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This history of German culture paints a magnificent panorama of cultural life between 1870 and German reunification. It includes not only the peak achievements of high culture in the fields of literature, music and the fine arts, but also everyday culture and the achievements and influence of technology, engineering and scientific thought in cultural history. The author ensures an easily grasped arrangement of the material, which is structured into clear chapters and presented extremely concisely. He thus provides a multifaceted tour through the cultural history of Germany in the twentieth century and identifies its guiding landmarks concisely, clearly and precisely.
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Seitenzahl: 1230
Veröffentlichungsjahr: 2016
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1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Umschlagabbildung: 00806418 © Wolfgang Volz/laif Verhüllter Reichstag
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN: 978-3-17-031844-1
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-031845-8
epub: ISBN 978-3-17-031846-5
mobi: ISBN 978-3-17-031847-2
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Vorwort
Einleitung
Teil 1 Die Menschen
Vergnügen und Zeitvertreib
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Sport
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Kleidung und Mode
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1990
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Teil 2 Gesellschaft
Architektur und Bauen
1900–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Schule und Bildung
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Religion und Kirche
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Literatur
Teil 3 Medien
Presse
1900–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Rundfunk
1923–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Film und Kino
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Teil 4 Die Schönen Künste
Musik
1900–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Literatur
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Malerei
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Literatur
Design
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1990
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Drama und Theater
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Teil 5 Wissenschaften
Geschichtswissenschaft
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Humanmedizin
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Physik
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Chemie
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Biologie
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Literatur
Luft- und Raumfahrttechnik
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Automobiltechnik
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Eisenbahntechnik
1900–1918
1919–1933
1933–1945
Westzonen und BRD: 1945–1989
Ostzone und DDR: 1945–1989
Deutschland nach 1990
Literatur
Die Entstehung dieses Buches hat den Autor viele Jahre begleitet. Es nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise durch die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts und greift dazu in 22 Kapiteln Erscheinungsformen des kulturgeschichtlichen Wertewandels auf. Auf diese Weise werden Entwicklungstendenzen, Lebensstile und Deutungsmuster sichtbar. Bei jedem Leser weckt dieses Jahrhundert unterschiedliche Erinnerungen. Viele haben einen großen Teil selbst erlebt; für die junge Generation ist das 20. Jahrhundert die Vorgeschichte ihrer Gegenwart. Sie leben mit den Folgen dieser Vergangenheit: mit den Lehren, die aus Nationalsozialismus und zwei Weltkriegen zu ziehen sind, der Trennung in zwei deutsche Staaten und der Wiedervereinigung, den Erfolgen in Wissenschaft und Wirtschaft, mit der Bildungspolitik und den Institutionen und Leistungen in der Kunst.
Das Buch bietet eine moderne Gesamtdarstellung der deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, die die thematische Vielfalt der Lebenswelten im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im »Dritten Reich«, in der Bundesrepublik und der DDR überblicksartig umfasst und dabei innerhalb einzelner Kulturbereiche Wandel und Beharrung aufzeigt. Bisherige Überblicksdarstellungen zur Kulturgeschichte, die seit den 1980er und 1990er Jahren erschienen sind, beschäftigen sich mit Teilaspekten verschiedener Epochen, wobei sie Naturwissenschaften, Architektur, Mode und Malerei oft weitgehend ausblenden. Gleichwohl liegt eine Fülle von Detailstudien zu den einzelnen im Buch ausgebreiteten kulturgeschichtlichen Themenkomplexen vor, auf denen die vorliegende Arbeit ebenso fußt wie auf eigenen Vorarbeiten.
Jeder Autor hat beim Abschluss seines Werkes zu danken. Für die kritische Lektüre einer Reihe von Kapiteln danke ich Prof. em. Dr. Walter Jansen, Dr. phil. Marcus Kenzler, Dr. rer. nat. Horst Knöckel, Dr. rer. nat. et phil. habil. Annelore Rieke-Müller, Dr. phil. Michael Stöneberg und Prof. Dr. Melanie Unseld. Dem Kohlhammer Verlag danke ich für das Vertrauen und seinem Lektor Dr. Daniel Kuhn für die engagierte Zusammenarbeit.
Oldenburg, im Herbst 2016
Menschen geben sich Regeln für ihr Zusammenleben, die auf Wertorientierungen und Ideologien basieren. Aus der Bindung an die so geordnete Gesellschaft ergeben sich kulturelle Verhaltensweisen und Dinge, die als Teil des kulturellen Gedächtnisses in politische sowie wirtschaftliche Strukturen und Prozesse eingebettet sind. Diese kulturellen Muster zu erschließen, ist das Ziel der »Neuen Kulturgeschichte«, die seit den 1990er Jahren in der Geschichtswissenschaft zunehmend an Boden gewinnt. Sie ist nicht nur problemorientierter als die ältere Kulturgeschichtsschreibung aus der Zeit um 1900, sondern sie erschließt sich auch Themen, Quellengruppen und methodische Herangehensweisen im Rückgriff auf andere Fächer. Sie weitet also ihren Untersuchungsgegenstand aus und ist transdisziplinär ausgerichtet. Sie verbindet Fragestellungen der Geschichtswissenschaft mit solchen der Literaturwissenschaft, Kunst- und Technikgeschichte, Pädagogik, Religion, Medien- und Theaterwissenschaft, Medizin und Naturwissenschaften. Erst die Einbindung solcher Themen gibt einem Jahrhundert seine Konturen. Die vorliegende Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts bezieht sich dazu auf Überlegungen zu einer »Historischen Kulturwissenschaft«, wie sie um 1900 u. a. von Georg Simmel und Max Weber postuliert wurden. Dieser Ansatz beinhaltet zum einen strukturelle Zusammenhänge von Kultur und Gesellschaft. Zum anderen werden Menschen und deren Handlungsspielräume unter den jeweiligen gesellschaftspolitischen Bedingungen analysiert. Denn im Sinne Georg Simmels haben kulturelle Erscheinungsformen als »ein Element einer historisch-sozialen Struktur« zu gelten und als Zeugnis eines »inneren Tuns, welches das Erlebnis [eines] Subjekts« dokumentiert. Im Zentrum steht also nicht nur wie bei der »Historischen Sozialwissenschaft« eine Gesellschaftsgeschichte, die »Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Herrschaft und Kultur« untersucht (Hans-Ulrich Wehler).
Die vorliegende Darstellung greift dazu den »iconic« bzw. »pictorial turn« auf, also die Hinwendung zu einer Bildwissenschaft, wohl einer der vielversprechendsten Ansätze in der »Neuen Kulturgeschichte«. Repräsentationen von menschlichem Tun, vom Gemälde bis zum Designobjekt, werden nicht mehr nur als Illustration, sondern als Konstruktion von Vergangenem und damit als Quelle wahrgenommen. Sie sind demnach Formen der Kommunikation, mit denen der Einzelne Stellung nimmt zu seiner Umwelt. Bereits 1772 formulierte der Göttinger Historiker August Ludwig Schlözer dazu, Objekte könnten den Historiker als »Gedächtniszeichen« bei der Analyse von Begebenheiten sowie von Ursachen und Verläufen historischer Prozesse leiten. Sie markieren demnach zeitlich definierte Zustände eines Sachverhalts innerhalb eines geschichtlichen Prozesses, dessen Verlauf durch den Vergleich mit anderen Gedächtniszeichen deutlich wird – als »Realzusammenhang« im Sinne Schlözers. Die Zeichen führen den Historiker zu Ereignissen, Ursachen und Wirkungen, indem sie Vorstellungen und Bedeutungen sowie deren Wandel vor Augen stellen. Ihre Zusammenstellung ermöglicht darüber hinaus das Erkennen eines inhaltlichen Sachzusammenhangs – »Zeitzusammenhang« im Sinne Schlözers. Für ihn ist die Geschichte daher ein System von Zeichen, welches im jeweiligen Kontext zu interpretieren ist; eine Vorstellung, die 200 Jahre später der Ethnologe Clifford Geertz ähnlich formulierte.
Jedoch lässt sich von diesem System von Zeichen immer nur ein »Teil des Ganzen« erfassen, wie die Kulturwissenschaft um 1900 als Problem der Annäherung an Vergangenes insgesamt herausgearbeitet hat. Benutzungsspuren sind zwar Gedächtniszeichen von gelebter und vorgestellter Wirklichkeit. Mit der fortschreitenden Kultivierung der Dingwelt, so Georg Simmels These, wissen wir jedoch immer weniger von den Dingen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Folge sei, dass das Denken in Form von immer mehr Symbolen gespeichert sei, deren Sinn und Bedeutung man »nur ganz unvollständig kenne«. Daher gelte es, »den Dingen ihre Bedeutung und ihr Geheimniß abzulauschen« und individuelle Erinnerung in das offene überindividuelle Gedächtnis einzuordnen. An Versuchen, die Deutung der jeweiligen Erscheinungsformen unter der Voraussetzung ihrer Unendlichkeit zu leisten, hat es seit der Jahrhundertwende nicht gefehlt. Hier seien nur die Ansätze von Aby Warburg, Werner Sombart und Ernst Cassirer genannt. Für Cassirer drückt sich das »Geistige« in »Zeichen« und »Bildern« aus und wird durch Symbole vermittelt. Für ihn äußert sich die Deutung von Wirklichkeit am ehesten in Kunstwerken. Gleichwohl war für ihn wie für Georg Simmel Kultur alles, was der Mensch materiell und immateriell hervorbringt, von Ritualen über Bilder, Mythen und Religion bis zu Institutionen, Sprache und Technik. Solche Ansätze sind zweifellos für die moderne kulturhistorische Forschung anschlussfähig.
