Kroatien - Norbert Mappes-Niediek - E-Book

Kroatien E-Book

Norbert Mappes-Niediek

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Beschreibung

Wie sieht das Leben im heutigen Kroatien aus? »Balkanisch«? Und wenn ja, was ist das überhaupt? Oder eher »westlich«? Das sichere Reiseland mit seiner wunderbaren Küste lockt Millionen Touristen an, doch wirkt nicht im Untergrund auch das organisierte Verbrechen? Von Kroatien gibt es die unterschiedlichsten Bilder.
Norbert Mappes-Niediek, Südosteuropa-Korrespondent deutscher Tageszeitungen, hat sich vor Ort immer wieder gründlich umgeschaut und umgehört. Er beschreibt Mentalität und
Kultur, Politik und Geschichte, wobei er auch die schwierigen Themen nicht ausspart. Ein pointierter und aufschlussreicher Blick hinter die Ferienkulisse.

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Seitenzahl: 270

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Norbert Mappes-Niediek

Kroatien

Ein Länderporträt

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, April 2012 (entspricht der 2. Druck-Auflage von Juni 2011)

© Christoph Links Verlag GmbH, 2009

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos des Autors

eISBN: 978-3-86284-158-5

Inhalt

Was sind die Kroaten für welche?

Ein Volk ohne Eigenschaften

Weg mit der Realität – ein Traum wird wahr!

Eins, zwei, drei, viele Kroatien

Was der Nationalstolz alles zusammenhalten muss

Paffende Partisanen im Polo

Proletarisches Selbstbewusstsein

Scharmützel um die Schneekönigin

»Bist du einer von uns?«

Sag mir, wo du herkommst, und ich sage dir, was du denkst

»Volle Äcker und fruchtschwere Eichen«

Das kroatische Kipferl

Von Mitteleuropa zum Meeresstrand

Dalmatiner und Italiener

Istriens multinationaler Korpsgeist

Kroaten und Katholiken

Die »Kirche unter den Kroaten«

Im Schützengraben für den Kardinal

Krawatte, Kirche, Konsonanten

Was die Kroaten von (fast) allen anderen unterscheidet

Mutmaßungen über Mitteleuropa

Mit dem Rücken zum Mittelmeer

Beelzebub Balkan

Leben ohne höhere Autorität

Geht nicht gibt’s nicht

Hauptsache, man fühlt sich wohl: die Gastfreundschaft

Die kroatische Balkanallergie

Mythen treiben Blüten

Kalte Könner aus dem Norden: die Deutschen

Schwaben light: die Österreicher

Fromme Rüpel aus dem Süden: das kroatische Image im Westen

Die Besseren und die Schlechteren: Italiener und Slowenen

Ungarn und bosnische Muslime: ein Un-Verhältnis

Ist Kroatisch überhaupt eine eigene Sprache?

Narzissmus des kleinsten Unterschieds

Wrklich so ein schrckliche Sprche?

Pleh-Schaden beim Rikverc-Fahren

Wenn etwas passiert gewesen sein sollte

Balkan, Beach und Berlusconi

Was aus dem jugoslawischen Erbe geworden ist

Jugoslawien, Jugoslawien? War da nicht mal was?

Eine Jugend mit »Weißem Knopf« und »Dreckigem Theater«

Ein Journalistenmord in Zagreb

Hypersensationell und turbo-exklusiv

Keiner weiß mehr, was stimmt und was nicht

»Einträchtige Menschen, ruhige Dörfer«

Die große Grauzone

Prügelnde Patrioten: die Fußball-Fanclubs

Eine singende Maschinenpistole

Das Wirtschaftswunder blieb aus

Schnäppchen am Strande: Wie manche Investoren sich benehmen

Gottesgeschenk Goldküste

Das Italien des kleinen Mannes

Paradies ohne Prestige

Ist Schmieren eine Schande?

»Nur nicht aufwachen!«

Kroatien und seine Politiker im Traumexpress nach Europa

Wie man eine Vergangenheit bewältigen lässt

Zwischenrufe aus dem Fernsehapparat

Europa, Kroatien und die Christenheit

Frühling der starken Frauen

Herbst der Patriarchen

Sind die Kroaten »rechts«?

Plisch und Plum im Präsidentenamt

Franjo Tudjman, der Liebling der Emigranten

Stipe Mesić, der Anti-Milošević

Auf einen Kaffee mit dem Präsidenten

Der Normalo: Ivo Josipović

Die Parteien: Supermärkte, keine Marken

Kroatien als Parteiprogramm: Franjo Tudjmans HDZ

Sozialdemokraten und Bauern, Sozialliberale und Volkspartei

Feind und Helfer

Was für das Kroatien von heute die Serben bedeuten

Zwei Drittel haben das Land verlassen

Die »Republik Serbische Krajina« und ihr Ende

Die Vertreibung als Traum

Versuchskaninchen für den Rechtsstaat

Who is who und what was when?

Verständnistipps und Lesehilfen für Eilige

Basisdaten Kroatien

Willst du deinen Traum verwirklichen,dann erwache!

RUDYARD KIPLING

Was sind die Kroaten für welche?

