracht zu haben. Stattdessen die nächsten Schritte vereinbaren, wer protokolliert, wer formuliert die Verträge, bis wann und in welcher Form.

Die siebte Phase, das Stiefkind. Die Nachbereitung. Was war gut, was ging schief und weshalb? Das machte niemand. Fast niemand. Allenfalls in der Form von Schuldzuweisungen, wenn ein Fehlschlag quittiert werden musste. Das war mir vertraut. Der Erfolg hatte bekanntlich viele Väter, während der Fehlschlag ein armes Waisenkind blieb.

Langsam gewann ich den Eindruck, dass man den Stoff tatsächlich systematisieren konnte. Allerdings, so stellte ich dann auch wieder schnell fest, war auch die 7-Phasen-Methodik nicht ohne Widerspruch geblieben.

Dagegen stand das sogenannte Harvard-Konzept, das keine Phasen unterstellte. Die Amerikaner glaubten, alles würde nahtlos ineinandergreifen, jeweils in unterschiedlichen Abfolgen. Das leuchtete nicht recht ein, denn die Vorbereitung und die Begrüßung als Ouvertüre mussten zwangsläufig dem Anfang, Abschied und Nachbereitung dem Schluss zugeordnet werden.

Das konnte eigentlich auch im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten nicht anders sein. Allerdings, mit einem ehemaligen Präsidenten, der den Wahlsieg ausrief, bevor ausgezählt war, konnte man sich auch ein Phasenchaos in Verhandlungen vorstellen.

Immerhin begründete Harvard die Win-Win-Methode, also das Streben nach bestmöglichem, beiderseitigem Nutzen, indem man sich auf die tatsächlichen Interessen konzentrierte, immer wieder nach ungenutzten Möglichkeiten forschte, Alternativen überlegte, wenn eine Einigung nicht zu erzielen war, darlegte, dass Forderungen und Interessen fair und legitim waren, den anderen Partner zu verstehen suchte und am Ende sorgfältig prüfte, ob man alles bedacht hatte und gewährleistet war, dass die eingegangenen Verpflichtungen auch eingehalten werden konnten.

Das Harvard-Konzept baute ich als Gegenpart zur 7-Phasen-Theorie auch noch in das Vorlesungskonzept ein, überspielte sodann Filmsequenzen aus „Der Pate“, „Erin Brockovich“ und „Wallstreet“, packte alles in eine Power-Point-Präsentation und erstellte ein vorlesungsbegleitendes Skript.

Apropos Power-Point. Eine Ansammlung von Folien, die mittels Beamer an die Wand geworfen wurden, das war nicht so meine Sache. Ich hatte gelesen, dass dieses Hilfsmittel die schlechteste Durchdringung aufwies. Damit bezeichnete die Forschung den Grad der Rezeption, Umfang und Tiefe der Aufnahme, oder anders ausgedrückt, das, was bei den Zuhörern haften blieb.

Dabei rangierte Power-Point weit hinter der guten alten Kreidetafel, auf die man die wesentlichen Stichpunkte schreiben konnte. Das lag vermutlich daran, dass die Studenten schon sehr genau und entsprechend intensiv hinschauen mussten, um erst einmal überhaupt die Schrift des Dozenten zu entziffern, was immer für Amüsement und damit ein gutes Lernklima sorgte. Power-Point sagte man auch nach, dass allenfalls Studentinnen hieraus einen Nutzen ziehen konnten, da deren Gehirne multifunktional und parallelgeschaltet arbeiteten.

Das männliche Hirn hingegen wusste nie, ob Hören oder Schauen angesagt war. Ein nahezu unschlagbares Argument sprach aber immer für Power-Point. Jeder einigermaßen erfahrene Referent kam auch schlecht vorbereitet unfallfrei durch den Vortrag.

Als endlich alle Unterlagen ins Hochschulnetz eingestellt waren, kramte ich Beispiele aus meinem Erfahrungsschatz hervor, schwierige Verhandlungen, vor allem im interkulturellen Bereich mit Italienern, Amerikanern, Russen und Chinesen, positive wie negative Erlebnisse, auch lustige Episoden, überraschende Entwicklungen, Geistesblitze, die Fehlschläge in letzter Minute verhinderten, aber auch eigene Versäumnisse und Verstöße gegen die Regeln zielgerichteter und situationsgerechter Kommunikation.

Da kam über die Jahre gesehen einiges zusammen, mit dem ich den trockenen Stoff würzen und mit anschaulichen Beispielen unterlegen konnte, die weiterentwickelt, abgewandelt, an andere Orte verlegt und mit anderen Akteuren versehen wurden. „Man kann nicht nicht kommunizieren“, dieser Satz des Kommunikationsforschers Paul Watzlawick galt uneingeschränkt für meine Arbeit als zielgerichtete und möglichst störungsfreie Interaktion in einer Vielzahl gleichzeitig abgewickelter Insolvenzverfahren

Das zeigen die Geschichten, frei nach wahren Begebenheiten, als sogenannte Faction, einer Verbindung aus Fakten und Fiktionen.

Ein Drittelmix. Etwas wie es war, ein wenig wie es hätte sein können, ergänzt um frei Erfundenes. Aber immer hautnah!

Schatzsuche

Ein trüber 13. Oktober. Nieselregen in Innsbruck. Fast den ganzen Tag. Die Hungerburg hoch über der Stadt war nur zu erahnen, ein dichter Grauschleier lag über dem Inntal.

Zimmer 233, Hotel Tirol am Südtiroler Platz. Blick auf Oberleitungen und Straßenbahnschienen, ich zog die Vorhänge zu und schaltete das Deckenlicht ein, damit es nicht zu gemütlich wurde. Draußen war es bereits dämmrig, die Fassadenstrahler leuchteten schon violett, obwohl der Sonnenuntergang erst in einer halben Stunde anstand.

Frau Dr. Binding saß auf der rechten Seite des Doppelbettes, das rechte Bein über das linke geschlagen. Modischer Kurzhaarschnitt, kleine graue Ansätze im schwarzen Haar. Sorgfältiges Make-Up, nicht aufdringlich, anwaltstypisch. Graue Bluse, zugeknöpft bis zum Hals, Stehkragen mit Schluppe, lange Ärmel mit Knopf und Manschette. Darunter eine schwarze Hose aus angesagtem Breitcord. Stiefeletten aus dunklem Verloursleder, die Kleidung passend zur schlanken Erscheinung. Und auch der schwarze Aktenkoffer fügte sich ins Erscheinungsbild. Klassisch, schmal, enger Griff, ungeeignet für kräftige Männerhände, mit silbernen Schnappverschlüssen und Zahlenschlössern. Das Gegenstück zu meinem schweinsledernen, schon durch viele gewichtige Akten, Flugreisen und Kofferraumquetschungen ramponierten Aktenkoffer, der mitten auf dem Bett stand.