In der vorliegenden Darstellung gelten vor diesem theoretischen Hintergrund Bauten (s. Bauen und Wohnen), künstlerische Darstellungen (s. Malerei), technische Geräte (s. Ingenieurwissenschaften), Gegenstände des täglichen Lebens (s. Design) sowie Kleidung (s. Mode) als Bilder und somit als Repräsentationen von Vorstellungen. Diese Artefakte umgaben einstmals die Menschen und standen in einem bestimmten Funktionszusammenhang zu ihrer Lebenswelt. Sie hatten für sie damit eine »Kulturbedeutung« (Max Weber), die zeitlich und sozial differenziert ist: So muss man z. B. einem 70-jährigen nicht die Kulturbedeutung einer Lambretta erklären, wohl aber einem 20-jährigen. Für den älteren Zeitgenossen ist sie das Symbol für gelebte Mobilität, für den jüngeren Betrachter wohl nur ein technisch überholtes Gerät. Die Artefakte zeigen also Aspekte des Lebens eines Individuums in einer Gruppe und zugleich in einem sozialpolitischen und kulturellen System, sind Gedächtniszeichen von gelebter und vorgestellter Wirklichkeit und können deshalb ähnlich wie Texte gelesen werden. Weil sie darüber hinaus überindividuelle Bedeutungen dokumentieren, können sie auch unter sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive untersucht werden. Als Museumshistoriker hat der Autor hierzu seit Jahren Ausstellungen über »Oldenburg – Kulturgeschichte einer historischen Landschaft«, »Kleider machen Politik«, »Von Zeppelin bis Airbus«, »100 Jahre – 100 Objekte«, »Party, Perlon, Petticoats«, »Mini, Mofa, Maobibel« und »Demo, Derrick, Discofieber« konzipiert.
Dingliche Erscheinungsformen als Quellen wurden ergänzt um viele autobiographische Äußerungen. Sie geben Auskunft über das tägliche Leben von Individuen und Gruppen, ihre »Wertideen« (Max Weber), ihre Gefühle und Leistungen, ihre Sorgen und Ängste, ihre Ambitionen und Erfolge. Die Menschen geben ihrer Zeit durch ihre Reflexionen und Auseinandersetzungen mit der sich wandelnden Gesellschaft ein Gesicht. Ihre Zeugnisse überliefern im Sinne Ernst Cassirers eine Wirklichkeit, die kulturell geformt und symbolisch gedeutet wird. Die bisherigen kulturgeschichtlichen Überblicke haben kaum Selbstzeugnisse von Zeitgenossen in nennenswertem Umfang herangezogen. In meiner Arbeit kommen sie ausführlich zu Wort. Zu diesem Zweck habe ich eine Fülle von Briefen, Lebenserinnerungen, Reden, Tagebücher und Zeitungsartikel ausgewertet.
Individuelle Lebensäußerungen, Dinge und Verhaltensweisen lassen Ereignisse und kulturelle Veränderungen aufscheinen, die das 20. Jahrhundert ebenso prägten wie die beiden Weltkriege und der Zivilisationsbruch des Holocaust. Dazu gehören beispielsweise individuelle technische Innovationen (Flugzeug, Zeppelin, Auto, Eisenbahn, Rakete), die die Erfahrung von Raum und Zeit für jeden nachhaltig veränderten; die Erfindungen und Entwicklungen in Biologie, Medizin, Physik und Chemie; Untertanengesinnung und Militarisierung der Gesellschaft im Kaiserreich, die u. a. den Matrosenanzug für Kinder propagiert; Lebensreform-, Gartenstadt- und Wandervogelbewegung, Freilichtmalerei und Heimatliteratur als Ausdruck von Kritik an der massiven Verstädterung mit ihren Mietskasernen und der Zerstörung der Natur im Zuge der Industrialisierung. In Kriegsbildern und Zeugnissen von Malern und Schriftstellern werden Hurrapatriotismus und Kriegserfahrungen thematisiert. Die Bauhausbewegung steht für Aufbruch und Auseinandersetzung mit der völkischen Ideologie in der Weimarer Republik. Sport, Tanz und Mode sind Zeichen eines neuen Körpergefühls der »neuen Frau« der 1920er Jahre. Der Autorennsport jener Jahre wurde geradezu zum Inbegriff des neuen Lebensrhythmus vieler Menschen. Das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre ist Auslöser für die Verwirklichung der Italiensehnsucht und im nächsten Jahrzehnt für den Aufstieg der Massenmotorisierung. In den 1970er Jahren sehen wir die Weiterentwicklung des Körperkults durch Aerobic, Body Building in Fitnessstudios und Trimm-Dich-Bewegung. Der Wunsch nach der »Jeans« wird zum Symbol von Freiheit in der DDR. Auch Nacktbadekultur, Datscha und individueller Urlaub stehen dort für die Konstruktion einer Gegenwelt. Der bundesrepublikanische Film der 1950er Jahre arbeitete u. a. den Heimatverlust vieler Vertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Viele Zeitgenossen verbinden die Erinnerung an die 1960er Jahre mit der Protestkultur. Die Suche nach neuen Energiequellen (Atom, Plasma, Solar), Ich-Bewegung und der Verlust der Fortschrittseuphorie kennzeichnen die 1970er Jahre, Zukunftsängste und Friedenssehnsucht die 1980er.
Bisherige moderne kulturgeschichtliche Gesamtdarstellungen widmen sich in der Regel einzelnen Zeitabschnitten und Aspekten eines Jahrhunderts. Die vorliegende Darstellung greift in 22 Kapiteln Erscheinungsformen von Kultur im 20. Jahrhundert unter Einbeziehung der Kulturgeschichte der Bundesrepublik und der DDR auf. Dazu wurden nicht nur universitäre Forschungsergebnisse herangezogen, sondern auch solche von Museumswissenschaftlern. Zudem greift die vorliegende Untersuchung eine Reihe von Themen auf, die in neueren Überblicksdarstellungen kaum oder gar nicht berücksichtigt werden wie z. B. die Naturwissenschaften, Medizin, Ingenieurwissenschaften und die Malerei, obwohl auch sie Teil der Kultur sind.
Dem Buch liegt eine Gliederung nach großen politischen Zäsuren zugrunde. Zum einen lag diese wegen der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nahe. Zum anderen wirkt Politik massiv auf Kultur ein, und diese antwortet auf Politik, sei es affirmativ oder als Gegenentwurf. Politik schafft zwar nicht immer in allen Bereichen Zäsuren, jedoch oft gravierende. Massive Konsequenzen, von der Malerei bis zur Freizeitwelt, hatte die Gleichschaltung 1933. Sämtliche Bereiche der organisierten Kultur standen nun unter den ideologischen Vorgaben der Nationalsozialisten mit ihrer Blut- und Bodenideologie mit gravierenden Folgen für den einzelnen Künstler wie für die Praxis der Kulturausübung bis zu Vereinen, Sport und Freizeitgestaltung des Einzelnen. Das NS-Regime propagierte verbindliche Lebensentwürfe und Formen des Zusammenlebens für alle. Dennoch schaffte es das Regime im Detail nicht, eine »deutsche Physik«, eine ihm genehme einheitliche Mode, eine für alle geltende »deutsche Kirche« und ein alles beherrschendes »deutsches« Design zu schaffen. Der Bürger aß nicht von heute auf morgen mit einem neuen Essbesteck; die Damenwelt verzichtete nicht auf die Nachahmung des Pariser Chic. Gleichwohl hatte der Nationalsozialismus weite Teile der Kultur ideologisch und praktisch fest im Griff – gleiches galt für die DDR.
Die zweite politische Zäsur, die massiv in den kulturellen Alltag eingriff, war mit dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« verbunden. Sie ermöglicht, für die Zeit von 1945 bis 1990 einen kulturellen Vergleich der Bundesrepublik mit der DDR anzustellen und Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erkennen. Nach 1945 trennten sich die Wege von Ost- und Westdeutschland nicht nur politisch, sondern in vielen Bereichen auch kulturell. In den Westzonen entstand unter Aufsicht der Briten, Amerikaner und Franzosen im Rahmen ihres »Reeducation-Programms« eine demokratische Gesellschaft mit freier Kultur, in der Ostzone und späteren DDR dagegen eine Gesellschaft, die unter ständiger Aufsicht der Sowjets von der marxistisch-leninistischen Ideologie durchdrungen war. Dies hatte vielfältige Konsequenzen für die dortige Kultur. Der Westen knüpfte in vielen Bereichen an jene von Weimar an, sei es durch Fortsetzung von Bauhaus-Traditionen in Architektur und Design, sei es in der Musik, um nur einige Beispiele zu nennen. Bedingt durch Adenauers Politik der Westbindung amerikanisierte sich die Kultur in den 1950er und 1960er Jahren zusehends. In der DDR stand sie dagegen im Zeichen des »Aufbaus des Sozialismus«. Sofern kulturelle Strömungen aus der Weimarer Republik überhaupt aufgenommen wurden, waren sie in der Regel nicht von Dauer, weil sie dem Weltbild des DDR-Regimes widersprachen. Erst 1976 bekannte sich das Regime anlässlich des 50. Geburtstages offiziell zum Bauhaus in Dessau. Für die DDR-Führung hatten die industriellen Baumethoden des Bauhauses im Plattenbau der DDR ihre Fortsetzung gefunden.
Ähnlich wie im Nationalsozialismus gelang auch in der DDR die Abschottung nicht vollständig: Westliches Fernsehen, westliche Trendsportarten, Mode und Musik stießen auf große Resonanz, vor der das Regime schließlich kapitulierte. Dagegen war es mit dem freien Informationsfluss in den Wissenschaften vorbei. Während die Bundesrepublik den Rückstand aus der NS-Zeit aufholen konnte und nobelpreiswürdige Forschungsergebnisse hervorbrachte, war dies in der DDR nicht der Fall. Vielen Wissenschaftlern wurde ihre Abgeschlossenheit vom wissenschaftlichen Diskurs dann nach der Wiedervereinigung zum Verhängnis: Sie wurden entlassen.
