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Kultur E-Book

Terry Eagleton

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Beschreibung

Was macht den Mensch zum Menschen? Generationen von Philosophen haben sich mit dieser Frage befasst, doch wohl keiner hat sie bislang mit der Leichtigkeit und dem funkelnden Geist eines Terry Eagleton beantworten können. Eagleton macht die Kultur als prägenden Aspekt unseres Menschseins aus und spannt in dieser so scharfsinnigen wie witzigen Analyse den Bogen von Klassikern wie Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde bis ins heutige Hollywood. Er zeigt den Verfall der Religion und den Aufstieg und die Herrschaft der »unkultivierten« Massen. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und zugleich eine Anleitung, unsere sozialen Beziehungen zu vertiefen und so die Zivilgesellschaft zu stärken.

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Das Buch

Von jeher hat die Kultur das menschliche Zusammenleben geprägt. Doch welche Bedeutung hat »Kultur« für den Einzelnen? Was unterscheidet sie von der verwandten »Zivilisation«? Terry Eagleton, »einer der bemerkenswertesten und meinungsstärksten lebenden Literaturtheoretiker« (Süddeutsche Zeitung), spannt in seiner so scharfsinnigen wie unterhaltsamen Analyse den Bogen von Klassikern wie Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde bis ins heutige Hollywood. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und zugleich eine Anleitung, unsere sozialen Beziehungen zu vertiefen und so die Zivilgesellschaft zu stärken.

Der Autor

Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy. Der international gefeierte Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker hat über 50 Bücher verfasst. Auf Deutsch liegen u.a. vor Der Sinn des Lebens (2008), Das Böse (2011), Warum Marx recht hat (2012) und Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch (2016).

Hainer Kober übersetzt seit 1972 aus dem Englischen und Französischen, darunter Autoren wie Stephen Hawking, Jonathan Littell, Antonio Damasio und Oliver Sacks.

TERRY EAGLETON

KULTUR

Aus dem Englischen von Hainer Kober

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2016unter dem Titel Culturebei Yale University Press, New Haven und London.

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ISBN: 978-3-8437-1637-6

© 2017 für die deutsche AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin© 2016 by Terry EagletonLektorat: Uta RüenauverUmschlaggestaltung: Brian Barth, BerlinAutorenfoto: © Eamonn McCabe

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Tony Adami

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Widmung

Vorwort

1 Kultur und Zivilisation

Anmerkungen zum Kapitel

2  Postmoderne Vorurteile

Anmerkungen zum Kapitel

3  Das soziale Unbewusste

Anmerkungen zum Kapitel

4  Ein Kulturapostel

Anmerkungen zum Kapitel

5  Von Herder bis Hollywood

Anmerkungen zum Kapitel

Schluss:  Die Hybris der Kultur

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Vorwort

Kultur ist ein Begriff mit vielen Facetten, deshalb ist es kaum möglich, ihn in einem geschlossenen konzeptuellen Rahmen abzuhandeln. Aus diesem Grund verzichte ich im vorliegenden Buch auf jede strenge Einheit der Argumentation und nähere mich unserem Gegenstand stattdessen aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst werde ich einige Bedeutungen des Wortes »Kultur« betrachten, um anschließend entscheidende Unterschiede zwischen der Idee der Kultur und dem Begriff der Zivilisation aufzuzeigen. Danach befasse ich mich mit der postmodernen Doktrin des Kulturalismus, nach der die Kultur von fundamentaler Bedeutung für die menschliche Existenz ist, und unterziehe dabei die Begriffe Diversität, Pluralität, Hybridität und Inklusivität einer etwas altmodischen Kritik. Ich werde auch Einwände gegen die Thesen des kulturellen Relativismus erheben.