Das Kontrastprogramm zu Dr. Binding, einer Syndikusanwältin aus Salzburg, hockte auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes, das zu ¾ mit einer dunkelgrünen Tagesdecke bedeckt war. Ein blonder Engel, ähnlich der Lottofee im deutschen Fernsehen. Bei einer gebürtigen Griechin konnte die Farbe des schulterlangen, welligen Haares vermutlich nur Ergebnis intensiver Färbung sein, wie die schwarzen Ansätze verrieten. Kräftiges Rouge, auffallender Lippenstift, ziemlich rot. Dazu ein dunkelblauer Rollkragenpullover, Alpha und Omega in Strasssteinchen als Zierrat auf der Rückseite. Eine hellgraue Culotte mit Glencheck-Muster, hohe Stilettos, um Größe zu gewinnen. Sophia Makropoulos, sehr beherrscht, sehr gepflegt, Anfang 40, die blauen Augen auf den abgewetzten Koffer gerichtet.

„Können wir anfangen, ich will heute noch nach Wien zurück?“, fragte Sophia in der mir inzwischen hinreichend bekannten direkten Art und zeigte auf den Koffer.

„Wie Ihr wollt, ich habe meinen Teil erfüllt, es ist an Euch“, erwiderte die Kollegin Dr. Binding leicht tirolerisch gefärbt und verschränkte die Arme vor der Brust.

Damit kein Zweifel aufkommen konnte, dass es sich trotz zweier gut aussehender Frauen auf einem Doppelbett in einem 5-Sterne-Hotel um eine geschäftliche Veranstaltung handelte, hielt ich Distanz und setzte mich auf den Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch.

„Also los, fangen wir an“, sagte ich zur kühlen Kollegin gewandt, die sich vorbeugte, den Koffer aufnahm, die Schnappschlösser klicken ließ und die Klappe zurückschlug.

Fast zwei Jahre war es her, dass mich Frau Bodenmeyer, kettenrauchende und leicht verschrobene Richterin am Insolvenzgericht, anrief und mir sagte, sie hätte mich als Verwalter im Nachlassinsolvenzverfahren eines örtlichen Textilunternehmers bestellt. Ernst Reinartz war mir aus einem Presseartikel geläufig. Wegen Steuerhinterziehung in beachtlicher Höhe hatte er zwei Jahre gesessen, seine Weberei auf Sohn und Tochter übertragen müssen und war eine Woche nach seiner vorzeitigen Haftentlassung gestorben.

Meine Ermittlungen zu den Vermögensverhältnissen gestalteten sich schwierig. Die Ehefrau trauerte nur wenig und wusste noch weniger. Das schöne Haus im Vorgebirge war ihr Alleineigentum, samt Inventar, wie sie betonte. Ihr Sohn Rainer könne mir mehr sagen, meinte sie knapp, er führe die Firma inzwischen allein, habe seine Schwester im Streit vor die Tür gesetzt. Diese wisse nicht mehr als sie selbst.

Aber auch Rainer war zugeknöpft und zudem sauer, dass es überhaupt zu einem Insolvenzverfahren gekommen war. Was den Nachlassverwalter veranlasst hätte, trotz überschaubarer Zahl an Gläubigern ohne Abstimmung einen Insolvenzantrag zu stellen, war ihm völlig unverständlich. Das hätte man regeln können. Kunststück, dachte ich, bei acht Millionen Steuerverbindlichkeiten gegenüber Finanzamt und Stadtkasse, aufgeteilt in 168 Einzelforderungen des Finanzamtes und mehr als 30 Positionen bei der Stadt. Dazu mehr als 4 Mio. € Forderungen verschiedener Kreditinstitute aus Darlehen.

„Alles besichert“, meinte Rainer, das wäre bei ordnungsgemäßer Verwertung der Gewerbeflächen in guter Stadtlage darstellbar gewesen. Den Nachlassverwalter hielt er für eine Flasche, der normalerweise nur mit kleinen Nachlässen befasst und mit dieser Angelegenheit schlicht überfordert gewesen wäre.

Er kündigte mir an, dass sich die Familie mit allem Nachdruck gegen den Insolvenzantrag zur Wehr setzen und versuchen würde, sich mit Finanzamt, Stadt und Banken außergerichtlich zu einigen.

„Wo hat denn Ihr Vater zuletzt gewohnt?“, wollte ich wissen.

„In Rheinbach, das wissen Sie doch, hinter drei Meter hohen Mauern. Nach seiner Entlassung noch wenige Tage im Domhotel, da Mutter ihn wegen alter Geschichten nicht im Haus haben wollte.“

Natürlich hatte er auch keine Kenntnis, wo sich persönliche Sachen des Vaters befanden. Die Geschäftsanteile an der Spedition gehörten, so Rainer, nicht zum Nachlass, sondern waren schon während der Untersuchungshaft auf ihn und seine Schwester übertragen worden.

„Familiär ging es bei uns schon lange nicht mehr zu. Und der Laden stand vor der Insolvenz. Ich hatte alle Mühe, das Geschäft am Laufen zu halten, trotz der Bemühungen meiner lieben Schwester, die von nichts Ahnung hat.“

Da die Familie nicht helfen wollte oder konnte, machte ich die Runde durch die wichtigsten Gläubiger. Die Banken wollten so schnell wie möglich die zur Insolvenzmasse gehörenden Grundstücke verkaufen, Käufer gab es bereits, die Verträge waren verhandelt. Ein einfacher Fall, so schien es.

Zur Gläubigerversammlung erstattete ich Bericht und gab die freie Masse mit 250.000,-- € an. Aus Mieteinnahmen, freien Spitzen aus der Verwertung der Immobilien sowie etwas Kleinkram. Kurz und schmerzlos, die in der Versammlung anwesenden Vertreter stimmten der Veräußerung des Grundbesitzes zu, mit dem Erlös konnten ihre Forderungen nahezu vollständig bedient werden. Sohn und Ehefrau, die mit ihren Beschwerden gegen die Insolvenzeröffnung gescheitert waren, erschienen nicht. Außer den Vertretern der Banken, saß in der letzten Reihe des Saals 404 eine ältere Frau im nicht mehr ganz zeitgemäßen Kostüm. Die frühere Sekretärin des Seniors, vom Sohn gefeuert, mit Ansprüchen auf Resturlaub und Bonus.

Kurz vor Ende der Versammlung bat sie ums Wort.

„Ich vermisse in Ihrem Bericht Ausführungen zum Verbleib der Wohnung in Seefeld. Wieso wird dieser Wert nicht aufgeführt?“

Derartige Fragen vor aller Ohren waren mehr als unbeliebt. Sie implizierten, dass man als Insolvenzverwalter seine Arbeit nicht gemacht hatte, jedenfalls nicht sorgfältig. Von einer Wohnung in Seefeld, einem bekannten Wintersportort in Tirol, zwischen Innsbruck und der deutschen Grenze idyllisch gelegen, hörte ich zum ersten Mal, von der Gläubigerin auch noch als Luxusappartement bezeichnet. Also werthaltig.

Rechtspflegerin Scharf, die die Versammlung leitete, jung und noch nicht lange dabei, mit Atomkraftgegneraufkleber auf ihrem Notizbuch, schaute vorwurfsvoll. Sie gab mir auf, die Sache aufzuklären und kurzfristig ergänzend zu berichten.

Leicht geladen fuhr ich zur Weberei. Rainer war ahnungslos. „Seefeld, Wohnung – nie gehört, oder doch, warten Sie. Da hat der Vater Urlaub gemacht, glaube ich. Aber ich weiß nichts davon, dass ihm dort eine Wohnung gehören soll.“ Jetzt kam ich richtig in Fahrt.