Die breitgefächerten Möglichkeiten der »Neuen Kulturgeschichte« finden gleichwohl Grenzen, da der Historiker wie gesagt immer nur einen »Teil des Ganzen« erfassen kann. Der hermeneutische Zirkel besagt sogar, dass man folglich auch nicht weiß, wie groß die Teile des Ganzen sind. Historische Erkenntnis ist immer Konstruktion von Vergangenem nach dem Maß unserer Erfahrung. Daher bleibt auch meine Themenauswahl subjektiv. Auf jeden Fall lohnt es sich, der Vielschichtigkeit kultureller Erscheinungsformen im 20. Jahrhundert nachzuspüren.
A.L. Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 2 Teile, Göttingen 1772–1773, 2. Auflg. 1775; Werner Sombart, Kunstgewerbe und Kultur, Berlin 1908; Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969; Clifford Geertz, The interpretation of cultures, New York 1973; Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Johannes Winckelmann (Hg.), Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, 4. Auflg., S. 146–214; Carlo Ginzburg, Kunst und soziales Gedächtnis. Die Warburg-Tradition, in: ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988; Georg Simmel, Persönliche und sachliche Kultur, in: Heinz-Jürgen Dahme, David P. Frisby (Hg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, Frankfurt/M. 1992, S. 560–582; Michael Diers, Mnemosyne oder das Gedächtnis der Bilder. Über Aby Warburg, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995, S. 79–94; Rudolf Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte (Göttinger Gespräch zur Geschichtswissenschaft; Bd. 1), Göttingen 1995, S. 6–28; Ernst Wolfgang Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie: Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Studien und Materialien zum Neukantianismus; Bd. 8), Würzburg 1996; Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), in: Otthein Rammstedt (Hg.), Gesamtausgabe Georg Simmel, Bd. 9, Frankfurt/M. 1997; Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), Oldenburg – Kulturgeschichte einer historischen Landschaft, Oldenburg 1998; Otto Gerhard Oexle, Auf dem Wege zu einer Historischen Kulturwissenschaft, in: Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt/M. 1999, S. 105–123; Georg Simmel, Rembrandtstudien, in: Klaus Latzel (Hg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Bd. II, Frankfurt/M. 2000, S. 16–52; Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), Kleider machen Politik. Zur Repräsentation von Nationalstaat und Politik durch Kleidung in Europa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Oldenburg 2002; Birgit Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 6), Berlin 2004; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006; Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), Von Zeppelin bis Airbus. Luftfahrt in Nordwestdeutschland im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007; dass. (Hg.), Party, Perlon, Petticoats. Kultur der fünfziger Jahre in Westdeutschland, Oldenburg 2008; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München 2009; Axel Schildt, Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik 1945 bis zur Gegenwart, München 2009; Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), 100 Jahre – 100 Objekte. Das 20. Jahrhundert in der deutschen Kulturgeschichte, Bielefeld, Leipzig 2009; Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hüig (Hg.), Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010, Otto Gerhard Oexle, Historische Kulturwissenschaft heute, in: Andrea von Hülsen-Esch, Bernhard Jussen, Frank Rexroth (Hg.), Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, Göttingen 2001, S. 33–58 (Erstabdruck: Rebekka Habermas, Rebekka von Mallinckrodt (Hg.), Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn: Europäische und anglo-amerikanische Positionen in den Kulturwissenschaften, Göttingen 2004, S. 25–52, überarbeitet und ergänzt 2008); Siegfried Müller (Hg.), Mini, Mofa, Maobibel. Die sechziger Jahre in der Bundesrepublik, Bielefeld 2013; ders., Michael Reinbold (Hg.), Demo, Derrick, Discofieber. Die siebziger Jahre in der Bundesrepublik, Petersberg 2015.
Im 20. Jahrhundert konnten die Menschen immer mehr Urlaub für die unterschiedlichsten Vergnügungen nutzten. Zum einen waren dies Vergnügungen, die sich durch das ganze Jahrhundert zogen, wie z. B. private Feste und die Urlaubsreise an die See oder ins Gebirge, zum anderen Freizeitvergnügungen, die erst ab einer bestimmten Zeit ausgeübt wurden. Hierzu gehören ab den 1970er Jahren die bundesrepublikanischen Straßen- und Kulturfeste und Trendsportarten wie das Windsurfen. Anders als in der Bundesrepublik gab es in der DDR keine Reisefreiheit. Zudem war das Freizeitverhalten vom Staat organisiert.
Die Vergnügungskultur war im Kaiserreich vielfältig. Sie reichte von den traditionellen kirchlichen Festen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten bis zu privaten Feiern und öffentlichen Vergnügungen, die vor allem in den Großstädten ihr Publikum fanden. Während sich in Kleinstädten und auf dem Land die außerfamiliäre Freizeitgestaltung hauptsächlich auf den Besuch von Gaststätten und Kinos sowie die Mitgliedschaft in Vereinen beschränkte, etablierte sich in den Großstädten um die Jahrhundertwende eine Vergnügungskultur, deren Spektrum vom Tanzpalast über Kabaretts bis zum Vergnügungspark reichte. Tempo, Dynamik, Vielfalt, Reizüberflutung – das war der Rhythmus der Großstadt und in besonderem Maße der Berlins.
Sedantag (2.9.) und Kaisers Geburtstag (27.1.) waren die wichtigsten Nationalfeiertage, die mit Festlichkeiten und Umzügen begangen wurden wie auch Denkmalsfeste wie z. B. am 18. Oktober 1913 die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. 1913 wurde auch das 25-jährige Regierungsjubiläum des Kaisers in Stadt und Land gefeiert. »Die Reichshauptstadt bot den Anblick eines riesenhaften Volksfestes«, wie seine Tochter, Viktoria Luise, in ihren Lebenserinnerungen schreibt. Arbeiter hatten ihre eigenen Formen der Geselligkeit, wobei es zahlreiche Parallelen zur bürgerlichen Festkultur gab. Sie stärkten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl anlässlich der jährlichen Feier am 1. Mai sowie auf ihren Gewerkschafts- und Arbeitervereinsfesten. Viele engagierten sich in Schützenvereinen, Turn-, Sport- und Gesangsvereinen, Lese- und Theatergruppen, Obst- und Kleintierzuchtvereinen sowie in Geschichts- und Arbeiterbildungsvereinen. Höhepunkt waren immer die Stiftungsfeste mit Umzügen, Reden, Musik, Tanz und reichlich Alkohol. Hier konnten sie von der Monotonie des harten Industriealltags Abwechslung finden. Denn Fabrikarbeit hieß um 1900, 61 Wochenstunden zu arbeiten; um 1913 waren es immer noch 55,5 Stunden. Darüber hinaus gab es eine berufsständische Arbeiterfestkultur. Hierzu gehörte z. B. das »Bergfest«, das die Bergleute zu Ehren der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, feierten. Auch für das Bürgertum fand ein großer Teil des geselligen Beisammenseins in Vereinen statt. Allein in Dortmund gab es 1908 über 400 Vereine, darunter Gesangs-, Turn-, Fecht- und Radfahrvereine sowie Schützengesellschaften.
Berlin war das Mekka der Vergnügungen. Hier entstand eine regelrechte Vergnügungsindustrie, die für jeden Geschmack etwas bot. George Grosz zufolge war die Zeit vor 1914 in Berlin »eine Zeit, in der man Feste feierte.« Es gab viele Bälle:
»einen Ball deutscher Illustratoren, einen Heinrich-Zille-Ball, eine Admiralspalast-Redoute, Künstlerbälle, Theaterbälle und unzählige Privatveranstaltungen. Immer wieder suchte man nach neuen und originellen Einfällen für Feste.«
Die literarische Intelligenz der Reichshauptstadt traf sich in Cafés, so z. B. im Café des Westens am Kurfürstendamm Ecke Joachimstaler Straße, wegen seiner exzentrischen Gäste auch Café Größenwahn genannt. Es war zusammen mit Romanischem Café gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und dem Café Kranzler das Zentrum des literarischen Berlin. Dort trafen sich Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker wie Otto Dix, Edmund Edel, George Grosz, Leo von König, Oskar Kokoschka, Willy Jaeckel und Lesser Ury, außerdem Else Lasker-Schüler und ihr Ehemann, der Kunstkritiker Herwarth Walden, dazu Leonhard Frank, Erich Mühsam und René Schickele. Liebhaber des Kabaretts gingen ab 1901 in Berlin in das Überbrettl oder in Max Reinhardts Schall und Rauch. In München gab es von 1901 bis 1903/04 Die Elf Scharfrichter, das Schriftsteller wie Heinrich Lautensack und Frank Wedekind prägten.
Zum großstädtischen Leben gehörten auch Theater, Opern, Operetten und Konzerte. Sehr beliebt war zudem das neue Medium des Kinos, außerdem der Zirkus, Völkerschauen und der Zoo. Man ging in Varietés und Tanzcafés und zu Sportveranstaltungen wie z. B. Fußballspielen, Pferderennen, Polo, Turnen, Boxen und Radrennen, wo Angehörige mehrerer sozialer Schichten aufeinandertrafen.
