Kritik der digitalen Vernunft - Ulrich Hemel - E-Book

Kritik der digitalen Vernunft E-Book

Ulrich Hemel

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Beschreibung

Digitale Transformation ist mehr als eine technologische Innovation. Sie hat gewaltige soziale, politische und kulturelle Auswirkungen. Was bedeuten diese Veränderungen für uns Menschen und für unsere Zukunft? Was bedeutet digitale Identität? Gibt es so etwas wie eine Maschinenwürde oder gar eine digitale Religion? Welche Herausforderungen bieten digitale Arbeit und Politik? Und wie sollen wir ethisch mit der digitalen Welt umgehen? In seinem Buch zeigt Ulrich Hemel, dass eine Frage im Zentrum stehen muss: Fördert oder hemmt ein Werkzeug der digitalen Welt Menschlichkeit? Dieses Prinzip angewandter digitaler Humanität ist der Leitstern, dem wir in der digitalen Transformation folgen sollten. Denn die Verantwortung für unsere Zukunft liegt bei uns Menschen selbst.

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Ulrich Hemel

Kritik der digitalen Vernunft

Ich widme den Band meinen drei Enkeln Justus (geboren 2013),Jonas (geboren 2015) und Amalia (geboren 2019).

Ulrich Hemel

Kritik der digitalen Vernunft

Warum Humanität der Maßstab sein muss

Abdruck des Texts „Google unser“ mit freundlicher Genehmigung des DCI Institute, Hamburg, aus: Christian Hoffmeister, Google Unser. © DCI Institute, Hamburg, 2019, S. 2.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Covergestaltung: Stefan Hilden/Bernd Sauter, www.HildenDesign.de Covermotiv: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von

Shutterstock.com

Satz: Röser MEDIA, Karlsruhe

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

ISBN E-Pub 978-3-451-81977-3

ISBN E-PDF 978-3-451-82000-7

ISBN Print 978-3-451-38915-3

Inhalt

Vorwort

1. Philosophische Grundfragen der Digitalität

Das Eindringen des Digitalen in die Lebenswelt

Digitale Verunsicherung und digitaler Konformitätsdruck

Vernunft und Verstand in der digitalen Welt

Unvernünftige Aspekte des Menschseins

Ist die digitale Welt grundsätzlich vernünftig?

Ist Vernunft grundsätzlich digital?

Wie lassen sich Leistungsgrenzen der digitalen Welt beschreiben?

Grenzen der Messtechnik und Grenzen des Erkennens überhaupt

Die Kontextualität digitaler Repräsentationen

Möglichkeitsräume und alternative Formen von Rationalität

Digitale Welt und das Problem von Anfang und Ende

Mehr-Ebenen-Perspektiven und Mehrfach-Dopplungen der Welt

Wirklichkeiten erster und zweiter Ordnung

Die Eigendynamik jeder Ebene von Wirklichkeit

Vernunftfähigkeit und Grenzen der digitalen Welt

2. Digitales Nichtwissen

Die moderne Wissensexplosion und die abnehmende Halbwertzeit von Wissen

Die Geschwindigkeit digitaler Transformation als Herausforderung

Mentale Architektur und verändertes Zeitgefühl

Digitalität als Epochenbruch im Umgang mit Wissen und Nichtwissen

Die Relevanz und die Plausibilität von Information

Situative Wahrnehmungskontexte

Relevanzurteil, Framing und Coping

Navigation in Wissensbeständen und Mustererkennung

Die Grenzfläche des Nichtwissens in der digitalen Welt

Digitale Ignoranzkompetenz als individuelle Bewältigungsstrategie

Das Ziel persönlicher digitaler Souveränität

3. Lernen und Entscheiden bei Menschen und Maschinen

Die Opazität von Entscheidungen

Die Steuerungsfunktion beim Umgang mit Wissen und Nichtwissen

Akkumulierendes Lernen, verstehendes Lernen und Identitätslernen

Maschinelles Lernen und Entscheiden

Entscheidungen vorbereiten, Entscheiden und Funktionieren

Situative Komplexität und reichhaltige Kontextualität

Die strukturelle Unvollständigkeit von Kontextbeschreibungen

Emotionale Selbststeuerung und die Priorisierung von Handlungen

Funktionale Rationalität und komplexe Weltmodelle

Rationale Priorisierung und der Emotionsüberschuss von Menschen

Unsichtbare Entscheidungen und der Kontextüberschuss bei Maschinen

Offenlegung von Risikoniveaus für digitale Anwendungen

Die Steigerung kognitiver Leistungsfähigkeit durch digitale Maschinen

Digitales Eigenleben und soziale Risiken maschineller Entscheidungen

Exocerebrum, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur

4. Digitale Identität

Menschliche Identität, Planungsfähigkeit und Zeitsouveränität

Digitale Identität als Epochenbruch der Selbstwahrnehmung

Drei Ebenen der Person: Physisches Ich, digitales Ich und Cloud-Ich

Digitale Orientierungskompetenz und digitaler Kontrollverlust

Auswirkungen digitaler Identität auf Körper und Seele

Digitale Erlebnisräume und digitale Konnektivität als Teil der Biografie

Hybride Identität und digitale Selbstoptimierung

Soziale Grenzen digitaler Identität: Gesichtserkennung und Genomanalyse

Öffentliche und private Identität in digitalen Zeiten

Angriffe auf digitale Identität: Datensicherheit und Cybercrime

Digitale Teilhabe und digitale Exklusion

Digitale Identität als historischer Lernprozess

5. Digitale Arbeit

Regeln, Steuern, Organisieren: Die digitale Transformation in der Arbeitswelt

Mensch-Maschine-Interaktion (I): Welcher Akteur entscheidet?

Mensch-Maschine-Interaktion (II): Diagnostik, Kontrolle oder Kollaboration?

Das Auseinanderfallen von Steuerung und Systemkomplexität als Paradox

Steuerung, Kausalität und die Zuschreibung von Verantwortung

Mainstreaming und Individualisierung: die soziale Seite digitaler Transformation

Digitale Ökosysteme, Sinn und Zugehörigkeit

Hybride Loyalität zwischen Leistung und Sinnerfüllung

Hybride Realität und Paradoxien der digitalen Arbeitswelt

6. Digitale Politik

Digitale Kommunikation und die Globalisierung von Werten und Normen

Digitale Finanztransaktionen und die Reichweite der Politik

Digitale Souveränität von Staaten

Datenkartelle und die Freiheit digitaler Märkte

Digitale Daseinsvorsorge: Die Rolle der Staaten im digitalen Strukturwandel

Dateneigentum und kommerzielle Wertschöpfung mit Daten

Die Daten der Bürgerinnen und Bürger: Das Ziel eines Datentreuhänders

Datensouveränität und das Ziel einer europäischen Cloud

Digitale Menschenrechte in der globalen Welt: Ein Internationaler Digitalgerichtshof

Digitale Solidarität als Zukunftsraum globaler Zivilgesellschaft

7. Digitale Ethik

Ethische Sprachfähigkeit als Herausforderung in der digitalen Welt

Humanität im Kontext von Menschenwürde und Menschenrechten

Humanität, Roboter und die Asimov’schen Gesetze

Utilitaristische, deontologische und Tugendethik: Humanität als Kriterium

Mentale Architektur und situative Handlungskontexte

Handwerkszeug für Verantwortung: Methoden ethischer Entscheidungsfindung

Prinzipienreflexion: Digitale Haftung und digitale Verantwortung

Ethik in der digitalen Lebenswelt und digitale Professionsethik

Ethik als Bestandteil digitaler Technik: Ethics by Design und Value Sensitive Design

Digitale Fairness als Aufgabe für Unternehmen und Institutionen

Der Leitstern der Humanität: Menschliche Werte für die digitale Welt

8. Digitale Religion und digitale Humanität

Gottebenbildlichkeit: Die Würde von Menschen und von Maschinen

Digitale Superintelligenz und digitale Unsterblichkeit

Digitale Religion als digitale Heilserwartung

Religiöse Praxis in digitalen Welten und digitale Theologien

Digitale Schöpfung: Digitale Maschinen als Quasi-Personen

Digitale Humanität als Ziel

Glossar

Über den Autor

Vorwort

Die digitale Transformation verändert unser Leben. Als Bündel technologischer Innovationen prägt sie Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Medien, das Öffentliche wie das Private. Sie benötigt aber auch kräftige Impulse aus der Zivilgesellschaft, wenn sie zugleich ihr humanisierendes Potenzial entfalten soll. Denn beide Wege sind möglich: der Weg der digitalen Unfreiheit und der Weg der digitalen Verbesserung von Lebensbedingungen in einer globalen Zivilgesellschaft mit inzwischen fast acht Milliarden Menschen.

Die Corona-Krise, die während der ersten Fassung des Buches weltweit für Umbrüche sorgte, verstärkt den Trend zu einer zunehmend digitalen, vielleicht auch immer mehr regionalen und ökologisch bewussten Wirtschaftsweise. Dann aber ist erst recht zu fragen, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen: kleinräumig oder global, abgeschottet im Kokon von Familie und Nationalstaat oder offen für eine gerechtere, friedlichere und nachhaltige Wirtschaftsweise, die allen Menschen zugutekommt.

Was also bedeutet die digitale Transformation für uns Menschen? Die Frage stand am Anfang dieses Buches, das den Titel „Kritik der digitalen Vernunft“ trägt. Dahinter steckt die Überzeugung, dass wir neu lernen müssen, umfassend zu denken und zu handeln. Denn was alle betrifft, muss auch für alle ausgelegt werden. Die Betrachtung von Teilaspekten ist notwendig, aber sie muss durch den wagemutigen Versuch ergänzt werden, einen Blick auf das Ganze unseres Lebens in digitalen Zeiten zu werfen.