„Appartementhaus Panorama, Leutascherstraße, klingelt es? Oder soll ich Sie durch das Gericht vorladen und vernehmen lassen?“

Das zog. Rainer knickte ein. Die Mutter hätte ihm aufgegeben, den Mund zu halten. Ja, es sei zutreffend, der Vater hätte in Seefeld schon vor Jahren ein Appartement gekauft.

Und so konnte ich dem Gericht schon einen Tag später einen ergänzenden Bericht senden und mein Versäumnis korrigieren.

„Auf Vorhalt hat der Sohn des Verstorbenen eingeräumt, dass dieser wirtschaftlich Berechtigter einer in Seefeld, Tirol, gelegenen Eigentumswohnung, bestehend aus vier Zimmern, Küche, Bad, Gäste-WC, Terrasse, Keller und Garage Nr. 10 ist. Die Wohnung liegt in einem größeren Appartementhaus mit dem Namen „Alpenpanorama“. Eigentümer der Wohnung ist Wilhelm Bischofer, wohnhaft Poststraße 31 in Seefeld. Mit Vertrag vom 16.12.1991 hat Herr Bischofer, von Beruf Immobilienmakler und Liegenschaftsverwalter, die Wohnung an Ernst Reinartz für die Dauer von 99 Jahren vermietet und auf ein Kündigungsrecht verzichtet. Die Errichtung der Wohnung wurde vom Schuldner finanziert. Die dafür benötigten Mittel in Höhe von umgerechnet 330.000,00 € wurden von Reinartz geleistet. Im Auftrag von Herrn Bischofer ist ein im Objekt wohnender Hausmeister beauftragt, diese und weitere Eigentumswohnungen zu verwalten und für Rechnung des Eigentümers bzw. wirtschaftlich Berechtigten zu vermieten. Zu Gunsten des Verstorbenen ist die Eintragung eines Bestandsrechts im Grundbuch erfolgt. Ich rege an, die Eröffnung des Nachlassinsolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners in Österreich bekannt zu machen.“

Anfang Juli fuhr ich nach Seefeld. Hausmeister Obermayer, grauer Kittel auf kurzer Hose mit Gamsbarthut und derben Schuhen, empfing mich misstrauisch und wortkarg. Er hatte erst kürzlich vom Tod und der vorangegangenen Haftstrafe von Ernst Reinartz erfahren und sich gewundert, dass dieser mehr als zwei Jahre nicht mehr aufgetaucht war. Nur das Fräulein, gemeint war die Tochter, wäre hin und wieder – meist im Winter – vorbeigekommen. Aber nur kurz und zuletzt vor einigen Monaten. Den Schlüssel rückte er erst raus, nachdem Bischofer meine Kompetenz telefonisch bestätigte.

Die Wohnung roch muffig. Schwere Bauernmöbel im Stil des letzten Jahrhunderts, sicherlich wertvoll, aber nicht jedermanns Geschmack, Bilder an den Wänden, vom Alpenglühen bis zum obligatorischen Hirsch vor irgendeiner Steilwand, Zinnbecher auf Holzablagen. Massiver Parkettboden, darauf echt aussehende Perserteppiche, Ornamentkacheln im Bad, Wanne, Kloschlüssel und Waschbecken in Rosa mit vergoldeten Armaturen. Gediegen, fast luxuriös, konnte man sagen. In den Schränken lagen noch einige Kleidungsstücke, so als käme ihr Besitzer gleich wieder zurück, wenn nicht der Modergeruch gewesen wäre. Der gute Obermayer ließ mich nicht aus den Augen.

„Dürfen Sie das überhaupt?“, meinte er, als ich nacheinander Schränke und Schubladen öffnete.

„Ein Insolvenzverwalter darf alles. Er darf Sie sogar bitten, zu gehen. Ich bringe Ihnen die Schlüssel, wenn ich hier fertig bin.“ Er zog beleidigt ab.

Ich fand nichts, was mir helfen konnte. Die Kopie des Mietvertrages, den ich schon kannte, Stadtpläne von Innsbruck und Garmisch-Partenkirchen, Briefpapier, Briefumschläge, Kugelschreiber und Stifte, die meisten Utensilien mit dem Logo der Weberei versehen. Aber auch ein gerahmtes Foto im 10x15-Format lag in der Schreibtischschublade. Es zeigte eine ansehnliche, blonde Frau im roten Skianzug vor der Talstation der Bahn zur Rosshütte. Auch Obermayer reihte sich in die Schar der Ahnungslosen ein. Die Frau hatte er nie gesehen. Die in Seefeld gewonnenen Erkenntnisse fasste ich in einem kurzen Zwischenbericht für das Insolvenzgericht zusammen.

„Meine Überprüfungen vor Ort haben in Anbetracht der gegenwärtigen Marktlage, der Ausstattung der Wohnung und ihrer Lage ergeben, dass der tatsächliche Veräußerungswert mit mindestens 420.000,-- € zu veranschlagen ist.

Dieser Betrag entspricht Veräußerungserlösen, die laut Auskunft des Verwalters noch in jüngster Zeit für vergleichbare Wohnungen im Ferienhaus „Panorama“ erzielt wurden. Das Ferienhaus ist ein Neubau, der 1991 fertiggestellt wurde. Er liegt in ruhiger und zentraler Lage des vorwiegend als Wintersportort bekannten Dorfes Seefeld.

Zu der Wohnung gehört ferner eine Garage, deren Veräußerungswert mit 10.000,-- € zu veranschlagen ist. Auch insoweit können Veräußerungserlöse aus der jüngsten Zeit als Vergleichswerte herangezogen werden.

Der verstorbene Schuldner hat die Wohnung luxuriös ausgestattet. Wohn- und Schlafraum wurden vollständig in Massiv-Eiche verkleidet. Auch Bad und Küche und die sonstige Ausstattung erfüllen gehobene Ansprüche. Nach Auffassung des Verwalters, der die Anlage betreut, ist der Veräußerungswert der Einrichtung mit mindestens 40.000,-- € zu veranschlagen. Die Materialien sind vom Schuldner überwiegend von Deutschland aus nach Seefeld transportiert und an Ort und Stelle eingebaut worden.

Dem Verwalter sind auch bereits zwei potenzielle Käufer bekannt. Mit Herrn Bischofer habe ich eine Vereinbarung geschlossen, wonach er zu den ortsüblichen Vermittlungsprovisionen berechtigt ist, einen „Verkauf“ der Wohnung bzw. die Übertragung des Mietvertrages zu vermitteln.“

Kurz darauf teilte mir das Amtsgericht Ende Juli per Verfügung mit, dass die Eröffnung des Verfahrens auch in Österreich veröffentlicht wurde.

Kaum hatte ich die Verfügung des Gerichtes auf dem Tisch, rief mich meine Assistentin an. Dr. Karl Dietrich Zimmer wollte mich sprechen. Ein Kollege aus Wien.

„Habe die Ehre Herr Kollege“, tönte es aus dem Hörer, „wir sind wieder zusammen.“

Kollege Dr. Zimmer war mir aus einem kürzlich abgeschlossenen Verfahren bekannt. Er vertrat in dieser Sache eine Wiener Gesellschaft, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine frühere Auslandsgesellschaft des sowjetischen Geheimdienstes zur Devisenbeschaffung sowie weitere Personen, die nicht gerade zur besten Gesellschaft zu zählen waren. Aber es war Verlass auf ihn. Ich sah ihn leiblich vor mir, klein, kaum 1,65 m groß, dunkler Anzug, weißes Hemd, grelle Krawatte. Dicke, stark geränderte Brille über ausgeprägter Nase, kurze schwarze Haare, meist leicht ölig, breiter Mund, Wiener Schmäh.