Kultur kann als eine Art soziales Unbewusstes verstanden werden, und ausgehend von dieser Auffassung beschäftige ich mich mit dem Werk zweier ihrer wichtigsten Vertreter: des politischen Philosophen Edmund Burke, dessen Schriften zwar weithin bekannt sind, der aber im Allgemeinen nicht mit dem Kulturbegriff in Zusammenhang gebracht wird; und des Philosophen Johann Gottfried Herder, dessen ungewöhnlich originelle Gedanken zu Fragen der Kultur nicht so en vogue sind, wie sie es sein sollten. Außerdem gehe ich kurz auf die Vorstellung von der Kultur als sozialem Unbewussten im Werk von T. S. Eliot und Raymond Williams ein – zwei Denkern, die Kultur als ein höchst lebendiges Konzept begreifen, sie aber von diametral entgegengesetzten Standpunkten betrachten.

In einem Kapitel über Oscar Wilde erweise ich diesem ausnehmend kühnen und eleganten Kulturkritiker die gebührende Ehre und fasse gleichzeitig einige der bis dahin erörterten Spielarten der Kultur noch einmal zusammen. Dann wende ich mich der Frage zu, warum die Kultur eine so bedeutende Rolle in der häufig als kulturlos gescholtenen Moderne spielt, und nenne einige Gründe dafür. Die wichtigsten davon sind: die Auffassung, die Kultur sei eine ästhetische oder utopische Kritik am Industriekapitalismus; der Aufstieg von revolutionärem Nationalismus, Multikulturalismus und Identitätspolitik; die Suche nach einem Religionsersatz; und die Entstehung der sogenannten Kulturindustrie. Außerdem werfe ich einen kritischen Blick auf die Lehre vom Kulturalismus, der zufolge die Kultur die ganze menschliche Existenz betrifft, sowie auf die Frage des kulturellen Relativismus. Zum Schluss führe ich mehrere Gründe an, warum ich die Kultur keineswegs für so zentral für die modernen Gesellschaften halte, wie es sich die Kulturapologeten einbilden.

Dem scharfsinnigen Leser wird nicht entgehen, dass sich ein irisches Thema durch das ganze Buch zieht, angefangen bei Swift, Burke und Wilde bis hin zur irischen Antikolonialpolitik.

1

Kultur und Zivilisation

»Kultur« ist ein außergewöhnlich komplexes Wort – das zweit- oder drittkomplexeste Wort der englischen Sprache, wie behauptet wurde1 –, doch es gibt vier Hauptbedeutungen: (1) der Bestand an künstlerischen und geistigen Werken; (2) der Prozess geistiger und intellektueller Entwicklung; (3) die Werte, Sitten, Überzeugungen und symbolischen Praktiken, nach denen die Menschen leben; oder (4) eine komplette Lebensweise. »Lappländische Kultur« kann Dichtung, Musik und Tanz der Lappen bezeichnen, aber auch die Lebensmittel, die sie essen, die Sportarten, die sie betreiben, die Religion, die sie praktizieren; sie kann sogar die lappländische Gesellschaft als Ganzes meinen, samt Verkehrsnetz, Wahl- und Müllbeseitigungssystem. Das mag alles typisch für die lappländische Kultur sein, wird aber nicht immer zu ihren Besonderheiten gehören. Beispielsweise essen die Lappen Rentierfleisch, aber das tun andere Völker auch. Sie sind gesetzlich verpflichtet, in der kalten Jahreszeit Winterreifen an ihren Autos aufzuziehen, das gilt jedoch auch für andere nordische Länder. Allerdings kann man in Lappland das ganze Jahr über den Weihnachtsmann bei sich zu Hause am Polarkreis besuchen, ein Vergnügen, das man wahrscheinlich nirgendwo sonst auf dem Planeten genießen kann.