Eine solche Auslegung im Rahmen einer „Kritik der digitalen Vernunft“ ist ein Gedankenanstoß, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir müssen die digitale Welt mit Blick auf unsere Identität, aber auch auf praktische Anwendungsfelder wie die Arbeitswelt und die politischen Verhältnisse, schließlich auf Fragen der Ethik und der Religion zu erfassen lernen.

Gleichzeitig gilt es, uns als Menschen in der Unterscheidung von Tieren und von Maschinen neu zu verstehen. Dabei entstehen durchaus neue Fragen, etwa die nach einer „Maschinenwürde“ analog zur „Menschenwürde“, die im letzten Kapitel explizit aufgegriffen wird. Es lohnt sich also, der Hinführung zum Verständnis der digitalen Welt in Abgrenzung und Gemeinsamkeit mit der menschlichen Vernunft etwas mehr Raum zu geben. Zu fragen ist folglich nach der Vernunft des Digitalen, nach der Rolle des digitalen Nichtwissens und der „Intelligenz“ Künstlicher Intelligenz, also auch dem Lernen von Menschen und von Maschinen. Daran schließt sich die Frage an, wer wir angesichts der digitalen Transformation sind und sein werden. So geht es in einem weiteren Kapitel ausdrücklich um unsere digitale Identität.

Eine „Kritik der digitalen Vernunft“ spielt im Titel zweifellos mit dem großen Beitrag Immanuel Kants für die europäische Geistesgeschichte. Seine „Kritik der reinen Vernunft“ erschien 1781, zwei Jahre nach der Französischen Revolution, die wir geistesgeschichtlich und politisch als Epochenwende begreifen. Hinter der „Kritik der digitalen Vernunft“ steckt insofern der Gedanke an eine neuerliche Epochenwende, aber auch die Notwendigkeit einer neuen Aufklärung. Denn zum Menschen gehört immerhin auch und nach wie vor seine Vernunftfähigkeit, vor und jenseits aller Künstlichen Intelligenz.

Weil Aufklärung ein praktisches Anliegen ist, heißt das Buch nicht „Prolegomena“ zu einer Kritik der digitalen Vernunft (auch weil viele Menschen den Begriff Prolegomena, also „anfängliche Bruchstücke“, gar nicht mehr kennen). Es heißt auch nicht „Beiträge zu einer Kritik der digitalen Vernunft“, denn damit wäre ein stark akademischer Duktus vorprogrammiert. Eingedenk der Grenzen und Schwächen jeder einzelnen Person enthält damit diese „Kritik der digitalen Vernunft“ Glanz und Elend jedes Versuchs, die eigene Zeit auf den Begriff zu bringen.

Dazu gehört es, dass wir als Menschen mit unseren Möglichkeiten ebenso wie mit unseren Grenzen leben. Die Grenzen eines Buches und eines Autors sind leicht zu verstehen: Ein Autor hat nur eine begrenzte Lebenszeit, eine begrenzte Auffassungs- und eine begrenzte Formulierungsgabe. Schon aus diesem Grund gehen alle Fehler, Einseitigkeiten und Mängel dieses Werks ausschließlich zu meinen Lasten.

Wir sind als Menschen aber auch nicht alleine. Ich bin dankbar für großartige Unterstützung, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Durch meine eigene Lebensreise konnte ich in vertiefter Art und Weise aufgrund meines Studiums der Katholischen Theologie, der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Rom die spezielle Welt der Religion, dazu nach meiner Habilitation in Religionspädagogik die faszinierende Welt der Unternehmensberatung bei der Boston Consulting Group und im Anschluss daran die Welt des Managements, zuletzt als Vorstandsvorsitzender in einem großen Familienunternehmen und in Firmen aus dem Portfolio von Private Equity kennenlernen. Als Bundesvorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer und Gründer des Instituts für Sozialstrategie zur Erforschung der globalen Zivilgesellschaft habe ich das Privileg, den Zugang zu politisch aktiven Menschen zu finden, auch im bisweilen kontroversen Gespräch.

Wenn ich von großartiger Unterstützung spreche, dann gilt dies für die Erstellung dieses Buches ganz besonders für das Team des Weltethos-Instituts in Tübingen, das zu leiten ich seit Juni 2018 die Ehre habe: Nurzat Sultanalieva und Kristina Janackova haben sich die Mühe gemacht, alle Kapitel des Buches ausführlich mit mir zu diskutieren. Kristina Janackova hat außerdem eine erste Fassung des umfangreichen Glossars sowie das Namensregister erstellt. Elena van den Berg hat sehr präzise an der Schlussredaktion mitgewirkt. Bernd Villhauer verdanke ich wertvolle textliche und sachliche Anregungen. Christopher Gohl und Anna Tomfeah tragen ebenso wie Michael Wihlenda, Julia Schönborn, Esther Nezere und Arben Kukaj zum inspirierenden Charakter des Instituts enorm bei. Und das Institut selbst würde nicht existieren ohne die ungemein großzügige finanzielle Förderung des Stifters Karl Schlecht, der auch selbst sehr gerne seine Stimme ins Gespräch einbringt und sich trotz seiner inzwischen 88 Lebensjahre nach wie vor als „Suchender“ bezeichnet.

Danken möchte ich aber auch dem Verlag Herder, für wunderbare Gespräche mit Simon Biallowons und Manuel Herder sowie für die ausgesprochen kundige Begleitung durch die Lektorin Johanna Oehler. Das Buchcover hat Stefan Hilden gestaltet, den wiederum Bernd Sauter auf das Thema aufmerksam gemacht hat.

Besonders hervorzuheben ist hier meine Frau Amparo Lucia, die als gebürtige Kolumbianerin immer wieder den Blick auf andere Formen der Lebensgestaltung und andere Lebensweisen lenkt.

Ich widme das Buch den kommenden Generationen, stellvertretend meinen Enkelkindern Justus (geboren 2013), Jonas (geboren 2015) und Amalia (geboren 2019).

Und wenn die Leserinnen und Leser bei ihrer Lektüre so viel Neues für sich entdecken und so viel Vergnügen haben wie ich beim Schreiben, hat das Buch seinen Zweck erfüllt!

Ulrich Hemel

Tübingen und Laichingen, den 29. Juni 2020

1. Philosophische Grundfragen der Digitalität

Die digitale Transformation durchzieht mittlerweile alle Lebensbereiche. Von der Produktion bis zur Logistik, vom Handel bis zu Dienstleistung, den Beruf ebenso wie den Alltag: Wir leben vernetzt und hängen von digitalen Strukturen in einem Ausmaß ab, das wir uns vor wenigen Jahren nicht hätten träumen lassen.

Das Eindringen des Digitalen in die Lebenswelt

Mein Großvater, geboren 1896, Volksschullehrer im hessischen Bürstadt, liebte Reisen. Abgesehen von wenigen Fernreisen hatte er dabei einen Radius von etwa 100 km. Er nutzte öffentliche Verkehrsmittel und das Fahrrad. Autofahren lernte er nie. Fotografieren auch nicht. Aber er malte mit Aquarellfarben, und zwar Städte und Landschaften, vom nahen Rhein bis zu den Pyramiden in Ägypten. Mit der digitalen Welt hatte er nichts zu tun.

Mein Vater, geboren 1927, nutzt das Telefon und fuhr zeitlebens Auto. An der digitalen Welt will er nicht teilhaben. Dadurch ist er nicht Mitglied der familieninternen WhatsApp-Gruppe. Wobei durchaus darüber diskutiert wird, dass die Datenschutzbestimmungen von WhatsApp unseren Ansprüchen nicht genügen. Achselzuckend stellen die teilnehmenden Familienmitglieder allerdings fest, dass der praktische Nutzen überwiegt. Zu den kleinen Widersprüchen der digitalen Welt gehört es also, dass wir die familieninterne Kommunikation in dieser WhatsApp-Gruppe über unsere Datenschutzbedenken stellen.

Ich bin 1956 geboren und ein typischer „Digital Immigrant“. Mit diesem in der jüngeren Generation schon gar nicht mehr gebräuchlichen Begriff bezeichnete man Angehörige der Übergangsgeneration zwischen analoger und digitaler Welt. Immerhin gibt es das Internet erst seit 1991. Als ich 1988 gemeinsam mit meinem Freund Hans-Ferdinand Angel die Firma „EcclesiaData GmbH“ gründete, weil ich an das Zukunftspotenzial des PC auch im Bereich kirchlicher Organisationen glaubte, kamen wir zu früh und wichen auf andere Zielgruppen aus.

Zu den Widersprüchen digitaler Immigrants gehört es bisweilen, dass sie zwischen analoger und digitaler Welt hin und her wechseln. Das geht auch mir so und gehört zur typischen Lebenslage meiner Alterskohorte. Eines Morgens vor fünf Jahren war mein jüngerer Sohn Daniel (geboren 1991) zu Besuch. Wir entschieden beim Frühstück, dass wir ins Kino gehen wollten. Ich zückte die gedruckte Tageszeitung, er sein Smartphone. Die Information über das Kinoprogramm war die gleiche, die Geschwindigkeit auch.

Mein Enkelsohn Justus, geboren 2013, hat im Alter von 7 Jahren noch kein Handy. Manchmal tippt er Nachrichten auf dem Smartphone meines Sohnes, also seines 1983 geborenen Vaters Stefan. Justus ist in eine digital geprägte Welt hineingeboren, aber seine Eltern achten darauf, dass er in seiner frühen Kindheit durch Primärerfahrungen geprägt wird, nicht durch deren Abbildung auf einem Bildschirm. Er weiß also aus erster Hand, wie ein Wald riecht und wie Schmetterlinge fliegen.

Andererseits durfte ich 2018 eine sehr neue und moderne Kindertagesstätte mit einem wunderschönen Ausblick in einen Park besuchen und fragte das Personal nach den Auswirkungen der digitalen Revolution. Eine Erzieherin erklärte mir: „Draußen war ein Eichhörnchen zu sehen. Ein Vierjähriger ging zum Fenster und machte eine Wischbewegung zur Bildvergrößerung. Er war erstaunt, dass das nicht klappte.“

Diese Generationenerzählung soll zeigen: Die Welt hat sich radikal verändert, und sie wird sich weiter verändern. Aber was bedeutet dies für den einzelnen Menschen in der Generationenfolge einer Familie? Was bedeutet es für die Arbeitswelt? Was für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt? Und wie sieht es aus, wenn wir die Welt als ganze betrachten?