Wer in Berlin um die Jahrhundertwende tanzen wollte, ging u. a. in das Alte Ballhaus in der Joachimstraße oder in den Palais de Danse in der Behrenstraße, um hier zu den Klängen eines Walzers oder einer Polka zu tanzen. Ab 1907 verbreitete sich der Tango in Europa. 1912 fand im Berliner Admiralspalast die erste deutsche Tango-Meisterschaft statt. Beliebt waren auch Maskenbälle. Im Berliner Wintergarten, einem bekannten Varieté im Central-Hotel, konnte man im April 1900 abends Ringkämpfen zusehen, deren »Ehrenschutzherr« der Bildhauer Reinhold Begas war, wie der Theaterkritiker Alfred Kerr berichtet:
»Die sechzehn muskulösesten Männer der Welt traten an die Rampe, in Tricots und Badehosen, eigens bestrahlt von elektrischen Sonnen. Alle Damen beugten sich nach vorn. An diesen prominenten Erscheinungen fesselte mancherlei den Blick.«
Zu den Massenveranstaltungen gehörte ab 1910 der auf der Hasenheide entstandene 10 Hektar große Lunapark, der als größter Vergnügungspark Europas galt. Eine der Attraktionen war die elektrische Gebirgsbahn, die mit 36 km/h vor einer 6000 qm großen Leinwand mit Landschaftsszenerien 10 Minuten unterwegs war. Wer wollte, bestieg die Zicksacktreppe, was allerdings schwierig war, da sie ständig wackelte. »Seitlich von ihr« erinnert sich der Schriftsteller Fedor von Zobeltitz
»ist eine Windmaschine aufgestellt, die den Herren die Hüte vom Kopfe und den Damen die Röcke über die Knie bläst; besondere Finessen des Vergnügens, die wiederum ein vielstimmiges Qui[e]tschen und Kreischen auslösen.«
1912 eröffnete auch Dortmund seinen Lunapark, dessen Attraktionen sich an denen des Berliner Parks orientierten. Beliebt war u. a. die Wasserrutschbahn, auf der Boote aus 12 m Höhe in ein Wasserbassin sausten. Der 1914 in Hamburg eröffnete Vergnügungspark wartete sogar mit einem 33 m hohen Turm auf, von dem aus die Boote starteten.
Auch Flugwettbewerbe hatten ein großes Publikum: Konstrukteure begannen, ihre Flugzeuge auf Flugschauen im In- und Ausland persönlich vorzuführen, um Käufer zu gewinnen. Aus den sensationellen Vorführungen entwickelten sich Flugwettbewerbe, die die Unterstützung der Industrie fanden. Der Treffpunkt der deutschen Flugpioniere war der neue Berliner Flugplatz in Johannisthal, wo kurz nach der Eröffnung vom 26. September bis zum 3. Oktober 1909 die erste Große Berliner Flugwoche als internationaler Flugwettbewerb stattfand. Schon zuvor, von Juli bis Oktober 1909, veranstaltete man in Frankfurt am Main die erste Internationale Luftfahrt-Ausstellung (ILA). Flugartisten wie der Franzose Pégoud führten dort ihre Künste vor Tausenden von Zuschauern vor. Begeisterte Flieger schlossen sich in Luftsportvereinen zusammen. Daneben gab es auch Luftschifffahrtsvereine, deren Mitglieder Ballonfahrten unternahmen. Erst seit Ende der 1890er Jahre waren auch Frauen als Passagiere geduldet. Ab dem Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts durften auch sie die Lizenz zum Führen eines Ballons erwerben. Beliebt waren auch Fahrten mit dem Zeppelin. Hermann Hesse schreibt 1910 über eine Fahrt mit dem Zeppelin über die Alpen:
»und wir Passagiere saßen stolz und kühl in unsrer Kabine […]. Aber plötzlich stieg das Schiff empor […]. Die Menschenmenge wurde klein und komisch, die Stadt Friedrichshafen wurde erstaunlich übersichtlich und niedlich, auch die riesige Ballonhalle sank zu einem belanglosen Fleck zusammen. Dafür aber ging uns das Reich der Lüfte auf, und die Welt wurde erstaunlich groß und weit.«
Zu den jahreszeitlichen schichtenübergreifenden Massenvergnügungen gehörten Karneval, Fastnacht und Jahrmärkte. Carl Zuckmayer berichtet in seinen Lebenserinnerungen von der Mainzer »Meß«, der im Frühling und Herbst stattfand
»mit all seinen lockenden Buden, mit ›Ahua dem Fischweib‹, ›Lionel dem Löwenmenschen‹, ›Wallenda’s Wolfszirkus‹, ›Schichtl’s Zaubertheater‹, dem Kölner Hännesje, den Ringkämpfern und den tätowierten Schönheiten des Orients, mit dem Gewimmer der alten Drehorgel, dem Geschepper der mechanischen Karussellmusik, dem Geschrei der Ausrufer, Luftballons, Schiffschaukeln und abendlichem Fackelschwelen auf dem Halleplatz.«
Zu den im Herbst stattfindenden Volksfesten mit überlokaler Bedeutung gehören das Münchner Oktoberfest, der Bremer Freimarkt und das Cannstatter Volksfest in Stuttgart.
Mitunter reichte dem Großstädter als Vergnügung schon ein Stadtbummel oder ein Picknick im Grünen. Der Schriftsteller Max Herrmann-Neiße schreibt seiner späteren Ehefrau Leni Gebek aus Berlin am 22. Juni 1914:
»Endlich Treptow. Der Haupt-Tummelort für Berlin. Unter schönen alten Bäumen riesige Rasenflächen, wo Tausende von Familien lagen, auf mitgebrachten Tüchern, alles ganz ungeniert. Vater in Hemdsärmeln, mit Zigarre und Zeitung, manchmal fliegen Bälle an den Kopf, denn sorglos wird zwischen all den daliegenden Ball gespielt, Liebespaare umarmen sich, Eltern schwenken den Sprößling vergnügt in dem aufgespannten Tuch hin und hier, wir wandelten mitten durch dieses Feldlager, endlich sah ich so das richtige Berlin.«
Die städtische Jugend um 1900 freilich wollte aus Unbehagen an Industrialisierung, Urbanisierung und erstarrten Konventionen zu einem neuen Lebensstil aufbrechen, in dem dem Naturerlebnis besondere Bedeutung zukam. Viele waren als Wandervogel oder Pfadfinder organisiert – der 1911 gegründete Deutsche Pfadfinderbund hatte 1913 etwa 100 000 Mitglieder, darunter 10 000 Mädchen und junge Frauen. Noch vor dem Pfadfinderbund war 1909 das Jugendherbergswerk entstanden, das günstige Unterkunftsmöglichkeiten auf Wanderungen bereitstellte.
Im Winter frönten alle Bevölkerungsschichten dem Schlittschuhlaufen auf Seen und Teichen sowie auf künstlich angelegten Eisflächen. Hermann Hesse berichtet in seiner Erzählung Der Kavalier auf dem Eise von 1901:
»Halbe Tage trieb ich mich mit meinen Kameraden auf dem Eise herum, mit heißen Wangen und blauen Händen, das Herz voll der starken, rhythmischen Bewegung des Schlittschuhlaufs energisch geschwellt, voll von der wunderbaren gedankenlosen Genußkraft der Knabenzeit. Wir übten Wettlauf, Weitsprung, Hochsprung, Fliehen und Haschen, und diejenigen von uns, die noch die altmodischen beinernen Schlittschuhe mit Bindfaden an den Stiefeln befestigt trugen, waren nicht die schlechtesten Läufer.«
Die »Gartenlaube« schrieb 1903, dass die Fischer auf dem Dammschen See bei Stettin jeden Winter ein Eiskarussell errichteten:
»Ein Loch wird in das Eis geschlagen und ein kurzer, dicker Pfahl hineingesteckt, den ein auf dem Eise ruhender Holzkranz am Einsinken hindert. Dem oberen Ende des Pfahles wird ein drehbarer Holzkopf aufgesetzt, durch den zahlreiche lange Querbalken gezogen sind. An den äußeren Enden diese Balken sind Stuhlschlitten mit ihren Lehnen befestigt, und auf diesen nehmen die Personen – meist Damen und Kinder – nach Erlegung eines kleinen Betrages Platz. Der Unternehmer und seine Leute setzen nun durch schieben [sic!] an den Querbalken das Karussell in Bewegung.«
Ein winterliches Vergnügen für den Adel auf dem Land waren Schlittenfahrten. Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten berichtet in seinen Lebenserinnerungen von einem »Hauptvergnügen im Winter«, den »ausgedehnten Schlittenfahrten« in Ostpreußen.
»In unvergesslich schöner Erinnerung ist mir das völlig lautlose Gleiten durch die in der Sonne glitzernde, schneebedeckte Landschaft Ostpreußens, begleitet nur von dem leisen, rhythmischen Klingeln der Glöckchen am Kopfzeug der Pferde.«
Um das Skilaufen zu fördern, zeigte man 1906 in Konstanz Fotos von »Skisportaufnahmen«. Die Bilder sollten das Interesse wecken; bereits ein Jahr später gründete sich die »freie Vereinigung Konstanzer Skiläufer« mit dem Ziel, »den Skisport am hiesigen Platz zu heben.« Bereits 1891 hatte ein Franzose die erste Abfahrt am Feldberg unternommen; 1908 nahm dort der erste Skilift seinen Betrieb auf. Vermutlich steht die Wiege des mitteleuropäischen Skilaufens im Hochschwarzwald.