Kultur in der künstlerischen und intellektuellen Bedeutung des Wortes kann durchaus Innovation miteinbeziehen, während Kultur als Lebensweise im Allgemeinen nur eine Frage der Gewohnheit ist. Man kann ein neues Klavierkonzert komponieren oder eine neue Zeitschrift herausgeben, doch versteht man Kultur in der allgemeineren Bedeutung des Wortes, grenzt die Vorstellung von einem neuen kulturellen Ereignis schon fast an einen Widerspruch in sich, obwohl es solche Dinge natürlich gibt. Kultur in diesem Sinne ist das, was wir bereits zuvor getan haben – vielleicht sogar das, was unsere Vorfahren bereits Millionen Male zuvor getan haben. Unter Umständen findet unser Verhalten nur dann Anerkennung, wenn es dem ihren entspricht. Kultur im Sinne von Kunst kann avantgardistisch sein, während Kultur als Lebensweise überwiegend eine Frage von Brauchtum und Gewohnheit ist. Da künstlerische Kultur häufig eine Angelegenheit von Minderheiten ist – vor allem bei Werken, die nur schwer zugänglich sind –, unterscheidet sie sich in dieser Hinsicht von Kultur als Entwicklungsprozess, die man durchaus als egalitäreres Phänomen ansehen kann. Wenn diejenigen, die jetzt unkultiviert sind, im Laufe der Zeit die Möglichkeit haben, kultiviert zu werden, könnte es sein, dass jeder kulturelles Kapital anhäufen kann, wenn er es nur will. Man kann sich über die Jahre um sein geistiges Wachstum kümmern, so wie sich die Landwirtschaft über eine Zeitspanne hinweg um das natürliche Wachstum kümmert. Kultur ist nicht etwas, was wir mit einem Mal erwerben können wie einen Welpen oder eine Grippe.

Generell erscheinen die ersten drei Bedeutungen des Wortes nützlicher als die vierte (Kultur als Lebensweise), die Gefahr läuft, sich zu übernehmen. Raymond Williams meint, »die Schwierigkeit des Kulturbegriffs liegt darin, dass wir ständig gezwungen werden, ihn zu erweitern, bis er beinahe mit unserem Alltagsleben identisch ist«.2 Warum wir »gezwungen« sind, die Bedeutung des Wortes auszuweiten, wird nicht ganz klar, aber Williams hat sicherlich recht, wenn er meint, dem Begriff »Kultur« wohnten gewisse inflationäre Tendenzen inne. Sie scheinen ihn allerdings nicht in dem Maße zu beunruhigen, wie sie es eigentlich sollten. Wenn die ästhetische Bedeutung des Wortes möglicherweise zu eng ist, könnte die anthropologische Bedeutung zu amorph sein. Aber auch so findet die umfassendere Bedeutung durchaus Verwendung. Williams selbst verdeutlicht den Unterschied zwischen Kultur als Kunst und Kultur als Lebensweise durch die Feststellung, dass die Kultur der britischen Arbeiterbewegung sich weniger in Malerei und Dichtkunst manifestiere als in politischen Institutionen: Gewerkschaften, Genossenschaftsbewegung, Labour Party und so fort. Johann Gottfried Herder, mit dessen Werk wir uns später beschäftigen werden, rechnet Industrie, Handel und Technologie ebenso zur Kultur wie Werte und Empfindungen.

In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur zählt T. S. Eliot eine Reihe stereotype englische Beispiele auf: Derby-Tag, Henley-Regatta, Dartboard, Wensleydale-Käse, neugotische Kirchen, gekochter Kohl, eingelegte Rote Beete, die Musik von Edward Elgar und so fort.3 Zu dieser ziemlich eigenwilligen Auswahl nationaler Schätze meint Raymond Williams, statt die typischen Aktivitäten eines Volkes zu nennen, beschränke sich Eliots Inventar auf Sport, Essen und ein bisschen Kunst, was auf einen älteren, exklusiven Kulturbegriff hinweise. Müsste eine Aufzählung der charakteristischen Aktivitäten der Engländer, so fragt Williams, nicht auch die Stahlherstellung, die Börse, landwirtschaftlich gemischte Betriebe und das Londoner Nahverkehrssystem mit einbeziehen?4 Mit anderen Worten, Eliot glaubt zwar, Kultur als gesamte Lebensweise (oben, Definition 4) zu beschreiben, beschränkt sich aber in Wahrheit auf die Vorstellung von Sitten und symbolischen Praktiken (Definition 3). Es gibt also ein unmittelbares Problem: Schließt die Kultur eines Volkes seine praktische, materielle Existenzweise ein oder sollte sie auf die symbolische Sphäre begrenzt werden?