„Verehrter Herr Kollege, Sie sind Masseverwalter in der Causa Reinartz? Sehr gut, wirklich sehr gut. Ein Glücksfall, wenn ich das sagen darf. Kompliment. Schaun’s, ich habe die Ehre, eine sehr beeindruckende Dame aus bester Gesellschaft zu vertreten. Griechin, mit österreichischem Pass, bekannte Familie, hochrangige Politiker darunter. Meine Mandantin sollte, wären nicht unschöne Umstände eingetreten, die zukünftige Frau Reinartz werden, nach der Scheidung versteht sich. Der liebe Ernst wollte nach Seefeld übersiedeln. Wo das Paar schon einige Zeit gemeinsam in der Wohnung verbracht hat, die Ihnen, verehrter Kollege, wohl derweil geläufig sein dürfte. Die Wohnung sollte, so der gemeinsame Plan, auf meine Mandantin überschrieben werden. Leider hat es nur noch zur Übertragung der Garage gereicht. Sehr bedauerlich aus unserer Sicht, sehr gut für Sie, verehrter Kollege. Erhöht es doch die Masse, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber vielleicht finden wir wieder eine amicale Lösung. Ganz korrekt natürlich. Ganz korrekt.“ Zimmer war nicht zu bremsen. Ich hörte weiter zu.

„Aber das ist nicht alles. Meine Mandantin weiß, dass in Österreich Geld liegt. Viel Geld. Vermutlich im schönen Tirol. Aber wo? In Geldgeschäften war der gute Ernst eigen. Da durfte keiner dabei sein.“

Das war neu. Und jetzt wurde es spannend. „Wo soll das sein?“, wollte ich wissen.

„Ja, das ist die Frage. Es könnte um anonym geführte Bankschließfächer gehen. Sie haben nicht zufällig Schlüssel in der Wohnung gefunden?“

Er kündigte mir ein Schreiben an, mit dem er seine Mandatierung bestätigen und weitere Details nennen wollte.

„Sie, verehrter Kollege, haben die Rechtsmacht, wir haben das Wissen, leider nicht die Schlüssel. Also tun wir uns zusammen.“

„Wie heißt denn Ihre Mandantin, Herr Kollege?“

„Sophia Makropoulos.“

Jetzt wusste ich, wer die Frau im Skianzug auf dem Foto war.

Ich fuhr zur Spedition. Rainer war nicht erfreut, mich zu sehen.

„Sie bringen uns ins Gerede“, meinte er. Das übliche Schicksal bekannter Insolvenzverwalter. Egal wohin man ging, wurde man gesehen, gab es sofort Gerüchte. War der Laden vielleicht schon pleite?

„Was wissen Sie über Geldanlagen Ihres Vaters in Österreich?“, fragte ich ihn ganz direkt. Und ebenso prompt kam die Antwort: „Nichts.“ Ich ließ nicht locker.

„Sophia Makropoulos! Schon mal gehört?“

„Ach, das wissen Sie auch schon? Eine Bekannte meines Vaters, wenn ich mich nicht irre.“ Rainer verbarg seine Überraschung nur schlecht. Das hatte gesessen.

„Bekannte? Besser wohl Stiefmutter, wären Haftstrafe und Tod nicht dazwischengekommen. Sie wussten doch um die gemeinsame Wohnung in Seefeld. Oder?“

Er blieb dabei, von Geld bei Banken, in Tresoren, auf Sparbüchern, Konten oder über Schließfächer wusste er nichts. Die Mutter angeblich auch nicht. Ja, die meiste Zeit habe der Vater in Tirol verbracht und sich kaum noch um die Firma gekümmert. Und vermutlich auch das eine oder andere Geschäft schwarz abgewickelt. Er saß ja nicht umsonst. Für ihn hätte nur noch seine – wie er meinte – Trulla existiert.

„Seine Bekannte, wie Sie sagen“, entgegnete ich trocken und ließ ihn mit der Drohung zurück, die Familie durch das Insolvenzgericht vernehmen zu lassen.

Wenig später kam das angekündigte Schreiben des Wiener Kollegen. Zimmer hatte die Ehre, mir seine Mandatierung in der Causa Makropoulos gegen Reinartz anzuzeigen. Und dies mit vorzüglicher kollegialer Hochachtung. Er berichtete nur kurz, schrieb von Schließfächern, deren Schlüssel im Besitz der Familie sein müssten. Beim anschließenden Telefonat deutete er weiteres Wissen an.

„Schaun’s verehrter Herr Kollege, an manche unterirdische Vorrichtungen unter den Schalterhallen der Banken gelangt man nur mit Schlüssel und Deckungswort.“

„Pin! Meinen Sie? Und diese haben Sie oder Ihre Mandantin?“

Er ließ sich nicht locken. Aber mir dämmerte, dass Sophia wusste oder annahm, dass es sich um Schließfächer handelte, deren Zugangswort sie kannte, ohne jedoch zu wissen, bei welcher Bank die vermeintlichen Schätze liegen würden.

Ich grillte nacheinander Rainer, Mutter Margarethe und die leicht einfältige Schwester Laura. Sie wussten nichts und überhaupt nichts, hatten keine Schlüssel im Besitz, nie welche gesehen, und von Schließfächern irgendwo in Österreich nie etwas gehört. Und das wollten sie auch beeiden.

Kollege Dr. Zimmer war nicht überzeugt.

„Schwer zu glauben, verehrter Herr Kollege. Dann müssen der oder die Schlüssel noch irgendwo anders liegen!“

Bischofer meldete sich telefonisch. Er hatte einen Käufer für die Wohnung und die Garage. 450.000,-- € plus 25.000,-- € für die Einrichtung, 5 % Provision für sich. Ich drückte ihn auf 3 % und trat wegen der Abwicklung auf die Bremse und sagte ihm, dass ich nochmals in die Wohnung fahren wollte.

„Sagen Sie Obermayer Bescheid, ich komme nächsten Dienstag. Wir können dann alles vor Ort regeln.“

Hinter Kranebitten verließ ich die Inntalautobahn und fuhr den Zirler Berg hoch. Fast hätte mich in Gedanken versunken der Blitzer in Reith erwischt. Gleich hinter dem Seefelder Sattel bog ich links ab, fuhr vorbei am Wildsee, wo Anfang September noch reger Badebetrieb herrschte. Die sportlichen Rentner joggten, badeten und wanderten, fuhren mit dem Mountainbike und das meist im schicken Dress passend zu jeder Aktivität. Von der Olympiastraße aus konnte ich den Appartementkomplex schon sehen, Obermayer war dabei, den Hof zu kehren. Freundlich wäre anders, aber immerhin war ich angekündigt, so rückte er den Schlüssel ohne lange Erklärungen heraus. Die Wohnung schien mir gelüftet zu sein, vermutlich als Folge mehrerer Besichtigungen mit Interessenten. Wo könnte man hier Schlüssel versteckt haben? Im Schreibtisch. Da hatte ich schon nachgesehen. Aber ich wiederholte die Suche in allen Schränken, Schubladen, schaute unter dem Teppich nach, hob die Matratzen auf und überprüfte selbst den Badschrank. Eher versehentlich verschob ich eine schwere, dunkelgrüne Lederauflage mit umlaufender Kontrastnaht auf dem Schreibtisch. Ein Stück Papier kam zum Vorschein, das sich als Briefumschlag entpuppte. Ein Auszug der Sparkasse Mittenwald. Kontoinhaber Ernst Reinartz. Offensichtlich war es der letzte Auszug. Glattgestellt durch eine Barabhebung in Höhe von 128.768,-- € im April. Also nach Eröffnung des Verfahrens. Ein sicherer Anspruch für die Masse. Die Reise hatte sich schon gelohnt. Jetzt musste ich nur noch wissen, wer das Geld geholt hatte. Ich beschloss, auf dem Rückweg über Mittenwald zu fahren.