Vieles spricht dafür, dass wir immer noch am Anfang stehen. Die Veränderung wird weitergehen, nach allen Vorzeichen rasanter und schneller, als wir es uns vorstellen können. Das geht bis zu unserem Selbstverständnis: Menschen haben die neue Aufgabe, sich nicht nur gegenüber Tieren, sondern auch gegenüber Künstlicher Intelligenz (KI) oder „Artificial Intelligence“ (AI) abzugrenzen.

Digitale Verunsicherung und digitaler Konformitätsdruck

Die Frage nach der „Vernunft“ des Digitalen ist nicht nur rhetorisch so gestellt. Sie verweist auf ein zugrunde liegendes Gefühl tiefer Verunsicherung: Wer sind wir Menschen, wenn Maschinen uns womöglich überflüssig machen?

Wie gehen wir mit dem Trend zu immer größerer Konformität um, den man „Digital Mainstreaming“ nennen kann? Wie können wir frei leben, wenn wir stets und ständig überwacht werden, etwa über unsere Bewegungsdaten und Bewegungsprofile, unsere Suchabfragen, unser Zahlungsverhalten, unseren digitalen Konsum? Immerhin wird schon die Abschaffung des Bargelds diskutiert, und zwar mit dem Argument der Verhinderung von Geldwäsche. So als ob jede Zahlung mit Bargeld unter den Schatten des Verdachts fiele!

Das kleine Beispiel „Abschaffung von Bargeld“ zeigt auf, wie massiv sich die digitale Welt auf den Alltag auswirkt. Aber auch hier gibt es zwei Seiten. So konnte ich Anfang 2020 an einer Tankstelle mein Benzin nicht wie üblich mit der Kreditkarte, sondern nur mit Bargeld bezahlen. Die Kassiererin fragte mich, ob das denn ein Grund sei, anderswo zu tanken – und ich bejahte. Denn Bargeld muss ich aus dem Geldautomaten ziehen, was Aufwand und Mühe ist. Die Kreditkarte ist unmittelbar verfügbar, und am Ende des Monats habe ich eine Aufstellung über meine Ausgaben.

Bequemlichkeit hat aber auch hier ihren Preis: Denn dann weiß nicht nur ich, was ich gezahlt habe, sondern auch das Kreditkartenunternehmen. Wie meine Daten dann in Big-Data-Auswertungen eingehen, weiß keiner. Aber im Alltag verdrängen wir es.

Vernunft und Verstand in der digitalen Welt

Ist die digitale Welt vernünftig, kann Vernunft digital sein? Das ist die Leitfrage dieses Kapitels, und sie führt hin zum Thema dieses Buches. Selbst bei einem ganz einfachen Beispiel wie dem Tanken mit Kreditkarte entstehen Fragen, die sich aus der digitalen Durchdringung des Alltags ergeben. Was daran vernünftig ist, kann nicht losgelöst von eigenen Perspektiven und Interessen beantwortet werden.

Das aber ist genau ein Teil des Dilemmas. Denn natürlich ist es praktischer und unter diesem Blickwinkel vernünftig, wenn ich mir einmal im Monat meine Benzinkosten ansehe. Wenn ich bar zahle, müsste ich mir das separat aufschreiben, Belege sammeln, Listen führen und dergleichen. Das Digitale wird also Teil der Alltagsvernunft! Wobei ausgebildete Philosophen anmerken würden, es könne sich hier höchstenfalls um ein Phänomen des alltäglichen Verstandes handeln, denn es geht um den „common sense“. Im angelsächsischen Sprachgebrauch ist damit insbesondere die Pragmatik des Einsatzes unserer Denk- und Handlungsfähigkeit in Abgrenzung zu einer umfassend verstandenen kognitiven Rationalität gemeint.

Die weiter oben erwähnte Abschaffung des Bargelds verhindert Geldwäsche beim Kauf von Autos und Wohnungen, etwa wenn große Beträge in bar über den Tisch gehen. In Großbritannien gibt es bereits ein Gesetz, das zu Erklärungen verpflichtet, wenn große Summen Geld von einem Konto bewegt werden. Das Digitale ist hier nicht einfach Teil der Vernunft. Es wird Teil einer immer enger werdenden sozialen Kontrolle.

Eine Kritik der digitalen Vernunft wird daher stets die Balance aus sozialer Kontrolle und Alltagserleichterung, aus Befreiung und Beherrschung, aus individueller Einzigartigkeit und genormtem Gruppenverhalten berücksichtigen müssen. Digitale Fragen sind nicht nur Fragen der Zweckmäßigkeit, sondern auch Fragen sozialer Macht und Ohnmacht. Die digitale Frage ist ja tatsächlich in vielerlei Hinsicht eine soziale und eine politische Frage, ob es auf den ersten Blick so wirkt oder nicht. Dafür möchte dieses Buch den Blick schärfen.

Überlegungen darüber, was genau „digitale Vernunft“ sein soll, werden Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Dabei ist digitale Vernunft von „Künstlicher Intelligenz“ zu unterscheiden und wird qualitativ gedeutet.

Wir haben uns ja längst daran gewöhnt, dass gut programmierte und selbst lernende Computerprogramme besser Schach und besser Go spielen als die weltbesten Spieler. Reden wir dann von „intelligenten Anwendungen“ oder von „digitaler Vernunft“? Sollen wir eine „digitale Vernunft“ von einem „digitalen Verstand“ abgrenzen, oder geht eine solche Unterscheidung zu weit?

Gibt es sinnvoll abgrenzende Gegenbegriffe zum Terminus „digitale Vernunft“, etwa digitale Unvernunft, digitaler Wahnsinn, digitale Naivität? Ist am Ende unsere Vernunft grundsätzlich schon „digital“? Oder deuten wir bloß aufgrund aktueller technischer Neuerungen unser menschliches Erkenntnisvermögen nach dem Bild der gerade aktuellsten Maschine? Schließlich hatten die Fortschritte der Präzisionsmechanik dazu geführt, dass Gott im 17. Jahrhundert auch mit dem obersten und perfekten Uhrmacher verglichen wurde.

Unvernünftige Aspekte des Menschseins

Und wenn wir von „Vernunft“ und „vernünftig“ sprechen, wie gehen wir in Anwendung auf die digitale Welt mit den nicht so vernünftigen, mit den nicht nur emotionalen, sondern rundum irrationalen und widersprüchlichen Anteilen menschlichen Handelns und Lebens um?

Wäre die Vernunft dann nur ein abgegrenzter Bereich inselhafter Anwendungen für eine rationale Weltgestaltung? Dann wäre eine rundum vernünftige Welt eine Welt der Perfektion, die zu einem breiteren Fundament rationaler Lebensgestaltung führen könnte. Unter diesem Blickwinkel könnten wir den heutigen Menschen eher mit Blick auf seine Defizite und Rationalitätsmängel betrachten. Genau das ist die Perspektive nicht weniger Forscher auf dem Gebiet der KI (vgl. dazu kritisch: A. Grunwald 2018).

Wer Rationalität als ein grundsätzlich erstrebenswertes Ziel betrachtet, für den wirkt es anziehend, wenn der Mensch mit digitalen Vernunftmitteln Schritt für Schritt zur „rationalen“, also „vernünftigen“ Selbstoptimierung geführt werden kann. „Digitale Vernunft“ wäre dann in gewisser Weise ein pädagogisches Programm zur vernünftigen Erziehung des Menschengeschlechts.

Ob Immanuel Kant (1724-1804) sich den Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit so vorgestellt haben mag? Wäre dann nicht zu fragen, ob sich digitale Vernunft als neue Spielart eines Intellektualismus kennzeichnet, der zu einem rationalen Überbietungswettbewerb führt? Dann reden wir bald nicht mehr vom Menschen, wie er ist, sondern konsequenterweise von einem „Transhumanismus“ oder vom „Übermenschen“, wie es Friedrich Nietzsche (1844-1900) ausgedrückt hat.

Schon diese wenigen Überlegungen werfen Unbehagen auf. Sollen wir eine solche rein rationale Welt wollen?

Immerhin vermag ja auch die Gegenthese, also eine übertriebene Betonung emotionaler, bisweilen gar irrationaler Elemente der menschlichen Lebensführung nicht zu überzeugen. Denn eine ausschließlich romantische Weltsicht lässt sich mit fast 8 Milliarden Menschen auf der Erde weder individuell noch kollektiv gut realisieren.

Wie also finden wir eine Balance zwischen „Rationalität“ und „Emotionalität“?

Ist die digitale Welt grundsätzlich vernünftig?

Die einfache Frage, ob die digitale Welt vernünftig sei, ist folglich gar nicht so einfach zu beantworten. Gleiches gilt für die Frage, wie wir mit der digitalen Welt vernünftig umgehen können. Die bedingungslos digitale Struktur von automatisierten Rechenoperationen ist als solche frei von Geschmack, Geruch und Sinneswahrnehmungen, aber das allein reicht nicht dafür aus, sie als „vernünftig“ anzuerkennen.

Es gibt eben auch ein Potenzial zur Sinnfreiheit oder Sinnlosigkeit in der digitalen Welt. Konkret bedeutet dies, dass „rational“ strukturierte Rechenoperationen auf der Grundlage problematischer oder gar irrationaler Voraussetzungen zu keinem vernünftigen Ergebnis führen.

Dies gilt sowohl bei erkannter wie auch bei unerkannter Irrationalität. So können wir uns durchaus eine künstlerische Installation vorstellen, die in einem Museum kleine Schwankungen des Luftdrucks mit kleinen Schwankungen der Lichtstärke kombiniert und daraus Ergebnisse berechnet, die als akustische Tonfolge ausgegeben werden. Das mag funktional nicht besonders sinnvoll sein, veranschaulicht aber das Potenzial zur Sinnfreiheit digitalen Outputs. Darüber hinaus wäre genau das auf einer nächsten Ebene der Realität die „künstlerische Botschaft“.