Vielleicht ist es nicht zu pedantisch, hier zwischen lappländischer Kultur und lappländischer Zivilisation zu unterscheiden. Malerei, Kochkunst und sexuelle Einstellungen in Lappland wären der Kultur zuzurechnen, während Nahverkehrssystem und Zentralheizungstechnik unter Zivilisation fallen würden. Ursprünglich bedeuteten »Kultur« und »Zivilisation« weitgehend dasselbe; doch wie wir sehen werden, hat man in der Neuzeit nicht nur zwischen ihnen unterschieden, sondern sie sogar als Gegensätze gesehen. In den Annalen der neueren Geschichte werden die Deutschen im Allgemeinen als Repräsentanten der Kultur betrachtet, während die Franzosen den ersten Preis als Fackelträger der Zivilisation bekamen. Die Deutschen haben Goethe, Kant und Mendelssohn, die Franzosen dafür Parfüm, Haute Cuisine und Châteauneuf-du-Pape. Die Deutschen sind vergeistigt, die Franzosen mondän. Es ist die Wahl zwischen Wagner und Dior. Etwas stereotyp ausgedrückt, die Deutschen sind zu hochgeistig, die Franzosen zu abgebrüht.

Oder anders gesagt: Briefkästen gehören zur Zivilisation, aber in welcher Farbe man sie anstreicht (grün zum Beispiel in der Irischen Republik), ist eine Frage der Kultur. In einer modernen Gesellschaft braucht man Ampeln, aber Rot muss nicht unbedingt »Stopp« bedeuten und Grün nicht »Gehen«. Während der Kulturrevolution in Peking wurde die Forderung laut, die Ampelfarben auszutauschen. Ein Großteil der Kultur betrifft weniger das, was man tut, als die Frage, wie man es tut. Der Begriff kann eine Reihe von Stilen, Techniken und bewährten Verfahren bezeichnen. Beispielsweise gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, ein Autounternehmen zu leiten, deshalb kann man die Renault-Kultur der Volkswagen-Kultur gegenüberstellen. Jeder hat Verwandte, aber ob die Tradition verlangt, dass im Umgang mit einigen von ihnen üblicherweise Scherze gemacht werden müssen, ist eine kulturelle Angelegenheit. »Polizeikultur« bedeutet nicht so sehr den Besitz von Schlagstöcken und Gummigeschossen als vielmehr die Bereitschaft einiger Polizeikräfte, sie bei der geringsten Provokation einzusetzen. Es geht um die gewohnheitsmäßige Denk- und Handlungsweise der Polizei – welche Einstellung sie beispielsweise zu Vergewaltigern hat oder ob Untergebene gegenüber ihren Vorgesetzten salutieren müssen. Zur australischen Kultur gehört sicherlich nicht die Tatsache, dass es zahlreiche Autovermietungen in Alice Springs gibt, wohl aber beinhaltet sie Barbecues, Australian Football und Strandaufenthalte. Die britische Kultur reicht von der Liebe zu Ironie und Understatement bis zum Tragen roter Plastiknasen bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Manchmal mag der Begriff »Kultur« überflüssig erscheinen. Die Behauptung, es gebe eine verbreitete Kultur der Spielmanipulationen im Fußball, ist gleichbedeutend mit der Aussage, es gebe verbreitete Spielmanipulationen im Fußball. Wenn man es eine Kultur nennt, bedeutet es jedoch, dass es sich um ein gewohnheitsmäßiges, fest verwurzeltes, möglicherweise für selbstverständlich gehaltenes und durch gewisse etablierte Regeln bestimmtes Vorgehen handelt. Kultur in diesem Sinne mag als rein deskriptive Kategorie erscheinen, aber das kann täuschen. Die eigene Lebensweise als etwas ganz Besonderes zu betrachten, setzt beispielsweise voraus, dass man eine Vorstellung davon hat, inwiefern sie sich von der anderer Menschen unterscheidet, und daher vielleicht einen gewissen Argwohn ihnen gegenüber hegt. Die meisten Formen kollektiver Identität beruhen auf dem Ausschluss anderer, manchmal notwendigerweise. Man kann nicht Mitglied des königlichen Colleges für Krankenpflege sein, wenn man professioneller Schwertschlucker ist. Manchmal sind diese Ausgrenzungen auch weniger harmlos. Es bestünde keine Notwendigkeit für nordirische Unionisten, ihre St.-Georg-Flaggen zu schwenken, gäbe es nicht Horden von katholischen Nationalisten auf der Straßenseite gegenüber. Die scheinbar unschuldige Idee der Kultur könnte von Anfang an den Keim der Zwietracht enthalten haben. Im Übrigen kann das, was von einem Standpunkt aus wie eine rein sachliche Benennung aussieht – sagen wir, »die Kultur der landbesitzenden Klasse« –, von einem anderen Standpunkt aus ein ganz anderes Bild ergeben (etwa das der Menschen, die die Felder bestellen müssen).