Niederländer neigen zum Camping, Briten pflegen den schwarzen Humor und Italiener die große Show. Aber wie sind die Kroaten? Eine Umfrage in meinem Freundes- und Bekanntenkreis hat erst einmal allgemeine Verlegenheit zutage gefördert. Kroaten? Das könne man schlecht sagen, meinte eine gute Freundin aus Bonn, da es die Kroaten ja so lange noch gar nicht gebe. Eine Amsterdamer Kollegin dachte, im Falle Kroatien könne und solle man das lustige Spiel mit den Klischees besser bleiben lassen: »Schließlich haben die darüber gerade erst Krieg geführt.« Serbische Freunde habe ich vorsichtshalber gar nicht erst gefragt. Ausgerechnet im freundlichen Wien hat mir dann jemand unter Zusicherung strenger Anonymität verraten, dass er schon eine Vorstellung von den Kroaten habe: Sie seien ziemlich balkanisch und total nationalistisch, obwohl sie doch immer so westlich täten. Das klang nun gar nicht mehr harmlos, fand ich, und ich habe meine kleine Umfrage danach sehr rasch eingestellt.

Besser, dachte ich, ist wohl, man fragt die Kroaten selbst. Um es vorwegzunehmen: Auch das hat mich nicht wirklich weitergebracht. Meine Freunde in Kroatien reagierten zunächst ärgerlich oder etwas spöttisch – wahrscheinlich wohl, weil sie von nationaler Typenlehre aus guten Gründen die Nase voll haben. Dabei wollte ich ja gar nicht herausfinden, ob die Kroaten gut oder böse sind, »westlich« oder »balkanisch«, friedliebend oder kriegslüstern. Mir ging es bloß um ein paar nationale Marotten, wie wir sie unseren Nachbarn ganz arglos und mit einem Augenzwinkern nachzusagen pflegen: so wie die holländische Familie im Wohnwagen mit Pils-Fässchen und aufklappbarem Plastik-Jägerzaun. Oder die Engländerinnen in Minirock und Sandalen bei fünf Grad im Nieselregen. Es kam nicht viel heraus – außer dass die Kroaten bekannt dafür sind, beim Kochen pfundweise Vegeta in ihre Mahlzeiten zu kippen, einen Geschmacksverstärker aus Koprivnica. Eine Lehrerin aus Slawonien hielt mir einen halbstündigen Vortrag darüber, wie kultiviert, musikliebend, sanftmütig, leider aber politisch ungeschickt ihre Landsleute immer schon gewesen seien – ganz im Unterschied natürlich zu den trunksüchtigen, primitiven, aber schlauen Serben. Ich dankte so höflich wie möglich; auch auf so etwas war ich nicht aus. Mein Freund Nenad, ein Intellektueller, mit dem man auch sehr gut Wein trinken kann, entfloh mir gleich in die Geschichte und erzählte vom unglücklichen Ban Josip Jelačić, vom ungestümen Stjepan Radić und vom unentschlossenen Vladko Maček. »Ach, ihr Jugos immer mit euren schnurrbärtigen Nationalhelden!« unterbrach ich ihn nach dem fünften Glas. »Das interessiert bei uns doch keinen! Wir wollen wissen, wie es bei euch im Alltag zugeht – wie ihr tickt. Ganz normal eben.« Da wurde er erst einmal still und konterte dann überraschend nüchtern: »Ganz normal? Ganz normal gibt es bei uns nicht. Damit eine Nation prägnante Eigenschaften und so etwas wie liebenswerte Marotten entwickelt, braucht es wahrscheinlich eine lange Zeit der Stabilität. Und die hat es bei uns eben nie gegeben.«

Da waren sie also wieder, die Melancholie, der Ernst und die historische Tiefe, die man einfach nicht wegkriegt, wenn man über ost- und mitteleuropäische Nationen spricht. Das vorliegende Buch erscheint in einer Reihe von Länderprofilen, in der es zum Beispiel um die Niederlande, Belgien, Frankreich, die Schweiz, Österreich, Polen und Tschechien geht. Wer einige Bücher dieser Reihe gelesen hat, wird feststellen: Über die Schweiz oder Belgien kann man munter plaudern. Im Falle Polens oder Tschechiens ist das erheblich schwieriger. Zum Teil schuld daran ist die Empfindlichkeit von Deutschlands östlichen Nachbarn, die zum Beispiel über Autoklau-Witze nicht so richtig lachen können, weil sie die dahinter verborgene Arroganz vor nicht allzu langer Zeit auf weniger lustige Art zu spüren bekommen haben. Mit Schuld ist aber auch, dass ost- und mitteleuropäische Nationen ein anderes Verhältnis zur Geschichte haben und für den westlichen Geschmack zuviel davon reden. Die Westeuropäer sind seit dem Zweiten Weltkrieg amerikanischer geworden. Wenn die Amerikaner sagen: »It’s history«, dann meinen sie: Es ist vorbei. Wenn die alten Europäer das sagten, meinten sie: Es sitzt ganz tief und ist nicht zu ändern. Ost- und Mitteleuropa, auch Kroatien, sind in ihrem Verhältnis zur Geschichte viel europäischer als der Westen des Kontinents.

Ein Volk ohne Eigenschaften

Was macht eine Nation in den Augen der anderen aus, wenn nicht bloß Geschichte und Politik? Im Westen ist das klar: ihre Sitten und Gewohnheiten, ihre Umgangsformen und ihr Fahrverhalten, Vorlieben, ihre Stereotype, ihre gemeinsamen Irrtümer und Spleens, ihre Küche, ihr besonderes Verhältnis zwischen Mann und Frau. Kurz: das, was man gern ihre »Mentalität« nennt. In Italien kocht und isst man gut, pfeift schönen Frauen nach und fährt schnell, aber aufmerksam Auto. In Deutschland kommt man immer pünktlich, trinkt zuviel Bier und gibt sich offen und ehrlich. Und so weiter. Klischees, gewiss – aber welche, die man hier und da brauchen kann und die sich bei Bedarf mit Erfahrungen reich unterfüttern lassen.