Schwieriger ist der Fall, wenn die unzureichende Qualität von Daten-Input gar nicht erst erkannt wird. Dann kommt es zu einem sozialen Fehlvertrauen in Ergebnisse, die gar nicht aussagekräftig und sinnvoll sind. Dieser Fall ist häufiger, als wir es im Alltag erwarten, und er stellt ein Grundproblem digitaler Zeit dar.

Grundsätzlich gilt jedenfalls: Sinnloser Input führt zu sinnlosem Output. „Garbage in, garbage out“, hieß das in der digitalen Frühzeit. Wobei bereits in der klassischen Logik der Satz gilt, dass aus falschen Prämissen keine gültigen Schlüsse gezogen werden können.

Anders gesagt: Die inhärente Programmatik digitaler Vernunft ist gerade in ihrer Struktur als stringente digitale Rationalität von Voraussetzungen abhängig, die sie selbst nicht schaffen kann.

Die Frage nach Voraussetzungen taucht auch in ganz anderen Zusammenhängen auf, etwa in der Staatstheorie. So besagt das berühmt gewordene Böckenförde-Theorem, dass der Staat von Voraussetzungen abhängig sei, die er selbst nicht geschaffen habe (H. Böckenförde 1967, 75-94; H. Dreier 2018, 189-214). Wenn ein solcher Gedanke auf die digitale Welt übertragbar ist, dann entsteht das oben angedeutete Paradox, dass die Grundlagen für digitale Rationalität nicht notwendigerweise vernünftig oder rational sein müssen.

Denn wenn die Voraussetzungen der digitalen Welt außerhalb ihrer selbst liegen, was ja nachweislich der Fall ist, dann werden diese Voraussetzungen auch nicht den gleichen Rationalitätsanforderungen wie bei der Programmierung innerhalb der digitalen Welt folgen können. Folglich sind irrationale Elemente in der Begründung und Verwendung der digitalen Welt ebenso möglich wie in der klassischen, analogen Welt. Das aber ist ein auf den ersten Blick erstaunliches Ergebnis!

Natürlich gibt es vernünftige Aufgaben und Zwecke, bei denen digitale Hilfen, Programme und Werkzeuge die konkrete Aufgaben- und Zweckerfüllung erleichtern oder sogar erst ermöglichen. Vernunft ist aber als „rationale Anfangsvoraussetzung“, wie gerade ausgeführt, nicht von Haus aus ein zutreffendes Attribut der digitalen Welt.

Die Zuschreibung von Vernunft zur digitalen Welt und ihren Anwendungen erfolgt vielmehr über grundlegende Rationalitätsfragen hinaus in einem sozialen und politischen Zusammenhang, der niemals ganz zweckfrei ist, sondern der partiellen und kontextuellen Perspektiven folgt.

Ist Vernunft grundsätzlich digital?

Die nahe liegende Umkehr der Fragerichtung, also die Überlegung, ob Vernunft digital sein könne, ist nicht leichter zu beantworten. In der Frage stecken ja schon mindestens zwei Voraussetzungen, nämlich die der grundsätzlichen, digitalen Abbildbarkeit vernünftiger Prozesse in digitale Strukturen und die Frage nach der zumindest theoretisch möglichen Vollständigkeit einer solchen Abbildung. Anders gesagt könnten wir entweder meinen, dass es im menschlichen Geist und in der Welt nicht-digitalisierbare Bereiche gibt oder die Auffassung vertreten, es gebe diese zwar noch, aber nur noch auf begrenzte Zeit: Denn grundsätzlich könne alles digitalisiert werden.

Die Idee einer „vollständigen Abbildung oder Erklärung“ würde mit der Behauptung einhergehen, dass durch eine digitale Abbildung und Programmierung vernünftiges Denken und Handeln von Menschen vollständig erklärt werden könne. Daraus würde im Umkehrschluss folgen, dass alles, was nicht oder noch nicht digital abgebildet werden kann, auch nicht vernünftig ist.

Ich spreche hier vom „Vollständigkeitstheorem“ der digitalen Vernunft. Wer so argumentiert, für den kann wie erläutert die naturwüchsige Vernunft lebender Menschen vollständig digital abgebildet werden. Was bisher nicht digital abgebildet wurde, ist entweder von Haus aus unvernünftig oder im immer nur vorläufigen Warteraum noch besserer technischer Realisierung.

Es ist kein Zufall, dass wir hier relativ rasch auf den bekannten Ersten Unvollständigkeitssatz von Kurt Gödel (1906-1978) stoßen. Dabei geht es darum, dass in bestimmten formalen Systemen nicht alle Aussagen bewiesen oder widerlegt werden können: „Jedes hinreichend mächtige, rekursiv aufzählbare formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig“ (K. Gödel 1931). Systeme enthalten in diesem Sinne eine Sprache mit Aussagen und Formeln, ferner Axiome und Regeln für das Schlussfolgern.

Die Theoriebildung in der formalen Logik ist eine Sache, deren Anwendung auf die digitale Welt eine andere. Denn eine alternative Deutung der Frage, ob Vernunft digital sein könne, ist stärker auf den in sich begrenzten Möglichkeitsraum des Digitalen ausgerichtet. Dann gäbe es sozusagen unterschiedliche Parallelwelten der Vernunft, nämlich digital abzubildende, aber auch andere.

Parallelwelten der Vernunft wären dann gegeben, wenn diese aus technischen, aus grundsätzlichen oder aus anderen Gründen digital nicht abgebildet werden können. Die grundsätzliche Möglichkeit, Vernunft digital abzubilden, ginge dann nicht mit einem Vollständigkeitsanspruch für Rationalität und digitale Rationalität einher.

Gemeint wäre also der Gedanke, Vernunft könne eben nicht vollständig digital abgebildet werden, entweder aufgrund der beschriebenen technischen Begrenzung oder aufgrund der Gleichzeitigkeit mit alternativen Formen von Rationalität, wie immer diese empirisch, spekulativ oder sonst zu beschreiben wären.

Wie lassen sich Leistungsgrenzen der digitalen Welt beschreiben?

Die angerissenen Gedankenstränge bedürfen einer Erläuterung, weil sie dem Vollständigkeitstheorem digitaler Erfassung widersprechen. Denn eine „grundsätzliche Grenze“ ist von einer „technischen Begrenzung“ zu unterscheiden, also einer Grenze, die von der Verfügbarkeit von Rechnerinfrastruktur, von Rechnerkapazität, von geeigneten Programmen und Anwendungen, aber auch von Energie und sonstiger Infrastruktur abhängt.

Beim Blick auf technische Leistungsgrenzen nehmen wir immer auch zukünftige Grenzverschiebungen mit ins Kalkül. Wir reden dann von einem „Schon“ und einem „Noch-Nicht“, von „Jetzt“ und „Zukunft“. Diese deutliche Spannung zwischen Erfüllung und Erwartung, zwischen Realisierung und Potenzialität wird jenseits der digitalen Welt besonders stark in der christlichen Theologie bearbeitet, etwa innerhalb der Theologie der Endzeiterwartung oder der Eschatologie (vgl. P. Koslowski 2002, J. Ratzinger 2005, J. Moltmann 2007). Mit dem „Schon“ ist dabei grundsätzlich ein Ausblick auf das „Noch-Nicht“ verbunden, das aber bald erwartet wird. Genau das nennt man in der Theologie „eschatologische Erwartung“.

Für das „Schon und Noch-Nicht“ digitaler Vernunfterwartung gibt es handfeste Gründe, etwa das Moore’sche Gesetz, nachdem sich die Rechenleistung alle 18 bis 24 Monate verdoppelt. In den vergangenen Dekaden hat es sich als ungewöhnlich robust erwiesen. Jedes Mal, wenn natürliche Grenzen erreicht zu sein schienen, wurden neue technische Durchbrüche möglich, bis hin zur Erwartung des Quantenrechners, der zu einer neuerlichen Leistungsexplosion von Rechenleistung führen könnte.

Der Gedanke einer technischen Leistungsgrenze für die digitale Welt ist naheliegend, da wir beim immer weiteren Vordringen technischer Auflösung irgendwann zu subatomaren Strukturen kommen, über die wir trotz großer Fortschritte in der Physik noch wenig wissen. Für den starken Fortschrittsglauben von Protagonisten digitaler Evolution wirkt der Gedanke einer „Leistungsgrenze“ dennoch wie ein Tabubruch, ein Sakrileg.

Trotzdem will ich ihn hier weiter entfalten, und zwar am Beispiel von Datenvolumen und Datenkontext.

Dabei möchte ich ein einfaches Beispiel heranziehen, einen Apfel, der vor mir auf dem Tisch liegt. Ich kann diesen physischen Apfel aufessen, denn irgendwann meldet sich der kleine Hunger. Ich kann ihn mit Worten beschreiben, eher botanisch, eher funktional, eher knapp, eher ausschweifend. Ich kann den Apfel aufnehmen und mit gängigen Programmen per Instagram, WhatsApp, als E-Mail-Anhang oder sonst wie mit meinen Freunden und Bekannten teilen. Das digitale Bild des Apfels kann 1 MB, 5 MB oder größer sein, je nach Auflösung. Wir könnten daran anknüpfend die Frage stellen, wo die Grenze für das Datenvolumen zur Darstellung des Apfels auf meinem Tisch liegen könnte.

Bereits an dieser einfachen Stelle wird es für das erörterte Vollständigkeitstheorem der digitalen Vernunft problematisch, und zwar zumindest aus den beiden oben genannten Gründen: Der Datenmenge und dem Datenkontext. Gehen wir zunächst auf die realen oder grundsätzlichen Begrenzungen der Datenmenge ein.