Der Begriff der Kultur als vollständige Lebensweise eignet sich wahrscheinlich besser für tribalistische oder vormoderne Gesellschaften als für moderne. Tatsächlich ist die Untersuchung vormoderner Völker eine der Quellen, aus denen er entstanden ist. Das liegt nicht daran, dass solche Gesellschaften organische Ganzheiten darstellen würden. Es gibt keine »ganzheitlichen« Gesellschaften in dem Sinne, dass sie frei von Konflikten und Widersprüchen wären. Der Grund ist eher, dass es unter vormodernen Bedingungen schwerer ist, eine klare Trennungslinie zwischen symbolischen Praktiken auf der einen Seite und sozialen oder wirtschaftlichen Aktivitäten auf der anderen zu ziehen. Bei den Dinka Arbeit und Politik unter Kultur zu subsumieren, ist wahrscheinlich sinnvoller, als es bei den Dänen wäre. In vormodernen Zeiten waren die praktischen und symbolischen Tätigkeiten wahrscheinlich enger miteinander verbunden als in der Moderne. Beispielsweise dürften Stammesvölker wohl in der Regel ihre Arbeit und ihren Handel nicht als einen autonomen, als Wirtschaft bezeichneten Bereich wahrnehmen, der sich grundsätzlich von ihren spirituellen Vorstellungen und traditionellen Pflichten unterscheidet. In der modernen Welt dagegen nimmt das Wirtschaftsgeschehen kaum Rücksicht auf altehrwürdige Gesetze und Sitten. Ihr Chef fühlt sich nicht mehr moralisch verpflichtet, sich patriarchalisch um Ihr allgemeines Wohlergehen zu kümmern oder zumindest so zu tun. Wir arbeiten jetzt einfach, um am Leben zu bleiben oder Profit zu machen, und nicht, um (zusätzlich) dem Allmächtigen Ehre zu erweisen, unsere gewohnheitsmäßige Pflicht gegenüber unserem Feudalherrn zu erfüllen oder unsere zugewiesene Rolle im Verwandtschaftssystem des Stammes zu spielen. Soziale Fakten lösen sich allmählich von kulturellen Werten, ein Prozess, der neue Formen der Freiheit, aber auch neue Not bringt. Beispielsweise können wir unsere Arbeit jetzt dem Meistbietenden verkaufen, statt mit Haut und Haar an einen einzigen Herrn gebunden zu sein. Macht kann sich nicht mehr so leicht als geistliche Autorität verkleiden. Wir fühlen uns weniger von den unmerklichen Zwängen der Tradition eingeengt und sind von der lästigen Notwendigkeit entbunden, jedes Mal mit unserem Neffen zu scherzen, wenn wir ihn ansehen.