Der Zufallsfund motivierte die erneute Sucharbeit. Nach dem kleinen Arbeitszimmer nahm ich mir die Küche vor. Ich bewegte Tassen und Gläser, Schüsseln und Dosen. Nichts. Dann nochmal ins Schlafzimmer. Eine schwere Doppelmatratze ließ sich nur mit Mühe liften. Anders als zuvor, schaute ich jetzt auch unter dem Fußteil nach. Ebenfalls nichts. Mit den Händen fuhr ich in die wenigen Kleidungsstücke und tastete auch die gefaltete Wäsche ab. Mittels Küchenleiter kontrollierte ich auch die oberen Ablagen in den Schränken. Sämtliche Nachttische waren leer, ebenso die massige Kommode im Schlafzimmer. Ich rollte die Teppiche auf, suchte im Bad, im Spind, warf einen Blick in die Abstellkammer. Am Ende kam das Wohnzimmer an die Reihe, ein fast 40 qm großer Raum mit dreiteiliger Couchgarnitur aus schwarzem Glattleder, Marmortisch, einer Leseecke unter den Seitenfenstern, Sideboard, Beistelltische. Auf dem Weg zur Küche ein Essplatz, Tisch – natürlich aus Eiche – mit sechs gepolsterten Stühlen, Servierwagen davor. Darüber an der Wand ein Eichenboard mit sechs Bechern, einem Bierseidel und einer Schnapsflasche. Alles aus Zinn. Auf dem ersten Becher links ein mit Hörnern behelmter Siegfried im Kampf mit dem Drachen. Siegfried holte gerade zum tödlichen Streich aus, das Schwert in der Rechten, weit hinter Kopf und Schulter ausholend, den Drachen fest im Blick, der seinen Kopf emporreckte und so ein treffliches Ziel bot. Die Nibelungensage hatte mich schon immer fasziniert. Nicht unbedingt in einer solchen Kitschvariante, ebenso martialisch wie hässlich. Ich griff nach dem in der Reihe ganz links stehenden Becher. Es klingelte, sacht, kaum hörbar. Ich drehte den Becher herum und in meine linke Handfläche fielen drei Schlüssel. Zwei typische Tresorschlüssel, jeweils mit Doppelbart, unterschiedlich ausgeprägten Nocken, einmal mit runder und einmal mit rechteckiger Reite und kleiner Lochung. Auch der dritte Schlüssel, wesentlich kleiner als die beiden anderen, war ein Bartschlüssel, aber lediglich mit einseitig ausgeprägten Nocken und einem kurzen, sehr viel dünnerem Halm.

Keiner der Schlüssel trug eine Nummer oder irgendeinen Hinweis auf den Hersteller oder den Verwender.

In rascher Folge schüttelte ich auch die übrigen Becher. Ohne Resonanz, nur Staub rieselte heraus. Aber immerhin. Das war ein erfolgreicher Vormittag. Klare Hinweise auf eine anfechtbare Entziehung von Insolvenzmasse durch Abräumung eines Bankkontos und der Fund von drei Schlüsseln, die mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wenigstens in zwei Fällen zu Schließfächern oder gar Tresoren gehören sollten.

Bischofer wartete auf mich in seinem Büro. Wenn es einmal läuft, dann läuft es – war die Devise meines rheinischen Großvaters. Der Kaufvertrag für die Wohnung lag vor. Ein Steuerberater aus Bregenz hatte nochmals eine Schüppe draufgelegt und einen Sägewerksbesitzer aus Jenbach im letzten Moment überboten. Der Kaufpreis für die Wohnung und die Garage betrug insgesamt 475.000,-- €. Zudem sollten 25.000,-- € für das Eichenholzkabinett gezahlt werden. Wahrscheinlich alles frei für die Masse. In dem Entwurf des von einem Innsbrucker Notar gefertigten Kaufvertrages interessierten mich die Zahlungsmodalitäten, der Rest war Routine und ging in Ordnung. Obwohl ich nicht Verkäufer, sondern lediglich wirtschaftlicher Berechtigter aus dem Verkauf war, legte Bischofer Wert auf meine Paraphe.

Da der Käufer keine Auslandsüberweisung tätigen wollte, suchte ich gemeinsam mit Bischofer am Ende der Fußgängerzone die mitten im Zentrum liegende Raiffeisenbank auf und eröffnete ein Abwicklungskonto. Herr Geiger kontrollierte Ausweis, Ernennungsurkunde und die öffentliche Bekanntmachung der Insolvenzeröffnung. Sodann ließ er mich einige Minuten mit den Geschäftsbedingungen für Anderkonten in Österreich allein, deren Kenntnisnahme ich quittieren musste. Die Ernennungsurkunde fand sein besonderes Interesse. Ich beobachtete ihn kritisch.

„Sagt Ihnen der Name Ernst Reinartz etwas?“, fragte ich möglichst harmlos.

„Nein, nie gehört“, antwortete er, ohne dabei eine Miene zu verziehen, sich ans Ohrläppchen zu fassen oder über den Kopf zu streichen, sondern schaute mir lächelnd in die Augen. Das wirkte glaubhaft. Dennoch beschloss ich, nichts von den Schlüsseln zu sagen, die Geschichte von Freundin, Wohnung, Geld in Österreich, Deckungswort oder Pin-Code für mich zu behalten. Jedenfalls vorläufig. Ich musste erst mit Zimmer reden. Er und seine Mandantin würden kooperieren, davon ging ich aus. Auch die Familie würde, so mein Kalkül, sich überlegen, ob sie weiter mauern wollte. Denn jetzt war ich zumindest im Besitz eines Pfandes, ohne das die anderen Beteiligten nicht an Schließfächer oder Tresore und ihren jeweiligen Inhalt herankommen konnten.

Ich strich die Fahrt nach Mittenwald und fuhr nach Innsbruck. Denn mein Freund Walsky war mir eingefallen, Leiter einer kleinen Zweigstelle der Hypobank gleich am Campus. Walsky hatte mir schon einmal geholfen und erkannte mich auch gleich wieder.

„Na, erneut auf Schatzsuche in Österreich, hoffentlich nicht wieder bei einem unserer Kunden?“

Ich zeigte ihm die Schlüssel.