Die kroatische Mentalität passt, wenn es sie überhaupt gibt, in solche Klischees kaum hinein. In Osijek, nahe der ungarischen Grenze, bleiben alle Fußgänger ganz brav vor der roten Ampel stehen, und in Split fahren die Autos bei rot über die Haltelinie hinaus, stoppen erst dann und lassen sich von hinten anhupen, wenn es grün wird. Was davon ist typisch kroatisch? Gäbe es brauchbare Klischees, wären sie mir gewiss irgendwo begegnet – und ich hätte mir die Abfrage des persönlichen Mikrozensus sparen können. Einerseits hatten die Kroaten, wie mein Freund Nenad schon bemerkte, keine Zeit, nationale Marotten zu entwickeln. Andererseits haben sie immer mit Nachbarvölkern zusammen in einem Staat gelebt. Und Mentalitäten vererben sich ja nicht über Abstammung, sondern über Umgang und Tradition. Eine Brutstätte für nationale Eigenheiten in diesem Sinne war, wenn auch nur für kurze Zeit, das untergegangene Jugoslawien. Immerhin hat Jugoslawien einen Jugo-Rock und Jugo-Pop zustande gebracht und eine politische Kultur, die sich nach seinem Untergang als recht zäh erweist. Mit der Zeit wird vielleicht auch Kroatien ein paar nationale Besonderheiten entwickeln, die anderen auffallen – wenn auch vielleicht nicht mehr so viele und so ausgeprägte, denn im Zeitalter des Internet sind Nationalstaaten schließlich keine geschlossenen Systeme mehr.

An dieser Stelle wird es Zeit für eine Differenzierung: Eigentlich sollte hier nicht von »Kroaten« die Rede sein, sondern von »Kroatiern« – ein Wort, das es leider nicht gibt. Im früheren Jugoslawien und in ganz Mittel- und Osteuropa sind nämlich Volk und Staatsvolk zweierlei, was im Westen des Kontinents eine unheilbare Verwirrung stiftet. Ein kroatischer Staatsbürger serbischer Nationalität nennt sich Serbe, nicht Kroate, während sich (fast) jeder Bretone oder Elsässer ganz selbstverständlich als Franzosen bezeichnet. Schließlich ist er ja einer: Zeig mir deinen Pass, und ich sage dir, was du bist. In Deutschland mit seinen vielen Spätaussiedlern und vor allem im einst multinationalen Österreich versteht man die osteuropäische Differenzierung zwischen Staatsangehörigkeit und Nationalität noch so einigermaßen. Weiter westlich nicht mehr: In französischen Ohren klingt es wie Hochverrat und Separatismus, wenn sich Serben in Kroatien als Serben und nicht als Kroaten bezeichnen – und umgekehrt wie Ausgrenzung, wenn die »richtigen« Kroaten den Staatsnamen für sich monopolisieren. Die Unterscheidung zwischen Volk und Staatsvolk war in den neunziger Jahren Quelle vieler Missverständnisse. Schon dass Serben und Kroaten in Bosnien sich eben als Serben und Kroaten bezeichneten, galt manchen französischen Beobachtern als unerhört. Dabei war das in Bosnien allen, auch den Muslimen, ganz und gar selbstverständlich und für niemanden Grund, Anstoß zu nehmen.

Je nach dem, ob man von »Kroatien« oder von »den Kroaten« spricht, ob man die Gesellschaft meint oder die kroatische Nation, kann man eine ganz andere Vorstellung heraufbeschwören. Ein Sommergast denkt an ein gastfreundliches Land mit offenen, unkomplizierten Bewohnern und hat vielleicht gleichzeitig ein verblassendes Bild von Krieg, Vertreibung und nationalistischem Pomp im Kopf. Den Kroaten selbst geht es nicht anders, auch wenn die Bilder, die Kroaten von ihrem Lande im Kopf haben, sich von denen der Touristen natürlich unterscheiden. Wie es in Kroatien zugeht und wie »die Kroaten« ticken, hat offenbar nichts miteinander zu tun. Eben noch hat man sich ihren Verdruss über die merkwürdigen Schießereien in Zagreb anhören müssen, die Schmiergelder, die man an der Uni zahlen muss, die undurchsichtigen Machenschaften der Politiker, den ewigen »Balkan«, und im nächsten Atemzug schon kriegt man erklärt, die Kroaten seien schon immer ein ganz und gar westliches Volk gewesen, zufällig auf der falschen Seite der Adria gelandet, stolz, friedliebend, aber immer wieder verkannt. Jemand preist den großen Staatsgründer Franjo Tudjman und sein Lebenswerk, den Auszug Kroatiens aus dem Völkerkerker Jugoslawien, und erklärt einem schon nach dem dritten Bier, der größte Kroate aller Zeiten sei ja eigentlich doch Tito gewesen, der Gründer des sozialistischen Jugoslawien, unter dem jeder sein Auskommen gehabt habe und alle friedlich zusammengelebt hätten. Im einen Fall ist Kroatien ein ganz normales Übergangsland, mit allen seinen Problemen, mit einem Schuss Nostalgie, aber auch mit einem klaren Ziel. Im anderen Bild ist Kroatien ein »tausendjähriger Traum«, der mit der Unabhängigkeit über Nacht Wirklichkeit wurde.