Bilder werden ja über Pixel definiert, und die Anzahl der Pixel definiert die Größe einer Bilddatei. Wenn eine solche Datei erfolgreich versendet wird, könnten wir von digitaler Konnektivität sprechen. Diese bedeutet immer auch ein Passungsverhältnis zwischen sendendem und empfangendem Medium. Stimmt die Passung nicht, dann sagen wir: „Die Datei kommt nicht durch.“ Nun können wir uns immer ein Missverhältnis zwischen einem Datenpaket und einer Datenleitung vorstellen, denn nur in einer nicht existierenden idealen Welt sind Datenleitungen immer genau so ausgelegt wie das Volumen der zu sendenden Daten. Die leidige Diskussion über den Ausbau des digitalen Glasfasernetzes in Deutschland veranschaulicht hier, was mit einer realen digitalen Leistungsgrenze gemeint sein kann.

Vergleichen lässt sich dies mit der öffentlichen Kanalisation. Deren Rohre sind auf bestimmte Wassermengen ausgelegt. Wenn bei einem Sturzgewitter zu viel Wasser auf einmal transportiert werden soll, dann laufen Keller voll, die Gullys auf der Straße nehmen kein Wasser mehr auf, Unterführungen werden überschwemmt. Gleiches gilt für die technische Auslegung von Sende- und Empfangsgeräten. Bei zu großen Datenmengen streikt das System. Die technischen Fortschritte ermöglichen zwar den Transport und die Auflösung immer größerer Datenmengen, aber es gibt eben auch einen Rebound-Effekt: Mit besserer technischer Verfügbarkeit wachsen auch die verschickten Datenpakete. Ob wir dann immer wieder neu von einer faktischen Leistungsgrenze oder von einer grundsätzlichen technischen Limitierung sprechen, muss bei diesen Überlegungen gar keine entscheidende Rolle spielen.

Kommen wir zurück auf das Foto des Apfels. Das Gedankenexperiment lässt sich nämlich leicht weiterführen. So könnten wir fragen, wie viele Pixel die bestmögliche digitale Abbildung des Apfels haben solle. Dabei lassen wir weitere Fragen außen vor, etwa die der Perspektive, also ob es ein Bild von oben, von unten, von der Vorder- oder der Rückseite sein soll. Allein schon die Frage nach der relevanten oder sinnvollen Größe des Datenpakets für das digitale Foto meines Apfels ist keine rein technische, sondern eine technische und soziale Frage. Denn die Antwort hängt neben der Größe und Geschwindigkeit der Datenleitung und des Datentransfers eben auch von sozialen Konventionen ab. So gesehen, gibt es keine ein für allemal „richtige“ Antwort. Das wiederum zeigt: Die Begrenzung, die in jeder gewählten Perspektive liegt, kann logischerweise auch digital nicht aufgelöst werden.

Immerhin könnten wir dort eine technische Grenze ziehen, wo das natürliche Sehvermögen des Menschen eine noch höhere Auflösung nicht mehr wahrnehmen könnte. Doch führt auch dieses Argument in die Irre. Denn durch die Fortschritte der Mikroskopie und der Messtechnik können wir unsere Sinnesleistung durch technische Hilfsmittel wie etwa Elektronenmikroskope weit über das biologisch evidente Maß hinaus ausdehnen. Ein digitales Beispiel für die Erhöhung von Sinnesleistungen durch Technik ist die Erkennung von Hautkrebs durch Mikroskope in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz. Denn diese kann nach heutigem Stand mindestens 450 Graustufen unterscheiden; das menschliche Auge nur rund 15.

Grenzen der Messtechnik und Grenzen des Erkennens überhaupt

Die technische Grenze der digitalen Vernunft fällt also faktisch mit der Grenze der verfügbaren Messtechnik zusammen, und diese Grenze verschiebt sich mit dem technischen Fortschritt selbst.

Damit sind wir aber noch nicht an das Ende unseres Gedankenexperiments gekommen. Denn aufgrund unserer physikalischen Theorien stoßen wir zu gegebener Zeit auf den molekularen, atomaren und subatomaren Raum. Hier hätten wir dann ein Henne-Ei-Problem: Ist die Grenze der digitalen Vernunft die Grenze des messtechnisch Erfassbaren? Oder die Grenze des theoretisch Vorstellbaren? Oder verschwimmt die Grenze im hybriden Zusammenwirken von Messtechnik, von natürlicher und digitaler Vernunft?

Ausgehend vom einfachen digitalen Foto eines Apfels gelangen wir hier zur philosophischen Frage nach der Erkennbarkeit der Welt, was immer diese ist und wie immer wir den erkennenden Zugriff zu ihr beschreiben. Wenn wir beim Sehvermögen bleiben, geht das Spektrum vom sichtbaren zum unsichtbaren Licht, bis zum spannenden neuen Gebiet der extrem ultravioletten Strahlung (EUV) und der EUV-Lithografie auf Halbleitern mit einer Wellenlänge von nur 13,5 Nanometern.

Die technische Grenze der digitalen Vollständigkeit geht in der Frage nach der „Datenmenge“ einer Abbildung aber noch gar nicht auf. Denn keine Abbildung steht für sich allein, losgelöst von ihrem praktischen Lebenszusammenhang, ihrem Kontext. Die für Menschen leichte Frage nach dem Kontext führt aber für den Bereich digitaler Repräsentation in Folgeprobleme, die auf prinzipielle Leistungsgrenzen hinweisen.

Diese Leistungsgrenze liegt, kurz gesagt, in der Forderung nach Widerspruchsfreiheit. Selbst wenn es nur um einen Apfel auf einem Schreibtisch geht, haben Menschen ganz unterschiedliche Perspektiven und Assoziationen. Der eine ist Apfelallergiker und denkt daran. Der andere erinnert sich an den Apfel, die verbotene Frucht aus der biblischen Geschichte zur Vertreibung aus dem Paradies. Der dritte ist Pomologe und interessiert sich für die spezielle Apfelsorte, um die es geht. Der vierte kommt aus einem tropischen Land, wo Äpfel als Frostkeimer gar nicht wachsen und daher als Luxusfrucht angesehen werden.

Nicht die anekdotische Evidenz der verschiedenen Perspektiven, sondern die spannungsvolle Vielfalt der Einordnung oder des Framing dessen, was Menschen sehen, stellt technische Repräsentation vor große Herausforderungen. Jeder Mensch hat nur eine Perspektive, aber er weiß, dass es andere geben kann.

Ein solches Wissen um „alternative Repräsentationen“ ließe sich zwar digital abbilden. Problematisch wird es aber dann, wenn wir entscheiden müssen, welche Perspektive denn die „richtige“ ist.

Als Menschen haben wir sowohl genetisch und biografisch festgelegte wie auch frei wählbare Perspektiven. Mit einer weißen und männlichen Identität sieht die Welt in vielen Alltagssituationen auch beim Betrachten eines Apfels womöglich anders aus als mit einer schwarzen und weiblichen, um nur ein Beispiel zu nennen. Keine dieser Perspektiven ist richtiger als die andere, und Menschen können sich darauf verständigen, dass die Gemeinsamkeit ihrer Sichtweise entscheidender ist als die kontextuelle Verschiedenheit.

Trotzdem spielt diese Verschiedenheit eine Rolle. Sie kann aber in ihrer Widersprüchlichkeit technisch nicht programmiert werden. Denn für ein technisches Programm muss schon klar sein, welche Perspektive und welcher Zweck im Vordergrund steht. Anders gesagt: Jede technische Lösung braucht einen funktionalen Kern und einen funktionalen Zweck, der so weit wie möglich kontextunabhängig ist.

Da wir aber wissen, dass es unglaublich viele und auch widersprüchliche Kontexte gibt, können wir nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus Gründen der Widerspruchsfreiheit nicht gleichzeitig alle Kontexte, die es für eine digitale Repräsentation geben kann, abbilden. Das muss nicht tragisch sein, kennzeichnet aber einen Unterschied zwischen dem Weltzugang von Menschen und von digitalen Maschinen. Denn Menschen kennen Kontexte und Situationen, die weitgehend zweckfrei sind (etwa das „Spielen“), Maschinen aber sind grundsätzlich auf ihren Zweck ausgelegt.

Die Frage der Kontextualität ist auch für aktuelle technische Anwendungen von erheblicher Bedeutung. Es lohnt sich also, vertieft nach dem Kontext einer digitalen Abbildung oder einer digitalen Repräsentation zu fragen. Wie kontextabhängig oder wie kontextunabhängig ist diese? Und wie viel Kontext ist erforderlich, um im Rahmen einer digitalen Zwecksetzung wie etwa dem autonomen Fahren zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen?

Die Kontextualität digitaler Repräsentationen

Die Kontextualität einer digitalen Repräsentation ist eine hoch praktische und hoch theoretische Frage. Wie kann ein digitales Programm ein auf die Straße springendes Kind erkennen? Wie viel „Kontextualität“ im Bewegungsablauf muss Teil des Wirklichkeitsmodells werden, das am Ende handlungsleitend wirkt?

Denn im Fall eines voll autonomen Fahrzeugs wird dieses ebenso wie ein menschlicher Fahrer oder eine menschliche Fahrerin entweder bremsen oder weiterfahren. Digitale Programme im Kontext Künstlicher Intelligenz benötigen jedenfalls ganz grundsätzlich ein Modell der „Welterfassung“, das auf einer engeren oder weiteren Bestimmung von Kontextualität beruht.

Und hier geraten wir erneut an die Grenzlinie für technische und philosophische Fragen. Technisch ist zu fragen, „wie viel“ Kontext, „welcher Kontext“ und „welche Relevanzbildung“ in einem Kontext programmiert werden kann und soll.

Philosophisch lässt sich die Linie leicht fortführen. Denn an irgendeiner Stelle wird ein noch weiterer Kontext für die konkrete Situation bedeutungslos, etwa ob das auf die Straße springende Kind Anton heißt oder Michael und ob der Ball, dem es hinterherspringt, grün oder gelb ist. Das Problem ist nur, dass es zur Feststellung der „Relevanzgrenze“ einer Entscheidung bedarf, die in einer unendlichen Kette von Iterationen wiederum hinterfragt werden kann.