Zur Freizeitkultur gehört auch die Urlaubsreise. Wer verreiste, schuf sich für kurze Zeit eine Gegenwelt zum Berufsalltag. Hermann Hesse schrieb 1904:
»Der reisende Städter […] reist, weil es Sommers in der Stadt zu heiß wird. Er reist, weil er im Wechsel der Luft, im Anblick anderer Umgebungen und Menschen ein Ausruhen von ermüdender Arbeit zu finden hofft. Er reist in die Berge, weil eine dunkle Sehnsucht nach Natur, nach Erde und Gewächs ihn mit unverstandenem Verlangen quält; er reist nach Rom, weil es zur Bildung gehört. Hauptsächlich aber reist er, weil alle seine Vettern und Nachbarn auch reisen, weil man nachher davon reden und damit grosstun kann, weil das Mode ist und weil man sich nachher zu Hause wieder so schön behaglich fühlt.«
Carl Zuckmayer berichtet, wie er als Junge mit seinen Eltern im Sommer in die Schweiz, nach Südtirol, an die Nordsee und nach Holland reiste, »dort waren die Eltern verwandelte Menschen, vom Alltag gelöst, der Vater ebenso glücklich, für ein paar Wochen von der Fabrik und dem Geschäft befreit zu sein.«
Allerdings erhielten etwa 90 % der Arbeiter keinen Urlaub, während Beamte seit 1871 einen Anspruch darauf hatten. So war es das begüterte Bürgertum, das wie der Hochadel zur Kur nach Bad Ems, Marienbad, Karlsbad und Baden-Baden fuhr oder die Seebäder an Nord- und Ostsee besuchte. Um 1913 reisten etwa 1 Million Menschen jährlich an die Strände von Nord- und Ostsee. Die Besucherzahl auf Norderney stieg von 11 000 im Jahre 1885 auf 47 000 im Jahre 1911, in Westerland/Sylt von 10 000 (1895) auf 30 000 (1913) und in Borkum von 13 951 (1901) auf 26 450 (1911). Die Seebäder boten nicht nur Strand und Wasser. Sylt lockte 1906 auch mit der Jagd auf Seehunde. Im Ostseebad Heiligendamm konnte man auf Tontauben schießen oder die in der Nähe gelegene Doberaner Pferderennbahn besuchen. Das Ostseebad Warnemünde hatte 1900 fast 15 000 Badegäste, 1910 bereits über 20 000. Erich Kästner beschreibt diesen Zulauf am Beispiel seiner Sommerferien 1914 in Warnemünde:
»Man war den Städten entflohen und hockte jetzt […] noch viel enger nebeneinander als in Hamburg, Dresden und Berlin. Man quetschte sich auf einem Eckchen Strand laut und schwitzend zusammen wie in einem Viehwagen […]. Während der Ferien lagen die Mietskasernen am Ozean […]. Sie schmorten zu Tausenden in der Sonne, als sei die Herde schon geschlachtet und läge in einer riesigen Bratpfanne. Manchmal drehten sie sich um. Wie freiwillige Koteletts. Es roch, zwei Kilometer lang, nach Menschenbraten.«
Bei der Berliner Oberschicht standen die Kaiserbäder Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin auf Usedom in hohem Ansehen, da es auch den Kaiser und seine Familie dort hinzog. Darüber hinaus reiste die kaiserliche Familie oft nach Korfu und nach Rominten in Ostpreußen, wo der Kaiser u. a. der Jagd und dem Tontaubenschießen frönte.
Die Alpen waren als Erholungsraum am Anfang des 20. Jahrhunderts für die betuchte Gesellschaft eine feste Größe. Man wanderte in der Schweiz, wo der Tourismus schon vor dem Ersten Weltkrieg der zweitgrößte Arbeitgeber war. Bis 1914 konzentrierte sich der Alpentourismus weitgehend auf die Schweiz. Dort hatte man die für den Tourismus wichtigen Regionen mithilfe der Eisenbahn schon in den 1880er Jahren erschlossen. Die Deutschen stellten von den 1890er Jahren bis 1914 ein Viertel aller Besucher. Außerdem wanderte man in Tirol, in Oberbayern und in Mittelgebirgen wie der Sächsischen Schweiz. In den österreichischen und bayerischen Alpen sorgten Wander- und Gebirgsvereine für die touristische Erschließung. 1873 hatte sich der 1869 gegründete Deutsche Alpenverein mit dem österreichischen zum deutsch-österreichischen Alpenverein zusammengeschlossen. 1908 zählte der Verein schon mehr als 82 000 Mitglieder, darunter auch – anders als im Schweizer Alpenklub – auch Frauen. Eine wichtige Aufgabe war die Errichtung von Schutzhütten. Ihre Zahl stieg zwischen 1870 und 1914 von zehn auf 800. Auch bayerische Ferienorte erhielten nun viel Zulauf. So konnte z. B. Reichenhall seine Besucherzahl von 5000 (1871) auf 15 000 (1913) verdreifachen. Hunderte von Zeitungen und Fremdenblätter wie Dillinger’s Reise- und Fremdenzeitung oder die Zeitung Gartenlaube berichteten um die Jahrhundertwende umfassend über die Alpen. Die Reiseromane taten ein Übriges, die Alpensehnsucht zu befördern. Ausgerüstet mit Reiseführern wie dem »Kinzel« oder dem »Baedeker« ging es dann in die Berge, wie die Lehrerin Fine Heydkamp 1911 in ihrer Reisebeschreibung festhält:
»Und willst du an der Welt dich freun’n/ Am besten wird’s von oben sein./ Frisch auf, den Fuß gehoben!/ Laß Tintenfaß und Bücher ruhn/ Und klimm in den Nagelschuhn/ Nach oben!«
Auch erste Kreuzfahrten lockten diejenigen, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügten. Anfang 1901 lief die Prinzessin Victoria Luise von Hamburg nach New York aus. Von dort ging es auf einer mehrwöchigen Kreuzfahrt durch die westindische Inselwelt. Im Sommer folgte u. a. Norwegen, im Herbst das Mittelmeer, einmal jährlich der Orient. Bereits 1903 konnte die HAPAG infolge wachsender Beliebtheit solcher Kreuzfahrten ein zweites Schiff bei Blohm & Voss bestellen. Die Meteor brach am 2. Juni 1904 zu ihrer ersten Nordlandfahrt auf. Das Vorbild Kaiser Wilhelms II., der ab 1899 jeden Sommer mit seiner Jacht Hohenzollern in die norwegischen Fjorde reiste, gab Skandinavienreisen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Germanenbegeisterung im Reich – Auftrieb. Am 18. Juli 1914 fand die vorerst letzte Kreuzfahrt nach Norwegen statt, die bereits Anfang August in Odde in Norwegen endete.
Ein besonderes, aber teures Vergnügen war die Reise mit dem Zeppelin-Luftschiff. Graf Ferdinand von Zeppelin nahm 1909 mit der Deutschen Luftschiffahrts AG(DELAG) den Reiseverkehr auf. Zwischen 1909 und 1914 führte die DELAG mit ihren sieben Luftschiffen über 1500 Fahrten mit mehr als 16 000 Passagieren durch. Sie glichen der Fahrt mit einem Ozeandampfer, erlaubte aber den Blick aus der Vogelperspektive auf die Welt da unten. Ein nicht alltägliches Ereignis bestaunten die Berliner im Mai 1909, als ein Zeppelin in Tegel landete. Der Kaiser sei, so seine Tochter Viktoria Luise, auf dem Weg zum Flughafen »völlig aus dem Häuschen« gewesen. »Er rief den Leuten, denen wir begegneten, immer wieder ganz aufgeregt zu: ›Der Zeppelin kommt! Nach Tegel! Nach Tegel‹.«
Der Erste Weltkrieg war 1918 vorbei; ein kriegsmüdes, geschlagenes Volk versuchte ihn zu vergessen, trotz politischer und wirtschaftlicher Wirren.
»Unter Maschinengewehrfeuer und Einbrüchen werden Feste gefeiert und getanzt« schreibt der Maler Ernst Ludwig Kirchner an Helene Spengler am 20. Januar 1919. Vor allem nach dem Höhepunkt der Inflation 1923 entwickelte sich eine Gier nach Leben, eine Vergnügungssucht. George Grosz erinnerte sich später: »je höher die Preise stiegen, umso höher stieg die Lebenslust. Heißa, war das Leben schön! Überall erschallten neue Tänze; der französische Champagner floß in Strömen.«
Berlin war das Zentrum dieser »Goldenen 1920er Jahre«, die sich in ihrer Intensität von der Zeit davor unterschieden. Hier wie auch in anderen Großstädten konnte man in der Anonymität untertauchen und musste sich nicht wegen seiner Vorlieben vor seinen Nachbarn verstecken. Hier konnte jeder seine Sexualität ausleben. »Das gesellschaftliche Leben in Berlin«, so Salka Viertel, sei 1925 »immer internationaler, interessanter, zügelloser« geworden. »Es gab Nachtlokale für Homosexuelle beiderlei Geschlechts, männliche und weibliche Prostitution für jeden Geschmack, Rauschgifthandel und Rauschgiftsucht.«
Den britischen Schriftsteller W. H. Auden zog es 1928/29 wegen der Schwulenszene nach Berlin: »Berlin ist der Traum eines jeden Schwulen. Es gibt hier 170 von der Polizei überwachte Männerbordelle.« »Nacktes Frauenfleisch«, so der Komponist Friedrich Hollaender in seinen Erinnerungen,»kitzelt die Augen […] im Supermarkt der Erotik […], wo rote Schaftstiefelchen ein ganzes Arsenal von Erniedrigungen versprachen.« Auf dem Berliner Kurfürstendamm promenierten nach Stefan Zweig
»geschminkte Jungen mit künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte sich etwas verdienen, und in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene Matrosen zärtlich hofieren. Selbst das Rom des Sueton hat keine solche Orgien gekannt wie die Berliner Transvestitenbälle, wo Hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung unter den wohlwollenden Blicken der Polizei tanzten.«
Für die Schriftstellerin Vicki Baum schien die Stadt
»so herrlich lebendig, so geladen mit einer seltsamen Elektrizität. Bars – ich hatte, bevor ich nach Berlin kam, noch keine gesehen […]. Kostümfeste in Privatwohnungen, mit Reizkostümen, die viel Fleisch sehen ließen, und wildem Treiben […]. Für uns […] war es genau die Freiheit, die wir wollten und brauchten.«
Der Schriftsteller Carl Zuckmayer berichtet, dass man für private Tanzgesellschaften Serviererinnen engagierte, die lediglich ein Feigenblatt-Höschen trugen. »Sie waren nicht«, so Zuckmayer, »nur zum Anschauen und Aufreizen da, sondern auch zum Anfassen, das war mitbezahlt.«
Hier gab es 49 Theater, drei Opernhäuser, drei Varietés, mehrere Dutzend Kabaretts, hunderte Kaffeehäuser. Wer Clowns wie Grock und Rivel sehen wollte, ging in die Scala, das wohl bedeutendste Varieté Berlins. Der Wintergarten lockte z. B. im September 1924 mit dressierten Seelöwen, Gauklern aus China und einer »Kollektion englischer Tanz-Girls«, wie Carl von Ossietzky in der Berliner Volkszeitung schreibt. Im September 1925 waren u. a. Trapezkünstler, Zauberkünstler und »Little Pipifax«, der »Clown mit Kautschukknochen«, zu bestaunen.