Weg mit der Realität – ein Traum wird wahr!

Die beiden Bilder widersprechen sich, aber gestritten wird nicht über sie. »In Polen hat ein polnischer Sozialismus geherrscht, in Ungarn ein ungarischer, in Tschechien ein tschechischer«, hat der Filmregisseur und frühere Intendant des kroatischen Fernsehens, Antun Vrdoljak, einmal gesagt, »nur in Kroatien herrschte ein serbischer Sozialismus«. Vrdoljaks Formel sollte es den Kroaten leichter machen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. In Wirklichkeit machte sie sie ihnen schwerer, denn sie erlaubte eine verhängnisvolle Illusion: In Kroatien, konnte man aus dem Spruch schließen, ist alles in Ordnung, wenn bloß erst die Serben weg sind. Tatsächlich hat sich Kroatien, anders als Polen, Ungarn und Tschechien, nach dem Fall des Kommunismus keiner gesellschaftlichen Rosskur unterzogen. Es setzte vielmehr auf Teufelsaustreibung.

Die Formel vom »serbischen Sozialismus« erklärt immerhin, warum das Traumbild und das detailgetreue Foto der kroatischen Gesellschaft in den Köpfen gar nicht konkurrieren. Insofern man Kroate war, hatte man mit dem realen Jugoslawien vor der Unabhängigkeit eigentlich nichts zu tun. Beide Bilder unterscheiden sich wie der Schlaf- und der Wachmodus; beim Einschlafen und beim Aufwachen schaltet man einfach zwischen beiden um. Nicht wenige Politiker, selbst in höchsten Funktionen, mussten nicht einmal umschalten. Sie kamen aus der Emigration; für sie war Kroatien das Traumland ferner Kindheitserinnerungen, das sie ein halbes Leben lang verklärt im Herzen getragen hatten. Manche Dissidenten, wie Franjo Tudjman, hatten sich im Lande selbst aus der Wirklichkeit davon geträumt – was es umso leichter machte, da Tudjman die meiste Zeit seines erwachsenen Lebens in Belgrad verbracht hat.

Nun war der Traum Wirklichkeit geworden, und plötzlich lebte man in einem anderen Land, über das manche allerlei Gescheites erzählen konnten – einem Land mit einer weithin unbekannten Geschichte, mit Eigenschaften, die man bisher eigentlich nicht beobachtet hatte. Dabei hatte es ja die ganze Zeit über auch ein reales Kroatien gegeben: die »sozialistische Republik« innerhalb Jugoslawiens, ein Land mit eigenen geistigen Strömungen, einer eigenen Elite, angesehenen Hochschulen. Aber alles das zählte nicht mehr. Der Brüsseler Psychoanalytiker – und kroatische Emigrant – Antun Pinterović hat für diese merkwürdige Haltung sogar eine offensive Rechtfertigung parat. Die »kroatische Seele«, meint er, »ist die einzige Wirklichkeit.« Was man dagegen »wissenschaftliche Wahrheit« nenne, ändere sich alle zehn Jahre. Nur wer träumt, ist wach, lässt sich daraus schließen, und wer sich für wach hält, der träumt. Innere Wirklichkeiten und Erkenntnisse über die »kroatische Seele« lassen sich in der Emigration wahrscheinlich noch viel besser herausfinden als im realen Lande selbst, das einen immer wieder mit Überraschungen verstört.

Nicht nur der Krieg, auch die Träumerei hat Kroatien lange blockiert. Mit zehnjähriger Verspätung hat dann aber doch eine rasante Entwicklung eingesetzt, die noch in vollem Gange ist. Ein ganzes Land – oben und unten, rechts und links – nimmt am großen Orientierungslauf nach Europa teil und erfüllt bereitwillig die Aufgaben, die ihm gestellt werden. Es rennt nach Europa. Reißt der Bürgermeister von Zagreb seine altbalkanischen Witze über Frauen, erntet er von der konservativen Vize-Regierungschefin einen scharfen Tadel: So wollten wir doch nicht mehr reden! Alle stimmen ihr zu: Das wollten wir doch nicht mehr! Dabei geht es ernst, aber nicht verkniffen zu. Dass man in einem modernen europäischen Land keine Behindertenparkplätze mehr zuparken soll, macht den Kroaten zum Beispiel ein Schild mit der hübschen Aufschrift klar: »Ich sehe, dass Sie sich meinen Parkplatz genommen haben. Nehmen Sie auch meine Behinderung?« Es wirkt. Zwar kann man versuchen, den Moment festzuhalten, kann die rasche Entwicklung ausblenden und »die Kroaten« einfach so beschreiben, wie sie sich in einem gegebenen Augenblick dem Besucher gerade darstellen. Aber das Bild, das auf diese Weise entstehen würde, sagt über die Nation etwa so viel aus wie ein Standfoto von einem Formel-1-Rennen über dessen Ausgang. Vor zwei Jahren noch hätte man in einem solchen Buch zum Beispiel gelesen, dass in Kroatien kein Auto vor einem Zebrastreifen hält, dass man nie Behinderte auf der Straße sieht, dass in Zagreb niemand Fahrrad fährt und dass überall rücksichtslos geraucht wird. Alles das stimmt so schon nicht mehr. Das Rennen ist weitergegangen.