So könnte es sehr wohl von Bedeutung sein, ob ein Ball grün oder gelb ist, denn je nach Licht- und Straßenverhältnissen wird dadurch die optische Sichtbarkeit beeinträchtigt.

Dies soll hier aber nicht weiter ausgeführt werden. Klar wird aber sehr schnell, dass sowohl die verfügbare Messtechnik wie das Ausmaß der Berücksichtigung von Kontexten für eine grundsätzliche Grenze der digitalen Abbildung von Wirklichkeit zu sprechen scheinen.

Möglichkeitsräume und alternative Formen von Rationalität

Der Möglichkeitsraum des Digitalen lässt sich aber auch über eine dritte Grenze seiner Vollständigkeit erörtern. Dabei war oben von alternativen Formen der Rationalität die Rede. Eine solche Sprechweise, die auf „alternative Formen der Rationalität“ Bezug nimmt, ist in einem wissenschaftlichen oder wissenschaftsnahen Kontext herausfordernd. Denn zunächst einmal wirkt schon der Begriff „alternative Formen der Rationalität“ merkwürdig, wenn nicht gar unsinnig.

Entweder ist eine Vorgehensweise, eine Aussage, ein Verhalten oder eine Denkform rational oder eben nicht. Wenn sie nicht rational ist, dann ist sie im Sinn des Rationalen defizitär, also durch einen Mangel an Rationalität gekennzeichnet. Dieser zeigt sich durch mangelnde Faktenkenntnis, Verdrängung oder Verdrehung von Tatsachen, unbewiesene Behauptungen oder gar Fake News und dergleichen. Mangelnder Rationalität ist durch Vernunft und durch Aufklärung entgegenzutreten. Sie hat keinen Ort dort, wo es um den rationalen Diskurs geht.

Das Andere der Vernunft ist aber nicht immer die Unvernunft. Gerade das nach Erkenntnis suchende Licht der Vernunft tut gut daran, die eigenen Grenzen auszuloten und sich dabei in das unwegsame Gelände des Zweifels, des Halbwissens und des bewussten oder unbewussten Nicht-Wissens zu begeben. Die Vernunft wird sich dann frei nach Ludwig Wittgenstein (1889-1951) Beulen holen. Aber zur Rationalität der Vernunft selbst gehört die Einsicht in ihre eigene Grenze.

Die Redeweise von den Grenzen der Vernunft wie etwa der Dummheit (vgl. R. Musil 1937/1996) unterscheidet sich allerdings von der Frage nach alternativen Formen von Rationalität. Hier ist wiederum der von Robert Musil (1880-1942) in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ beschriebene Möglichkeitssinn gefragt (R. Musil 1930/1943).

Denn wirklich und möglich sind auch Dinge und Sachverhalte jenseits unseres eigenen Erkenntnisstandes. So beruht die digitale Welt, um die es bei der Erforschung digitaler Vernunft geht, auf dem binären Zahlensystem, einer Abfolge von 0 und 1, die sich in Form elektrischer Spannung darstellen und als Rechenoperation interpretieren lässt. Zur möglichen Welt gehört aber auch ein Duodezimalsystem in Zwölfer-Schritten so wie früher beim englischen Pfund, beim Zahlenbegriff eines „Schocks“ Eier (das sind 60 Stück) oder bei der Uhrzeit.

Zum Möglichkeitsraum gehört aber auch ein Siebener-Zahlensystem oder – und hier beginnt unwegsames Gelände – ein Einundzwanziger-Zahlensystem. So wie beim uns vertrauten Zehnersystem die Zahl 10 „ein mal zehn und null mal eins“ bedeutet, würde die Zahl 10 im „Einundzwanziger-System“ genau 21 bedeuten. Das mag gewöhnungsbedürftig und wenig sinnvoll sein, möglich ist es. Man könnte die Zahlen im 21-System beispielsweise durch Buchstaben abbilden, sodass A den Wert „1“ und „T“ den Wert 20 hätte.

Diese Gedankenexperimente haben dort ihren Sinn, wo es um die Exploration von Möglichkeitsräumen geht, von denen einige digital abbildbar sind, andere wohl eher nicht. Dies kann beispielsweise am naheliegendsten Beispiel alternativer Rationalität untersucht werden, dem großen Feld der Religion und der Religionen.

Dabei mag es den einen oder anderen befremden, hier von „alternativen Formen“ der Rationalität zu sprechen. Versteht man Rationalität als Akt des Vernunftgebrauchs, ist nämlich eine schlichte Gegenübersetzung von Glauben und Wissen, von Rationalität und Irrationalität unstatthaft.

Nicht zuletzt der keineswegs unkritische Jürgen Habermas (geboren 1929) hat die zwei Bände seines 2019 erschienenen Werks „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (Berlin 2019) mit den Untertiteln „Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen“ (Bd. 1) und „Vernünftige Freiheit – Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen“ (Bd. 2) versehen und sich intensiv mit den Denklinien im Verhältnis von religiöser und nicht-religiöser Rationalität auseinandergesetzt.

Nun lässt sich leicht die Frage stellen, was ein so weites Feld mit der Frage nach digitaler Vernunft und künstlicher Intelligenz zu tun hat. Ich will daher in Erinnerung rufen, dass es in diesem Abschnitt um die Kritik des Vollständigkeitstheorems der digitalen Vernunft gehen soll.

Da wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter dem Eindruck einer universellen und ubiquitären Digitalisierbarkeit der Welt stehen, gehört es unabweisbar zu einer solchen Aufgabe der Unterscheidung, nach Grenzen digitaler Vollständigkeit zumindest zu fragen. Dabei hatten wir die Grenzen der Messtechnik und der digitalen Kontextualität schon angerissen. Die digitale Perspektive der Frage nach alternativen Formen von Rationalität, speziell in der Unterscheidung von religiöser und nicht-religiöser Rationalität ergänzt diesen Diskurs durch eine weitere Grenzfläche der Vernunft: dem Problem von Anfang und Ende.

Digitale Welt und das Problem von Anfang und Ende

Die Frage nach Anfang und Ende hat eine höchst praktische und eine höchst theoretische Seite. So ist eine Programmierung ohne Anfang nicht möglich. Ob eine Welt ohne Anfang möglich sei oder nicht, wird in der Physik, in der Metaphysik, in der Philosophie und in den verschiedenen Theologien erörtert. Dabei werden unterschiedliche Antworten mit unterschiedlich gut ausgeprägten Formen der Plausibilität, der Anscheins-Rationalität, der Beweisbarkeit, der Widerlegbarkeit und der Unwiderlegbarkeit ausformuliert.

Nun ließen sich diese Antworten sicherlich digital codieren, also auf der Antwort-Ebene abbilden. Nur wird sich aus der Unvollständigkeit der Welterfassung in verschiedenen nicht-konventionellen oder nicht-szientistisch geprägten Formen der Rationalität keine digital vollständige Form ergeben können. Das hängt mit den Widersprüchen einer Mehr-Ebenen-Perspektive der Welterfassung zusammen, auf die ich gleich zurückkomme.

Religionen können insofern als komplexe und faszinierende Versuche alternativer Rationalität zur Deutung von Anfang und Ende der Welt verstanden werden. Die Herausforderung besteht darin, dass ihr Anspruch der Welterklärung weder eindeutig wahr noch eindeutig falsch ist. Er ist auch weder eindeutig rational noch eindeutig irrational. Schon diese „Unentscheidbarkeit“ macht jede digitale Repräsentation solcher Themen schwierig, wenn nicht unmöglich.

Ob es einen Gott am Anfang der Welt und der Zeit gibt oder nicht, das wissen wir nicht. Ob es ein Leben nach dem Tod gibt oder nicht gibt, wissen wir leider auch nicht, werden es aber erfahren. Bedauerlicherweise liegt der Vorgang des eigenen Tods vor dieser Erkenntnis, was eine harte Randbedingung des Erkennens ist, aber nicht zugleich die Unmöglichkeit eines solchen Erkennens bedeutet (vgl. U. Hemel 1990, 34-43).

Anders gesagt: Religionen übernehmen Formen der Weltdeutung mit prinzipiell wahrheitsfähigen, aber nicht durch intelligente Testdesigns beweisbaren Aussagen. Sie verhelfen Menschen dadurch zur Weltorientierung und Lebensgestaltung, führen oft aber auch zu Konflikt und Gewalt. Eine vergleichbare Form digitaler Weltorientierung etwa im Sinn „digitaler Religion“ hat sich bislang nicht durchgesetzt.

Verfügbare Statistiken schätzen die Zahl der Atheisten oder der Menschen ohne religiöse Bindung weltweit auf 12-16% (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/256878/umfrage/verteilung-der-weltbevoelkerung-nach-religionen/abgerufen am 20. Juni 2020 um 12.06h; ähnlich https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Religion, abgerufen am 20. Juni 2020 um 12.11h).

Mit Blick auf die etwa 80% der Menschen auf der Erde, die folglich mit unterschiedlicher Intensität einer bestimmten, konkreten Religion angehören, ist der Gedanke an alternative Formen der Rationalität also keineswegs sinnlos. Denn die meisten Menschen sehen ihre Religion und einen Glauben an eine transzendente Größe wie Gott ja nicht als irrational an. Zumindest innerhalb der Axiome oder glaubensförmigen Grundannahmen einer bestimmten Religion lassen sich zahlreiche und unterschiedliche Formen vernünftigen Argumentierens und so gesehen alternativer Rationalität beobachten und beschreiben.

Selbstverständlich kann behauptet werden, sämtliche Formen alternativer Rationalität, insbesondere religiöser Weltdeutungen, seien von einem vernünftigen Rationalitätsbegriff nicht gedeckt und daher auch für die digitale Welt irrelevant. Gerade bei naturwissenschaftlich orientierten Forschern und Praktikern findet eine solche Selbstbegrenzung von Rationalität Sympathien.