In den Cafés trafen sich Schriftsteller und ihre Kritiker, Maler, Schauspieler und ihre Regisseure, Tänzer und Halbweltdamen. Ein Treffpunkt für Journalisten, Dichter, Schriftsteller, Theaterleute, Maler und Komponisten war weiterhin das Romanische Café.
In der Künstlerkneipe von Aenne Maenz in der Augsburger Straße vergnügten sich u. a. Alfred Flechtheim, Else Lasker-Schüler, Ernst Lubitsch, Joachim Ringelnatz und Conrad Veidt. »Dort«, so Salmony, »saß man nach Theaterschluß bis zum frühen Morgen – trinkend, diskutierend, fachsimpelnd, stichelnd .«
Die Berliner Gesellschaft traf sich seit 1924 zum täglichen öffentlichen Tanztee im Adlon oder im Hotel Eden, wo Spitzenorchester auftraten. Reiche Damen suchten vor allem das Eden auf, wo Eintänzer wie Billy Wilder mit ihnen täglich von 15.30 Uhr bis 19.00 Uhr und von 21.30 Uhr bis 1 Uhr Charleston, Slowfox oder Tango tanzten. Wie sich Wilder erinnert, war es »nicht leicht, schwergewichtige Damen herumzuschwenken, die das Rhythmusgefühl eines Nilpferds haben.« In anderen Lokalen tummelten sich die kleinen Leute, sei es in »Clärchens Witwenball« in der Hasenheide oder im »Walterchen der Seelentröster«.
Veranstaltungen aller Art, vom Theater über Fußballspiele, Boxkämpfe, Pferderennen, Radrennen und Kinos bis zu den Varietés und Revuen zogen in Berlin wie zuvor Menschen aus unterschiedlichen Schichten magisch an. Vor allem der Film und der Rundfunk etablierten sich nach dem Krieg als einflussreiche Massenmedien. Der Verleger Samuel Fischer beklagte 1926,
»daß das Buch augenblicklich zu den entbehrlichsten Gegenständen des täglichen Lebens gehört. Man treibt Sport, man tanzt, man verbringt die Abendstunden am Radioapparat, im Kino […]. Der verlorene Krieg und die amerikanische Welle haben unsere Lebensauffassung umgeformt, unseren Geschmack verändert.«
Rundfunk und Presse sorgen dafür, dass Sportveranstaltungen ein Millionenpublikum anziehen. Bei den Boxveranstaltungen traf man regelmäßig auch Schauspieler wie Hans Albers, Willy Fritsch, Fritz Kortner, Emil Jannings, Harald Paulsen und Rudolf Forster, die mit den Kämpfern befreundet waren. Auf der Pferderennbahn im Grunewald konnte man die feine Berliner Gesellschaft bestaunen, die »schon aus Prestigegründen eine Menge Geld beim Toto verjuxte«, wie der Redakteur der »B.Z. am Mittag«, George F. Salmony, schreibt,
»und mit extravaganten neuen Toiletten und sensationellen Hutschöpfungen mit grauen Melonen und weißen Gamaschen eine feudale Ascot-Kopie inszenierte, wobei die Sektkorken knallen und die Hummerschweren knackten.«
Auch die Zirkusse mit ihren Feuerschluckern, Dressurreiterinnen, Harlekinen und Seiltänzern hatten weiterhin ihr Publikum, zu denen Maler wie Otto Dix, Conrad Felixmüller und Max Pechstein gehörten.
Luftsportveranstaltungen zogen ähnlich wie vor dem Ersten Weltkrieg Zuschauer in Scharen an. Entsprechend den Abrüstungsbestimmungen nach dem Krieg mussten die militärischen Flugstaffeln nach 1918 aufgelöst werden. Es blieb der zivile Flugzeugbau und Flugbetrieb. Ehemalige Jagdflieger suchten ein neues Betätigungsfeld und fanden Möglichkeiten im zunehmend populärer werdenden Kunstflug. Auf Flugtagen konnte man die Helden der Lüfte mit ihren Maschinen sehen, vor allem Ernst Udet und Gerhard Fieseler, ab Ende der 1920er Jahre auch Gerd Achgelis. Als z. B. Gerhard Fieseler seine Künste auf Norderney mit seiner 300 PS starken »Schwalbe« zeigte, bewunderten 25 000 bis 30 000 Zuschauer die Vorführungen. Prinz Ernst Heinrich von Sachsen, der Sohn des letzten sächsischen Königs, berichtet in seinen Lebenserinnerungen von einem Flug mit Fieseler auf dem Flugtag in Dresden:
»Es ging schnell auf 1500 Meter, und dann folgte eine Figur nach der anderen, Looping nach hinten, Rollen nach der Seite, Looping nach vorn. Ich muss gestehen, dass ich diese Loopings wenig genussreich fand, denn ich hatte immer das Gefühl aus der Maschine herauszufallen. Dann kam ein Rückenflug von einer Minute; ich hing mit dem Kopf nach unten heraus und hielt mich mit schwitzenden Händen fest an zwei Griffen, die wohl zur Beruhigung angebracht waren. Zum Schluss stellte Fieseler die Maschine auf den Kopf und stürzte etwa 1000 Meter in die Tiefe, was mir im Vergleich zum Rückenflug direkt erholsam erschien. Diese Akrobatik der Luft bekam mir aber gut, ich fühlte mich nach der Landung genauso wohl wie vorher.«
In den Berliner Kabaretts wurden um 1920 die politischen Zustände aufs Korn genommen. Dort konnte man ab September 1921 bis 1923 Trude Hesterbergs Wilde Bühne im Keller des Theater des Westens besuchen, ab 1919 Max Reinhardts Bühne Schall und Rauch im Keller des Großen Schauspielhauses. Bei Trude Hesterberg traten u. a. Walter Mehring, Bertold Brecht, Joachim Ringelnatz und Max Herrmann-Neiße auf. Zu Reinhardts Künstlern zählten u. a. John Heartfield, George Grosz, Walter Mehring, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky. Von 1920 bis 1922 existierte Rosa Valettis Cabaret Größenwahn – Bänkel und Bühne im Cafe des Westens. Musikalischer Leiter war ihr Ehemann, der Schlagerkomponist Friedrich Hollaender. Von 1922 bis 1925 betrieb sie mit Peter Sachse die Rampe am Kurfürstendamm, ab 1924 gab es in der Kantstraße Ecke Joachimsthaler Straße Paul Morgans und Kurt Robitscheks Kabarett der Komiker (vormals von 1920–1924 die »Rakete«), wo u. a. Trude Hesterberg, Josephine Baker, Joachim Ringelnatz und Werner Finck auftraten. Ab 1931 lud Friedrich Hollaender ins Tingeltangel. Von 1929 bis Mai 1935 traf man sich im Kellerlokal Katakombe an der Bellevuestraße, wo Werner Finck, Hans Deppe und Rudolf Platte über die Berliner Bourgeoisie herzogen. Im Kabarett Weiße Maus führte Anita Berber burleske Tanznummern vor. Die berühmtesten Berliner Kabarettisten waren wohl Otto Reutter und Claire Waldoff. Sie hatte schon im Kaiserreich eine große Popularität erreicht; ab 1925 trat sie u. a. im Kabarett der Komiker und im Charlott-Kasino auf. Ihr wichtigstes Lied war das vierstrophige Dienstmädchen-Couplet »Hermann heeßt er«, das sie erstmals 1913 im Linden-Kabarett zum Besten gegeben hatte.
In Schwabing stand das berühmte Weinlokal Simpl, in dem Zuckmayer zufolge »exzentrische, verkauzte Existenzen« verkehrten, u. a. Ludwig Thoma, Isidora Duncan, Frank Wedekind, Roda Roda, Erich Mühsam, Gerhart Hauptmann und Ludwig Ganghofer. Joachim Ringelnatz war der Star des dortigen Kabaretts. Jeden Abend trug er seine Gedichte vor. Oft traten auch Bauerntruppen vom Schliersee, Tegernsee und aus Tirol auf. Spät in der Nacht gab es dann die »sehr begehrte Knödelsuppe«, wie sich Joachim Ringelnatz erinnert. Im kleinen Münchener Nachtlokal Bonbonniere trat ab dem 1. Januar 1933 bis zu Hitlers »Machtergreifung« am 30. Januar 1933 Erika Mann in ihrem 1932 gegründeten literarischen Kabarett Die Pfeffermühle auf. Ihr Bruder Klaus berichtet dazu in seinen Lebenserinnerungen: »Erika sang, agierte, engagierte, inspirierte, kurz, war die Seele des Ganzen«, gemeinsam mit Therese Giese. Für Thomas Mann war die Pfeffermühle das »letzte Lebenszeichen« der Republik. Nach der »Machtergreifung« arbeitete Erika Mann in Zürich weiter. In Leipzig war das von Hans Reimann gegründete politisch-satirische Kabarett Die Retorte eine sehr gute Adresse. Hier traten u. a. Walter Mehring, Joachim Ringelnatz, Kurt Schwitters und Erich Weinert auf.