„Von uns sind sie nicht“, erklärte er mir, nachdem er jeden Schlüssel eingehend begutachtet hatte. Sein Fazit, zwei der drei Schlüssel könnten bei aller Vorsicht Schließfachschlüssel sein, der kleinere Schlüssel hingegen dürfte eher zu einer Geldkassette gehören.

„Gratuliere, da können Sie die Nadel im Heuhaufen suchen! Aber vielleicht hilft es Ihnen, wenn wir feststellen können, wer solche Schlüssel in Österreich herstellt!“

Walsky ging in sein hinter der Schalterhalle liegendes Zimmer und telefonierte.

„Sie haben Glück, es gibt nur 15 Herstellerfirmen in Österreich, fünf davon allein in Wien. Von einem dort ansässigen Unternehmen beziehen auch wir die Schlüssel für Schließfächer und Tresore. Die sind auf Banken spezialisiert. Ich gebe Ihnen die Adresse. Vielleicht versuchen Sie dort Ihr Glück. Wien ist immer eine Reise wert.“

Zimmer versorgte ich nur mit dem Allernötigsten. Von der geplanten Reise nach Wien sagte ich erst einmal nichts. Es war schwer zu sagen, ob er sich über den Schlüsselfund freute oder sich lieber mit der Familie arrangiert hätte.

Kurzfristig wurde aus meiner geplanten Reise nach Wien nichts. Insolvenz hatte Konjunktur und so legte ich die Akte erst einmal auf die Seite und widmete mich neuen Aufgaben und Verfahren.

Der Weihnachtsmarkt am Wiener Rathaus war schon eröffnet, als ich endlich den Termin bei dem Schlüsselhersteller, der Firma Voigtmann, wahrnehmen konnte. Ich lief vom König von Ungarn, meinem Wiener Domizil, das ich schon im vorangegangenen KGB-Verfahren schätzen gelernt hatte, über den Markt, der nicht anders daher dudelte und roch, wie tausend andere Weihnachtsmärkte auch, in Richtung Fleischmarkt, vorbei am Griechenbeißl. Die Liedzeile „Oh Du lieber Augustin“, kam mir im Vorbeilaufen in den Sinn. Das Spottlied war hier im 17. Jahrhundert entstanden, so die Erzählungen. Alles ist hin, heißt es im Refrain. Davon ging ich aber nicht aus und hoffte, dass mir Herr Landauer, der Geschäftsführer von Voigtmann, helfen konnte. Über die Schwedenbrücke führte mein Weg in die Praterstraße und kurz nach 17:00 Uhr stand ich auf dem Firmengelände vor dem Bürotrakt. Eher sollte ich nicht kommen, hatte man mir am Telefon gesagt.

Landauer empfing mich in seinem Büro. Überall Rohlinge und Muster, unglaublich, was es für eine Vielfalt an Schlüsseln gab. Auf ausgelegten Flyern und Plakaten hieß es, dass man für jedes Problem im Sicherheitsbereich eine Lösung haben würde. Für mich dann hoffentlich auch.

Landauer war im Druck, er wollte rechtzeitig raus nach Hütteldorf zu Rapid zum Derby gegen die Austria. Wir verloren also keine Zeit, ich zeigte ihm meine Schätze.

„Den hier können Sie gleich wegtun, der gehört zu einer Kassette, aber zu keiner Bank.“ Damit war der Fall, soweit er den kleinen Schlüssel betraf, schon mal gelöst. Bei den Schlüsseln mit Doppelbart war Landauer ebenso sicher.

„Die sind von uns, keine Frage. Aber aus einer früheren Serie, für Schließfächer ausgeführt. Die Gegenstücke sind immer bei der Bank.“

Das machte Hoffnung, war aber erst die halbe Miete. Ohne Umschweife wollte ich wissen, für welche Bank oder Sparkasse die Schlüssel produziert wurden. Landauer lief zum Schreibtisch an seinen PC, dann zum Aktenregal. Zielstrebig zog er einen nummerierten Ordner heraus und blätterte mit großer Sorgfalt, Seite für Seite glattstreichend. Mir fiel gleich der Witz vom Schneckerl ein, das seinem Wiener Sammler entwichen war, den ich aber lieber für mich behielt, die Warnung meiner Töchter im Ohr, die mich eindringlich gemahnt hatten, Randgruppenwitze nicht immer an Randgruppen zu testen. Endlich sah er zu mir auf.

„Ja mei, was ich Ihnen sagen kann ist, diese Schlüssel wurden bis vor fünf Jahren für Volks- und Raiffeisenbanken in Bayern, Tirol und Vorarlberg hergestellt und ausgeliefert. Und, sehe ich gerade, auch für die Bank für Tirol und Vorarlberg, die haben aber auch Niederlassungen in Wien und sogar in Bayern.“

Bedauernd fügte er hinzu, dass der frühere Vertriebsleiter, der vielleicht noch etwas mehr sagen und den Kreis der Bezieher eingrenzen könnte, vor einigen Jahren ausgeschieden und kurz nach Renteneintritt gestorben war. Das war wie ein Schlag in die Magengrube. Ich hatte gedacht, Landauer würde mir Namen und Adresse der Bank liefern. Alles was ich dann noch tun musste, war dort hinzufahren und die Schließfächer zu öffnen. Gut, möglicherweise hätte ich noch Deckungswort oder Pin benötigt. Aber mit Zimmer wäre mit Sicherheit eine schnelle Einigung möglich. Jetzt kam halb Europa als Zielort in Frage. Landauer erriet meine Gedanken.

„ Da ham’S was zu tun. Deckungswort oder Pin kennen Sie vermutlich? Sonst nützen Ihnen die Schlüssel eh nix.“

Versunken in Gedanken lief ich zur Bäckerstraße zu Oswald & Kalb. Ich brauchte erst einmal ein Bier und was zu essen. Aus dem Szenelokal rief ich Zimmer an. Er war überrascht, dass ich mich vorher nicht angemeldet hatte. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen im Foyer des König von Ungarn. Seine Mandantin würde mitkommen.

In Anwesenheit von Sophia Makropoulos vergaß Zimmer seine Konzilianz und machte einen auf harter Anwalt. Es ging zur Sache. Erst recht, als sich auch noch Jannis, der Bruder von Sophia, dazu gesellte. Wir saßen in der Lobby, einem überdachten Innenhof, ich im Sessel, Sophia und Dr. Zimmer auf einem Sofa mit Streifenmuster. Die Akten mussten auf dem Fußboden ausgebreitet werden, da der kleine Tisch gerade noch die Kaffeetassen fasste. Zimmer erschien im dunklen Anzug, zur Abwechslung mal mit roter Krawatte und Einstecktuch, galant um das Wohl seiner Mandantin bemüht.

Sophia war leicht verschnupft. Das Wetter wäre schuld. Ende November in Mitteleuropa, für eine Griechin geradezu eine Zumutung. Die blonden Haare hochgesteckt, ohne Schmuck, mit dickem Rollkragenpullover und Flanellhose, ganz in Schwarz, überließ sie Anwalt und Bruder die Argumentation. Zimmer fuhr schwere Geschütze auf.