Wenn es aber ein Wechselverhältnis von Rationalität und Weltwirklichkeit gibt, dann kann nicht sicher gesagt werden, dass eine sich selbst begrenzende Definition von Rationalität das Ganze der Wirklichkeit erfasst. Wenn das so wäre, wäre eine digitale Welt ohne Beachtung religiöser Wirklichkeit und alternativer Rationalität zwar möglich, könnte aber den Anspruch einer vollständigen Weltbeschreibung nicht einlösen.

Anders gesagt: Aus Sicht religiöser Rationalität zeichnet sich eine szientistische Verengung des Vernunftgebrauchs dadurch aus, dass bestimmte Bereiche möglicher Realität vom Versuch vernünftiger Durchdringung ausgenommen werden. Das gleicht aber dem berühmten Versuch des schusseligen Autofahrers, seinen in der Nacht verlorenen Autoschlüssel nur in der Nähe der Straßenlaterne zu suchen, weil es dort immerhin heller ist.

Mehr-Ebenen-Perspektiven und Mehrfach-Dopplungen der Welt

Die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit ist für die Kritik der digitalen Vernunft auch dann wesentlich, wenn solche philosophischen Überlegungen in aller Regel keine praktische Rolle spielen. Dies gilt schon deshalb, weil jeder Forscher und jeder Praktiker in seinem eigenen Bereich tätig wird und mindestens auf alltäglicher Ebene ohne solche Rückfragen auskommt.

Angesichts der Utopie einer digital vollständig erfassbaren Welt muss bei einer gründlichen Befassung mit den Chancen und Risiken der digitalen Welt im 21. Jahrhundert der Einwurf der möglichen Unvollständigkeit eines digital abzubildenden Rationalitätsbegriffs aber gemacht und gehört werden.

Dabei ist über das Gesagte hinaus eine Mehr-Ebenen-Perspektive der Welterfassung ausgesprochen hilfreich. Als Menschen ist es uns überaus vertraut, dass es im Fluss der Zeit und des Lebens ganz unterschiedliche Ebenen der Wirklichkeit gibt. Wir wissen um die räumliche Erfassung vom Sternenhimmel zur Nanotechnologie, die zeitliche Erstreckung von Milliarden Jahren der Geschichte von Erde und Universum bis zu den Sekundenbruchteilen atomarer Schwingung und die spezifisch menschliche Bandbreite sinnlicher Wahrnehmung von Farben und Tönen, Temperatur und Druck.

Eine Mehr-Ebenen-Perspektive ist uns aber auch aus dem zwischenmenschlichen Alltag vertraut, so etwa die Kommunikation von Untertönen, in der Codierung und Decodierung von Sprechakten vom „Ja“ vor dem Traualtar bis zum „Ja“ beim digitalen Anklicken der Zahlung eines Hotelzimmers. Gerade Menschen sind darüber hinaus in der „Gleichzeitigkeit“ ihrer Eigenwahrnehmung unglaublich differenziert: Ich kann mich über eine Begegnung freuen und trotzdem gleichzeitig Durst empfinden, schwitzen und mich über das Schwitzen ärgern.

Eine solche Mehr-Ebenen-Perspektive ließe sich digital durchaus abbilden; sie wäre nur nach heutigem Ermessen ziemlich unwirtschaftlich und sinnlos. Gerade die Reduktion der Mehr-Ebenen-Wahrnehmung macht ja die Stärke der digitalen Welt aus. Der Vorteil der zweckhaften Reduktion bewährt sich auch dort, wo in einem zweiten Schritt aus der digitalen Datenverarbeitung ein „Weltmodell“ etwa für ein sich autonom bewegendes Fahrzeug abgeleitet und mit Prädiktionen kombiniert werden kann.

Dabei handelt es sich allerdings nicht allein um eine multiple Verdopplung, so wie sie Armin Nassehi in seinem Buch „Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“ ausführt (München 2019, 108-151). Denn die Übersetzung der Welt in Daten und Programme ist ja, wie jede Übersetzung, zugleich und über die bloße Verdopplung hinaus eine Interpretation der Welt.

Kommen wir zurück auf das oben angeführte Beispiel zum digitalen Foto des real existierenden Apfels auf meinem Schreibtisch. Es zeigt, dass wir digitale Dopplungen in unterschiedlicher Auflösung und Form vornehmen können. Schließlich gibt es immer eine „Multiplizität der multiplen Verdopplung“. Es gibt zahlreiche Variationen der digitalen Abbildung von Realität, nicht nur eine einzige digitale Form.

Anders gesagt: So wie es viele Möglichkeiten der Verdopplung physischer Realität oder der Realität erster Ordnung durch Beschreibung in Textform gibt, so gibt es wiederum zahlreiche Abwandlungen der Repräsentation von physischen Gegenständen und/oder Texten in digitaler Form.

Wirklichkeiten erster und zweiter Ordnung

Dies führt unmittelbar zur Frage, wie „real“ und wie „künstlich“ die digitale Welt und speziell die Künstliche Intelligenz ist. Dabei kommen wir in eine andere geistige und sprachliche Landschaft. Nun geht es um „Intelligenz“, nicht um „Rationalität“, um „Erkennen“, nicht um „vernünftig handeln“.

Im Vordergrund stehen dabei nicht Begriffsdefinitionen mit dem Anspruch höchstmöglicher Allgemeinheit. Wir ordnen der menschlichen Vernunft die Fähigkeit der Welterkenntnis zu, wissen aber auch um ihre Grenzen. Wir verknüpfen den Begriff der Rationalität mit der „Ratio“, also der Einteilung in abgegrenzte rechenbare und damit auch digitalisierungsfähige Einheiten. Mit Intelligenz bezeichnen wir das Erkenntnisvermögen von Menschen und Maschinen, das zugleich mit einer Einsichtsfähigkeit verbunden ist, die in Daten und Fakten einen Zusammenhang erkennt.

Damit nähert sich Intelligenz dem komplexen Konstrukt des Verstehens an, also der Einordnung von Daten in Zusammenhänge. Das Einordnen und Verstehen kann die Brücke zum Handeln bilden, aber auch ganz ohne erkennbare Handlungsfolge bleiben.

Unter den vielen möglichen Handlungsfolgen einer Erkenntnis wäre die Gruppe der „vernünftigen Handlungen“ eigens zu definieren und von „unvernünftigen Handlungen“ abzugrenzen. Dies aber wirft eine Reihe von Folgeproblemen auf, die hier nicht behandelt werden sollen.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass „Intelligence“ im Englischen in manchen Verwendungen den Begriff der militärischen oder polizeilichen Aufklärung (wie in der Abkürzung „CIA“) nahelegt. Aus den Aufklärungsdaten Schlüsse zu ziehen, ist dann aber etwas anderes als die Suche nach verwertbaren Daten, also die „Erkennungsarbeit“. Der Begriff „Artificial Intelligence“ ist daher im englischen Sprachraum nüchterner und technischer aufzufassen als die deutsche „Künstliche Intelligenz“, die immer auch einen Träger und Akteur von „Intelligenz“ nahezulegen scheint. Passender wäre im Grunde der Ausdruck „digitale Intelligenz“, weil das „Künstliche“ an ihr ja nichts anderes als die digitale Form ist. Doch hier hat sich Sprache anders entwickelt.

Der Begriff der Künstlichen Intelligenz ist nicht eindeutig bestimmt, weil er eine Vielzahl von Fragestellungen, Methoden, Anwendungsfeldern und Problemlösungen umfasst (vgl. W. Ertel 2013). Darüber hinaus ist auch der Begriff der Intelligenz selbst nicht klar definiert. Generell benötigen funktionierende Systeme der Künstlichen Intelligenz als Grundlage eine Art von „Weltmodell“ im Sinn von gegebenen Annahmen über die Realität, ferner Rechenregeln und angestrebte Output-Größen. Philosophisch faszinierend ist die enge Verbindung solcher Programme mit bisher typisch menschlichen Fähigkeiten, etwa der Fähigkeit zur Mustererkennung, zum logischen Schließen, zum Lernen, Planen, Optimieren, Suchen und Entscheiden. Da Umfang und Geschwindigkeit von Programmen Künstlicher Intelligenz in den letzten Jahren rapide und massiv zugenommen haben, werden gelegentlich grundsätzliche Sorgen zur weiteren Entwicklung etwa der Automatisierung und der Robotik, letztlich sogar zur Kontrolle über die Menschheit geäußert, so etwa vom bekannten Physiker Stephen Hawking (1942-2018) in einer Vortragsreihe des britischen Radios BBC im Jahr 2016.

Künstliche Intelligenz hat das Potenzial zu weitreichenden technischen und sozialen Umwälzungen. Es ist daher eine dauerhafte Herausforderung unserer Zeit, ihre Entwicklung ethisch und philosophisch zu begleiten. In diesem Kapitel geht es um den Zusammenhang von Vernunft und digitaler Welt. Dabei sollen die folgenden Überlegungen über mögliche begriffliche Schärfungen hinaus vor allem einen Aspekt hervorheben, nämlich das Verständnis der digitalen Welt generell und der Wirklichkeit der Künstlichen Intelligenz als einer Realität zweiter Ordnung.

Mit einer Realität zweiter Ordnung ist keine hierarchische Wertung verbunden, so als sei die „erste Realität“ wichtiger, realer oder bedeutender als die „zweite“ Realität. Gerade die Verwendung von Ordinalzahlen soll und kann aber zeigen, dass unterschiedliche Ebenen von Realität nebeneinander und parallel koexistieren können, ohne ineinander aufzugehen und ohne dass wir ein Verhältnis ein-eindeutiger Abbildbarkeit zu unterstellen hätten.