Nenad hatte also ganz recht, wie ich heute finde: Ohne Geschichte geht es nicht; dafür ist Kroatiens Gegenwart einfach zu flüchtig. Aber jetzt, da das Land sich so rasant verändert, kommt Kroatien das alte Traumbild immer wieder in die Quere. Gerade weil alles so schnell geht, sind die Teilnehmer am großen Rennen verführt, irgendwo fest anzudocken, tief in der Vergangenheit nach dem »Eigentlichen«, »Unwandelbaren« zu suchen, sich in die Geborgenheit eines »ewigen« Kroatentums zu verkriechen und sich gegen die »anderen« abzugrenzen; gegen den Balkan, den Islam, die Serben. Die alten Mythen und traditionellen Feindschaften haben also manchmal aus sehr aktuellen Gründen Konjunktur. Auch der Beobachter des großen Rennens ist vor der Perspektive nicht gefeit; es ist wirklich schwer, etwas Gültiges über Kroatien zu sagen. Auf keinen Fall darf der Augenzeuge Staffelei und Malkasten auspacken und versuchen, die Wahrheit über Kroatien und seine Bewohner im Stil alter Kupferstiche und klassizistischer Ölgemälde zu zeigen. Deshalb habe ich mir auch vorgenommen, meine Leser so wenig wie möglich mit Schlachten, türkischem, serbischem oder sonstigem Joch, mit uralten Siedlungsgebieten oder mit angestammten nationalen Rechten zu quälen. In die Geschichte will ich nur ausweichen, wo das Verständnis der Gegenwart dazu zwingt – und das ist schon oft genug.

Bis zur nächsten Auflage dieses Buches wird das atemlose Kroatien wohl ein ganzes Stück weiter rennen. Das ist ihm wenigstens zu wünschen. Zwar steht immer wieder jemand am Straßenrand und ruft: »He! Was rennt ihr so? Wir sind doch schon längst in Europa! Schaut lieber zu, dass ihr das den arroganten Westlern endlich beibringt!« Zurzeit hört niemand auf die Zwischenrufer, und das ist gut so. Identität kriegt man nicht, indem man das bewahrt, was man dafür hält; ihre kroatische Farbe bekommen Rechtsstaat, Demokratie, Marktwirtschaft und Europa am Ende ganz von alleine. Mythen und Feindschaften wird es dann hoffentlich nicht mehr brauchen, und zwischen dem Land und der Nation, »Kroatien« und den »Kroatiern« wird, wenn es gut geht, niemand mehr einen Unterschied machen wollen.

Eins, zwei, drei, viele Kroatien

Was der Nationalstolz alles zusammenhalten muss

Womit man sich zum Verständnis Kroatiens vertraut machen muss, kann man an den Rückspiegeln der Autos ablesen. Dort baumelt die klassische »kroatische Dreifaltigkeit«: die Schachbrettflagge, der Rosenkranz, der Wunderbaum. Sie stehen, wenn man so will, für das nationale, das katholische und das proletarische Element.

Den Wunderbaum einfach dem Proletariat zuzuordnen ist zugegebenermaßen nicht ganz fair. Die stark riechenden Rauchverzehrer kriegt man an jeder Tankstelle. Sie hängen nicht nur an den kleinen Fiats und den alten Polos der Arbeiterklasse, die schon in den neunziger Jahren die jugoslawischen Typen Yugo und Zastava abgelöst haben. Man findet sie auch an den Audis und BMWs, die in den letzten Jahren in Kroatien am häufigsten neu angemeldet worden sind. Hergestellt im Schweizer Kanton Schaffhausen, überziehen die grellen »Lufterfrischer« in den Duftnoten Vanille, Grüner Apfel oder Zitrone die Straßenlandschaften des Balkan bis tief in die Türkei. Man braucht sie, wenn man im Auto raucht; sie ersetzen den einen unangenehmen Geruch durch einen anderen.

Paffende Partisanen im Polo

Rauchen tun natürlich auch in Kroatien nicht nur Arbeiter. Das Qualmen ist aber Ausdruck einer unbürgerlichen Wertewelt und Lebensweise. Viele Menschen denken gar nicht daran, ihr Leben nach den Empfehlungen von Gesundheitsberatern auszurichten, und zeigen für die einschlägigen Empfindlichkeiten anderer auch nicht allzu viel Verständnis. Es wird in Kroatien auch gern und viel getrunken. Wenn man sich im Taxi anschnallt, nimmt der Fahrer das als Misstrauen gegen seine Fahrkünste und ist beleidigt. Sicherheit wird klein geschrieben. Das qualmende, trinkende, verwegene, sprich: das proletarische Jugoslawien hat schon auf die Heranwachsenden unter den Adria-Touristen der sechziger bis achtziger Jahre seine Faszination ausgeübt. Wer aus der Welt der Einfamilienhäuser, der gescheitelten Buchhalter und der dauergewellten Hausfrauen kam, traf hier auf wilde Kerle, vor allem aber auf rauchende Frauen mit scharfem Blick und dunkler Stimme. Die demonstrative Missachtung der Gesundheit kommt gern als Lässigkeit daher. Aber ihr Charme ist verflogen. In jedem Falle bleibt die Gesundheitsvergessenheit nicht ohne Folgen. Die Lebenserwartung der Kroaten liegt deutlich hinter dem europäischen Durchschnitt und sogar hinter der Serbiens und Albaniens zurück. Nach einem Index, der sich aus Alkoholverbrauch und alkoholbedingten Gesundheitsschäden zusammensetzt, hat das US-Magazin Forbes die Kroaten zu den Trinkweltmeistern erklärt. Von einer Million Kroaten kommen 139 durch einen Verkehrsunfall ums Leben, mehr als doppelt so viele wie in Deutschland. Noch mehr sind es in Europa nur in Griechenland.