„Ohne uns erreichen Sie nichts, verehrter Herr Kollege. Ja, Sie haben die Schlüssel, aber wir haben Deckungswort oder Pin, ganz wie Sie wollen. Was wir erwarten ist, dass die Versprechen des Verstorbenen zu Gunsten meiner Mandantin eingelöst werden. Ihr sollte die Wohnung übertragen werden, so wie schon die Garage, dieses Geld bekommen wir in jedem Fall.“

„Und damit das auch gleich klar ist, bei einem Verkauf der Wohnung beansprucht meine Schwester den Erlös, denn sie hat Reinartz unterhalten, als dieser nicht mehr über seine Bankkonten verfügen konnte.“

Zimmer und Jannis gerieten richtig in Fahrt und in eine Art Überbietungswettbewerb. Auch zur Aufteilung etwa bei Banken deponierter Gelder hatten sie klare Vorstellungen. Der Erlös sollte zu 80 % an Sophia gehen. Als angemessene Kompensation für liebevolle Zuwendung und finanzielle Unterstützung. Irgendwann war es genug. Höflich, aber bestimmt, erläuterte ich Bruder und Schwester die rechtlichen Grundlagen eines Aussonderungsanspruches und die Anforderungen, die ein Gläubiger zu erfüllen hatte, um ein solches Begehren geltend zu machen und durchzusetzen.

„Ein Insolvenzverfahren ist kein Wunschkonzert. Rechte an der Wohnung und ihrer Einrichtung haben Sie keine. Das können Sie vergessen. Und einen finanziellen Ausgleich für liebevolle „Zuwendungen“ kennt die Insolvenzordnung auch nicht.“

„Trotzdem“, beharrte Zimmer, „ohne uns erreichen Sie nichts.“

Für das Amtsgericht fasste ich das Ergebnis der Wiener Verhandlungen in einem Zwischenbericht zusammen und beantragte die Einberufung einer Gläubigerversammlung.

„Die vom Amtsgericht verfügte Veröffentlichung des Nachlassinsolvenzverfahrens in Österreich hat dazu geführt, dass sich zwischenzeitlich eine Frau Makropoulos gemeldet hat und Aussonderungsansprüche an der Eigentumswohnung in Seefeld sowie der zugehörigen Garage und an dem Inhalt eines bislang unbekannten Banktresors geltend macht. Die Existenz eines Banktresors oder Bankschließfaches war bislang nicht bekannt. Bei meinem letzten Aufenthalt in Seefeld habe ich in der Eigentumswohnung drei Schlüssel gefunden, von denen zwei zweifelsfrei einem Bankschließfach zugeordnet werden können. Eine genaue örtliche Bestimmung war allerdings nicht möglich. Der Schlüsselhersteller konnte lediglich angeben, dass diese Art von Schlüsseln überwiegend im Raum Tirol, Vorarlberg und Bayern bei Volks- und Raiffeisenbanken sowie der Bank für Tirol und Vorarlberg verwendet wurden. Auch Frau Makropoulos konnte oder wollte dazu keine näheren Angaben machen, berühmt sich aber, im Besitz eines PINs oder eines Deckungswortes zu sein, das für den Zugang zu den Bankschließfächern benötigt wird. Deren Preisgabe macht sie vom Abschluss eines Teilungsabkommens abhängig, dass ihr einen 60 %igen Anteil an allen Werten zuspricht, die im weiteren Verlauf des Verfahrens noch in etwaigen Bankschließfächern oder Tresoren gefunden werden.

Selbst wenn es mir gelänge, die Bank, bei der der verstorbene Schuldner die Bankschließfächer oder Tresore gemietet hat, ausfindig zu machen, käme ich ohne Mitwirkung von Frau Makropoulos nicht an die dort etwa lagernden Werte heran. Ein Teilungsabkommen ist daher alternativlos.

Nach Abschluss eines derartigen Abkommens werde ich alle in Betracht kommenden Banken und Sparkassen in Tirol, Vorarlberg und Bayern anschreiben und um Auskunft ersuchen. Allerdings ist es denkbar, dass Bankschließfächer, in denen Sparbücher und/oder Tresorschlüssel aufbewahrt werden, anonym angemietet wurden.

Den Aussonderungsanspruch bezüglich der Garage in Seefeld werde ich anerkennen. Meine Überprüfungen haben ergeben, dass die Garage an Frau Makropoulos übertragen wurde. Die Garage wurde bereits auf sie umgeschrieben.

In Bezug auf die Wohnung werde ich den Aussonderungsanspruch ablehnen. Frau Makropoulos hat nicht nachweisen können, dass ihr die Wohnung rechtsverbindlich zugesprochen, geschweige denn übertragen, wurde. Eigentümer ist unverändert Herr Bischofer, wirtschaftlich Berechtigter war und ist der verstorbene Schuldner beziehungsweise heute der Insolvenzverwalter.

Der Abschluss eines Teilungsabkommens über etwaige Geldbestände unterliegt als wesentliche Rechtshandlung der Zustimmung der Gläubigerversammlung, da ein Gläubigerausschuss nicht bestellt wurde. Ich beantrage daher die Einberufung einer Gläubigerversammlung zum nächstmöglichen Zeitpunkt.“

„Ist denn eine solche Vereinbarung überhaupt mit den guten Sitten vereinbar?“, wollte die Rechtspflegerin wissen. Erst nach Bedenkzeit und rechtlicher Prüfung kam sie meinem Antrag nach und berief die Gläubigerversammlung für den 15. Februar ein. In der Karnevalswoche ausgerechnet. Aber vielleicht passend zum Anlass.

Familie Reinartz stieg in den Schützengraben und feuerte aus allen Rohren, um die Versammlung zu verhindern. Aber mit Platzpatronen, das Gericht blieb dabei, die Gläubigerversammlung fand statt. Zudem stand fest, dass die liebe Laura es war, die das Konto in Mittenwald abgeräumt hatte. Und zwar nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Strafanzeige oder sofortige Rückzahlung war die Alternative, die ich ihr aufzeigte. Wenige Tage später war das Geld auf meinem Konto. Die Familie schloss mich immer mehr in ihr Herz und ins Abendgebet ein.

Im tristen Saal 404, oben im 4. Stock des Justizgebäudes, ging es hoch her. Schweinerei, Winkeladvokaten, Flittchen, Nuttenlohn waren einige der Ausdrücke, die die aufgebrachte Margarete in den Raum schrie. Die junge Rechtspflegerin ließ sie eine Zeitlang gewähren. Ich hielt mich raus, blätterte in der Akte und schaute in den Saal, um zu sehen, wer an der Versammlung teilnahm und abstimmungsberechtigt sein würde. Meier vom Rechtsamt der Stadt war da, in Jeans und rotem Rollkragen, aber immerhin mit dunklem Sakko. Dahinter Küsters vom Finanzamt, ständiger Gast in Gläubigerversammlungen. Er hatte eine ganze Reihe in Beschlag genommen und saß zwischen seinen Akten, die er links und rechts neben sich platziert hatte. Die Vertreter der beteiligten Sparkassen, vorschriftsmäßig in Blau und Grau, Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, auf die ich schon länger verzichtete. Dazu ein paar Kleingläubiger. Mir gegenüber im Dreierpack Margarete und Rainer Reinartz in Begleitung ihres Anwalts. Kollege Dr. Jansen, in Kollegenkreisen nur Jansen III genannt, obwohl Jansen I schon länger auf dem Westfriedhof ruhte und Jansen II vor einigen Jahren in der „letzten Instanz“ seinen Ausstand gegeben hatte und anschließend in den Süden verschwunden war. Vergebens versuchte der Kollege, seine Mandantin zu besänftigen, die weiter zeterte.