Nehmen wir den Unterschied zwischen einem Bauern aus dem 19. Jahrhundert und einem modernen Fabrikarbeiter. Auf dem traditionellen kleinbäuerlichen Familienhof sind Arbeit und häusliches Leben enger miteinander verwoben als in einer Textilstadt, wo die Fabrik das eine ist und die häusliche Welt das andere. Beispielsweise haben Kleinbauern Kinder einerseits aus dem gleichen Grund wie alle anderen Menschen, dann aber auch, weil sie, wenn sie heranwachsen, auf dem Land arbeiten, sich um die alten Eltern kümmern und das bescheidene Stück Land der Familie erben können. Kinder sehen nicht nur niedlich aus, sondern bedeuten auch Arbeitskraft, ein Sozialsystem und den Fortbestand des Hofes. In der modernen Zivilisation dagegen lässt sich nur schwer sagen, wofür Kinder da sind. Sie arbeiten zum Beispiel nicht, und einige sind auch nicht besonders ansehnlich. Sie zu haben, ist kostspielig und nicht immer vernünftig. Sie zu pflegen, wenn sie Säuglinge sind, ist eine der mühseligsten Arbeiten, die die Menschheit kennt. So betrachtet, ist es überraschend, dass es der modernen Menschheit überhaupt gelingt, sich fortzupflanzen. Doch unter Kleinbauern und Pächtern ist die Nützlichkeit von Kindern völlig unbestritten.

Wen man unter solchen Bedingungen heiratet, dürfte teilweise auch durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt sein, woraus folgt, dass die Trennung zwischen Sexualität und Besitz wohl nicht so klar ist wie in einer Kleinstadt in Ohio. Sexualität ist unter Umständen weniger eine Frage von leiser Musik und Candle-Light-Dinners als von Mitgiften und Heiratsvermittlern. Tatsächlich wäre ein erheblicher Teil der Bevölkerung vermutlich glücklich, überhaupt ein Abendessen zu bekommen, egal ob im Kerzenschein oder nicht. Einerseits ist die Verbindung von sexuellen und wirtschaftlichen Faktoren sicherlich ein Kennzeichen der unteren Schichten in ländlichen Gesellschaften, andererseits ist sie aber auch ein Merkmal der Grundbesitzer und Aristokraten. Beispielsweise können Eheschließungen in der Oberschicht das Ziel haben, zwei große Landgüter zu vereinen, wie etwa bei der Heirat von Tom Jones und Sophia Western am Ende von Henry Fieldings Roman Tom Jones, oder sie begründen eine wechselseitig vorteilhafte Allianz zwischen Land- und Industriekapital.