Die Qualmwolken in Cafés und Hotelhallen, Wohnungen und Autos drängen Besuchern selbstverständlich den Eindruck auf, in Kroatien würde viel mehr geraucht als anderswo. Das stimmt und stimmt nicht. Da sie erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten, sind die Rauch (un-) sitten der Kroaten tatsächlich Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Dabei kommt dann heraus, dass sich unter den Kroaten tatsächlich mit 36 Prozent um die drei Prozent mehr Raucher als unter EU-Bürgern im Durchschnitt finden – etwas mehr als unter den Deutschen, etwas weniger aber als unter den Österreichern. Den Unterschied macht das Kettenrauchen, das in Kroatien tatsächlich stärker verbreitet ist als anderswo: In Kroatien rauchen mehr Menschen als sonstwo in Europa über 35 Zigaretten am Tag, so die Untersuchung eines Amerikaners und einer Kroatin. Und sie tun es tatsächlich besonders hemmungslos, wie die Forscher nachgewiesen haben. Außer in Rumänien qualmen nirgendwo so viele in den eigenen vier Wänden oder im Auto. »Rauchen wie ein Türke« nennt man das unentwegte Paffen in Kroatien, obwohl die Kroaten selbst ihre Lehrmeister vom Bosporus im Tabakverbrauch schon lange überholt haben. Kroaten trauen sich auch mit deutlichem Abstand am allerwenigsten, einen Raucher, der ihnen seinen Qualm ins Gesicht bläst, zur Mäßigung aufzufordern oder vor die Tür zu schicken. Rauchen ist wie atmen – in jedem Sinne. Es ist deshalb auch kaum irgendwo verboten. Zigaretten waren bis vor kurzem billig und sind es immer noch, wenn man sie aus Bosnien herbeischleppt. Die Warnhinweise des Gesundheitsministers sind diskret, fast verschämt. Noch, muss man hinzufügen.

Proletarisches Selbstbewusstsein

Auch wenn sie nicht rauchen, sind die Leute in Kroatien unkompliziert. Man muss keine schwierigen Regeln beachten, wenn man mit ihnen Umgang pflegt, keine Krawatte anziehen, aber auch keine schwarzen Polohemden, muss keine besonderen Anredeformeln wählen und sich nicht ständig überschwänglich bedanken. Es ist eher wie in Dortmund als wie in München oder in Wien. Wenn man in der Stadt auf die Toilette muss, geht man einfach in ein Café oder ein Restaurant. Keiner würde einen aufhalten, denn jeder weiß, dass alle mal aufs Klo müssen. Echt proletarischer Natur ist das Selbstbewusstsein, das Arbeiter und Angestellte an den Tag legen, manchmal übrigens sehr zum Verdruss ausländischer Investoren. Die wachsenden Unterschiede zwischen Arm und Reich werden nicht akzeptiert. Nach dem Eurobarometer der EU sind die Kroaten krassen Einkommensdifferenzen gegenüber noch skeptischer als Bulgaren und Rumänen. Dabei ist der Abstand zwischen einem hohen und einem niedrigen Verdienst noch immer viel geringer als anderswo. Kroatien findet sich im europäischen Vergleich zusammen mit Ländern wie Slowenien, Tschechien und Ungarn, aber auch Deutschland und Belgien in der relativ egalitären Klasse. Überall sonst in Westeuropa, zum Beispiel auch in Österreich, Polen, Rumänien und Bulgarien und erst recht im post-sowjetischen Baltikum ist die Lücke zwischen Arm und Reich größer. Gemessen wird das nach dem sogenannten Gini-Index.

Das Selbstbewusstsein der Arbeiter und die Kritik an den Chefs ist ein Erbe der jugoslawischen Ära. Nirgendwo in den EU-Beitrittsländern empfinden Arbeitnehmer so starke Spannungen zwischen Belegschaft und Unternehmensleitung, haben die Demoskopen des Eurobarometers festgestellt. In Kroatien finden 60 Prozent das Klima im Betrieb »gespannt«, in den EU-Ländern, einschließlich der 2004 beigetretenen mitteleuropäischen, sind es nur 36 Prozent und selbst im streikfreudigen Rumänien nur 49 Prozent. Überall in den Übergangsländern werden die Rechte von Arbeitnehmern missachtet, aber nicht überall fällt es den Betroffenen so auf. Anders als im Ostblock, wo einzelne Betriebe samt ihren Leitern Rädchen in einer Hierarchie waren, hatten die »gesellschaftlichen Unternehmen« in Jugoslawien erhebliches Eigengewicht. In der »sozialistischen Marktwirtschaft« herrschte das Prinzip der »Arbeiterselbstverwaltung«. Das Management wurde von der Belegschaft gewählt, und kein zentraler Plan wies dem einzelnen Betrieb Produktionsziffern zu. Die Freiheit hatte ihre Grenzen, hat den Beschäftigten aber doch viel mehr als im Ostblock und im kapitalistischen Westen das Gefühl eingepflanzt, ihr Betrieb gehöre ihnen. Das Eigentumsgefühl hat viele Kroaten auch nach der Privatisierung nicht verlassen. Ausländische Investoren stoßen auf Skepsis nicht nur, weil sie Ausländer sind, sondern auch, weil sie die autoritären Sitten kapitalistischer Unternehmen einführen. Geradezu sprichwörtlich ist das pralle Selbstbewusstsein der kroatischen Handwerker, der berüchtigten majstori, die nur ins Haus kommen, wenn sie wollen, und dann auch nur das reparieren, was sie reparieren wollen.