Zu den privaten Vergnügungen gehörten weiterhin die Künstlerfeste, die sinnenfrohes Treiben einschlossen. Erwin Blumenfeld berichtet von einer wilden Party im Atelier von George Grosz, an der außer dem Hausherrn und ihm weitere neun Männer teilnahmen, darunter Benn, Hülsenbeck, Mehring und Piscator, sowie viele Frauen, die zuvor auf die Anzeige »Wohlgebaute junge Damen der Gesellschaft mit Filmtalenten werden zum Atelierfest bei Maler Grosz gebeten, acht Uhr abends, Abendtoilette! Olivaerplatz 4« reagiert hatten. »Um das Fest in Schwung zu bringen«, so Blumenfeld,
»schlugen wir vor, man solle sich entkleiden. Wir Männer zogen uns in die Küche zurück und beschlossen, unentkleidet zu bleiben. Als wir ins Studio zurückkamen, war die Damenwelt nackend und die Orgie begann. Alles besoff sich, die leeren Flaschen flogen durchs Glas des Atelierfensters auf die Straße.«
Carl Zuckmayer erinnert sich an ein Berliner Künstlerfest bei dem Schauspieler Hubert von Meyerinck:
»Ganz ohne Laszivität oder Zynismus, nur aus Amüsement und Lebenslust, trug man sich bei solchen Anlässen unter Künstlern sehr locker. Es gab schon dazumal, allerdings nur in privatestem Kreis – bei Damen, die etwas sehen lassen konnten – das ›Oben-Ohne‹. Es gab da auch Herrn, die in der Badehosen, mit Smokingschlips um den Hals erschienen.«
In Frankfurt am Main, so Zuckmayer, war er Zeuge eines mitternächtlichen Sommerfestes, bei dem der Hausherr, der Schauspieler Heinrich George »in seiner barocken Körperfülle völlig nackt auf dem Tisch« stand und »in alkoholisch-musischer Verzückung« Geige spielte. Ringelnatz erzählt, dass mitunter »Freunde und Freundinnen mit Weinflaschen und Gitarren zu dritt, zu fünft, zu zehnt noch spätnachts« vom Münchner Simpl in die Villa Dolch zogen.
»Dort spielten sich dann phantastische Orgien ab, tanzten nackte Mädchen auf Tischen, während gleichzeitig gewissen Gruppen, über Kupferstiche gebeugt, kunstverständig und gebildet diskutierten. Bis die roten Köpfe dampften und die Fensterscheiben blau wurden.«
Einmal im Jahr zog es alle Münchner zum Oktoberfest. Carl von Ossietzky schreibt dazu am 28. September 1921 in der Berliner Volkszeitung: »Das Oktoberfest! Die Bevölkerung einer ganzen Stadt befindet sich in einem Zustande, der – gelinde gesagt – ein lebhaftes Abrücken von der Nüchternheit bedeutet.«
Sport und Naturverbundenheit gehörten in der Weimarer Republik zusammen. Gerade für Jugendliche in Großstädten hatte beides einen hohen Freizeitwert. Das geht aus einer Umfrage des Deutschen Archivs für Jugendwohlfahrt von 1930 hervor. Über das Rudern schreibt ein 17-jähriger Polierer:
»Im Sommer fahre ich samstags oder Sonntag früh bei schönem Wetter im Doppelzweier mit meiner Freundin zur großen Krampe oder nach Zeuthen. Dort verleben wir unser Weekend und fahren mit untergehender Sonne frisch und braun gebrannt nach Hause.«
Für einen 16-jährigen Jungen ist Boxen der beste Sport, »denn dann kann ich meine Wut im Kampfe an andern auslassen.« Ein 16-jähriges Laufmädchen favorisiert den Schwimmsport, »weil er gesund ist und schlank macht.«
»Beim Wandern kann man sich besser erholen, als wenn man in dem verpesteten Berlin sitzen tut«
meinte ein 15-jähriger Arbeiterjunge. Und eine gleichaltrige Verkäuferin bemerkte: »Das macht große Freude, wenn man durch die Wälder schreitet, ein lustiges Liedchen trällert, dann fühlt man erst, wie schön es ist, jung zu sein.«
Ein Unterprimaner meinte sogar, dass die Natur auf ihn »beruhigend« wirke. »Sie gibt mir Stoff zum Denken.«
Viele Menschen engagierten sich weiterhin in Vereinen. Die Arbeiterschaft verbrachte ihre Freizeit z. B. in Arbeiterturn- und -gesangsvereinen sowie in Arbeiterschachklubs. Sie besuchten Kneipe, Kino und Sportveranstaltungen. In einigen Gegenden der Republik wie z. B. in Berlin und im Ruhrgebiet kümmerten sie sich sonntags um ihren Schrebergarten.
In der Weimarer Republik begann der Aufbruch in den Massentourismus. Der starke Ausbau des Omnibus-Überlandverkehrs sorgte zusammen mit dem Eisenbahnnetz dafür, dass der Urlauber rasch seinen Fremdenverkehrsort erreichte. Allerdings konnten sich eine Urlaubsreise in erster Linie die Oberschicht und der neue Mittelstand der Beamten und Angestellten leisten. Zwar hatten 1920 nominell 82,5 % der Arbeiter Anspruch auf Urlaub, jedoch war er für zwei Drittel der Arbeitnehmer auf maximal drei Tage beschränkt. Saisonarbeiter und die vielen vom Tarifvertrag nicht erfassten Arbeiter hatten oft gar keinen. Dem Statistischen Reichsamt zufolge wendete 1928 ein Arbeiter im Durchschnitt 32 Reichsmark für Urlaub auf, ein Angestellter 93 Reichsmark und ein Beamter 122 Reichsmark. Verschiedene Arbeiterreiseorganisationen fungierten ab Mitte der 1920er Jahre als Reise- und Verkehrsbüros für Arbeiter und Angestellte. Viele Arbeiter wanderten im Sommer mit dem 1905 gegründeten Touristenverein Die Naturfreunde. 1925 gehörten dem Verband etwa 1000 Ortsgruppen mit ca. 65 000 Mitgliedern an. Solche Arbeiterreisen wurden teilweise als Pauschalreise mit Sonderzügen durchgeführt. Beispielsweise fuhren 1928 mehrere Tausend Naturfreunde in die Schweiz, wo sie in vom Verband errichteten Schutzhütten übernachteten. Wer z. B. 1926 mit dem Leipziger Arbeiter-Bildungs-Institut eine mehrtägige Ferienreise antrat, erlebte u. a. Rügen, Lübeck, Hamburg mit Hafenrundfahrt und Besichtigung von Hagenbecks Tierpark sowie Helgoland.
Der Seebädertourismus erlebte einen weiteren Aufschwung. Vor allem Wangerooge galt als attraktives Touristenziel. Ein Blick in die Fremdenliste für die Zeit vom 31. Mai bis 18. September 1930 zeigt, dass in diesem Zeitraum 12 074 Gäste aus ganz Deutschland die Insel besuchten. Das Spektrum reichte vom Lehrling aus Bremen über die »Friseurs-Ehefrau« aus Bamberg, den Opernsänger aus Halle und die »Kleinrentnerin« aus Berlin bis zum Landgerichtspräsidenten aus Neuwied. Wer nackt baden wollte, konnte dies ab 1919 in den Dünen von Kampen auf Sylt tun. Zulauf erhielt die Insel nach 1927 mit dem Bau des Hindenburg-Damms, der den tideunabhängigen Reiseverkehr mit der Eisenbahn ermöglichte. 1926 gründeten die Nudisten einen Reichsverband, der Ende des Jahrzehnts etwa 20 000 Mitglieder hatte. Zu dieser Zeit durfte auch in Hörnum auf Sylt, auf Hiddensee, in Prerow/Darß und an der Kurischen Nehrung nackt gebadet werden.
Der Skisport entwickelte sich in den 1930er Jahren rasant, befeuert von den Bergfilmen Arnold Fancks mit der Schauspielerin und späteren Regisseurin Leni Riefenstahl und Luis Trenker. Schlepplifte und Seilbahnen brachten die Wintersportler, die bisher mühsam mit Skiern den Berg hinaufkraxeln mussten, rasch auf die Bergspitze. Ende der 1920er Jahre veranstalteten Kitzbühel und St. Anton erstmals das Hahnenkamm- bzw. das Kandahar-Rennen. Erich Kästner beschreibt in seinem Gedicht Maskenball im Hochgebirge von 1929 die zunehmende Erschließung der Bergwelt:
»Eines schönen Abends wurden alle Gäste des Hotels verrückt, und sie rannten schlagerbrüllend aus der Halle in die Dunkelheit und fuhren Ski […]. Sieben Rehe starben auf der Stelle. Diese armen Tiere traf der Schlag. Möglich, daß es an der Jazzkapelle – denn auch die war mitgefahren – lag […]. Das Gebirge machte böse Miene. Das Gebirge wollte seine Ruh. Und mit einer mittleren Lawine deckte es die blöde Bande zu […]. Man begrub die kalten Herrn und Damen. Und auch etwas Gutes war dabei: Für die Gäste, die am Mittwoch kamen, wurden endlich ein paar Zimmer frei.«
Der Schriftsteller kritisierte, die Landschaft werde mit Hotels zugebaut und von Touristen als Müllkippe benutzt:
»Wohin man sieht, sieht man Hotels. Für Schnee ist kaum noch Platz […]. Sie können nie bescheiden sein und finden alles nett. Und glauben, die Natur sei ein Komfort wie das Klosett.«
Im Juni 1923 lebten die Kreuzfahrten wieder auf. Die erste Reise war in Erinnerung an das Kaiserreich eine Nordlandfahrt. Im Februar 1924 konnte man Teneriffa und Madeira sowie Malaga und Lissabon besuchen. Außerdem veranstalteten HAPAG-Schiffe Weltreisen, die in New York begannen.