Es gibt also Umstände, unter denen es durchaus sinnvoll ist, die Bedeutung des Wortes »Kultur« auf die soziale Existenz als Ganzes auszuweiten, solange es ohne Nostalgie geschieht. Beispielsweise sollte man nicht behaupten, der Alltag im vorindustriellen Großbritannien sei qualitativ besser gewesen als im heutigen Chicago. Ganz im Gegenteil, er war in vielerlei Hinsicht erheblich schlechter. Ebenso wenig sollte man versuchen, Stammesgesellschaften zu idealisieren. Auf rein deskriptiver Ebene würde der Begriff »Tuareg-Kultur« wahrscheinlich gewisse soziale Alltagsaktivitäten einschließen, die weniger Stress bedeuten als das, was unter »texanischer Kultur« zu subsumieren wäre. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Angewohnheit, nach Öl zu bohren oder Kalaschnikows unter dem Bett aufzubewahren, der Kultur zurechnen lässt. Doch es geht hier noch um einen anderen Aspekt. Ein großer Teil dessen, was in Industriegesellschaften geschieht, gilt als nicht-kulturell, weil es keinen erkennbaren Wert hat. Kohlegruben und Baumwollfabriken gehören in das Reich der materiellen Notwendigkeit, nicht in die Sphäre geistiger Freiheit. Sie sind normativ wie deskriptiv »nicht-kulturell«, soll heißen, dass die Lebensqualität, die sie zu bieten haben, viel zu wünschen übriglässt. Das gilt sicherlich in noch höherem Maße für die meisten vorindustriellen Arbeitsformen. Doch mit der Industriellen Revolution kommt es zu einem leidenschaftlichen Aufstand gegen die Zivilisation schlechthin, die geistig völlig bankrott zu sein scheint. Dies ist jedenfalls die Auffassung so verbitterter Beobachter wie Friedrich Schiller, John Ruskin und William Morris. Es ist auch die Meinung von D. H. Lawrence, der das industrielle England verantwortlich macht für die »völlige Verneinung natürlicher Schönheit, diese völlige Verneinung der Lebensfreude, dieses völlige Fehlen eines Sinnes für Anmut, den jeder Vogel und jedes Tier besaß«.5 Zivilisation wird jetzt zur nüchternen Tatsache, während Kultur eine Frage des Wertes ist. Nach dieser Begriffsbedeutung scheint Kultur heute unwiederbringlich der Vergangenheit anzugehören. Sie ist das verlorene Paradies, der Garten Eden, aus dem wir rüde vertrieben wurden, die organische Gesellschaft, die immer gerade am historischen Horizont verschwindet.

Die industrielle Zivilisation trägt also zur Entstehung des Kulturbegriffs bei. Allgemein geläufig wurde das Wort »Kultur« erst im 19. Jahrhundert. Je seelenloser und verarmter die alltägliche Erfahrung erscheint, desto eifriger wird das Ideal der Kultur als Kontrast propagiert. Je gröber die materialistische Zivilisation wird, desto erhabener und jenseitiger erscheint die Kultur. Die gutbürgerlichen Kreise in Berlin und Wien begannen von der vollkommenen organischen Gesellschaft im antiken Griechenland zu träumen. Kultur und Zivilisation schienen sich jetzt unversöhnlich gegenüberzustehen. Erstere ist ein romantischer Begriff, während Letztere zur Sprache der Aufklärung gehört.

Doch ist Zivilisation nicht die einzige Antithese zu Kultur. Es gibt auch eine Polarität zwischen Kultur und Barbarei. Tatsächlich laufen diese beiden Gegensätze für einige Denker auf das Gleiche hinaus. Ist also vieles von dem, was als zivilisierte Lebensweise betrachtet wird, im Grunde Barbarei? Zweifellos gibt es Wissenschaftler und Philosophen, die diese Ansicht vertreten. Wenn die Kunst zusammen mit moralischen Werten und geistigen Wahrheiten für das Beste im menschlichen Leben steht, dann ist nach dieser Auffassung vieles, was unsere Existenz ausmacht, nicht wirklich menschlich. Doch während Kultur in diesem Sinne ein ständiger Vorwurf an die Adresse des alltäglichen Lebens ist, ist Kultur, verstanden als symbolische Praxis, unauflöslich mit diesem Leben verflochten. Ohne Kultur können wir keine Schweinefarm betreiben und keine Kaserne leiten – nicht in dem Sinne, dass wir im Schweinestall Gustav Mahler pfeifen oder die Schriften von Diderot unter den Soldaten verteilen, sondern in dem Sinne, dass wir mit Werten und Bedeutungen umgehen. Man kann die Kultur als einen Sonderbereich der Zivilisation sehen, von Blaskapellen und Kindergärten bis hin zu Modeschauen und Basiliken. Doch sie bezeichnet auch die symbolische Dimension der Gesellschaft als Ganzes, welche diese vollkommen durchdringt, so allgegenwärtig wie der Allmächtige. Es kann keine spezifisch menschliche Aktivität ohne Zeichen und Werte geben. Obwohl sich die Kunst möglicherweise in Widerstreit mit gesellschaftlichen Institutionen wahrnehmen lässt, ist sie doch selbst eine gesellschaftliche Institution und kann nur mit Hilfe anderer solcher Einrichtungen überleben. Wenn Sie Romane haben möchten, brauchen Sie Papierfabriken und Druckereien. Zivilisation ist eine Vorbedingung der Kultur. In seiner Schrift On the Constitution of Church and State (»Über die Verfassung von Kirche und Staat«) erklärt Samuel Taylor Coleridge, Kultur im Sinne von moralischem Wohlergehen sei von grundlegenderer Bedeutung als Zivilisation, doch in Wahrheit ist Kultur das Geschöpf eben der Zivilisation, die jene mit einem geistigen Fundament auszustatten versucht.