Der mitunter raue Ton im alltäglichen Umgang, das verbreitete Du, die Lässigkeit und das offenkundige Desinteresse an Formalien und bella figura ist in Kroatien wohl mindestens so sehr dörflich-bäuerlich wie proletarisch. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte das Land wenig Industrie. Zwar gab es in Zagreb schon im 19. Jahrhundert eine Reihe von meist jüdischen Fabrikanten. Die Produktionsstätten waren aber klein. Die sozialdemokratische Partei wurde zwar schon 1894 gegründet, bestand zunächst aber vor allem aus Eisenbahnarbeitern im Staatsdienst. Große Industrie- oder Bergbaureviere, wie in Polen oder Tschechien, aber auch in Serbien, gab und gibt es nicht.

Das kroatische Bauerntum dagegen war auf der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert jahrzehntelang Gegenstand eines regelrechten Kultes. Die Bauernpartei der Gebrüder Radić, die das Land von ihrer Gründung 1904 bis zum Zweiten Weltkrieg prägte, arbeitete nicht nur auf politischem, sondern auch auf kulturellem Gebiet, führte Trachtenumzüge und Folklore-Festivals ein. Das war nicht, wie zur gleichen Zeit die deutsche Jugendbewegung, der Romantizismus einer bürgerlichen Gesellschaft. Die meisten Kroaten waren wirklich Bauern. Das bürgerliche Zagreb reagierte schockiert, als die Radić-Brüder an der Spitze einer Kolonne unrasierter Landleute in einfachen Kitteln in den Sabor, das Hohe Haus, einzogen. Die Bauernpartei gab dem ländlichen rückständigen Kroatien Selbstbewusstsein. Als die Kommunisten die Industrie aufbauten und die Bauernsöhne und -töchter in die Städte holten, verfiel die manchmal etwas gezwungene Dorfkultur vielerorts wieder. Aber richtige Städter wurden viele Neuankömmlinge oft trotzdem nicht. Man behielt das Häuschen auf dem Lande auch noch nach dem Tod der Großeltern. Auch in Zagreb und Split wurde Klage über die Verödung der Dörfer geführt, besonders aber über die typisch jugoslawische »Rurbanisierung«. Das Kunstwort aus rural und urban bezeichnete ein Anwachsen der Städte, ohne dass Infrastruktur und innere Einstellung der Neubürger mit der Entwicklung Schritt hielten. In Zagreb markiert im Bewusstsein noch heute die Save die Grenze zwischen den arroganten purgeri, den Bürgern, und den bäurischen došljaci, die irgendwann vom Lande in die Trabantenstadt Novi Zagreb gekommen sind. Die aus dem Hinterland sind für den stolzen Bewohner des römischen Split die vlaji – Leute, die von ihren Dörfern hinter den Hügeln das Meer nicht sehen können. Der soziale Äquator von Split liegt an der Sutjeska-Straße: Diesseits, bei den Städtern, wird »rot«, jenseits, bei den Neuzuzüglern vom Lande, wird »blau«, also die nationalkonservative Partei gewählt. Grün jedenfalls ist man sich auf keinen Fall.

Als die Bauernpartei stark wurde, fielen die Emanzipation der ländlichen Underdogs und kroatisches nationales Selbstbewusstsein noch weitgehend zusammen. Hätte man damals in Kroatien schon Autos gehabt, wären einem Wunderbaum und Schachbrettfahne am Rückspiegel als ganz harmonische Kombination vorgekommen. Nur den Rosenkranz hätte man wohl nicht dazu gehängt. Wie der Qualm in die Nase, sticht ausländischen Besuchern heute der Nationalstolz nicht immer nur angenehm ins Auge. Zwar ist dessen Zenit lange überschritten, aber das rot-weiße Schachbrettmuster ist noch immer mindestens so verbreitet wie in Amerika die Stars and Stripes. Wer dahinter aber eine homogene Gesellschaft vermutet, irrt sich.

Scharmützel um die Schneekönigin

Sie ist die »Herrin der Skipisten«, die »olympische Kaiserin«, »beste Skiläuferin der Welt« und selbstverständlich immer wieder »die Schneekönigin«: Fans, Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen konkurrieren um den passenden Beinamen für die dreifache Olympiasiegerin Janica Kostelić. Für ein »Weltwunder« hält sie Večernji list, die größte Tageszeitung, und ein Fan verstieg sich sogar dazu, sie eine »Außerirdische« zu nennen. Das darf sie bei aller Liebe nun wirklich nicht sein. Die Zagreberin, die »dem Sport neue Grenzen setzte«, muss nach ihren Siegen vor allem eines sein: Kroatin. »Janica hat der Welt gezeigt, dass man von Sljeme aus« – dem Hausberg Zagrebs, wo sie als Kind das Skifahren lernte – »die Welt bezwingen kann«, schrieb Večernji list einmal mit schon imperialem Unterton.