Die Verwendung von Ordinalzahlen folgt dabei lediglich der Konvention des Aufzählens, denn es lassen sich verschiedene Ausgestaltungen einer ersten, zweiten, dritten und weiteren Realität vorstellen. So ist es in der Sprachphilosophie unstrittig, dass das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit nicht als unmittelbare Abbildung von Bezeichnetem („Apfel“) und seiner sprachlichen Gestalt („das Wort Apfel“) gelten kann. Da es nach wie vor auf der Erde rund 6.000 natürliche Sprachen gibt (vgl. H.-J. Störig 2012, 13), besteht eine große Bandbreite für die sprachliche Gestalt dessen, was in der deutschen Sprache mit Apfel, in der englischen mit „apple“, in der spanischen mit „manzana“ und in der französischen mit „pomme“ bezeichnet wird (vgl. B. L. Whorf 1963, J. Simon 1981). Speziell der belgische surrealistische Maler René Margritte (1898-1967) hat mit seinem Bild „Ceci n’est pas une pomme“ (Das ist kein Apfel, 1964) auf die Spannung zwischen der Realität und ihrer Abbildung hingewiesen.

Da praktisch alle Menschen mit Sprache umgehen und sich die Welt über Sprache erschließen, fällt die Differenz zwischen der ersten („physischen“) und der zweiten („sprachlichen“) Realität im Alltag meist nicht auf. Wenn wir die Analogie fortführen wollen, könnten wir die schriftliche Abbildung des gesprochenen Worts „Apfel“ oder „apple“ oder „manzana“ als die dritte Realität betrachten. Die digitale Repräsentation des gleichen Apfels wäre dann die vierte Ebene von Realität.

An dieser Stelle geht es vor allem um die Veranschaulichung eines Mehr-Ebenen- oder auch Mehrschichtenmodells von Realität. Wie wir die einzelnen Ebenen bezeichnen, ist ebenso eine Frage der Konvention wie die gewählte Sprache (also „Apfel, apple, pomme oder manzana“). Entscheidend ist aber, dass Realität auf jeder Ebene „real“, „wirklich“ und „wirksam“ ist, nur eben auf unterschiedliche Art und Weise. So kann ich den physischen Apfel vom Tisch wegrollen, das Wort Apfel natürlich nicht, ebenso wenig dessen digitale Repräsentation im binären Code von 0 und 1.

Die Eigendynamik jeder Ebene von Wirklichkeit

Diese Überlegungen sind für eine Kritik digitaler Vernunft deswegen von Belang, weil ein Mangel an physischer Realität ja keinesfalls einen Mangel an „Wirklichkeit“ darstellt. Die Begrenzung der Wirklichkeit auf sichtbare Objekte wäre ebenso eine Selbstlimitierung der Vernunft wie der Verzicht auf die Betrachtung alternativer Formen von Rationalität.

Nur hat eben jede Ebene der Wirklichkeitsbetrachtung besondere Konstellationen, besondere Verfahrensordnungen und Merkmale. Digital repräsentierte Daten müssen nicht sichtbar sein, um real zu wirken. Wird aber eine Mensch-Maschine-Interaktion erforderlich, dann gehört es zu den Eigenschaften der digitalen Welt, dass es eine für Menschen geeignete Schnittstelle geben muss. Diese zeigt sich uns meist in Gestalt eines Displays, eines Ausgabefeldes, eines Bildschirms und dergleichen.

Die digitale Welt schafft sich damit eine tatsächliche und sprachliche Welt eigener Art. So ist die heute schon vertraute Unterscheidung zwischen Mensch-Mensch-Interaktion, Mensch-Maschine-Interaktion und Maschine-Maschine-Interaktion eine praktische und eine sinnvolle sprachliche Konvention zur Beschreibung der betreffenden Sachverhalte. Eine solche Beschreibung ist aber die Folge der Eigendynamik einer neuen Ebene von Realität, der Ebene der digitalen Welt.

Jede Ebene der Realität lässt sich über ihre spezifische Eigendynamik beschreiben. Diese zeichnet sich durch Muster und Eigenschaften aus, die im Vergleich zu einer anderen Ebene der Realität zugleich als „Verlust“ und als „Gewinn“ oder Überschuss beschrieben werden können. „Wirklichkeitsüberschuss“ und „Wirklichkeitsverlust“ sind daher zwangsläufige Folgen des Wechsels von einer Wirklichkeitsebene in die andere: Beim Wechsel der Wirklichkeitsebenen gehen bestimmte Eigenschaften verloren, andere kommen hinzu und werden „gewonnen“. Jede Ebene der Wirklichkeit konstituiert somit eine Welt für sich, auch wenn sie mit allen anderen Welten oder Wirklichkeitsebenen in Verbindung steht.

An allen Schnitt- und Übergangsstellen aber ist Wachsamkeit angesagt, weil sonst Kategorienfehler drohen. So wie das laute Aussprechen des Wortes Apfel den Hunger nicht stillt, so bleibt trotz spezifischer Formen der Abbildung jeweils ein Eigenwert jeder Ebene von Wirklichkeit.

Wirklichkeitsebenen gehen nicht ineinander auf. Die digitale Welt ist folglich sehr wohl eine eigene Welt, aber der Rest der Welt als Summe anderer Weisen der Konstituierung von Wirklichkeit geht nicht in ihr auf.

Vernunftfähigkeit und Grenzen der digitalen Welt

Noch genauer gesagt: Jede Ebene der Wirklichkeit generiert gleichzeitig einen „Wirklichkeitsüberschuss“ und einen „Wirklichkeitsverlust“. So wie ich das Wort „Apfel“ nicht essen und nicht wie einen physischen Apfel riechen kann, so kann ich mit physischen Äpfeln kein Apfelgedicht schreiben.

Ein handgeschriebenes Apfelgedicht eignet sich auch nicht unmittelbar für die digitale Repräsentation, sondern muss als Text oder als Scan erst in die Eigenwelt des Digitalen überführt werden. Anders gesagt: Jede Ebene der Wirklichkeitserfassung und Realitätsgestaltung „verliert“ Eigenschaften aus der jeweils anderen Ebene, „gewinnt“ aber auch neue Eigenschaften dazu.

Daraus folgt unmittelbar eine gewisse Inkommensurabilität, aber auch Komplementarität der Wirklichkeitsebenen. Diese Einsicht gilt für komplexe Symbolsysteme ganz unterschiedlicher Art, beim Übergang von physischer Wahrnehmung zur sprachlichen Bezeichnung, beim Übergang von sprachlicher Bezeichnung zum Ausdruck in Schriftform, aber auch beim Übergang von Schrift und Bild zur digitalen Welt.

Ein Datensatz zur Realität „Apfel“ kann ein Rezept sein, ein Gedicht, eine botanische Beschreibung, ein genetischer Datensatz und manches mehr. Aus der Realität von Datensätzen in der digitalen Welt lässt sich in der Rückübersetzung in die physische Wirklichkeit nicht ohne Weiteres ein realer Apfel zum Reinbeißen herstellen – auch wenn es faszinierende Fortschritte aus der Mischung von Wirklichkeitsebenen im 3-D-Druck gibt.

„Wirklichkeitsüberschuss“ und „Wirklichkeitsverlust“ von spezifischen Eigenheiten gehören zusammen, müssen aber gut unterschieden werden. Entscheidend ist aber auch: Der Datensatz zur Realität Apfel unterscheidet sich haptisch, olfaktorisch und visuell von der Wirklichkeit des Apfels auf meinem Schreibtisch.

Genau aus diesem Grund kann die digitale Welt die physische Welt nicht komplett ersetzen. Das Vollständigkeitstheorem der digitalen Vernunft lässt sich folglich nicht durchhalten.

Die digitale Welt ist real, aber sie ist nicht ohne Weiteres mit einer anderen Ebene der Wirklichkeit vergleichbar und kommensurabel. Um im Beispiel des Apfels zu bleiben: Wer gerne an einem wohlduftenden Apfel riecht und in ihn hineinbeißen will, braucht einen physischen Apfel.

Kritiker könnten hier einwenden, dass es die spezielle Form der digitalen Repräsentation sehr wohl erlaube, ein olfaktorisches Programm zu entwickeln, das spezifische Apfelgerüche absondern könnte. Dann könnten beispielsweise Probanden durch ein Tuch riechen und dann befragt werden, ob es sich um einen echten Apfel oder um ein Apfel-Riech-Programm gehandelt habe. Womöglich könnten sie den Geruch nicht unterscheiden, was ein Kriterium für die Erfüllung des Turing-Tests ist.

Der vom britischen Mathematiker Alan Turing (1912-1954) formulierte Turing-Test ist ein Experiment, bei dem ein Mensch über einen Bildschirm eine Unterhaltung führt. Kann er bei seinem Gegenüber nicht erkennen, ob es ein Computer oder ein Mensch ist, dann gilt der Turing-Test als bestanden (A. Turing 1950).

Zur Kritik der digitalen Vernunft könnte es im erwähnten Fall des „Apfelgeruchs“ gehören, diese spezielle Form der technischen Reproduktion anzuerkennen.

Zugleich wäre aber die Grenze zu benennen: Denn „riechen und hineinbeißen“ ginge nach wie vor nur beim Apfel auf der Ebene der physischen Realität. Anders gesagt: Die digitale Welt ist sehr wohl real, aber eben „anders real“ als die vertraute physische Alltagswelt.

Die Frage danach, ob die digitale Welt vernünftig und die Vernunft digital sein könne, findet ihre Antwort folglich in einem Mehr-Ebenen-Modell von Realität mit einer gewissen Komplementarität von Vernunft, Rationalität und Wirklichkeit. Die menschliche Fähigkeit zur Vernunft geht in ihrer Art und Weise des Weltumgangs über Rationalität als berechenbare Form der Weltaneignung hinaus, insbesondere durch die Einsicht in ihre eigene Grenze.

Die digitale Welt ist dann nicht von Haus aus vernünftig, sondern allenfalls „rational“ im Sinn von Berechenbarkeit, Methodik und prinzipieller Reproduzierbarkeit.