Es mag den Anschein haben, als sei Kultur eine Frage der Werte und Zivilisation eine Sache der Gegebenheiten, doch jeder der beiden Begriffe lässt sich normativ und deskriptiv verwenden. Das Wort »ganz« in dem Ausdruck »eine ganze Lebensweise« kann (deskriptiv) »vollständig« bedeuten, aber auch (normativ) »vereinigt«, »ganzheitlich«, »ohne Mangel«. Wenn der Anthropologe Edward Burnett Tylor im 19. Jahrhundert Kultur und Zivilisation definiert als »jene[n] Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat«,6 spricht er deskriptiv. Wenn der Dichter Henry James Pye im 18. Jahrhundert in seinem Gedicht The Progress of Refinement schreibt: »Auf dem afrikanischen Schwarz zeigt sich keinerlei Kultur«, versteht er das als Wertung. Nach seiner Ansicht haben Afrikaner eine Kultur im Sinne einer Lebensform, aber nicht im Sinne eines edlen Lebens. Sie haben eine Lebensweise, aber die ist wertlos. Mahatma Gandhis legendäre Antwort auf die Frage, was er von der britischen Zivilisation halte – »Ich denke, sie wäre eine gute Idee« –, gleitet hintersinnig vom Begriff der Zivilisation als Tatsache zu dem der Zivilisation als Wert. In gewissem Sinne ist Folter kein zivilisiertes Verhalten, doch in einem anderen Sinne ist sie das durchaus, da eine ganze Menge Zivilisationen sie praktizieren. Nur zivilisierte Menschen können Sprenggelatine auf Kinderspielplätzen zünden.

Das Werk von T. S. Eliot, mit dessen Ansichten zur Kultur wir uns später beschäftigen werden, ist exemplarisch für diese Mehrdeutigkeiten. Manchmal verwendet Eliot das Wort »Kultur« deskriptiv und meint damit: »die Lebensform eines bestimmten Volkes in einem bestimmten Lebensraum«.7 Das ist keine besonders scharfsinnige Formulierung, da beispielsweise die britische Kultur heute aus verschiedenen Völkern besteht, die auf verschiedene Weise am gleichen Ort leben; hinzu kommt noch der Lebensstil einiger Briten, die im Ausland leben. Aber der Gebrauch des Begriffs deckt sich nicht mit Eliots normativer Verwendung, etwa wenn er von der Kultur als »das, was das Leben lebenswert macht«8 spricht. Kultur ist nach seiner Auffassung manchmal eine Frage der Sitten, der Religion, der Künste und der Ideen und manchmal dessen, »was die Gesellschaft zur Gesellschaft macht«,9 was sicherlich mehr beinhalten muss als Kapellen und Konzerthallen. Um die Verwirrung vollständig zu machen, schreibt Eliot auch noch von einer Zukunft, »über die man sagen könnte, sie habe keine Kultur«,10 was nur schwer mit seiner eher anthropologischen Verwendung des Wortes in Einklang zu bringen ist. Man kann sich eine Gesellschaft ohne Kunst und Religion vorstellen oder eine, in der es sich nicht lohnt zu leben, aber keinesfalls eine Lebensweise ohne eine Lebensweise.

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