Die Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten machte vor der Gestaltung der Freizeit nicht Halt. Die »Volksgenossen« bekamen vom Kinofilm über die Literatur, Theater und Oper bis zur Musik zunehmend nur das vorgesetzt, was die Nationalsozialisten für richtig hielten. Immerhin konnte man z. B. im Delphi-Palast in der Nähe vom Bahnhof Zoo im Juli 1936 noch zur Musik von Teddy Stauffer und seiner Band tanzen. Später war das nicht mehr möglich. So manchen störten allerdings die politischen Zustände nicht in seinem Tanzvergnügen. Der Schauspieler Hubert von Meyerink, der sich während des Röhmputsches im Berliner Eden-Hotel aufhielt, weiß zu berichten:
»Die Nacht des 30. Juni 1934 […]. Die Kapelle spielte unausgesetzt Schlager, die Menschen tanzten mit fiebrigen Gesichtern […]. Karl Ludwig Diehl und die zu der Zeit groß herauskommende Brigitte Horney zwinkerten uns, während sie Tango tanzten, vielsagend zu. Dann ein Tusch, das Orchester schwieg, und der Rundfunk brachte eine Sondermeldung: ›Soeben wurde der SA-Obergruppenführer Ernst erschossen.‹ Die Tanzenden blieben nur einen Augenblick unbeweglich stehen, dann setzte die Musik wieder ein, und der Tanz ging weiter. Dann wieder ein Tusch – Sondermeldung – abermals ein Mord. Der Tango ging weiter ».
Der in Konkurrenz zum Kirchenjahr aufgestellte nationalsozialistische Festkalender kannte zahlreiche öffentliche Feste und Feiern, die, inszeniert vom Propagandaministerium, der Selbstdarstellung des Regimes mit dem Ziel dienten, die »Volksgenossen« zu gehorsamen Gefolgsleuten zu erziehen. Als erinnerungswürdig galt nur das, was die Partei dafür hielt. Damit verbunden war der – vergebliche – Versuch des nationalsozialistischen Regimes, mithilfe ihrer Morgenfeiern und Lebensfeiern germanische Bräuche zu etablieren und die christlichen Feste ideologisch einzufärben.
Wichtige Feste im NS-Jahreslauf waren der »Tag der Machtergreifung« am 30. Januar, der »Heldengedenktag« am 16. März, »Führers Geburtstag« am 20. April, die Feier zum 1. Mai, die an germanische Tradition anknüpfende »Sommersonnenwende« am 21. Juni, der »Reichsparteitag« in Nürnberg Anfang September und das »Reichserntedankfest« auf dem Bückeberg bei Hameln Anfang Oktober, der Gedenktag für die »Gefallenen der Bewegung« am 9. November und die »NS-Volksweihnacht«. Diese Massenveranstaltungen waren mit Aufmärschen, politischen Ansprachen sowie mit Umzügen und Musik verbunden. Daneben veranstalteten die Nationalsozialisten Historische Festumzüge, die besonders in München als Kunstmetropole des »Dritten Reiches« zum Tragen kamen. Einer dieser Umzüge war im Juli 1937 aus Anlass der Eröffnung des »Haus der Deutschen Kunst« der 3000 m lange Festzug Zweitausend Jahre Deutsche Kultur. 450 Reiter und 3212 Personen in historischen Kostümen nahmen daran teil. Am Ende des Zuges marschierten als Ausdruck der militärischen Macht u. a. Abteilungen der von Wehrmacht und SS.
Höhepunkt der NS-Selbstdarstellung waren 1936 die Olympischen Spiele, die viele Besucher nach Berlin, Garmisch-Partenkirchen und Kiel lockten: Vom 6. bis 16. Februar fanden die Winterspiele in Garmisch Partenkirchen, vom 1. bis 16. August die Sommerspiele in Berlin und Kiel (Segelwettbewerbe) statt. Die Eröffnungsfeier am 1. August im Berliner Olympiastadion bot den 100 000 Zuschauern nach Meinung des französischen Botschafters Andre François-Poncet »ein großartiges Schauspiel«. Für die Nationalsozialisten waren die Spiele eine willkommene Gelegenheit, der Weltöffentlichkeit das vermeintlich friedliebende »neue Deutschland« im besten Licht zu präsentieren.
Das Kabarett hatte nach der »Machtergreifung« einen schweren Stand. Jetzt politische Zustände aufs Korn zu nehmen, konnte lebensgefährlich sein. Die meisten Kabarettisten flohen ins Ausland. Werner Finck blieb und trat unverdrossen in der Berliner Katakombe auf, bis es von Propagandaminister Goebbels im Mai 1935 ebenso wie das Tingel-Tangel sowie Helmut Käutners Nachrichter geschlossen wurde. Finck meldete sich schließlich zum Militär, um als Unteroffizier mit dem Wehrmachts-Kabarett Die Platzpatrone ab 1943 in Italien deutsche Soldaten bei Laune zu halten. Dagegen ließ Propagandaminister Goebbels Kabarettisten wie den seit den 1920er Jahren bekannten Hans Reimann gewähren, der sich zum Nationalsozialismus bekannte hatte. Georg Thomalla, der im »Dritten Reich« im Kabarett der Komiker auftrat, schreibt Ende der 1980er Jahre in seinen Erinnerungen:
»Natürlich machen wir Kabarett nicht im Sinne der aggressiven Zeitkritiker, unsere Darbietungen sind eher harmlos und belustigend […]. Mit den Mächtigen legen wir uns nicht an – und ich halte es heute für müßig, darüber nachzudenken, ob wir es hätten tun sollen oder nicht. Alle retten sich – wenn eben möglich – zu dieser Zeit in die belanglose Harmlosigkeit […]. Wir haben gearbeitet und keine großen Fragen gestellt […]. Narren in schlimmer Zeit sind wir alle gewesen und Hofnarren noch dazu.«
Urlaubsreisen wurden von der Freizeitorganisation Kraft durch Freude (KdF) organisiert. Sie war am 27. November 1933 als eine Unterabteilung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) eingerichtet worden. Ihr Vorbild war der italienisch-faschistische Opera Nazionale Dopolavoro. Für den Leiter der DAF, Dr. Robert Ley, hatte diese Freizeitorganisation vor dem Hintergrund der Gleichschaltung von Arbeiterkultur und bürgerlicher Kultur zum Ziel, das Individuum zum »Volksgenossen« zu erziehen. KdF biete die »totale Verplanung der Freizeit der Werktätigen nach Feierabend und im Urlaub.« Der Urlaub diene der Erholung, damit der Arbeiter, so Ley in seiner Rede anlässlich der Gründung der Organisation, anschließend sein Arbeitstempo steigern könne, wobei er wie alle Nationalsozialisten die Aufrüstung im Blick hatte. Daher sollte jeder Arbeiter mit seiner Familie – spätestens ab 1937 hatten die meisten Lohnempfänger sechs bis zwölf Urlaubstage – in den Urlaub fahren können. Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus; der Tourismus blieb »trotz wachsender proletarischer Einsprengsel überwiegend mittelständisch-bürgerlich« geprägt (Rüdiger Hachtmann).
Ley zufolge diente die KdF der Bekämpfung der Langeweile, aus der »dumme, hetzerische, ja letzten Endes verbrecherische Ideen und Gedanken« entsprängen. Schließlich solle aus dieser Freizeitorganisation die »wahre nationalsozialistische Gesellschaftsordnung« entstehen, die keine Klassenunterschiede mehr dulde.
Zu den Veranstaltungen von KdF zählten Theateraufführungen, Konzerte, Kunstausstellungen, bunte Abende, Vorträge, Kurzreisen zum Fasching nach Mainz, zum Oktoberfest nach München oder zum Reichsparteitag nach Nürnberg, aber auch mehrtägige Land- und Schiffsreisen. Über die Teilnahme entschieden die Orts-, Betriebs- oder Kreiswarte. Die ersten 10 000 »Volksgenossen« fuhren vom 17.–22. Februar 1934 mit Sonderzügen in den Urlaub in den Harz, die Rhön, in den Schwarzwald, nach Thüringen, Bayern und Schlesien. Am 3. Mai 1934 begannen zunächst mit zwei Schiffen die ersten Seereisen. Ab Sommer 1934 verfügte die KdF über insgesamt sieben Schiffe, die für 5-Tage-Reisen nach Norwegen eingesetzt wurden. Ab Frühjahr 1935 kamen Portugal, Madeira und Italien, später auch das Baltikum, Griechenland, Jugoslawien, Libyen (Tripolis), Schweden und Teneriffa als weitere Reiseziele der KdF-Schiffe hinzu. Der Tagesablauf auf dem Schiff war reglementiert, die nationalsozialistische Propaganda allgegenwärtig. Die Gestapo hatte Spitzel an Bord, die »staatsfeindliche Regungen« unter den Reisenden frühzeitig aufdecken und V-Männer anwerben sollten. Der Theaterregisseur Boleslaw Barlog berichtet in seinen Memoiren 1981 von seiner KdF-Schiffsreise nach Norwegen, die er in einer Tombola gewonnen hatte:
»Unter die Passagiere hatten sich Gestapospitzel gemischt, und als ich bei einem dicken Herrn, der sich für den Bordmaskenball maskiert und mit Blechorden geschmückt hatte, anmerkte: ›Göring!‹ zückte mein Nachbar eine Marke und sagte: ›Seien Sie vorsichtig, Geheime Staatspolizei.‹ Also ein gedämpftes Vergnügen war diese Reise schon.«
Von 1934 bis 1939 waren insgesamt 45 Schiffe im Einsatz, die auf 673 Reisen etwa 750 000 Passagiere beförderten, Einzelpersonen und Ehepaare ohne Kinder. Dennoch war der Anteil der Hochseefahrten an den Gesamtreisen marginal. Von den 10 Millionen, die mit der NS-Freizeitorganisation 1938 verreisten, machten nur ein bis zwei Prozent eine Seereise. Die meisten Veranstaltungen waren Wanderungen und andere kurze Fahrten. Insgesamt gesehen konnte der organisierte KdF-Tourismus nicht mit dem privaten Tourismusgewerbe mithalten. Gab es Mitte der 1920er Jahre 364 Reisebüros, waren es 1933 bereits 499 und im Juni 1939 schon 1049.