„Wenn Sie sich nicht beruhigen, muss ich Sie des Saales verweisen“, machte Rechtspflegerin Scharf ihrem Namen Ehre.

„Bitte, Herr Insolvenzverwalter, tragen Sie zu Tagesordnungspunkt 1 vor. Ich darf wiederholen: Gehör der Gläubiger und Beschlussfassung der Gläubiger zu einem Teilungsabkommen mit Frau Sophia Makropoulos, Wien!“

Verspätet erschien Zimmer mit rotem Kopf.

„Bitte höflichst um Vergebung. Aber ich hatte Orientierungsprobleme und wurde zudem an der Personenkontrolle aufgehalten.“ Glücklicherweise war er meinem Rat gefolgt und erschien ohne seine Mandantin.

Mit kurzen Worten erläuterte ich der Versammlung nochmals die Hintergründe. Kaum hatte ich geendet, bat Jansen III ums Wort und beantragte mit viel Pathos und großen Gesten, die Zustimmung zu einem derartigen Teilungsabkommen zu verweigern.

„Das ist ein Schlag gegen die guten Sitten, gegen Anstand und Moral – und zudem völlig insolvenzzweckwidrig. Sollte es tatsächlich, was wir bezweifeln, bei österreichischen Banken Geld geben, gehört es ohne jeden Abzug in die Masse.“

Wie würde sich das Finanzamt verhalten, war die entscheidende Frage. Denn die Steuerforderungen machten mehr als die Hälfte der Gesamtverbindlichkeiten aus. Küsters konnte fast im Alleingang entscheiden, gegen ihn war nichts zu machen.

„Da es keine Folter gibt, muss der Insolvenzverwalter kooperieren, wenn er etwas für die Masse holen will. Aber aus unserer Sicht stimmt das Verhältnis nicht. 60 % für Frau Makropoulos kann die Finanzverwaltung nicht akzeptieren.“

Damit hatte ich gerechnet. Kollege Dr. Zimmer wand sich; er müsse erst mit seiner Mandantin reden, die leider mit Grippe im Bett läge und deshalb nicht hätte mitkommen können.

„Das wäre auch noch schöner, wenn sich das Flittchen hierher getraut hätte“, tönte es von der anderen Seite.

Jetzt hatte Scharf genug. Die Sitzung wurde unterbrochen, zur Beruhigung.

„Unter 50 % werden die Gläubiger nicht zustimmen, Kollege Zimmer, Sie müssen sich bewegen.“

„Okay, ich telefoniere.“

Nach kurzer Zeit ging es weiter, ohne Margarete, die sich diese „Schmierenkomödie“ nicht länger antun wollte.

Frau Makropoulos war nicht bereit, sich auf 50 % zu einigen. Nach einigem Hin und Her fasste die Versammlung aber trotzdem auf meinen Vorschlag den Beschluss, mich zu ermächtigen, mich auf hälftiger Basis mit Frau Makropoulos zu verständigen und stimmte einer entsprechenden Regelung bereits vorab zu. Jansen III kündigte an, einen Untersagungsantrag für seine Mandanten zu stellen. Und Rainer rief hinterher, man werde bis nach Karlsruhe gehen.

„Gute Reise, nehmen’s Proviant mit“, riet Dr. Zimmer. Bevor es zum Handgemenge kommen konnte, zog Kollege Jansen glücklicherweise seinen Mandanten aus dem Saal.

Beim Italiener am Bahnhof besprachen Zimmer und ich das weitere Vorgehen.

„Kein Alleingang, verehrter Herr Kollege, wenn Sie dies zusagen, werde ich mein Möglichstes tun, meine Mandantin für eine amicale Lösung auf hälftiger Basis zu gewinnen. Aber die Schatzsuche geht nur gemeinsam.“

Es dauerte fast vier Monate, bis das Amtsgericht den Untersagungsantrag zurückwies. Von einer Beschwerde sahen die Reinartz ab. Jetzt musste die Vereinbarung auf Grundlage des Beschlusses der Gläubigerversammlung geschlossen werden. Ich flog nach Wien, morgens hin und abends wieder zurück; mit einer unterschriebenen Vereinbarung im Koffer. Dem Gericht erstattete ich einen weiteren Bericht.

„1. Die Gläubigerversammlung am 15. Februar 1987 hat mich mit absoluter Stimmenmehrheit auf Vorschlag des Finanzamtes ermächtigt, mit Frau Makropoulos ein Teilungsabkommen über den Inhalt eines oder mehrerer Banksafes zu schließen, wobei der Insolvenzmasse mindestens 50 % des Erlöses zufließen müssen.

2. Über die Modalitäten eines derartigen Abkommens habe ich zwischenzeitlich am 27. Juni mit Frau Makropoulos und ihrem anwaltlichen Bevollmächtigten verhandelt. Frau Makropoulos ist damit einverstanden, etwaige Vermögensgegenstände im Verhältnis von 50 zu 50 zu teilen. Die Vereinbarung ist als Anlage 1 beigefügt.

3. Bei der Besprechung hat Frau Makropoulos Wert auf die Feststellung gelegt, dass sie keine weiteren Ansprüche an Vermögensgegenständen des Verstorbenen erhebt. Ihr geht es vielmehr um die Rückerstattung der von ihr für den gemeinsamen Lebensunterhalt geleisteten Zahlungen. Der Anspruch auf Aussonderung der Wohnung bzw. des Erlöses aus dem Verkauf der Wohnung wird von Frau Makropoulos nicht weiterverfolgt.“

Jetzt wurde es ernst. Erreicht war noch nichts. Die Überlegung, alle Banken und Sparkassen in den fraglichen Regionen anzuschreiben, wurde verworfen. Zu aufwändig, viele Banken würden vermutlich auch nicht antworten oder sich auf Bankgeheimnisse oder Datenschutz berufen. Und wenn der gute Ernst noch zu Lebzeiten eine Verfügung zu Gunsten der Familie getroffen haben sollte, wäre dieser Weg erst recht verschlossen. Dann aber musste der Clan früher oder später aus der Deckung kommen. Denn ich hatte die Schlüssel und Sophia den Pin oder das Deckungswort. Wir neutralisierten uns also gegenseitig und ohne uns ging nichts. Meine Überlegung war, dass wir so nahe wie möglich an den Verwahrungsort herankommen mussten, um Druck aufzubauen, um diejenigen, die wussten, wo sich die Schließfächer befanden, aus der Deckung zu locken. Aber was, wenn die Familie tatsächlich nichts wusste und Ernst das Geheimnis mit ins Grab genommen hatte? Wir hatten es zwar nicht in unsere Vereinbarung geschrieben, aber auf Handschlag versprochen: Keine Alleingänge.

Sophia fuhr im Sommer nach Griechenland zur Familie. An ihrer Stelle begleitete mich ihr Bruder Jannis, der mich mit Dr. Zimmer im Fond seines großen Audis in Kranenbitten abholte. Seefeld, Reith und Mittenwald – die hier ansässigen Banken und Sparkassen waren unsere Ziele, die wir uns für diesen Regentag Anfang August vorgenommen hatten. Wie das Wetter, so war auch die Laune am Ende eines verlorenen Tages.