So gigantisch der Empfang für die Olympiasiegerin ausfiel, so wenig konnte der Gratulantenchor Konkurrenz und Gereiztheit verbergen. Ein wahrer Glückwunschkrieg brach aus. Schulleiter, die andeuteten, für den Empfang nicht frei geben zu wollen, wurden öffentlich angepöbelt. Schon am Wochenende hatte Zagrebs Bürgermeister verlangt, der Empfang für Janica müsse auf jeden Fall größer und strahlender ausfallen als der für den Wimbledon-Sieger Goran Ivanišević im Jahr zuvor. Split, die Heimatstadt des Tennisspielers, war kollektiv beleidigt, und Ivanišević selbst ließ ausrichten, die Zagreber müssten aber 600 000 Leute zusammenbringen – erst dann könne die viermal größere Hauptstadt dem Adriahafen Paroli bieten. Auch die politischen Konkurrenten befehdeten sich hintenherum. Der Staatspräsident hätte nach dem Willen der Opposition eigentlich schon am Flughafen stehen sollen – nur um sich dann als Trittbrettfahrer des Ski-Ruhms beschimpfen lassen zu müssen. So stand nur der Premierminister am Flugzeug, das sogar eine Ehrenrunde über Zagreb und den Sljeme drehte. Einen besonders täppischen Versuch, die Slalom- und Abfahrtsläufe Janicas zu instrumentalisieren, unternahm eine Oppositionspartei. Sie ließ eine einen Kilometer lange Papierrolle anfertigen und forderte die Spitzen des Staates »vom Präsidenten abwärts« ultimativ auf, sich dort – zu Ehren der »planetarischen Königin« – zu verewigen. Am Ende standen aber nur die Namen der Parteigrößen auf dem Band, das nun wenigstens ins »Guinness-Buch der Rekorde« eingehen sollte.

Gleich vier Nationalfeiertage begeht der junge Staat: den »Tag der Staatlichkeit« am 25. Juni, aber auch den »Tag der Unabhängigkeit« am 8. Oktober, dazu den »Tag des Sieges und der vaterländischen Dankbarkeit« am 5. August, schließlich, für die linke Hälfte der Gesellschaft, auch den »Tag des antifaschistischen Kampfes« am 22. Juni. Manchmal schimmert gerade im Stolz auf das unabhängige Kroatien auch noch ein Stück altes jugoslawisches Selbstbewusstsein durch. Der alte Bundesstaat, damals mit 21 Millionen Einwohnern doppelt so groß wie Schweden, war ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne, als Initiator der sogenannten »Bewegung der Blockfreien« dritte Kraft neben den gewaltigen Machtpolen Washington und Moskau und nebenbei das Land mit der drittstärksten Armee Europas. Tito, der Staats- und Parteichef, tafelte mit Kennedy und Chruschtschow und wurde immer in einem Atemzug mit Nehru und Nasser, den ebenfalls blockfreien Präsidenten von Indien und Ägypten genannt. Die Pracht ist lange dahin. Titos kroatische Nachfolger empfangen heute vornehmlich Beamte aus Brüssel und Parlamentarierdelegationen aus Bayern und Kärnten.

In Texas ist bekanntlich alles »das größte auf der Welt«. In Kroatien ist alles »das älteste«. Die Kathedrale von Split ist die »älteste der Christenheit«, was nur dann stimmt, wenn man nach der (römischen) Bausubstanz geht. Sogar dass die Kroaten die »älteste Nation der Welt« seien, kann man hören. Die »sportliche Weltmacht«, als die man sich gerne bezeichnet, ist Kroatien – wie übrigens alle post-jugoslawischen Nationen – tatsächlich nur im Basket-, Volley-, Hand- und Wasserball und mit Einschränkungen auch im Fußball. Die skilaufenden Geschwister Janica und Ivica Kostelić blieben Einzelerscheinungen. Im Medaillenspiegel der Olympischen Spiele von Peking lag Kroatien mit zwei Mal Silber und drei Mal Bronze noch hinter Slowenien.

»Bist du einer von uns?«

»Bist du einer von uns?« Zum ersten Mal gehört habe ich die Frage, glaube ich, kurz nach dem Krieg in einem Kleinstädtchen bei Zagreb. Ich recherchierte gerade über den Umgang des neuen Kroatien mit seiner serbischen Minderheit, und offenbar sprach ich schon gut genug Kroatisch, dass man mich wenigstens für ein Gastarbeiterkind halten konnte. Mein Gegenüber wusste wohl ziemlich viel, war sich aber nicht sicher, ob er mir das alles auch gefahrlos erzählen konnte. Bist du einer von uns? Seither ist mir die kroatische Gretchenfrage immer wieder begegnet. Meistens muss sie gar nicht ausdrücklich gestellt werden. Man erkennt sich: am Namen, am Geburtsort, an der Antwort auf scheinbar harmlose Fragen anderen Inhalts. Die Reaktion auf die Antwort, auch wenn diese unausgesprochen bleibt, ist immer ein stummes Aha. Am Fjord von Dubrovnik, wo ich mich einmal mit kroatischen Dorfbewohnern vor dem Artilleriebeschuss der Jugoslawischen Volksarmee in einen Keller geflüchtet hatte, wollte ein alter Mann von mir wissen, ob ich verlobt sei. Das war eine komische Frage, denn aus dem Alter, in dem man verlobt ist, war ich eigentlich schon heraus. Ein jüngerer Mann klärte dann die Situation: Ich trug meinen Ehering an der rechten Hand – wie die Serben. Die Kroaten tragen ihn an der linken.

Im Krieg, und zumal in einer solchen Lage, klang die Frage Jesi li naš?